Skulduggery Pleasant (Band 10) - Auferstehung - Derek Landy - E-Book

Skulduggery Pleasant (Band 10) - Auferstehung E-Book

Derek Landy

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Kultserie geht weiter! Denn eine Kleinigkeit wie das große Finale seiner Reihe um den zaubernden Skelett-Detektiv konnte Bestsellerautor Derek Landy nicht aufhalten, sich weitere Geschichten über Skulduggery Pleasant und Walküre Unruh auszudenken. Alle Neueinsteiger können problemlos auch mit diesem Band starten! Omen Darkly ist nur ein mittelmäßiger Schüler an der Corrival-Akademie in Roarhaven. Anders als sein Zwillingsbruder Auger, der Auserwählte, der schon fast genauso viele spannende Abenteuer erlebt hat wie einst die Toten Männer. Dennoch ist es Omen, der von Skulduggery Pleasant einen Auftrag erhält. Einer seiner Lehrer hat einen Geheimbund gegründet. Und da soll Omen sich mal umhören. Nur kurz! Und ganz unauffällig, versteht sich. Und anschließend soll er schön brav weiter zu Schule gehen. Na, wenn Skulduggery seinen neuen Schüler da mal nicht unterschätzt hat! Mehr Infos rund um Skulduggery Pleasant unter: skulduggery-pleasant.de

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 585

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dieses Buch ist Yve gewidmet.

Yve, unsere Freundschaft ist wie ein guter Wein,sie wird immer besser mit dem Alter, sie istwohlriechend und spritzig, mit den Aromen vonMaulbeeren und Bleistiftminen und …

Nein. Nein, das ist es noch nicht.

Unsere Freundschaft ist nicht wie Wein, sonderneher wie eine Reise. Sie hat Kurven und Wendungenund manchmal verlierst du das Signal und fährst imKreis rum, nur wegen des billigen Navis, das du vondem Typ mit dem …

Nein, das ist es auch nicht.

Unsere Freundschaft ist nicht wie ein Weinund nicht wie eine Reise, sondern eher wie …

Hör mal, Yve, die wollen morgen früh druckenund ich muss diese Widmung in den nächsten paarMinuten fertig schreiben, aber mir fällt echt nichtsein, das unsere Freundschaft angemessen beschreibt.Es wäre viel einfacher, wenn wirkeine Freunde mehr wären.

Tut mir leid.

EIN NEUER ANFANG.

Genau das war es: ein Neubeginn. Er würde diese eine Information liefern und dann verschwinden. Er konnte nach Hause gehen, zurück nach New York, oder vielleicht nach Chicago oder Philly. Irland war nicht mehr sein Ding. Damit war er fertig – und Irland war offensichtlich fertig mit ihm. Für ihn war das in Ordnung. Er hatte gute Zeiten dort erlebt, hatte Spaß gehabt, Freundschaften geschlossen. Doch bald brach eine neue Zeit an. Temper Fray musste nur noch die Nacht überleben.

Die Wand weiter vorn bekam Risse. Im Licht der Straßenlaternen sah er, wie die Risse sich spinnennetzartig ausbreiteten. Jegliche Hoffnung, dass er einfach so davonspazieren konnte, schwand mit diesen Rissen. Temper kannte den Trick. Ein prolliger Psycho namens Billy-Ray Sanguin hatte die Angewohnheit, aus Mauern zu springen und Vorübergehende umzubringen, bevor sie auch nur Piep sagen konnten. Temper hatte Sanguin ein Mal getroffen. Für einen primitiven Berufskiller war er in Ordnung. Wer immer das jetzt war, ein Billy-Ray Sanguin war er nicht.

Die Wand spuckte einen dürren kleinen Wicht aus, der mit einem breiten Messer und einem noch breiteren Grinsen auf Temper losging. Das Grinsen ignorierte Temper fürs Erste. Er konzentrierte sich auf das Messer, schlug es zur Seite und rammte dem Wicht einen Ellenbogen in den Mund, womit automatisch auch das Grinsen erledigt war. Der Wicht ging, mit Armen und Beinen fuchtelnd, aber zahnlos zu Boden und Temper eilte weiter.

Ja, es lief schlecht. Natürlich lief es schlecht. Für Temper Fray lief es nie gut.

Weiter vorn kam ein Motorrad um die Ecke. Sein Scheinwerfer strich über die Ladenzeile und es wurde fast sofort langsamer. Temper ging mit gesenktem Kopf weiter, die Arme schwangen locker rechts und links des Körpers. Der Typ auf dem Motorrad trug keinen Helm und blickte nicht in Tempers Richtung. Er schaute konzentriert vor sich auf die Straße und war nichts weiter als ein Typ auf seinem Motorrad, der nichts Böses im Schilde führte. Als sie auf gleicher Höhe waren, schob der Typ die rechte Hand in seine Jacke.

Temper machte einen Satz und versetzte ihm einen Stoß, sodass das Motorrad zur Seite kippte. Der Fahrer stieß im Fallen einen Schrei aus, Temper kickte ihn bewusstlos und der Typ rührte sich nicht mehr. Temper beugte sich über ihn. In der rechten Jackentasche fand er die Pistole und zog sie heraus. Er vergewisserte sich, dass sie geladen war, und entsicherte sie. Seine eigene Pistole lag in dem Haus, in dem er gewohnt hatte, neben seinem Handy auf dem Küchentisch. Im Moment hätte er sämtliche Pistolen der Welt gegen sein Handy eingetauscht. Was hätte er nicht alles gegeben für eine Möglichkeit, Verstärkung anzufordern.

Was hätte er nicht alles dafür gegeben, Skulduggery Pleasant um Unterstützung bitten zu können.

Er eilte eine Seitenstraße hinunter. Eine Frau kam auf ihn zu. Im Licht der Straßenlaternen war sie nur als Silhouette zu erkennen. Ihr Schatten fiel lang und schmal aufs Pflaster. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Es hätte Quibbel sein können oder, noch schlimmer, Razzia oder auch einfach eine Einwohnerin von Roarhaven, die noch einen Nachtspaziergang durch die Stadt machte. Temper legte die Hand mit der Pistole auf den Rücken und ging weiter.

Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich. Die Pistole fühlte sich glitschig an in seiner Hand. Er wich zur linken Seite hin aus und sie ebenfalls, und erst als sie direkt aneinander vorbeigingen, sah er ein ihm unbekanntes Gesicht. Die Frau nickte ihm höflich zu, er nickte zurück und sie gingen weiter. Erleichtert atmete er auf.

„Entschuldigung“, sagte die Frau hinter ihm und er drehte sich im selben Moment um, als sich ein Schatten aus der Dunkelheit löste und der Frau das Genick brach. Sie sackte in sich zusammen und Razzia stieg über ihre Leiche.

„Dreizehn“, verkündete Razzia in ihrem breiten australischen Dialekt. „Dreizehn unschuldige Unbeteiligte. Ich behaupte ja nicht, dass ich irgendwelche Rekorde breche, aber du musst zugeben, dass die Zahl einigermaßen beeindruckend ist.“ Mit einem strahlenden Lächeln schaute sie auf. Razzia war schön und blond und trug ausschließlich Smokings. Und sie war ganz und gar verrückt. „Du warst ein ungezogener Junge.“

Sie riss die Hand nach oben, Temper duckte sich und hörte dicht an seinem Ohr winzige Zähne zuschnappen. Aus dem Augenwinkel sah er den schwarzen Tentakel, der sich wie ein schauerliches Maßband in Razzias Handfläche zurückzog. Er feuerte einen Schuss auf sie ab, doch sie glitt bereits wieder in die Dunkelheit zurück. Dafür erschien hinter ihr jemand anderes, eine Frau mit Glatze und einer Pistole. Quibbel.

