Skizze eines Sommers - André Kubiczek - E-Book
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Skizze eines Sommers E-Book

André Kubiczek

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Beschreibung

Auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2016 1985, Potsdam, große Ferien. Doch der sechzehnjährige René bleibt dieses Jahr zu Hause. Die Mutter ist tot, der Vater in der Schweiz; er lässt René tausend Mark da, die er brüderlich mit seinen Freunden Dirk, Michael und Mario teilt. Dies ist, und das spüren sie alle vier, ein Sommer, wie es ihn nie wieder geben wird für sie. Die Jungs streifen durch die heiße, urlaubsleere Stadt und sitzen in Cafés herum, während sie darum wetteifern, besonders geistreich zu sein. Und: Sie gehen zweimal pro Woche in die Disko. Denn bei allem abgeklärten Gehabe geht es doch vor allem darum, das richtige Mädchen zu finden. Während Dirk und Michael um die forsche Rebecca buhlen und der Halb-Libanese Mario, der erst vierzehneinhalb ist, mächtig Schlag bei den Frauen hat, brennt René darauf, das Mädchen wiederzusehen, das im «Orion» noch nie zur falschen Musik getanzt hat. «Skizze eines Sommers» ist ein warmherziger, leichter Roman über die beste aller Zeiten, die Jugend mit ihrer schönen Tragik – die erste Liebe, die Freundschaft, die für immer prägende Musik, die Bücher, die man immer und immer wieder liest. André Kubiczek erzählt wunderbar einfühlsam und hintergründig von einem Lebensalter, das trotz Unsicherheit von unendlichem Selbstbewusstsein und Vertrauen geprägt ist.

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André Kubiczek

Skizze eines Sommers

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2016

 

1985, Potsdam, große Ferien. Doch der sechzehnjährige René bleibt dieses Jahr zu Hause. Die Mutter ist tot, der Vater in der Schweiz; er lässt René tausend Mark da, die er brüderlich mit seinen Freunden Dirk, Michael und Mario teilt. Dies ist, und das spüren sie alle vier, ein Sommer, wie es ihn nie wieder geben wird für sie.

Die Jungs streifen durch die heiße, urlaubsleere Stadt und sitzen in Cafés herum, während sie darum wetteifern, besonders geistreich zu sein. Und: Sie gehen zweimal pro Woche in die Disko. Denn bei allem abgeklärten Gehabe geht es doch vor allem darum, das richtige Mädchen zu finden. Während Dirk und Michael um die forsche Rebecca buhlen und der Halb-Libanese Mario, der erst vierzehneinhalb ist, mächtig Schlag bei den Frauen hat, brennt René darauf, das Mädchen wiederzusehen, das im «Orion» noch nie zur falschen Musik getanzt hat.

 

«Skizze eines Sommers» ist ein warmherziger, leichter Roman über die beste aller Zeiten, die Jugend mit ihrer schönen Tragik – die erste Liebe, die Freundschaft, die für immer prägende Musik, die Bücher, die man immer und immer wieder liest. André Kubiczek erzählt wunderbar einfühlsam und hintergründig von einem Lebensalter, das trotz Unsicherheit von unendlichem Selbstbewusstsein und Vertrauen geprägt ist.

Über André Kubiczek

André Kubiczek, 1969 in Potsdam geboren, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. 2002 erschien sein hochgelobter Roman «Junge Talente», 2003 «Die Guten und die Bösen», über den die «Süddeutsche Zeitung» schrieb: «Kubiczeks zweiter Roman übertrifft den ersten noch an Witz und Einfallsreichtum: grell, spannend, böse.» Es folgten «Oben leuchten die Sterne», «Kopf unter Wasser» und «Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn». 2007 wurde André Kubiczek mit dem Candide-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien «Das fabelhafte Jahr der Anarchie» (2014).

Inhaltsübersicht

MottoTeil 1Böse BlumenSturmfreiDas ganze GeldCabaret VoltaireJagdfieberConnieTeil 2All Tomorrow’s PartiesDas Mädchen ohne NamenSchwarz sind alle meine KleiderSonjaGroße Schwester von FritziEcho BeachTeil 3Republik des SüdkreuzesFür immer und ewigBiancaKaputtes Haus am SeeRebeccaTeil 4Bruder und SchwesterKaltennordheimThe Boys are back in TownThrobbing GristleVictoriaLetztes Lied: Still lovin’ youWidmungQuellen

Here we are in our summer years

Living on icecream and chocolate kisses

 

BILLY BRAGG, GREETINGS TO THE NEW BRUNETTE

Teil 1

Every mother’s son’s romantic

Every mother’s son’s frantic

 

PREFAB SPROUT, FARON YOUNG

Böse Blumen

Keine Ahnung, wer zuerst zu wem kam, die Melancholie zu mir oder ich zur Melancholie. Aber eines stand fest: Seit einem Jahr war sie da. Und das andere: Sie ging seitdem nicht mehr weg.

Nicht mehr freiwillig.

Ich guckte in den Badezimmerspiegel, als mir dieser Gedanke in den Kopf schoss. Nicht dass jemand glaubt, ich würde mir solche Sachen aus den Fingern saugen, um mich interessanter zu machen oder wozu auch immer. Diese Ideen kamen einfach, und zwar aus dem Nichts, sie schlugen dann quasi in mein Gehirn ein wie der sogenannte Blitz aus heiterem Himmel.

Im Moment vorher überlegst du noch, ob du die Haare heute lieber nach links legst oder besser nach rechts wie immer, wo sie das Segelohr, was dort blöderweise wächst, wenigstens ein bisschen kaschieren. Und dann denkst du vielleicht noch so was wie: Nehm ich heute einfach nur Seife, was schneller geht, oder die teure Frisiercreme oder aber beides zusammen, und plötzlich – du hast gerade die Hände voller Schmadder und fuhrwerkst damit in deinen Haaren herum –, zack, ist er da, dieser Melancholie-Einfall oder irgendeine andere komische Idee. Und mit einem Mal ist dir total egal, in welche Richtung deine Haare heute stehen werden, denn mit einem Mal ist dir klar: Mensch, René, es gibt so viel Wichtigeres auf der großen, weiten Welt als den Sitz deiner dämlichen Frisur.

Jedenfalls ein, zwei Momente lang.

Das mit den Blitzeinfällen hatte stark zugenommen, seit wir vor einem Jahr angefangen hatten, diese Bücher zu lesen, Dirk, Michael und ich. Baudelaire und diesen ganzen Kram. Auch unseren Wortschatz hatten die Lektüren ziemlich aufgemotzt. Wir sagten jetzt Equipage statt Kutsche, wir sagten heutzutage, jemand sei impertinent, der uns früher einfach nur auf die Ketten gegangen war, und unser Segelohr, das heißt, meines, versteckte ich nicht mehr unter den Haaren, sondern kaschierte es.

Durch sie.

Nur Mario, den ich schon seit der Krippe kannte und der im selben Aufgang über uns wohnte und fast eine Art Bruder für mich war, weigerte sich nach wie vor, diese Meisterwerke der Literatur zu lesen. Jedes Mal lavierte er rum, wenn wir ihm eines jener unglaublichen Bücher ausleihen wollten, die gerade dabei waren, unsere bisherigen, kleinen und mehr als ordinären Leben total auf den Kopf zu stellen. Und ich meine: im guten Sinne auf den Kopf zu stellen. Vielleicht sogar andersrum: sie vom Kopf zurück auf die Füße zu stellen.

Keine Zeit, behauptete Mario meist, weil er noch seiner Mutter helfen müsse beim Aufräumen oder weil die Hausaufgaben noch nicht erledigt seien oder was ihm sonst an Ausreden einfiel, nur um nichts lesen zu müssen. Denn Mario war ein ziemlich fauler Strick, und wenn er zu uns sagte, er werde für seine Mutter einkaufen gehen, bedeutete das keinesfalls, dass er das wirklich machte, sondern lediglich, dass er zum Beispiel den Ekel von Jean-Paul Sartre nicht lesen wollte, den man hier im Wohngebiet neuerdings an jedem Zeitungskiosk erstehen konnte. Frage mich keiner, warum.

Dabei waren ein paar von unseren Büchern echt selten.

Es gab sie nicht einfach so zu kaufen.

Da konntest du Kohle haben bis zum Gehtnichtmehr, aber wenn’s was nicht gab, dann gab’s das eben nicht.

Basta.

Da nutzte kein Geld der Welt was, sprich: keine Mark der DDR, logisch. Und ich rede hier nicht von Tomatenketchup, Badezimmerfliesen, Autos und dem ganzen anderen Schwachsinn, den man nicht kaufen konnte. Ich spreche hier nur von Büchern, allerdings von den sogenannten guten.

Baudelaire und Konsorten.

Aber selbst wenn es diese Bücher zu kaufen gegeben hätte, wären sie wahrscheinlich unterm Ladentisch weggegangen.

Das sah man ja bei Karl May, der lange verboten gewesen war, wegen Revanchismus oder so. Und als sich dann vor ein paar Jahren der Wind drehte, weil er nicht mehr revanchistisch genug war oder weil sich die Maßstäbe für Revanchismus geändert hatten, da kamen plötzlich die ganzen Fliesenleger und Klempner und Autoschlosser in die Volksbuchhandlung und schnappten den armen Kindern die Karl-May-Bücher vor der Nase weg. Weil sie ja was nachzuholen hatten zwecks ihrer eigenen Kindheit. Und selbstverständlich kriegten sie die Bücher als Erste, weil ja auch Buchhändlerinnen ein Bad hatten, wo, wie bei den meisten Bürgern unseres Landes, nur Tapete über der Wanne klebte, die nass wurde beim Duschen und sich irgendwann von der Wand schälte. Klar, und weil die Buchhändlerinnen obendrein einen gebrauchten Moskwitsch besaßen, der jeden Winter von zwei Grad plus abwärts nicht mehr ansprang. Und weil auch die Toilette der einen oder anderen Buchhändlerin mal verstopft war und das ausgerechnet am Sonntag.

War ja nur allzu menschlich das Ganze.

Wobei ich nicht behaupten will, dass die versammelten Handwerker Baudelaire lesen würden, wenn’s den plötzlich in der Volksbuchhandlung geben würde. Da existierte vermutlich kein einziges Loch in einer Schornsteinfeger-Biographie, das sich mit den Blumen des Bösen stopfen ließe. Die Fliesenleger und Klempner würden uns vermutlich in hundert Jahren keinen Baudelaire vor der Nase wegkaufen, so wie sie es bei den Kindern mit den Karl-May-Schwarten machen. Was bedeutet, dass die bedauernswerten Kleinen, wie schon wir in diesem erbärmlichen Alter, sich mit Lederstrumpf und seinen Kumpanen herumplagen müssen, statt in den Blutsbrüder-Geschichten dieses ehemaligen Revanchisten zu versinken, die sie schon aus dem Fernsehprogramm um die Weihnachtstage kannten, und zwar bis zum Abwinken.

An Baudelaire kam man praktisch nicht ran. 73 hatte es mal eine Ausgabe gegeben. Insel Verlag, Leipzig.

Die Blumen des Bösen.

Der Spleen von Paris.

Stand in keiner Bibliothek – immer geklaut.

War in keinem Antiquariat zu finden. Und einen wie Rimbaud kriegte man nicht mal unterm Ladentisch, um erst gar nicht von Mallarmé anzufangen. Die waren quasi verboten, obwohl es keiner so direkt sagte, und zwar nicht wegen Revanchismus, sondern wegen Dekadenz.

Nehm ich jedenfalls an.

Aber vielleicht war auch bloß nicht genug Papier vorhanden, um das ganze Zeug zu drucken, keine Ahnung. Es herrschte bei uns ja ständig ein Überschuss an irgendwelchem Mangel, und vielleicht sah es einfach besser aus, wenn man sagte, ey, wir drucken den Nachmittag eines Fauns nicht, weil uns das zu dekadent ist und weil es unsere Jugend verdirbt und vom Klassenkampf ablenkt, was den Kommunismus noch mal um ein paar Jahrzehnte Richtung Sanktnimmerleinstag verschieben würde, wo wir sowieso schon im Verzug sind, als wenn man mit hängenden Schultern und Dackelblick einfach zugab: Tut uns leid, Freunde der obskuren Literatur, wir würden ja gerne, aber uns ist bedauerlicherweise das Papier ausgegangen.

Iswinitje, paschaluista.

Das war jetzt bloß ’ne private Theorie von mir, ganz klar, ohne jede Garantie auf Gültigkeit.

Aber: trotzdem.

Andererseits hatten Die grausamen Geschichten von Auguste Villiers de l’Isle-Adam durchaus ’ne Weile im Laden gelegen, ein bisschen fast wie sauer Bier, und ich besaß außerdem höchstpersönlich einen dicken Band von Paul Verlaine, Insel Verlag 77, dieser Typ da, der mal mit Rimbaud befreundet gewesen war, sozusagen richtig eng, schon mehr als nur befreundet, was soll ich sagen: quasi schwul. Und der ihn dann anschoss, vermutlich wegen der Liebe oder einem ähnlich lächerlichen Kram.

Das war ja alles dekadente Literatur, das konnte man im Literaturlexikon nachlesen, wenn man wollte und wenn man eins hatte. Die nannte sich sogar selber so.

Auguste Villiers de l’Isle-Adam!

Das musste man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, da kam nur noch einer knapp drüber:

Jules Amédée Barbey d’Aurevilly.

Den hatte ich Anfang des Jahres im Antiquariat gekauft, Ausgabe aus den zwanziger Jahren, rotes Leinen, zwölf Mark: Die Teuflischen.

Titel wie ein Manifest.

Diese Namen allein waren schon dekadent bis zum Anschlag. So was konnte sich kein Sterblicher jemals ausdenken.

Ich fragte mich allerdings in letzter Zeit ziemlich oft, was genau die Leute heutzutage immer meinten, wenn sie sagten, dieses sei dekadent und jenes auch.

Was heißt: die Leute?

Irgendwelche selbsternannten Autoritäten meine ich damit, und wenn’s nur der eigene Vater war. Das war ja mittlerweile kein normales Adjektiv mehr, dekadent, das hatte ja schon eine ordentliche Karriere als Schimpfwort hinter sich.

Als wir Mitte der Zehnten plötzlich in Anzügen zur Schule gekommen waren, Michael, Dirk und ich, Haare hoch und Broschen aus falschen Diamanten am Revers, hieß es auch sofort, wir seien dekadente Subjekte. Aber wir ließen sie einfach quatschen, die Klassenlehrerin, den Direktor, den bekloppten FDJ-Heini mit seiner gebrauchten Fußballer-Frisur von vor zehn Jahren, dessen offizieller Titel GOL-Sekretär lautete, was immer das ausgesprochen heißt.

Nach zirka einem Monat ging denen schließlich die Puste aus. Sie konnten uns ja eigentlich nichts, denn wir waren ziemlich gut in der Schule. Klar, keine gesellschaftliche Arbeit, die wir leisteten und alles, und durch die Sülz-Fächer immer unter der Ironie-Flagge gesegelt, aber dafür fuhren wir fast makellose Zensuren ein. Anders leider als Mario, der auch spitze Schuhe von seinem Opa trug und einen schwarzen Anzug, der gleichfalls wie ein Weihnachtsbaum behängt war mit den Klunkern aus der Modeschmuck-Boutique in der Klement-Gottwald-Straße. Aber wegen seiner miesen Leistungen stand er immer auf der Abschussliste der Lehrer. Und zwar sehr weit oben.