Sie eröffnete das Feuer, er trat eine Tür ein und stolperte ins Haus, als sich die Kugeln in den Türrahmen bohrten. Im Zimmer sprang ein Mann von einer Couch und eine Frau stand mit zwei Bechern Kaffee in den Händen da und blickte Temper erschrocken nach, als er an ihr vorbeilief. Er rannte ins angrenzende Zimmer, sah zwei Männer vor dem Fenster, kehrte um und stürmte die Treppe hinauf. Das Paar schrie und lief ihm nach und jetzt hörte er ein Baby weinen. Er ignorierte es, eilte ins Elternschlafzimmer und sah durch die zurückgezogenen Vorhänge einen jungen Mann auf dem Dach gegenüber. Schlank und mit unerhört platinblondem Haar. Nero. Temper blinzelte und der junge Mann war verschwunden.

„Verdammt“, murmelte Temper.

Er lief zum Fenster und plötzlich war Nero neben ihm und stellte ihm ein Bein. Temper stolperte und fiel gegen die Wand. Er drehte sich um und hob die Pistole, doch Nero war schon wieder an seiner Seite, entriss ihm die Waffe und verschwand erneut.

Temper hatte eine volle Sekunde Zeit, auf die Knie zu sinken, bevor Nero wieder ins Zimmer teleportierte und die Pistole direkt auf Tempers Brust richtete. Er hatte einen Freund mitgebracht, der ganz in schwarzes Leder und Gummi gekleidet war. Eine Maske bedeckte den gesamten Kopf. Hinter den getönten Linsen waren nicht einmal seine Augen zu erkennen.

„Hey, Lethe.“ Temper hockte sich hin und winkte schwach. „Was soll das?“

Lethe betrachtete ihn eine gefühlte Minute lang. Als er sprach, kamen seine Worte in diesem vertraut hohlen Flüsterton heraus. Er kostete jedes Wort mit offensichtlichem Genuss aus. „Ich wusste, dass du nie wirklich einer von uns warst.“

Temper zuckte mit den Schultern. „Im Nachhinein sagt sich das leicht …“

„Ich hab’s in deinen Augen gesehen“, fuhr Lethe fort. „Trotz deiner Schwüre und deiner hitzigen Beteuerungen verabscheust du die Sterblichen nicht annähernd genug.“

Temper lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und schlug die Beine an den Knöcheln übereinander. „Weißt du, es ist mir schon immer schwergefallen, Leute zu hassen, nur weil sie anders sind als ich. Das hat was mit meiner Hautfarbe zu tun, das verstehst du nicht. Oder vielleicht doch. Verbirgt sich unter dieser freakigen Maske möglicherweise ein Bruder?“

Auf dem Gang draußen tat sich etwas und Lethe trat beiseite, als Razzia hereintänzelte. Memphis und Quibbel stießen das junge Paar hinter ihr in den Raum.

„Schaut her, wen wir unten gefunden haben“, sagte Razzia. „Noch zwei Unbeteiligte.“

„Bitte, ich … ich weiß nicht, was hier abgeht“, stammelte der junge Mann, „aber wir stellen keine Bedrohung für euch dar, ich schwör’s. Ich bin – hören Sie, wir sind beide Arborkinetiker. Im Zimmer nebenan liegt unser Kind …“

„Was sind Arborkinetiker?“, wollte Memphis wissen. Er verzog den Mund, als er der jungen Frau seine Pistole an den Kopf hielt.

„Pflanzen“, erklärte Quibbel. „Er spricht mit Pflanzen. Damit sie besser wachsen.“

Memphis lachte. „Das ist vielleicht bescheuert, Mann.“ Eine recht geistreiche Bemerkung von einem, der sich wie Elvis kleidete.

„Pflanzen, genau“, bestätigte der junge Mann. „Wir können euch nichts tun. Wenn ihr uns gehen lasst, werden wir …“

Quibbel richtete ihre Pistole auf seinen Kopf, doch Lethe hob die Hand. „Aber, aber. Selbst wenn sie mit Pflanzen reden, sind sie immer noch Zauberer. Sie gehören immer noch zur Familie. Wir töten keine Familienmitglieder, wenn es nicht unbedingt sein muss.“

„Danke“, sagte der Mann. „Vielen Dank.“

„Hey, wir stehen doch alle auf derselben Seite“, fuhr Lethe fort. Das Baby begann wieder zu schreien und Lethe schaute Quibbel an. „Töte das Kind.“

Das junge Paar versuchte sofort, sich zu befreien, doch Razzia versetzte dem Mann einen solchen Schlag, dass seine Beine einknickten, und nahm dann die junge Frau in den Schwitzkasten.

Lethe ließ Quibbel nicht aus den Augen. „Du stehst ja immer noch da. Das Kind nervt. Töte es.“

Quibbel war ganz blass geworden.

„Ich mach’s“, erbot sich Razzia vergnügt, doch Lethe schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich hab gesagt, Quibbel soll es machen, also wird Quibbel es auch machen.“

Quibbel wollte es nicht machen. „Bitte“, flehte sie leise. „Es ist doch noch ein Baby.“

Lethe beobachtete sie durch die getönten Linsen seiner Maske. „Verstehe.“

In ihren Augen standen Tränen. „Lethe … bitte …“

„Verweigerst du … hm, verweigerst du mir den Gehorsam, Quibbel?“

Memphis wandte den Blick ab, um Quibbel nicht ansehen zu müssen. Nero machte einen gelangweilten Eindruck, während Razzia die Szene mit wachsendem Vergnügen verfolgte. Sie hatte noch gar nicht gemerkt, dass die junge Frau, die sie im Schwitzkasten hielt, inzwischen das Bewusstsein verloren hatte.

„Ich kann kein Kind töten“, erklärte Quibbel leise.

Lethe ließ einen Augenblick verstreichen. „Du liebe Güte“, sagte er schließlich.

Sie war so gut wie tot. Und sie wusste es. Temper kannte ihn, diesen todgeweihten Ausdruck auf einem erschlaffenden Gesicht. Seiner Erfahrung nach standen ihr an diesem Punkt nur drei Möglichkeiten offen. Die erste war Weglaufen. Da Lethe jedoch einen Teleporter bei sich hatte, fiel diese Möglichkeit praktisch weg. Die zweite war Aufgeben, das Unvermeidliche entweder zu akzeptieren oder anzufangen zu betteln. Aber Betteln war nicht Quibbels Stil. Quibbel war ein Möglichkeit-Nummer-drei-Typ.

Sie hob ihre Waffe und zielte direkt auf Lethes Gesicht. Sofort hob auch Memphis seine Waffe und drückte sie Quibbel an die Schläfe.

„Tu’s nicht“, flüsterte er. „Tu es ja nicht.“

Razzia klatschte in die Hände. „Das ist vielleicht aufregend!“ Die junge Frau sank zu Boden.

„Das ist schade“, sagte Lethe. „Ganz ungeheuer schade.“

„Ich kann kein Baby töten“, wiederholte Quibbel.

„Babys sind lediglich Menschen, die noch nicht erwachsen sind. Du hast schon haufenweise Leute getötet. Haufenweise.“

„Lass uns achtzehn Jahre warten, dann töte ich auch diesen hier“, meinte Quibbel.

„Oh. Oh, das ist wieder so eine Prinzipiensache, ja? Das ist … das ist traurig. Ich bin jetzt traurig. Du hast mich traurig gemacht. Weil ich dich jetzt töten muss, Quibbel, und … und ich es lieber nicht täte.“

Mit einer blitzschnellen Bewegung entwand er Quibbel die Pistole, richtete die Waffe auf sie und drückte ab, bevor sie wusste, wie ihr geschah.