Na gut, sagten wir uns, dann waren wir eben dekadent, was sollte es. Abstrakte Kunst galt ja auch als dekadent, Malewitsch und das ganze Zeug. Bloß weil auf den Bildern keine Arbeiter zu sehen waren und keine Bauern, die was Nützliches machten. Oder die sich gerade von irgendeiner nützlichen Tätigkeit erholten, um Kraft für die nächste nützliche Tätigkeit zu tanken. Und so weiter. Zum Beispiel, um das Wohnungsbauprogramm zu vollenden oder Weißkohlköpfe vom Acker zu klauben.

Aber eigentlich glaube ich, dass die ganzen selbstverfügten Autoritäten, die von Dekadenz faselten, einfach keinen blassen Schimmer hatten von den Sachen, die sie dauernd mit dem Wort belegten. Von New-Wave-Bands zum Beispiel und von abstrakter Kunst, wie gesagt, und von diesen Büchern, in denen es eben darum ging, möglichst unnütz zu sein.

Huysmans zum Beispiel, Gegen den Strich.

Den hatte es immerhin zu kaufen gegeben. Gustav Kiepenheuer Verlag. Leipzig 81.

Der Held zum Beispiel, dieser des Esseintes, der im Hochsommer in seinen Pelzmantel steigt und in einem Schlitten spazieren fährt. Und nicht mal schwitzt dabei.

Und diese Blumen, die er sich zu Hunderten ins Haus liefern lässt, nicht, weil sie sein Auge erfreuen mit ihrer Anmut, sondern weil sie aussehen, als bestünden sie aus Blech oder Porzellan, und trotzdem lebendig sind.

Die abwegigsten Orchideen.

Denn eines stand fest: Das Künstliche war in jedem Fall schöner als das Natürliche.

Und dann natürlich Dorian Gray, der sich genau dieses Buch von Huysmans in allen möglichen Farben binden lässt, damit er passend zu seiner Stimmung den richtigen Umschlag wählen kann, um in dem einzigen Buch zu lesen, das ihm was bedeutet.

Das war wirklich dekadent.

Und es war auch ziemlich abgefahren.

Von den Blumen des Bösen jedenfalls gab’s in freier Wildbahn nur ein einziges Exemplar. Es stammte von achtzehnhundertnochwas und gehörte der Wissenschaftlichen Allgemeinbibliothek in der Heinrich-Rau-Allee. Aber wir hatten da so eine Art Abo drauf, Michael, Dirk und ich. Immer, wenn einer von uns das Buch abgab, stand der nächste quasi schon hinter ihm in der Schlange bereit und lieh es sofort wieder aus. Auf diese Weise schützten wir unsere Stadt vor der Baudelaire’schen Dekadenz.

Und vor der Melancholie natürlich, die sie im Schlepptau hatte, wie das Amen in der Kirche, und die ganze Landstriche verwüstete, glaubte man den Autoritäten.

Oder war es andersherum?

Erst die Melancholie und dann die Dekadenz.

Apropos Melancholie, dachte ich, während ich mein fliehendes Ohr im Spiegel begutachtete und es probehalber an den Schädel drückte: Wer war denn nun zuerst zu wem gekommen? Doch ich hatte keine Zeit mehr, die Frage zu beantworten, denn es klopfte jetzt laut und – wir mir schien – ziemlich übellaunig an der Badezimmertür.

 

«Mensch, René, jetzt komm mal aus dem Knick», hörte ich meinen Vater im Flur rumnörgeln, «der Wagen muss jede Minute da sein.»

«Sekunde!» Ich war noch lange nicht fertig mit den Haaren. Ich hatte sie jetzt einmal komplett nach links gelegt und dann einmal komplett nach rechts. Und gleichzeitig, auf einer zweiten, unterbewussten Ebene oder so, hatte ich überlegt, ob es nicht besser sei, das abstehende Ohr mal so richtig zur Geltung zu bringen, statt es immer zu kaschieren. Wenn einer was sagte oder versuchte, sich lustig zu machen, konnte ich immer noch ein Loblied auf die totale Asymmetrie anstimmen. Und falls er weiterhin keine Ruhe geben würde, konnte ich ihm ein paar Stellen aus meinem kleinen Notizbuch um die Ohren hauen, das ich wie ein zweites Gedächtnis ständig mit mir rumtrug. Ich schrieb dort nicht nur Zitate aus Büchern rein, die mir beim Lesen gefielen, sondern auch sämtliche meiner komischen Blitz-Einfälle.

Auch Michael und Dirk besaßen kleine Notizbücher, und so krakelten wir den lieben langen Tag in diese Notizbücher rein, auf dem Schulhof, an der Straßenbahnhaltestelle, im Café Heider, manchmal sogar abends im Orion. Alle drei schrieben wir mit Bleistiften, und seit kurzem hatte sich so ein komischer Wettbewerb entwickelt, wer von uns den kürzesten Bleistift hatte. Denn, logisch, der mit dem kürzesten war der mit den meisten interessanten Einfällen, der Schlauste, sozusagen. Weil ich aber weder Michael noch Dirk in dieser Angelegenheit über den Weg traute, hatte ich irgendwann begonnen, meine Bleistifte anzuspitzen, ohne dass es nötig gewesen wäre, nur um möglichst viele Späne abzuhobeln und so an Länge zu verlieren. Klar, man durfte es nicht übertreiben, wollte man glaubwürdig bleiben, aber der eine neue Bleistift pro Woche, bei dem ich jetzt angekommen war, schien mir noch im Bereich des Vertretbaren zu liegen.

Ich beschloss, die Haare heute ausnahmsweise mal nach links zu legen, und wenn mir einer dumm kam wegen dem Ohr, ihn mit ein, zwei Zitaten von Huysmans und Konsorten zu erledigen. Die passten immer, egal, worum es ging.

«Was treibst du eigentlich? Du bist jetzt schon seit fünfzehn Minuten da drin», kam die Stimme meines Vaters durch die geschlossene Badezimmertür.

«Nichts Besonderes.» Ich versuchte, möglichst harmlos zu klingen, während ich mich vorsichtig auf den Toilettendeckel setzte, das Notizbuch und den Bleistiftstummel aus der Hosentasche zog und zu schreiben begann: Wer kam eigentlich zuerst zu wem …

«Herrgott, schlimmer als ein Mädchen!»

«Du kannst ja schon mal runtergehn. – Ich komm dann gleich nach.»

«Aber beeil dich gefälligst!», sagte mein Vater mürrisch, und dann hörte ich, wie er die Wohnungstür ins Schloss knallte.

Ätzend!

Keine Contenance.

Und das am letzten Tag.

Als ich vom Klodeckel aufstand, hörte ich, wie draußen auf der Straße eine Hupe losging. Nicht einmal, nicht zweimal, sondern quasi im Stakkato, sie klang ganz ähnlich, wie gerade schon das Klopfen meines Vaters an der Badezimmertür geklungen hatte.

Irgendwie unwirsch.

Ich steckte das Notizbuch ein und warf einen letzten Blick in den Spiegel: ein ungewohnter Anblick, so mit freigelegtem Ohr. Aber besser, als hätte ich die Haare gar nicht gemacht. Man konnte nie wissen, wer gerade vorbeikam, wenn man mit seinem Vater zehn Minuten vor dem Block rumstand. Dirk oder Michael, vielleicht sogar das Mädchen, dessen Namen ich nicht kannte, oder ihre beste Freundin, die ihr dann brühwarm weitererzählte, wie sie mich auf der Straße gesehen hatte. Mit angeklatschten Haaren, womöglich noch in Trainingshose und Pantoffeln.

Aber ohne mich!