Sie kippte nach hinten. Das Geschrei aus dem Nebenzimmer wurde lauter und Lethe gab Razzia die Pistole. Sie betrachtete sie, als sei sie ein Stück angefaultes Obst, und warf sie weg.

„Es tut mir leid“, entschuldigte sich Lethe bei Memphis. „Ich weiß, ihr wart euch sehr nah.“

„Sie war meine Schwester“, erwiderte Memphis.

„Oh, dass ihr euch so nahgestanden habt, wusste ich nicht. Ich muss dich das jetzt wohl fragen, Memphis, und bitte nimm es mir nicht übel. Wirst du versuchen, mich dafür umzubringen? Aus Rache?“

Memphis schaute auf Quibbels Leiche hinunter. „Nein“, antwortete er schließlich. „Eher nicht.“

„Gut. Das ist gut. Nach einer Familientragödie ist es das Beste, wenn alle versuchen, nach vorn zu schauen und die Vergangenheit dorthin zu stellen, wohin sie gehört. Nämlich in die Vergangenheit.“

„Soll ich jetzt das Baby töten?“, fragte Razzia hoffnungsvoll.

„Welches Baby?“, fragte Lethe zurück. Er wandte sich wieder Temper zu. „Du kommst mit uns, Fray. Wir haben ein paar Fragen an dich.“

Ein weiterer Mann betrat das Zimmer, ein Kerl mit geflochtenem Unterlippenbart. Temper versuchte, ihn sich vom Hals zu halten, doch eine Berührung genügte, und alle schlimmen Gedanken, die Temper jemals gehegt hatte, wirbelten und wimmelten und wogten durch seinen Kopf.

WENN DIE SCHLIMMEN GEDANKEN sich anschlichen, und das taten sie, kamen sie langsam und leise, schlüpften unaufgefordert in ihr Unterbewusstsein und warteten dort geduldig, bis sie wahrgenommen wurden.

Sie betrachtete sie wie aus dem Augenwinkel, wollte ihre Anwesenheit nicht wahrhaben und war ihnen doch machtlos ausgeliefert. Sie blieben wie unliebsame Gäste, füllten den in Besitz genommenen Raum und breiteten sich nach außen hin aus. Dann bremsten sie, zerrten an ihr und ließen sie träge werden. Ihr Gang wurde schwerfällig und sie sank beim Sitzen in sich zusammen. Meistens fiel es ihr schwer, morgens aus dem Bett zu kommen. An manchen Tagen versuchte sie es erst gar nicht. Sie wusste, was kam.

Sie würde sterben. Und sie würde auf den Knien sterben.

Sie konnte ihren Tod nicht sehen, aber sie spürte ihn. Sie hatte ihn gespürt, als sie beim Reifenwechseln auf dem Boden kniete und als sie sich hinunterbeugte, um aufzuwischen, nachdem sie einen vollen Teller hatte fallen lassen. Auch als sie in die Knie ging, um mit dem Hund zu spielen, hatte sie ihn gespürt.

So werde ich sterben, hatte sie erkannt. Auf den Knien.

Und danach kam ihr immer, aber auch wirklich immer ein anderer Gedanke, und zwar der, dass es bereits geschehen war, dass sie bereits tot war, dass ihr Körper kälter wurde und das Blut nicht mehr pulsierte. Sie durchlebte Momente schierer Panik, wenn sie glaubte und tief und fest davon überzeugt war, dass sie in ihrem eigenen Leichnam gefangen war, dass nichts mehr funktionierte und niemand ihr Schreien hören konnte.

Und dann bewegte sie sich, atmete oder blinzelte, und mit jedem neuen Lebensbeweis kämpfte sie sich zu der Erkenntnis durch, dass sie doch nicht tot war. Noch nicht.

Es war Nachmittag und es war kalt. Die Kälte hatte etwas zu bedeuten. Es war das letzte Zubeißen des wilden, Winter genannten Tieres, eines Tieres, das schon zu lang geblieben war. Sie spürte es auf ihrem Gesicht und an den Ohren und spürte, wie es in ihre Kleider drang. Es bedeutete, dass sie immer noch einen flackernden Lebensfunken in sich hatte. Das war gut. Sie brauchte das. Doch es signalisierte auch den Verlust ihrer Konzentration, da sie es zunehmend schwieriger fand, das knisternde weiße Licht an ihren Fingerspitzen aufblitzen zu lassen. Irgendwann setzte sie sich einfach auf den Baumstumpf, auf den sie die Blechdosen gestellt hatte, die ihr als Zielscheiben dienten. Drei davon waren angesengt. Zwei wiesen unverschämterweise keinerlei Spuren auf. Immerhin, drei von fünfen bedeutete zumindest, dass ihre Zielsicherheit zunahm.

Sie schlang die Arme um sich. Das Kapuzenshirt, das sie trug, war schon alt, aber sie mochte abgetragene Kleidung. Ihre Jeans waren ein Fall für sich und sie hatte vergessen, welche Farbe ihre Turnschuhe ursprünglich einmal hatten. Doch sie waren bequem, und was noch wichtiger war: Sie gehörten zu ihr. In letzter Zeit hatte sie sich immer wieder in Erinnerung rufen müssen, wer genau sie eigentlich war.

Sie blickte hinauf zu den Bäumen und zum Himmel. Das lenkte sie von ihren Gedanken ab. Ihre Gedanken waren nicht nett zu ihr und das ging jetzt schon eine ganze Weile so. Sie betrachtete die trockenen Äste auf dem Boden. Seit zwei Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Eine Seltenheit für Irland, das der Winter immer noch in seinen Klauen hatte. Sie beobachtete einen Käfer, der unter ein Blatt krabbelte, gefangen in seiner eigenen kleinen Welt. Für den Käfer musste sie ein gewaltiges, unbegreifliches Ding sein, eine Gefahr, der man am besten aus dem Weg ging, die einen aber nicht über die Maßen zu beunruhigen brauchte. Wenn ein Gott dich zertritt, zertritt er dich eben. Du wirst dein kleines Käferleben nicht mit der Sorge um etwas vergeuden, über das du keine Kontrolle hast.

Sie blickte auf. Halb und halb erwartete sie einen riesigen Fuß von oben herunterkommen, doch der Himmel war blau und wolkenlos und frei von Göttern. Trotzdem wartete sie noch eine Weile.

Dann richtete sie sich auf und ging auf dem Waldweg zurück. Als Kind war sie diesen Weg an der Seite ihres Onkels oft gegangen. Sie hatten sich über die Natur unterhalten, über historische Ereignisse und Familie und sich gegenseitig Geschichten erzählt. Sie wetteiferten darum, wer die blutrünstigste Fantasie hatte, doch selbst wenn er sich mit gespieltem Entsetzen geschlagen gab, wusste sie, dass er sich zurückhielt. Natürlich hielt er sich zurück. Gordon war der Schriftsteller der Familie.

Sie erinnerte sich noch, wie sie mit ihm durch diesen Wald gegangen war. Und so genau, als betrachtete sie ein Foto, erinnerte sie sich, aus welchem Winkel sie ihn gesehen hatte. Sie war ein kleines Mädchen gewesen und er erwachsen, sein Haar war braun und schütter, wogegen ihres lang und schwarz war, doch sie hatten dieselben braunen Augen, und wenn er lachte, zeigte sich ein einzelnes Grübchen, genau wie bei ihr. Es war jetzt zwölf Jahre her, seit Gordon ermordet wurde. Zwölf Jahre, seit sie in diese zwielichtige Welt voller Zauberer, Monster und Magie gestolpert war. Sie war zwölf Jahre alt, als es passierte, und noch nicht einmal ein Teenager, als sie mit ihrem Training begann. Die Jahre waren vorübergegangen. Mit blauen Flecken, gebrochenen Knochen und blutigen Knöcheln. Mit Schreien und Lachen und Tränen. Jede Menge Tränen. Zu viele.

Das Haus, das Gordon ihr hinterlassen hatte, stand auf dem Hügel vor ihr. Zwischen den Bäumen hindurch konnte sie es erkennen. Selbst nachdem es offiziell in ihren Besitz übergangen war, blieb es für sie Gordons Haus. Jedes Zimmer, und es gab eine Menge davon, erinnerte sie an ihn. Jedes gruselige Bild, und davon hingen haufenweise an den Wänden, erinnerte sie wieder an diesen oder jenen Kommentar, den er dazu abgegeben hatte. Jeder Backstein, jedes Möbelstück, jedes Bücherregal und jede Bodendiele. Es war Gordons Haus und würde es immer bleiben.

Dann war sie weggegangen. Fünf Jahre hatte sie auf einer weitläufigen Farm am Rand einer Kleinstadt in Colorado gelebt. Sie hatte einen Hund, der ihr Gesellschaft leistete, und gelegentlich besuchten sie auch Vertreter der menschlichen Rasse, doch diese Besuche hatte sie auf ein Minimum beschränkt. Sie wollte mit ihren Gedanken nicht allein sein, aber sie hatte es nicht besser verdient. Sie hätte noch ganz andere Dinge verdient.

Dann war sie nach Irland zurückgekehrt und hatte festgestellt, dass sich Gordons Haus in der Zwischenzeit verändert hatte. Jetzt war es nur noch ein Haus, und so nannte sie es bei seinem Namen, denn Namen waren wichtig. Aus Gordons Haus wurde Grimwood, so wie aus Stephanie Edgley einst Walküre Unruh geworden war.

Sie stieg den Hügel hinauf, blieb auf halber Höhe stehen, drehte sich um und blickte über ihren Besitz hinaus auf die Farmen, die sich wie eine Patchworkdecke in verschiedenen Grün- und Gelbtönen über die nördliche Grafschaft Dublin verteilten. Hier und da wies das Muster Fehler auf, wo Neubaugebiete und Verbindungsstraßen an die Stelle der Felder getreten waren. Es ging das Gerücht, dass ein Einkaufszentrum gebaut werden sollte, gleich auf der anderen Seite des Flusses, der die Grenze zu ihrem Grundstück bildete. Gordon hatte von dem Fluss als einem Bachlauf gesprochen. Sie nannte ihn gern ihren Burggraben. Vielleicht würde sie eine Zugbrücke bauen lassen.

Sie stieg den Hügel vollends hinauf zur Rückseite des Hauses. Xena sah sie kommen, spitzte die Ohren und trottete herüber, um sie zu begrüßen. Während sie ihn mit einer Hand hinter den Ohren kraulte, öffnete sie mit der anderen die Hintertür und ließ den Schäferhund vor sich ins Haus gehen. Als auch sie drin war, schloss sie die Tür und sperrte wieder ab.

Ihr Handy lag auf dem Küchentisch. Es zeigte drei entgangene Anrufe, darunter eine Sprachnachricht. Sie war von ihrer Mutter.

„Hallo, Steph, ich wollte dir nur rasch sagen, dass ich am Sonntag Brathähnchen machen werde. Soll ich so viel machen, dass es auch für dich reicht? Ich weiß, dass heute erst Dienstag ist, aber ich plane gern voraus und … na ja, es wäre schön, dich zu sehen. Alison fragt ständig nach ihrer großen Schwester.“ An dieser Stelle nahm ihr Ton eine gewisse Leichtigkeit an, als ob ihr Besuch keine große Sache wäre. „Okay, das war’s. Ruf mich an, wenn du Zeit hast. Wir wissen, du hast viel zu tun. Ich liebe dich. Und bitte pass auf dich auf.“

Damit endete der Anruf und Walküre schaute nach, wer sie sonst noch sprechen wollte, obwohl sie sich das hätte sparen können. Die anderen beiden Anrufe waren von ihm.

Sie ließ das Telefon auf dem Tisch liegen und duschte, und als sie danach herunterkam, läutete es wieder. Sie nahm ab.

„Hallo“, meldete sie sich.

Seine Stimme, volltönend und weich wie Samt. „Guten Tag, Walküre. Störe ich?“

Sie stand barfuß in der warmen Küche, ihr Haar war noch nass und Wasser lief ihr hinten übers T-Shirt. „Könnte man so sagen.“

„Könntest du wohl ein bisschen Zeit erübrigen? Ich bräuchte deine Hilfe.“

Sie antwortete nicht sofort.

„Walküre?“

„Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob ich bereit bin. Gib mir noch ein paar Wochen. Dann bin ich zur Ruhe gekommen und kann dir auch wieder behilflich sein.“

„Verstehe.“

„Hör zu, ich muss los. Ich muss noch etwas erledigen und habe mein Handy nicht aufgeladen, es kann jeden Augenblick den Geist aufgeben.“

„In ein paar Wochen bist du bereit, hast du gesagt?“

Sie nickte dem Kühlschrank zu, als stünde der Anrufer höchstpersönlich dort. „Genau. Ruf mich dann wieder an und wir treffen uns.“

„Ich fürchte, die Sache ist etwas dringender.“

Sie biss sich auf die Lippe. „Wie dringend?“

„So-ich-fahre-gerade-durch-dein-Tor-dringend.“

Walküre ging ins Wohnzimmer, schaute aus dem Fenster und sah den glänzenden schwarzen Wagen die ellenlange Auffahrt heraufkommen. Seufzend legte sie auf.

Sie blieb noch eine Weile am Fenster stehen, bevor sie die Haustür aufschloss. Es dauerte ein paar Sekunden, da sie etliche neue Schlösser hatte einbauen lassen, und sie öffnete die Tür in dem Moment, als der 1954er Bentley R-Type Continental draußen hielt. Er stieg aus. Groß und schlank, im dunkelgrauen Dreiteiler mit schwarzem Hemd und grauer Krawatte. Er spürte die Kälte nicht, weshalb er sich nicht die Mühe machte, einen Mantel anzuziehen. Er hatte sich das Haar aus der Stirn gestrichen, doch es war ohnehin ohne Bedeutung. Er war glatt rasiert, seine Haut blass und faltenlos, doch auch sie bedeutete nichts, genauso wie die strahlend blauen Augen. Er trug Handschuhe, und als er seinen Fedora aufsetzte – dunkelgrau wie sein Anzug, mit schwarzem Hutband wie sein Hemd –, verschwanden Haare, Augen und Haut, glitten in den gestärkten Kragen seines Hemdes und Skulduggery Pleasant, der Skelettdetektiv, drehte den Kopf in ihre Richtung und sie blickten sich im kalten Sonnenlicht an.

Walküre ging ins Haus zurück. Skulduggery folgte.

Xena hatte es sich auf ihrem Platz auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich gemacht, doch als sie Skulduggery sah, sprang sie herunter und lief zu ihm. Er kauerte sich hin, kraulte sie und ließ sich von ihr das Kinn lecken.