Noch einmal ging draußen die Hupe los. Jetzt musste ich mich echt sputen. Ich steckte die Wohnungsschlüssel ein und stürzte die zwei Treppen zur Haustür hinunter.

Draußen vor dem Wohnblock wartete mit laufendem Motor ein grauer Wolga. Der Fahrer ließ seinen Arm aus dem heruntergekurbelten Fenster hängen, während er eine Zigarette rauchte. Er trug einen kurzärmeligen, hellen Strickpullover, unglaublich buschige Koteletten, und seine Haare waren mit Wasser zur Seite gekämmt. Die linke hintere Tür des Wolgas stand offen, und daneben wartete mein Vater mit einem bösen Blick, wie aus einer dieser Horrorgeschichten von Théophile Gautier. Über seinem Arm hing der polnische Trenchcoat, den er letzte Woche im Konsument-Warenhaus gekauft hatte. Er war sehr stolz gewesen, dass er das alleine geschafft hatte, ohne seine Sekretärin um Hilfe bitten zu müssen, wie normalerweise bei jedem Kleinkram, oder sonst irgendwen. Aber erst jetzt, im hellen Juli-Vormittagslicht, fiel mir auf, dass irgendwas an dem Mantel verkehrt war. Ich musste nicht lange überlegen: Es war die Farbe. Ich hätte ihm das gerne gesagt, aber ich konnte es nicht und zwar aus einem einzigen Grund: Ich wusste nicht, wie ich ihn anreden sollte. Etwa so: Ey, du, da stimmt was nicht mit deinem Mantel?

Ich hatte aufgehört, Papa zu sagen, als er aufgehört hatte, sich mit mir zu beschäftigen, als ich elf gewesen war oder zwölf. Und ich konnte schlecht Vater sagen, das klang irgendwie zu förmlich, obwohl es vielleicht gar nicht schlecht gepasst hätte. Also sagte ich lieber nichts und starrte stattdessen stumm den Trenchcoat an, der nicht von diesem dezenten Trenchcoat-Beige war, das man allgemein kannte, sondern eher ins Gelbliche schlug.

Schlimmer, er war gelb.

Noch schlimmer: Er war richtig kanarienvogelfarben.

Er wird sich wahnsinnig blamieren, dachte ich, vor all diesen Leuten aus der ganzen Welt, aber bevor ich ihn warnen konnte, zur Not auch ohne Anrede, sagte mein Vater: «Mensch, du siehst aus wie ein Leichengräber, René.» Er meinte wohl die schwarzen Klamotten, in denen ich steckte.

«Der alte Mantel war irgendwie besser», sagte ich, «der dunkelblaue.»

«Was stimmt denn mit diesem hier nicht?», fragte mein Vater und hob seinen Arm mit dem zweifelhaften Trenchcoat leicht an. Ich erwiderte nichts, und nach zwei Sekunden fuhr mein Vater von selbst fort: «Na, dann mach’s mal gut.»

«Ja, du auch.»

«Und benimm dich, verstanden?»

«Klar, mach ich.»

«Den Rest haben wir besprochen, oder?»

«Haben wir.»

«Also –», sagte mein Vater, gab mir die Hand und stieg in den Dienstwagen ein.

Ich blieb so lange auf der Straße stehen, bis der Wolga nach dreihundert Metern rechts auf die Thälmannstraße abgebogen war, wo es nach Schönefeld ging. Dann setzte ich mich auf die Stufen, die zu unserem Aufgang führten, und rauchte eine Zigarette, was ich normalerweise nie machte in der Nähe unserer Wohnung. Aber weder das Mädchen ohne Namen kam vorbei, noch eine ihrer Freundinnen, weshalb ich mich schnell wieder nach oben verzog, nachdem ich die Kippe zertreten hatte.

Sturmfrei

Genau einen Tag vor meinem sechzehnten Geburtstag flog mein Vater in die Schweiz. Er flog nicht einfach so, in den Urlaub oder um Leute zu besuchen, denn das ging ja bekanntlich nicht, er nahm an einer Konferenz teil, in Genf. Und das Beste war, die Konferenz sollte sieben Wochen lang dauern, fast bis Ende August, was bedeutete:

Praktisch die ganzen Ferien.

Fragt mich bloß nicht, worum es genau ging bei dieser Konferenz. Natürlich hatte mein Vater es mir erzählt, aber wahrscheinlich hatte ich nicht richtig zugehört. Ich wusste nur so viel: Es sollte irgendwie über den Frieden verhandelt werden, über Abrüstung. Die im Westen besaßen ja Atomraketen, und wir besaßen auch welche, das heißt, unsere sowjetischen Freunde besaßen die, und nachdem sie auf beiden Seiten jahrelang das Zeug angehäuft und überall verteilt hatten, kamen ein paar schlaue Köpfe langsam auf den Trichter, dass man es vielleicht doch ein bisschen übertrieben hatte damit.

Es reichte ja aus, wenn man genug Kernwaffen hatte, um die ganze Welt dreimal zu vernichten. Warum sollte man dann so viele horten, dass es auch sechsmal gegangen wäre oder neunmal.

Unlogisch.

Denn komplette Welt weg hieß, komplette Welt weg.

Sparte man ja auch ein bisschen Geld, wenn man nur Waffen für die dreimalige Weltvernichtung besaß. Das konnte man dann für sinnvollere Dinge ausgeben.

Zum Beispiel für ein paar schicke Atom-Bunker.

Okay, darüber machte man keine Witze, aber ehrlich gesagt hing mir die ganze Friedenssülze mächtig zum Hals raus. Was nicht heißt, dass ich für Krieg war. Wer ist schon für Krieg? Ich hätte nur gern auch mal was anderes gehört, in den Nachrichten und in der Schule. Oder mal was Originelleres gelesen in der Zeitung und an den Litfaßsäulen als immer nur: Mein Arbeitsplatz, Kampfplatz für den Frieden.

Kampfplatz für den Frieden, ey!

Lasst euch das mal auf der Zunge zergehen!

Aber ich will mich nicht sinnlos echauffieren, denn eigentlich war mir ziemlich egal, was die Litfaßsäulen so sagten, um mal nicht von den Lehrern anzufangen. Ich hatte fast 16 Jahre Zeit gehabt, mich an die ganzen Sprüche zu gewöhnen. Und wisst ihr was? Ich hatte es wirklich getan.

Wann immer einer von uns im Staatsbürgerkundeunterricht aufgerufen wurde, Dirk, Michael oder ich, wo wir in der letzten Bankreihe saßen und normalerweise Neuaufteilung der Welt spielten, mit Karten, die wir aus dem Geschichtsbuch gerissen hatten, dann schnellten wir hoch wie von der Tarantel gebissen, schlugen die Hacken zusammen, legten die Hände an die Hosennaht und skandierten zackig die Antwort heraus.

Zum Beispiel, dass Sowjetmacht plus Elektrifizierung gleich Kommunismus bedeute. Wie bekanntlich schon Lenin gewusst hatte. Oder dass das Ziel der Entwickelten Sozialistischen Gesellschaft, in der wir gerade lebten, die Vereinigung von Wirtschafts- und Sozialpolitik sei.

Hatten wir den Spruch zu Ende aufgesagt, schlugen wir noch mal die Hacken zusammen und setzten uns wieder hin. Die Klasse lachte, und die Lehrerin, die frisch von der Hochschule gekommen war, wurde rot. Sie hatte uns tadeln wollen und musste uns stattdessen loben für die richtige Antwort. Anfangs versuchte sie noch, an unsere Vernunft zu appellieren, dass solche Dinge wie die Elektrifizierung der Sozialpolitik zu wichtig seien, um zwar faktisch korrekt, aber in alberner Manier darüber zu reden.

Aber auf dem Ohr waren wir so richtig taub.