„Ich fühle mich immer irgendwie bedroht, wenn sie das tut“, murmelte er, ließ sie aber weiterlecken, bis Walküre sie zurückrief. Er richtete sich auf und wischte sich nicht vorhandenen Staub von den Knien. „Du siehst gut aus“, stellte er fest. „Kräftig.“

Walküre verschränkte die Arme und tippte mit den Fingerspitzen der rechten Hand leicht gegen den Rand des Tattoos, das unter dem kurzen Ärmel ihres T-Shirts hervorschaute. „Gordon hat sich in einem der Räume im zweiten Stock ein eigenes Fitnessstudio eingerichtet.“

Skulduggery legte den Kopf schräg. „Tatsächlich? Da war ich nie drin.“

„Gordon offenbar auch nicht. Die Geräte wurden nie benutzt, aber sie sind ziemlich gut. Auf dem allerneuesten Stand von vor zwanzig Jahren. In Colorado hatte ich ähnliche Teile.“

Skulduggery ging zu der Wand mit den Bücherregalen. „So verbringst du also deine Zeit?“, fragte er. „Mit Gewichtheben und dem Bearbeiten von Sandsäcken? Was macht die Magie? Hast du geübt?“

„Ja, bis eben.“

„Und wie läuft es?“

Sie zögerte. „Gut.“

„Kannst du sie wieder besser kontrollieren?“

„Etwas.“

„Übermäßig begeistert klingst du nicht.“

„Ich bin lediglich eingerostet. Außerdem kann ich niemanden um Rat fragen. Ich bin die Einzige mit dieser bestimmten Kräftekombination.“

„Der Fluch der Einzigartigkeit. Aber ja, du hast vollkommen recht. Wir wissen bis jetzt noch nicht einmal, wo deine Grenzen liegen. Ich würde sehr gern mit dir arbeiten, wenn du das möchtest.“

„Im Augenblick komme ich bestens zurecht.“ Sie beobachtete ihn eine Weile beim Betrachten der Bücher, bevor sie fragte: „Weshalb bist du hier?“

Er drehte sich um.

„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich rasch. „Ich wollte nicht so … abweisend klingen. Du hast gesagt, es gäbe Probleme.“

„Stimmt. Temper Fray ist verschwunden.“

„Okay.“ Sie wartete.

„Das, also das ist das Problem, von dem ich gesprochen habe.“

„Temper ist schon ein großer Junge“, entgegnete sie. „Ich bin sicher, er weiß, was er tut.“

„Eher nicht.“

„Auf mich hat er einen kompetenten Eindruck gemacht.“

„Du hast ihn ein einziges Mal getroffen.“

„Und während dieser Begegnung habe ich ihn als jemanden kennengelernt, um den man sich keine Sorgen zu machen braucht.“

„Ich hatte ihn undercover losgeschickt und fürchte, sie sind dahintergekommen, dass er nicht auf ihrer Seite ist.“

Walküre setzte sich neben Xena, die in Erwartung von Streicheleinheiten die Ohren aufstellte. „Ich kann das einfach nicht, Skulduggery. Ich bin noch nicht bereit zurückzukommen.“

„Du bist bereits zurück“, konterte er. „Du hast dich entschieden zurückzukommen, oder?“

„Ich dachte, es sei leichter, als es letztendlich war. Ich dachte, es wäre so, als sei ich nie weg gewesen. Aber ich kann es nicht. Es hat sich so viel verändert, und das nicht nur, was mich betrifft. Nach dem Tag der Verwüstung, nach der Nacht der Messer … so viele unserer Freunde sind tot und ich verstehe nicht, was im Moment Sache ist. Ich brauche einfach mehr Zeit.“

Skulduggery setzte sich in den Sessel ihr gegenüber. Mit dem Hut in den Händen stützte er die Ellenbogen auf die Knie. „Du igelst dich ein. Ich kenne das. Ich hab’s im Krieg gesehen, in Konfliktsituationen. Soldaten sehen Dinge, sie tun Dinge … ich muss dir nichts erzählen von den Schrecken eines Gefechts, vom Töten und davon, dass andere versuchen, dich zu töten. Diese Art von Trauma lässt sich nicht über Nacht heilen. Es gibt keine allgemeingültige Lösung. Du musst selbst schauen, wie du drüber wegkommst. Aber eines kann ich dir aus eigener Erfahrung sagen: Je länger du es vor dir herschiebst, desto schwieriger wird es. Die Angst ist wie kaltes Wasser, das durch deine Adern rauscht – wenn du dich nicht bewegst, wird das Wasser zu Eis.“

„Woher weißt du überhaupt, dass ich es noch kann?“, fragte Walküre. „Kräftemäßig?“

„Du hast es bewiesen, als Cadaverus Gant und Jeremiah Wallow hinter dir her waren.“

„Das war vor fünf Monaten“, entgegnete sie.

„Um die körperliche Seite mache ich mir keine Gedanken“, erwiderte er. „Deine Instinkte kommen zurück. Dein Training wird fruchten.“

Sie blickte ihm in die Augenhöhlen. „Wie sieht es dann mit der mentalen Seite aus? Ich habe eine Menge durchgemacht. Womöglich braucht es nicht mehr viel, um mir das Rückgrat zu brechen.“

„Andersherum könnte man auch sagen, du hast eine Menge durchgemacht, es gibt womöglich nicht mehr viel, was dir das Rückgrat brechen könnte“, erwiderte Skulduggery. „Ich brauche dich in dieser Sache an meiner Seite, Walküre. Mit dir als Partnerin bin ich ein besserer Detektiv und mit dir als Freundin bin ich ein besserer Mensch. Die Welt jetzt ist ganz anders als die, aus der du dich zurückgezogen hast. Das Sanktuariumssystem hat sich verändert, Roarhaven hat sich verändert … die Zauberer haben sich verändert. Es gibt nur noch sehr wenige Leute, denen ich vertrauen kann, und es kommt etwas auf uns zu. Etwas Großes und Schlimmes. Ich kann es spüren.“

„Es kommt immer etwas Großes und Schlimmes auf uns zu“, konterte Walküre. „Manchmal bist du es und manchmal bin ich es.“

„Und manchmal sind wir beide die Einzigen, die sich ihm entgegenstellen können. Du bist nicht dafür gemacht, dich hier draußen zu verstecken, Walküre. Das ist nicht deine Bestimmung. Deine Bestimmung ist es, Leuten zu helfen. Weil du fürchtest, dass alle anderen es vermasseln.“

„So war ich früher. Heute kann ich die großen Jobs locker anderen überlassen.“

„Beweise es.“ Skulduggery erhob sich und streckte ihr die Hand hin. „Komm für vierundzwanzig Stunden mit mir. Wenn du danach aussteigen kannst, lass ich dich gehen und frage dich nicht mehr, bis du mir sagst, dass du so weit bist.“

Nach kurzem Zögern seufzte sie. „Okay. Aber deine Hand nehme ich nicht. Das ist doof und ich käme mir dämlich dabei vor.“

Skulduggery nickte. „Merkst du was? Du machst mich schon jetzt zu einem besseren Menschen. Nimm deine Jacke, Walküre. Roarhaven wartet.“

DIE STADT glitt unter ihm dahin. Er landete leicht schwankend auf dem unteren Dach und blickte sich um. Sein schwarzer Umhang flatterte. Niemand da. Niemand, der ihn verfolgte.

Die Maske lag eng an. Sie bedeckte seinen gesamten Kopf und war schwer. Der geschnitzte Schnabel zog das ganze Ding nach unten. Er nahm seinen breitrandigen Hut ab und betrachtete ihn. Er wirkte zu gleichen Teilen lächerlich und einschüchternd, doch das störte ihn nicht. Seuchenärzte hatten schon immer seltsam ausgesehen.

Es war ein klarer, kalter Tag mit nur wenigen Wolken am Himmel. Auf den Straßen unten tummelten sich die Bewohner Roarhavens. Sie redeten und lachten, kauften ein und beschwerten sich und gingen ihren Geschäften nach. Er hatte ganz vergessen, dass man in dieser Stadt zuweilen ganz gut leben konnte. Komisch, wie Gewalt, Terror und Tod deine Meinung über einen Ort beeinflussen können.