Einen Monat jedenfalls nachdem sie bei uns den Staatsbürgerkundeunterricht übernommen hatte, gab sie es auf, einen von uns dreien überhaupt noch aufzurufen. Wir hatten ab jetzt noch mehr freie Zeit in ihrem Unterricht und rissen von nun an die ganz großen Weltkarten aus dem Erdkunde-Atlas heraus.

Was ich eigentlich sagen wollte: Die Friedensparolen und Parolen überhaupt gingen bei mir zum einen Ohr rein und kamen zum anderen sofort wieder rausgeschossen. Und zwar mit doppelter Geschwindigkeit. Wahrscheinlich konnte ich deshalb nur ungenau sagen, was für eine Konferenz das genau war, zu der mein Vater da flog.

Da reichte, wenn einer das Wort Abrüstung sagte, und mein Kopf stellte sich automatisch auf Durchzug. Reine Glückssache, wenn mal ein wichtiger Fetzen hängenblieb.

 

Ungefähr vor einem halben Jahr, im Winter, hatte sich diese Dienstreise angekündigt in Form von Herrn Kohlschmidt aus dem vierten Stock, der abends kurz nach sieben vor der Tür stand.

Herr Kohlschmidt war das, was meine Oma einen patenten Mann nannte. Er arbeitete als Busfahrer im Schichtdienst, seine Frau war Kindergärtnerin, er verfügte über zwei kleine Töchter, und sie waren alle ganz nett.

Früher, als meine Mutter noch gelebt hatte, besorgte Herr Kohlschmidt uns manchmal Ersatzteile für den Wartburg, oder er half, eine Tür an der Schrankwand zu reparieren, wenn sie nur noch in einer Angel hing, oder er lieh uns seine Schlagbohrmaschine, wenn wir ein Bild aufhängen wollten. Seit meine Mutter tot war, machten wir kaputte Schranktüren einfach nicht mehr auf. Wir präparierten sie so, dass sie nicht herausfielen, und benutzten sie dann nie wieder.

Und Bilder?

Wer brauchte schon Bilder.

Mein Vater jedenfalls nicht.

Sowieso: Alles, was nicht nützlich war oder Zeug, dem man nicht auf Anhieb eine Funktion zuordnen konnte oder das einfach nur gut aussah und das Auge erfreute, bezeichnete er als Staubfänger.

Sei es ein Gartenzwerg oder eine Skulptur von El Lissitzky.

Nur Bücher nicht, das muss ich zugeben. Denn da besaßen wir geradezu Massen von. Allerdings nicht die wirklich guten, ihr wisst ja ungefähr, welche ich meine.

Eher die halbguten: Dostojewski und Konsorten.

Wir gingen auch nicht mehr zu den Hausgemeinschaftsfesten, die im Sommer auf dem Trockenplatz hinterm Block gefeiert wurden, wo es Bratwürste gab und Bier. Geschweige, dass wir uns bei den Arbeitseinsätzen blicken ließen, den sogenannten Subbotniks: Laubharken und in den Zierbüschen nach kaputten Flaschen tauchen. Aber ich will mich jetzt auch nicht über alles beschweren.

Man kann schon sagen: Seit meine Mutter tot war, lebten wir ein bisschen wie Aussätzige.

Falsches Wort.

Wie Einsiedler, muss es heißen, lebten wir.

«Kann ich deinen Vater sprechen, René?», fragte Herr Kohlschmidt an besagtem Abend vor einem halben Jahr.

«Der ist nicht da», sagte ich, obwohl mein Vater auf dem Sofa lag und Westnachrichten guckte.

Die müsse er wegen seiner Arbeit im Auge behalten, behauptete mein Vater immer und grinste. Genauso wie den Internationalen Frühschoppen am Sonntag und den Weltspiegel. Ich will nicht angeben, aber wegen Weltspiegel und Frühschoppen kannte ich mich einigermaßen gut aus, erstens: in der Welt, und zweitens: in der BRD. Eigentlich durfte ich ja nicht mitgucken, aber irgendwann war ich einfach sitzen geblieben, als mein Vater zum Westsender gewechselt war, und er hatte kein einziges Mal versucht, mich aus dem Zimmer zu komplimentieren. Im Gegenteil: Wenn ich jetzt am Sonntag Formel Eins einstellte, mit den Musik-Videos, verließ er diskret den Raum und ging rüber in sein sogenanntes Arbeitszimmer, wo er tat, als würde er die Aufgaben seiner Studenten korrigieren. Er kam erst wieder raus, wenn er hörte, dass ich aufs Klo ging.

Ohne dass wir es abgesprochen hatten, bedeutete die gezogene Klospülung das Ende von Formel Eins.

«Es ist ziemlich wichtig», sagte Herr Kohlschmidt.

«Soll ich ihm was ausrichten, wenn er zurück ist?»

 

Eine meiner obersten Pflichten im Haushalt nämlich war es, meinen Vater zu verleugnen, wann immer es ging. Zu behaupten, er sei nicht zu Hause, wenn er doch zu Hause war. Meistens musste ich die Wohnungstür öffnen, wenn es klingelte. Und ich nahm auch meist das Telefon ab. Nur für drei Personen, deren Namen auf einem Zettel standen neben dem Telefon, war mein Vater sofort zu sprechen. Das waren irgendwie Chefs von ihm und meine Oma natürlich. Alle anderen mussten bitten und betteln oder eine Nachricht bei mir hinterlassen, die ich auf einen Zeitungsrand krakelte und manchmal schon Sekunden später nicht mehr entziffern konnte.

Was mir allerdings nie eine Rüge einbrachte.

Wer was Wichtiges vorzubringen habe, versucht es ein zweites Mal, behauptete mein Vater.

 

«Mensch, Junge, euer Wartburg steht doch vor der Tür», beharrte Herr Kohlschmidt.

«Ach so», sagte ich, «aber wissen Sie was? Mein Vater ist heute nämlich …»

«Jetzt erzähl mir nicht, dass er ausgerechnet heute mit dem O-Bus zur Arbeit ist», unterbrach mich Herr Kohlschmidt, «diesen Bären kannste einem andern aufbinden.»

«Ist er aber», sagte ich schnell, und ich war dankbar, dass Herr Kohlschmidt mir die Mühe abgenommen hatte, eine eigene Lüge erfinden zu müssen.

«Wenn das so ist», sagte Herr Kohlschmidt und kratzte sich mit der rechten Hand am Ellbogen des linken Arms. Man sah deutlich, dass er dabei war, zu kapitulieren.

Ich wollte schon tschüss sagen und dann schnell die Tür schließen, als aus der Wohnung die Stimme meines Vaters kam: «Was ist denn los, René?»

«Du bist ja doch schon zu Hause», rief ich.

Ich zog dabei die Augenbrauen so hoch, wie ich nur konnte. Ihr wisst schon: um Herrn Kohlschmidt größtmögliche Überraschung zu signalisieren.

Ich bekam beinahe einen Krampf im Gesicht.

«Mensch, Junge, glaubst du, ich zieh meine Hose mit der Kneifzange an?»

«Ruhig Blut, Herr Kohlschmidt», sagte mein Vater und trat hinter mich, «kann ich Ihnen helfen?» Er berührte sogar kurz meine Schulter, was er nicht mehr getan hatte, seit ich vermutlich ein Kleinkind gewesen war. So wenig konnte ich mich daran erinnern.

«Ja», sagte Herr Kohlschmidt, «oder anders gesagt: nein. – Ich wollte Ihnen nur kurz was erzählen.» Doch statt das zu erzählen, was er zu erzählen hatte, beschwerte er sich, dass ich ihn gerade angelogen hätte.

«Der Junge konnte nicht wissen, dass ich schon da bin», sagte mein Vater. Überrascht blickte ich mich um. «Ich bin heute früher von der Arbeit los», fuhr mein Vater fort, «Migräne. – Bekomme ich fast immer bei Tiefdruck. Ich habe mich im Schlafzimmer aufs Ohr gelegt, und das hat René wohl nicht bemerkt, als er nach Hause gekommen ist.»

Jetzt kniff mein Vater seinerseits leicht die Augen zusammen, wahrscheinlich um zu zeigen, dass die Migräne noch immer in seinem Schädel wütete.

Es sah so unecht aus, dass es weh tat.

Wir waren einer wie der andere ziemlich lausige Mimen.

«Wenn Sie das sagen, wird’s stimmen.» Herr Kohlschmidt schien besänftigt.

Merke, dachte ich: Doppelt gelogen hält besser.

«Also schönen Feierabend», sagte mein Vater und streckte unserem Nachbarn die Hand entgegen. Herr Kohlschmidt schlug herzhaft ein.

«Ach ja, weswegen ich eigentlich gekommen bin …», unterbrach Herr Kohlschmidt die Verabschiedung und bedeutete mit einer Geste, dass er lieber ohne mich weitersprechen wollte. Es sah aus, als wische er einen unsichtbaren Krümel von einem ebenso unsichtbaren Tischtuch. Und zwar in meine Richtung.

«René!», sagte mein Vater.

Ich sagte «Tschüss» und verzog mich in mein Zimmer. Von dort hörte ich, wie mein Vater Herrn Kohlschmidt ins Wohnzimmer bat. Als ich nach einer Dreiviertelstunde Hunger bekam und in die Küche ging, um mir eine Teewurststulle zu schmieren, war Herr Kohlschmidt noch immer da. Ich hörte ihn laut lachen. Erst kurz vor neun machte er sich auf den Weg nach oben.

«Was war denn?»

«Nichts», sagte mein Vater. Auf dem Couchtisch stand eine Flasche Napoléon aus dem Intershop, daneben zwei Cognacschwenker.

«Gibt’s was zu feiern?»

«Wer weiß das schon?» Mein Vater grinste und goss sich einen weiteren Schluck ein. Normalerweise trank er keinen Schnaps, er kam überhaupt nicht damit hinterher, den ganzen Napoléon zu vernichten, den ihm meine Oma zu jedem Feiertag schenkte. Weihnachten, Ostern, Geburtstag. Wir hatten mittlerweile ein richtiges Lager im Schrank unterm Abwaschtisch.

«Na, du weißt es vielleicht», sagte ich.

Mein Vater ließ sich in die Couch zurücksinken, schwenkte das Glas, nippte an dem Gesöff, schwenkte das Glas eine weitere Runde und nippte wieder. Keine Ahnung, ob er die Spannung steigern wollte oder einfach vergessen hatte, mir zu antworten. Seine Augen waren jedenfalls ein bisschen glasig. Das ging vielleicht eine halbe Minute so, dann sagte ich: «Ich geh mal wieder rüber.»

«Zwei Männer haben sich nach mir erkundigt.»

«Hä?»

«Bei Herrn Kohlschmidt.»

«Was für Männer?»

«Polizei angeblich. Kripo. Aber Herr Kohlschmidt hat einen anderen Verdacht.»

«Und welchen?»

«MfS.»

«Staatssicherheit?»

«Ministerium für Staatssicherheit, du sagst es.»

«Was wollten die denn wissen?»

«Was für Besuch wir kriegen, ob es Auffälligkeiten gibt, et cetera.»

«Und was bedeutet das?»

«Tja», sagte mein Vater und nahm noch einen Schluck.

Ich fragte mich, ob er ein schlechtes Gewissen hatte. Wegen dem Westfernsehen. Oder weil wir uns vor Jahren heimlich mit seiner Westcousine getroffen hatten, was streng verboten war wegen seiner Arbeit. Oder wegen Dingen, von denen nicht mal ich etwas ahnte.

Also wirklich schlimme Sachen.

«Und was hat Herr Kohlschmidt denen erzählt?»

«Nichts Besonderes, sagt er. – Belanglosigkeiten.»

«Dann ist ja gut.»

«Willst du auch einen», fragte mein Vater und zeigte auf den Napoléon.

«Heut ausnahmsweise mal nicht», sagte ich und ging ins Bad, wo ich mich fragte, ob er das mit dem Schnaps ernst gemeint hatte.

 

«Gestern waren die Bullen bei uns», erzählte mir Mario am nächsten Tag auf dem Schulweg. «Zwei Zivile. So Typen mit Mantel und Schal. Und mit Hut, ohne Scheiß.»

«Echt jetzt?»

«Ja. Und mit Lederhandschuhen. – Und weißt du, warum?»

«Nee.»

«Wegen deinem Vater. – Ich soll’s dir ausrichten, und zwar von meiner Mutter, und du sollst es ihm weitersagen.»

«Mach ich.»

Mario blieb stehen.

«Was ist denn?», fragte ich und blieb auch stehen.

«Hat dein Alter was ausgefressen oder was?»

«Keine Ahnung.»

«Du nimmst das aber ziemlich locker.»

«Und wenn schon.»

«Na ja, ist schließlich auch deine Sache.» Mario schien enttäuscht von meiner laschen Reaktion auf die Nachricht, die er für eine Sensation hielt.

«Eben», sagte ich, «aber trotzdem: danke für den Tipp.»

Auch bei Frau Wegener, die unter uns wohnte, war die Polizei gewesen, oder war es wirklich das MfS, und hatte sich nach unserem Alltagsleben erkundigt. Aber auch Frau Wegener hatte ihnen nichts erzählt, wie sie uns abends zwischen Tür und Angel gestand. Vermutlich eher, weil es wirklich nichts gab, was sie hätte ausplaudern können, als dass sie nicht gewillt gewesen wäre, Auskunft zu erteilen.

Unser einziges Vergehen, das Schwänzen der Arbeitseinsätze, überlegte ich später in der Nacht, kurz vor dem Einschlafen, glichen wir ja durch die gleichfalls geschwänzten Hausgemeinschaftsfeiern irgendwie wieder aus.

Keine Arbeit – kein Schnaps.

Was also war da los?

 

Einen Monat lang, bis Anfang März, lebten wir in Ungewissheit. Nichts passierte. Das heißt, es passierte nur der übliche langweilige Kleinkram. Wie es meinem Vater in der Zeit ging, wusste ich nicht, denn wir sprachen nicht über solche Dinge, die sich im Inneren abspielen, Gefühlswelt und so weiter. Ich jedenfalls begann, die Sache zu vergessen, nachdem Mario endlich aufhörte, über mögliche Straftaten meines Vaters zu spekulieren, sowohl kriminelle als auch politische. Und so wunderte es mich einigermaßen, als eines schönen Frühlingstages mein Vater lange vor Feierabend im Wohnzimmer saß und mit wichtiger Stimme verkündete, er werde mit einer Delegation in die Schweiz fahren, um über die Abrüstung von nuklearen Mittelstreckenraketen oder so was zu verhandeln.

Frieden!

Die Männer, die sich im Winter nach ihm erkundigt hatten, seien tatsächlich vom MfS gewesen. Ausgesandt, um seine Eignung als sozialistischer Reisekader zu überprüfen, dem in Kürze ein Diplomatenpass ausgehändigt werden würde.

Zur Feier des Tages wollte mich mein Vater ins bulgarische Spezialitätenrestaurant einladen, am Bassinplatz, wo es Grillplatten und Pommes frites gab.

Vorher jedoch musste ich Herrn Kohlschmidt noch eine Flasche Napoléon aus unserer nie versiegenden Napoléon-Flaschen-Quelle hochbringen. Als Dank, weil er ja der Erste war, der damit angekommen war.

«Und warum muss ich das machen?»