Er hatte Freunde hier verloren, hatte sie sterben sehen. Er hatte gesehen, wie das Leben aus ihren Augen wich, während er sie in seinen Armen hielt. Er hatte Zerstörung fast unvorstellbaren Ausmaßes erlebt. Die Schreie und die Bilder hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt.

Doch genau deshalb war er hier. Das war seine Mission. Sebastian Tao setzte seinen Hut wieder auf. Er wollte Darquise finden, musste sie finden. Das einzig Vernünftige in einer aus den Fugen geratenen Welt war, sie zurückzuholen.

„TAG DER VERWÜSTUNG“ nannten sie ihn jetzt, den Tag, an dem Darquise durch Roarhaven gestürmt war, die Stadt dem Erdboden gleichgemacht und ihre Bewohner ermordet hatte. 1.351 Menschen waren in diesen wenigen Stunden durch die Hand einer Fast-Göttin, die Walküres Gesicht trug, gestorben.

Sie hatte natürlich nicht nur ihr Gesicht getragen. Vor dem Morden und der Zerstörung war Darquise ein Teil von ihr gewesen. Darquise war ihr wahrer Name. Die Quelle ihrer Magie war zu Fleisch und Blut geworden. Und jetzt ging Walküre nach Roarhaven zurück. Selbstverständlich ging sie zurück.

Sie nahmen die M1, wechselten auf die M50, ließen dann Autobahnen und Tankstellen hinter sich und fuhren eine halbe Stunde in südöstlicher Richtung. Xena lag auf der Rückbank des Bentley und hatte den Kopf auf die Pfoten gelegt.

„Schäferhunde wechseln ihr Fell“, bemerkte Skulduggery. „Wechselt sie es gerade?“

„Sie wechselt ihr Fell ständig“, erklärte Walküre.

„Dein Hund ist der einzige, der je in diesem Wagen war.“

„Sie fühlt sich geehrt.“

„Es war als Beschwerde gemeint.“

Walküre zuckte mit den Schultern. „Du hast mich überredet, für vierundzwanzig Stunden mitzukommen. Ich kann sie nicht vierundzwanzig Stunden allein lassen.“

„Wir hätten sie zu deinen Eltern bringen können.“

„Sie kennt sie nicht.“

Kurze Pause.

Sie spürte, dass er sie beobachtete, hielt den Blick jedoch auf die Straße gerichtet.

„Wann warst du das letzte Mal in Haggard?“, erkundigte er sich.

Sie antwortete nicht darauf, weil sie merkte, wie sehr seine Frage sie ärgerte.

„Du bist jetzt seit fünf Monaten wieder im Land. Wie oft hast du deine Schwester gesehen? Drei Mal?“

„Lass uns jetzt nicht darüber reden, ja? Ich bin nicht in der Stimmung.“

Skulduggery nickte und Walküre hatte ein schlechtes Gewissen, aber dieses Gefühl war sie gewohnt.

Sie fuhren an ein paar Schildern vorbei, die vor einer Überschwemmung warnten, dann an einigen „Anlieger frei“-Schildern, dann an ungefähr einem halben Dutzend mit der Aufschrift „Privatbesitz“, bevor sie auf eine lange, schmale Straße abbogen, deren Ende nicht zu sehen war. Ein älterer Bauer öffnete ein rostiges Tor und ließ sie durchfahren, wobei er etwas in seinen Jackenaufschlag grummelte. Die Straße schien mit Schlaglöchern durchsetzt, von denen einige groß genug waren, dass ein Rad darin verschwinden konnte, doch der Bentley rauschte ohne das leiseste Ruckeln darüber hinweg. Wieder so eine Illusion, um die Sterblichen fernzuhalten.

Fortschritte in der Verhüllungstechnologie bedeuteten nicht nur, dass magische Elemente innerhalb des getarnten Gebiets nicht mehr festzustellen waren. Was als normales Bild erschien, konnte auch in Echtzeit extrapoliert und projiziert werden. Skulduggery hatte ihr das alles auf der ersten Ausfahrt nach ihrer Rückkehr erklärt. Er hatte von den wunderbaren Errungenschaften gesprochen und davon, was von jetzt an in Zukunft möglich war. Walküre hatte nicht aufgepasst. Sie konzentrierte sich damals wie jetzt darauf, das Schimmern des Tarnfeldes auszumachen, bevor sie durchfuhren. Doch genau wie damals versagte sie auch jetzt wieder kläglich, und Roarhaven lag urplötzlich vor ihr – eine riesige, von Mauern umgebene Stadt, die explosionsartig dort auftauchte, wo einen Augenblick zuvor nichts zu sehen war außer toten Bäumen und vertrocknetem Gestrüpp.

Sie drosselten das Tempo, als sie sich dem Shudder-Tor näherten. Es war nach einem ihrer Freunde benannt, der sein Leben durch die Hand eines Verräters verloren hatte, dessen Namen Walküre nicht laut aussprechen wollte. Angeblich stellte es die einzige Möglichkeit dar, in die Stadt hinein- und wieder hinauszugelangen, obwohl Walküre diesbezüglich ihre Zweifel hatte. Die Oberste Magierin war schließlich eine Frau, die die Vorzüge eines guten geheimen Eingangs zu schätzen wusste. Oder zumindest eines guten Fluchtwegs.

Der Bentley rollte langsam weiter, gespiegelt in den Visierhelmen der wachhabenden, grau gekleideten Sensenträger. Er reihte sich in den Verkehr ein, der durch die Straßen der Stadt floss wie Blut durch die Adern eines Riesen. Hier in den Randbezirken waren die Straßen in einem engmaschigen Netz angelegt und der Verkehr floss zügig. Doch je näher sie dem Zentrum kamen, desto ungeordneter wurde die Verkehrsführung und desto langsamer kamen sie voran. Sie näherten sich dem, was jetzt die „Altstadt“ genannt wurde: Roarhaven, nach den alten Plänen neu aufgebaut, mit seinen schmalen Straßen und schmalen Häusern. Die Stadt darum herum war in einer Paralleldimension errichtet und dann über und um das Original herum platziert worden. Der Architekt, Creyford Signate, hatte hier ein planerisches Meisterwerk vollbracht. Roarhaven war der Beweis für seine Genialität, wenn auch nicht unbedingt, was die Wahl seiner Mitarbeiter betraf. An der Entwicklung Roarhavens waren eine Menge schlechter Menschen beteiligt. Die meisten waren inzwischen tot.

Die nach dem Kampf gegen Darquise neu aufgebaute Stadt hatte sich sehr verändert, seit Walküre das letzte Mal hier war. Der Ostteil war in der Schlacht dem Erdboden gleichgemacht worden, doch zum Glück war er damals so gut wie unbewohnt. Er war auch jetzt noch in weiten Teilen unbewohnt, trotz brandneuer Gebäude und Straßen. Diejenigen, die wegen des massiven Zustroms neuer Bewohner während der letzten fünf Jahre hier leben mussten, berichteten von lähmendem psychischem Stress und Albträumen. Diejenigen Zauberer, deren Fähigkeiten im sensitiven Spektrum lagen, konnten in Richtung Osten lediglich bis zur Testament Road gehen, da sie sonst bleibende neurologische Schäden fürchten mussten.

Noch etwas, das in Walküre Schuldgefühle weckte.