«Weil gerade ein Tiefdruckgebiet aus Richtung Süden aufzieht», sagte mein Vater, grinste und drückte mir die Pulle für Herrn Kohlschmidt in die Hand.

Ich muss schon sagen: Er hatte sehr zufrieden gewirkt in jenem Moment.

Auf diese Art also war ich zu einer sturmfreien Bude für fast zwei Monate gekommen.

Und die fingen wann an?

Genau: Jetzt!

Und wisst ihr, was das Beste war?

Das ganze Geld

So viel davon hatte ich noch nie auf einem Haufen gesehen. Was heißt Haufen? In einem sauberen, exakt ausgerichteten Stapel lag es vor mir.

1000 Mark.

In Worten: eintausend.

Zehn blaue, nagelneue Hunderterscheine. Keine Knicke, keine Flecken. Vorne war Karl Marx drauf, hinten der Palast der Republik. Die Scheine hatten in einem Briefumschlag gesteckt, auf den mein Vater mit seiner zackigen Handschrift René geschrieben hatte. Auf dem Couchtisch lag neben dem Umschlag außerdem ein Päckchen von der Größe einer Schuhschachtel. Das Päckchen war in zerknittertes Weihnachtspapier aus dem letzten Jahr gewickelt, und es enthielt mein Geburtstagsgeschenk.

Ich nahm den Stapel und hielt ihn mir unter die Nase. Dieses Geld roch, wie nur eine Sache auf der Welt riecht: frisches Geld. Anders als manches neue Buch aus der Volksbuchhandlung stank es tatsächlich nicht. Genau, wie man es ihm nachsagte.

Und man sagte ihm ja auch noch anderes nach.

Dass es den Charakter verderben würde.

Oder die Welt regiere.

Ich drehte das Bündel vorsichtig zu einer Rolle. Ich ließ die Kanten der Scheine an meiner Daumenkuppe abblättern. Dann zog ich einen Schein aus dem Bündel heraus und steckte ihn mir in die Hosentasche, den Rest packte ich in den Umschlag zurück.

Tausend Mark waren eine Menge Kohle. Fast so viel, wie mein Vater in einem Monat verdiente. Ich nahm an, er wollte mit diesem Riesenbatzen ein bisschen sein schlechtes Gewissen kompensieren. Immerhin ließ er mich ganze sieben Wochen alleine. Keine Ahnung, ob es nicht ein Gesetz gab, das dergleichen verbot. Vernachlässigung von Kindern oder so was in der Art. Denn pro forma war ich noch für zwei Jahre und einen Tag Kind. Nur mal fürs Protokoll.

Klar, er hatte versucht, mich zu meinen Großeltern abzuschieben, in den Harz. Aber: Hey, ich war keine zwölf mehr, wo mich die Aussicht darauf gefreut hätte. Von wegen jeden Tag Wunschessen und Fernsehen bis zum Gehtnichtmehr, und zwar auf allen vier Sendern. Detektiv Rockford, Straßen von San Francisco und dieser Kram. Doch was sollte ich heutzutage zwei Monate lang in diesem elenden Kaff anstellen?

Die Berge anstarren?

Mich von den Hinterwäldlern vollquatschen lassen?

Sehnsuchtsvoll den Zügen Richtung Zivilisation nachwinken?

Es hatte ein paar Diskussionen darüber gegeben, aber weil mein Vater nicht gerne diskutierte und ich auch nicht, jedenfalls nicht mit ihm, hatten wir uns schnell darauf geeinigt, dass ich die Hälfte der Zeit allein in Potsdam bleiben durfte und für den Rest der Ferien zu meinen Großeltern fuhr.

Ich schaltete den Fernseher ein, aber es lief noch nichts, weshalb ich ihn wieder ausmachte. Dann nahm ich das Päckchen mit dem Geburtstagsgeschenk hoch. Es war verdächtig leicht, so als enthielte es rein gar nichts. Als ich es schüttelte, raschelte es leise in seinem Inneren. Eher so ein kaum wahrnehmbares Schaben. Der Wohnzimmerchronometer zeigte halb elf. In dreizehneinhalb Stunden fing mein Geburtstag an. Aber so lieblos, wie das Geschenk verpackt war, wollte ich es, ehrlich gesagt, so schnell wie möglich aus den Augen kriegen. Mit einem Ruck riss ich das gebrauchte Papier mit den winkenden Schneemännern ab. Darunter kam tatsächlich ein Schuhkarton zum Vorschein. Immerhin einer von Salamander aus dem Exquisit. Kackbraune Treter waren da mal drin gewesen, die sich mein Vater mit Hilfe seiner Sekretärin gekauft hatte. Wenn er die mit seinem nagelneuen Trenchcoat kombinierte, dachte ich, erinnerte das ein bisschen an Vanillepudding mit Schokoladensoße.

Ich schüttelte noch mal. Aber das Geräusch klang auch ohne das dämpfende Geschenkpapier nicht vielversprechender. Ich nahm den Deckel ab und sah hinein. Meine niedrigen Erwartungen wurden keinesfalls enttäuscht. Auf dem Kartonboden lag ein Briefumschlag, auf den mein Vater mit seiner zackigen Handschrift mal wieder René geschrieben hatte. Dieser Umschlag glich jenem, den ich vorhin geöffnet hatte, nur dass er dünner war. Zwillinge quasi, und in ihm steckten, haltet euch fest, zwei weitere Hundertmarkscheine, über die ich mich sonst wahnsinnig gefreut hätte. Aber so war das nun mal: Wenn man schon unglaublich viel Geld besaß, dann machten zwanzig Prozent mehr den Braten auch nicht fetter.

Ich will trotzdem nicht meckern.

Neben den Scheinen steckte eine Osterkarte im Umschlag. So aufgeplatzte, fleischige Weidenkätzchen an Weidenkätzchen-Stöcken mit entsprechendem Behang: Eier, Hühner, Hasen, alle bester Laune. Auf der Rückseite der Karte stand:

«Lieber René,

alles Gute zu Deinem 16. Geburtstag, Gesundheit und Schaffenskraft wünscht Dir

Dein Vater.»

Schaffenskraft, oh ja.

Die brauchte ich natürlich besonders dringend.

Herzlichen Dank!

Ich steckte die zweihundert Mark zu den anderen hundert in die Hosentasche. Das Weihnachtspapier knüllte ich so fest zusammen, dass es unmöglich noch ein drittes Mal benutzt werden konnte. Dann stopfte ich es mit der Osterkarte in den Schuhkarton und setzte den Deckel drauf.

Ich sah auf die Uhr.

Noch war mein Vater nicht außer Landes. Seine Maschine ging erst um halb eins. Noch konnte alles rückgängig gemacht werden. Was, wenn er seinen Pass vergessen hatte? Dann stand er in drei Stunden wieder auf der Matte. Musste ich dann die tausend Mark wieder rausrücken? Erst, wenn er mich aus der Schweiz anrief, so wie wir es abgemacht hatten, konnte ich aufatmen und mich in der Wohnung breitmachen. Vorerst nahm ich nur den Umschlag mit dem Geld, ging in mein Zimmer und legte ihn in die oberste Schublade meines Schreibtisches.

Musste ja nicht jeder wissen, wie viel Kohle ich im Moment besaß. Michael oder Dirk oder Mario, wenn sie einfach so hereinplatzten und dann den aufgeblähten Umschlag rumliegen sahen.

Bloß keine schlafenden Hunde wecken, war meine Devise.