Die Einwohnerzahl Roarhavens hatte in den letzten paar Jahren rasant zugenommen. Es gab überall auf der Welt magische Gemeinschaften – einige umfassten lediglich eine einzelne Straße, andere hatten die Größe einer mittleren Stadt. Es gab sogar drei mystische Städte, die nur alle paar Jahrzehnte auf der Erde erschienen, Orte voller Wunder und absoluter Freiheit. Aber Roarhaven … Roarhaven war nicht nur die größte Zaubererstadt, die es je gegeben hatte, sondern auch die erste, die in die Landschaft eingebettet war. Magier kamen mit ihren Familien hierher und plötzlich brauchten sie nicht mehr zu verheimlichen, wer sie waren oder was sie vollbringen konnten. Wer keine Arbeitsstelle fand, begann sofort damit, welche zu schaffen. Auch wenn es eine Stadt der Magier war, war es doch immer noch eine Stadt, und wie jede Stadt funktionierte sie über ihre Wirtschaft. Es gab Läden hier und Geschäfte, Restaurants und Cafés, Kinos, Theater, Büchereien und Freibäder. Roarhaven hatte seinen eigenen, wenn auch kleinen Finanzsektor, und es war in allen Bereichen verbunden mit – und abhängig von – der Welt der Sterblichen außerhalb der Stadtmauer. Die höchsten Gehälter erhielten diejenigen, die Roarhavens Aktivitäten mit denen der Außenwelt verflochten, ohne dass sterbliche Rechnungsprüfer, Anwälte oder Politiker es merkten. Roarhaven, die unsichtbare Stadt.

Sobald sie die Altstadt hinter sich gelassen hatten, floss der Verkehr wieder ruhiger. Man war hier hauptsächlich mit geräuschlosen Straßenbahnen unterwegs, die wenige Zentimeter über dem Boden schwebten, da in der Ringzone nur Autos mit Sanktuariumskennzeichen fahren durften.

In der Mitte des Rings stand das Oberste Sanktuarium, ein Palast, anders konnte man es nicht nennen, der sich dreizehn Marmorstufen über dem Straßenniveau erhob. Die Mauern waren dick und eindrucksvoll und seine Türme reckten sich in den Himmel, als freuten sie sich an ihrer eigenen Pracht. Vor zwölf Jahren befand sich das Sanktuarium noch unter einem Wachsfigurenkabinett in Dublin. Als dieses zerstört wurde, zog man in den flachen, unspektakulären Rundbau um, der früher hier gestanden hatte.

Jetzt war dieser Rundbau tief im Innern des majestätischen Bauwerks verborgen, etwas Unvollkommenes, das übertüncht und vergessen worden war.

Im Osten des Rings ragte eine Kathedrale auf. Das war neu und es beunruhigte Walküre. Sie war schwarz und grau, hatte breite Schultern und Türme, fast so hoch wie die des Obersten Sanktuariums. Nach diversen Zugeständnissen, darunter ein Gelübde der Gewaltfreiheit, war die Kirche der Gesichtslosen, noch bevor Walküre nach Amerika ging, rechtlich anerkannt worden. Anhänger der Gesichtslosen konnten von diesem Zeitpunkt an ihre Religion offen ausüben.

Jahrhundertelang hatte man in den Gesichtslosen wenig mehr als sadistische Märchengestalten gesehen – durchgeknallte Götter, die vor Äonen von den Urvätern, den ersten Zauberern, aus dieser Realität verbannt wurden –, doch Walküre hatte selbst miterlebt, wie sie versuchten, in dieser Wirklichkeit wieder Fuß zu fassen. Nachdem ihre Existenz bestätigt worden war, strömten Zauberer scharenweise zu ihren Lehrveranstaltungen, und Kirchen waren wie Pilze aus dem Boden geschossen. Menschen, die ansonsten gut und anständig waren, beteten hier zu grausamen Göttern, deren äußere Erscheinung allein sie schon in den Wahnsinn getrieben hätte. Walküre verstand es nicht, aber sie verstand die meisten Religionen nicht. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass Glaube einfach nichts für sie war.

Der Bentley ließ eine Straßenbahn vorbeigleiten und fuhr dann weiter zur Tiefgarage des Obersten Sanktuariums. Eine von Sensenträgern flankierte Stadtwache hob die Hand und sie hielten. Die Wache trat vor, den Blick auf den Bentley gerichtet und die Oberlippe unbeeindruckt gekräuselt. Die dunkelblaue Uniformjacke spannte über dem Bauch des Mannes und das Dienstabzeichen auf seiner Brust funkelte in der Sonne. Zwei Balken auf der Schulterklappe zeigten seinen Rang an, und der breite Gürtel, an dem seine Pistole und sein Schwert hingen, war aus glänzendem schwarzem Leder. Stadtwachen hatte es noch nicht gegeben, als Walküre das Land verlassen hatte, nur einen Polizeiposten und natürlich die Sensenträger. Mehr war nicht nötig gewesen, um die Sicherheit auf den Straßen zu gewährleisten. Diese Zeiten waren offensichtlich vorbei.

Skulduggery kurbelte das Fenster herunter. „Wie geht es Ihnen an diesem schönen Morgen, Korporal Yonder?“

„Den Ausweis bitte“, verlangte der Mann von der Stadtwache und hakte die Daumen in den Gürtel.

Walküre runzelte die Stirn. „Braucht ein lebendes Skelett noch einen Ausweis?“

„Korporal Yonder war schon immer pedantisch, wenn es um die kleinen Vorschriften ging, die das Leben lebenswert machen“, erklärte Skulduggery, zog eine Brieftasche aus seiner Jacke und reichte sie dem Mann. „Wenn auch weniger erpicht auf die größeren Vorschriften. Wie, Korporal?“

Yonder erwiderte nichts darauf. Er warf beiden nur einen finsteren Blick zu, bevor er die Brieftasche öffnete und die Papiere darin prüfte. „Nennen Sie mir den Grund Ihres Hierseins“, verlangte er schließlich.

„Wir sind hier wegen eines Ausweises wie diesem. Er liegt zur Abholung bereit“, antwortete Skulduggery. „Meine Partnerin hat endlich zugestimmt, mich bei meinen Ermittlungen zu begleiten. Ein wahrhaft bedeutsamer Tag.“

Yonder klappte die Brieftasche mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk heraus zu, hielt sie aber weiter fest. „Mir kommt er nicht bedeutsam vor“, bemerkte er. „Mir kommt er wie ein Dienstag vor. Sie können nicht in der Tiefgarage parken.“

„Ach nein?“ Skulduggery klang amüsiert.

„Die Tiefgarage ist nur für Mitarbeiter des Sanktuariums.“

„Dann bin ich doch befugt, hier zu sein, oder etwa nicht?“

„So wie man es mir erklärt hat, mögen Sie formal gesehen zwar die Befugnis haben, dennoch sind wir nicht verpflichtet, Sie in irgendeiner Weise zu unterstützen. Sie können die Tiefgarage somit nicht nutzen, sie ist nur für Mitarbeiter. Außerdem sind keine Haustiere erlaubt.“

„Das ist jetzt ziemlich unhöflich“, fand Skulduggery. „Ich würde Walküre so wenig ein Haustier nennen wie …“

Walküre seufzte. „Er meint den Hund.“

„Oh. Ja, der Hund. Ich kann Ihnen versichern, Korporal Yonder, dass der Hund im Wagen bleibt.“

Yonder öffnete den Mund für einen Einwand, drehte sich dann jedoch einigermaßen abrupt um, und Walküre sah eine Stadtwache mit drei Balken auf der Schulterklappe auf sie zukommen. Walküre kannte den Mann noch aus seiner Zeit als Sanktuariumsfunktionär. Er hieß … Verdammt, wie hieß er gleich wieder? Larrup? Sie war ziemlich sicher, dass er Larrup hieß. Er sagte etwas, das sie nicht verstand, doch was immer es war, es ließ Yonder tiefrot anlaufen. Er trat mit zusammengebissenen Zähnen zur Seite, als Larrup herankam. „Mr Pleasant.“ Larrup riss Yonder die Brieftasche aus der Hand. „Entschuldigen Sie die Verzögerung. Sie haben drinnen zu tun?“

„So ist es“, bestätigte Skulduggery.