Wo ich schon mal in meinem Zimmer war, machte ich ein bisschen Musik an. Und weil heute die Ferien anfingen und Frau Wegener von unten schon zur Arbeit war, genauso wie Frau Hermann, Marios Mutter, von eins drüber, ausnahmsweise ein wenig lauter:

I’d like to drop my trousers to the world

I am a man of means (of slender means)

Each household appliance

Is like a new science in my town

Meine Oma hatte mir vor zirka zwei Jahren einen Doppelkassetten-Recorder aus dem Intershop geschenkt. Ein Eins-a-Teil. Dauernd hockte seitdem jemand bei mir in der Bude, um sich was zu überspielen. Siouxsie and the Banshees und diesen Kram. Wenn man so ein Ding besaß, machte einen das nicht gerade unbeliebter.

Ich hatte den Recorder mitten im Jahr bekommen, einfach so. Kein Geburtstag in Sicht, wie heute, kein Weihnachten, nichts. Na gut, das stimmte nicht ganz. Drei Wochen vorher war durchaus was passiert. Ich wollte es ja eigentlich gar nicht erwähnen, weil ich kein Mitleid gebrauchen kann.

Mitleid nämlich ist so nützlich wie ein Wasserkopf.

Aber ich fürchte, ich hab’s vorhin sowieso schon getan, das mit dem Erzählen dieser Sache, aus Versehen. Also, was soll’s: Drei Wochen bevor ich den Recorder kriegte, war nämlich meine Mutter gestorben.

Das muss reichen an Information. Frage mich bloß keiner, wie oder woran oder warum. Das kann ich partout nicht ausstehen, da werde ich richtiggehend sauer.

Ich war zwar erst vierzehn damals, aber dämlich war ich nicht. Völlig klar, dass der Recorder mich von dieser Todessache ablenken sollte. Und vielleicht hatte sich meine Oma gedacht: doppelter Recorder gleich doppelte Ablenkung. Ihr Plan ging gewissermaßen sogar auf. Ich war zwei Wochen lang so sehr damit beschäftigt, die Gebrauchsanweisung zu studieren und mich in die ganzen Funktionen einzufuchsen, dass ich meistens total vergaß zu heulen. Das war ja schon gar keine Gebrauchsanweisung mehr wie bei den Geräten aus unserer Produktion, das war ein richtiges Buch.

Man konnte zum Beispiel von einem Kassettenteil auf das andere in doppelter Geschwindigkeit überspielen. Oder hinter jedem Lied eine kleine Pause lassen, um komfortabler zu spulen. Die Play-Taste blieb bei diesem Schnellspulen eingerastet, und wenn dann diese stummen drei Sekunden kamen, sprang der Rückspulknopf automatisch raus, und das Lied wurde wiederholt. Und vorwärts ging’s genauso. Nur eben andersrum.

Es ließen sich mit dem neuen Recorder sogar eigene Mixe erstellen. Man suchte sich auf Kassettenteil A einfach eine coole Passage raus, sagen wir, das Maschinengewehr-Schlagzeug aus Blue Monday, ihr wisst schon, da, wo es erst so ein kurzes Stuka-Geräusch gibt, und danach geht es: drrrrrrrrttt – bam bam bam bam – peng, und wenn man den Anfang der Passage hatte, drückte man auf Pause. Kam jetzt auf Teil B eine passende Stelle, sagen wir mal, dieses andere Stuka-Geräusch in der Tainted Love-Maxi-Single, wo Tainted Loveallmählich in Where did our Love go übergeht, drückte man noch mal auf Pause, und schon ratterte das New Order-MG über das Soft Cell-Lied drüber weg. Das machte ziemlichen Spaß, aber es dauerte ewig, bis man den Dreh raushatte und es einigermaßen synchron hinbekam.

Was ich sagen will: Das war alles kostbare Zeit, die dann fehlte, um an die Toten zu denken.

(Mein Gerät stammt übrigens von Sharp. Nur falls ihr mal in die Verlegenheit kommt, euch im Intershop zwischen verschiedenen Doppelkassetten-Recorder-Modellen entscheiden zu müssen. Was ich inständig für jeden Einzelnen von euch nur hoffen kann.)

Ein Jahr nachdem meine Mutter unter die Erde gekommen war, wurde ich also fünfzehn und hatte mich an den Gedanken gewöhnt, den Rest meines Lebens alleine mit meinem Vater verbringen zu müssen.

Der Doppelkassetten-Recorder und das allgemeine Mitleid mit meinem schweren Schicksal, obwohl es total sinnlos im Allgemeinen war, und auch die Tatsache, dass ich nie in der Öffentlichkeit rumflennte, brachten mir einiges an Ansehen ein.

Bei meinen Kumpels sowieso, aber plötzlich auch bei ein paar Mädchen aus meiner Klasse. Und zwar bei ein paar von den guten Mädchen: Susanne, Daniela und Kathrin.

Bei solchen, die ihre Freizeit nur mit älteren Jungs verbrachten, sprich: mit solchen aus der zehnten. Manchmal sogar mit welchen, die schon in der Lehre waren und Sonnabendmittag auf ihren Mopeds vor dem Schultor auf ihre jüngeren Freundinnen warteten, mit Zigarette in der Hand.

Ich meine genau die Mädchen, die schon ein bisschen weiterentwickelt waren als die anderen, also vom Weiblichen her betrachtet, sekundäre Attribute und so, und die ihre Klamotten nicht aus der Jugendmode bezogen. Und die außerdem nicht mit ihren Müttern zum selben Friseur gingen, um sich dieselbe Frisur auf die Rübe basteln zu lassen: Fransen und Dauerwelle und alles. Die Mädchen, kurz gesagt, die gut aussahen, aber leider schlecht waren in Russisch.

Und in Mathematik.

Genauso wie in Sport.

Wobei Susanne und die anderen nicht anfingen, mir Liebesbriefe zu schreiben, nachdem sie spitzgekriegt hatten, was mit meiner Mutter passiert war. Das dann leider doch nicht.

Aber sie redeten jetzt plötzlich mit mir. Und zwar nicht mehr wie mit den anderen Jungs aus der Klasse, von ziemlich weit oben herab, als wären die Jungs geistig ein bisschen zurückgeblieben. Fast in dem Ton, in dem Eltern bekanntermaßen mit ihren kleinen Kindern redeten: halb, um sie zu verspotten, halb, um sie zu erziehen.

Sondern sie sprachen auf einmal mit ernsthafter Stimme zu mir, ein bisschen wie zu ihresgleichen, wenn sie in der Hofpause an unseren Kreis herantraten, wo die Üblichen beisammenstanden: Michael, Dirk und ich.

Und plötzlich alle Herzflattern kriegten.

Und andere komische Sachen.

Die man mühsam kaschieren musste, wenn Susanne ganz nah an einen rankam und über den Arm strich und fragte, wie es einem gehe und ob man etwas brauche und ob man die Kiss-Kassette von ihrem Freund auf dem Doppelkassetten-Recorder vervielfältigen könne, dreimal.

Nein, besser noch vier.

Und Susannes blonde Haare kitzelten einen dabei an der Wange und rochen unbeschreiblich gut, und man hätte gern an was anderes gedacht als an das ewige Kaschieren.

Ihr müsst wissen, dass wir damals, in der achten Klasse, noch keine schwarzen Klamotten trugen, keine Anzüge und nichts. Wir sahen aus wie die letzten Eimer, karierte Hemden, Konsumjeans, Turnschuhe und so. Aber die guten Mädchen aus der Klasse sprachen plötzlich mit mir, als sei ich mein eigenes Abbild aus der Zukunft von zwei Jahren.

Wenn wir endlich auch lässig geworden waren.

Das heißt: geworden sein würden.

Futur 2.

Quasi wie eine Schwester zum Bruder spricht, redete Susanne mit mir. Und eines weiß ich: Das war nicht das Schlechteste, wenn man ein einzelnes Kind war wie ich und obendrein die Mutter nicht mehr unter den Lebendigen wandelte.

 

Ich drückte jetzt zum vierten Mal den Schnellrücklauf und drehte die Lautstärke hoch:

And when I’m lying in my bed

I think about life

And I think about death