„Gehen Sie direkt durch, Sir.“ Larrup reichte Skulduggery die Brieftasche und gab den Sensenträgern dann ein Zeichen beiseitezutreten. Er beugte sich zum Wagenfenster hinunter und schaute zu Walküre hinein. „Miss Unruh, schön, dass Sie wieder da sind.“

„Ich bin nicht wieder im Dienst“, widersprach Walküre. „Ich statte nur einen Besuch ab.“

„Sehr wohl, Ma’am. Trotzdem schön, dass Sie wieder da sind.“

Er salutierte kurz, der Bentley fuhr, ohne zu ruckeln, an und rollte weiter, hinunter in die Tiefgarage.

„ERKLÄRUNG BITTE“, verlangte Walküre einen Augenblick später.

Skulduggery manövrierte sie zwischen den Wagenreihen hindurch. „Was soll ich erklären?“

„Weshalb glaubte der Idiot, er könnte dir das Parken hier verbieten? Du arbeitest doch noch für das Sanktuarium, oder?“

„Ja“, antwortete Skulduggery. „Das heißt, nein, nicht wirklich.“

„Aber hast du mir nicht erzählt, man hätte dich zum Kommandanten dieser Eierköpfe gemacht?“

„Das habe ich, auch wenn sie, falls ich mich richtig erinnere, den Ausdruck Stadtwache bevorzugen …“

„Und was ist passiert?“

„Ich habe gekündigt.“ Der Bentley bog in eine Parklücke ein und Skulduggery schaltete den Motor aus. „Ich hatte das Gefühl, es sei besser, ich würde außerhalb des Systems operieren, und zufälligerweise wurde genau so eine Stelle frei.“ Sie stiegen aus. Xena rührte sich kaum auf dem Rücksitz.

„Was bist du dann jetzt, wenn du nicht Kommandant der Stadtwache und auch kein Sanktuariumsangestellter bist?“, wollte Walküre wissen, als sie losmarschierten.

„Vor etlichen Jahrhunderten“, begann Skulduggery, „bevor die Sanktuarien entstanden und jedes Territorium seinen eigenen Ältestenrat hatte, schlossen sich die magischen Gemeinschaften über eine lose, internationale Übereinkunft zusammen. Wir helfen euch, wenn ihr Hilfe braucht, vorausgesetzt ihr helft uns, wenn wir Hilfe brauchen – so in der Art. Während dieser Zeit sorgten bestimmte Zauberer, ähnlich den Sheriffs im Wilden Westen, für Recht und Ordnung auf der Welt und für die Einhaltung der geltenden Gesetze. Sie wurden Schlichter genannt. Als die Sanktuarien entstanden, brauchte man keine Schlichter mehr, doch die Institution als solche wurde nie wirklich aufgelöst.“

„Dann hat die neue Oberste Magierin in ihrer ganzen Erhabenheit dich zu einem Schlichter ernannt?“, fragte Walküre.

„Tatsächlich war es eine unbedeutendere Großmagierin, die mir diese Ehre übertragen hat“, erwiderte Skulduggery. „Großmagierin Naila. Das afrikanische Sanktuarium hat im Moment eigene Probleme, aber sie haben immer verfolgt, wie die Dinge hier bei uns laufen. Als Schlichter genieße ich jetzt Rechtsbefugnis auf der ganzen Welt und kann Ermittlungen anstellen, über was immer ich will.“

„Und wer ist dein Boss?“

„Rein technisch gesehen, habe ich keinen.“

„Wie wirst du bezahlt?“

„Ich tue das, was ich tue, nicht für Geld.“

In Walküres Ohren begann ein leises Summen, das sie zu ignorieren versuchte. „Aber du bekommst ein Gehalt, richtig? Wer bezahlt dich?“

Er seufzte. „Jedes Sanktuarium leistet einen proportionalen Anteil zur Finanzierung des Schlichter-Korps.“

„Und wie viele Leute bilden das Schlichter-Korps?“

„Mit dir und mir? Zwei.“

„Ich gehöre nicht dazu.“

„Du wurdest vor zwei Stunden legitimiert.“

„Von wem?“

„Von mir.“

Das Summen wurde lauter, bis es schließlich ihren ganzen Kopf ausfüllte. Einen Moment lang sah Walküre die Dinge nur noch verschwommen, dann war mit einem Schlag alles wieder klar, als hätte man eine neue Linse auf eine Kamera gesteckt. Plötzlich war die Welt voller Farben. Ein leuchtendes Rot legte sich über Skulduggerys Körper und Walküre taumelte.

„Walküre?“, fragte er. „Alles in Ordnung?“

Sie nickte, wobei sie sich bewusst war, dass sie heftig blinzelte. „Es ist nur … ich kann deine Aura sehen.“

Er legte den Kopf schräg. „Ich wusste nicht, dass sie sichtbar ist.“

„Warte einen Moment, es ist gleich vorbei.“

„Lass dir Zeit“, sagte er, doch noch bevor er die Worte ausgesprochen hatte, hatte sich ihr Sehvermögen mit einem Schlag wieder normalisiert.

Sie straffte die Schultern. „Alles gut.“

„Sicher?“

„Ja bestimmt. Es ist mir schon oft passiert.“ Sie kniff die Augen zu und öffnete sie dann wieder. „Ich nenne es mein ‚Aura-Sehen‘. Ich muss mir einen besseren Namen dafür einfallen lassen, aber egal. Falls es dich interessiert: Deine Aura ist leuchtend rot.“

„Ah, ausgezeichnet. Ist Rot denn eine gute Farbe für eine Aura?“

„Keine Ahnung. Die meisten Auren sind orange. Ich glaube, du bist anders, weil … du eben anders bist.“

Er nickte. „Ergibt Sinn.“

Sie gingen weiter zur hinteren Wand, wo der Betonboden von auf Hochglanz polierten Fliesen abgelöst wurde. Skulduggery stellte sich auf eine der Fliesen, wobei er darauf achtete, dass er seine Füße genau in der Mitte platzierte, und Walküre tat dasselbe auf der Fliese daneben.

„Glaubst du wirklich, dass es eine kluge Entscheidung war, dein eigener Boss zu sein?“, fragte sie. „Du bist ein unglaublich verantwortungsloser Mensch.“

Er nickte. „Das hat mir anfangs tatsächlich Sorge bereitet, aber je länger ich darüber nachgedacht habe, desto mehr habe ich mich an die Vorstellung gewöhnt. Inzwischen halte ich mich für einen wunderbaren Boss und ich habe unbedingt vor, meine Leitungsfunktion wahrzunehmen, indem ich mit gutem Beispiel vorangehe.“

Die Fliesen hoben vom Boden ab. Walküre hatte einen Moment Zeit, sich zu sammeln, bevor sie zu den Lichtquadraten in der Dunkelheit über ihr hinaufschoss. Sie begriff immer noch nicht, was so verkehrt war an den guten alten Aufzügen ein kleines Stück weiter hinten. Da lief man wenigstens nicht Gefahr herunterzufallen. Das hier war, ihrer unausgesprochenen Meinung nach, unnötig angewandte Magie.

Skulduggery machte vor ihr einen Schlenker und ihre Fliese schoss um ihn herum und drehte sich beim Aufsteigen. Sie schwebten durch die leeren Felder über ihnen, die Fliesen klinkten sich ein und sie traten in das Obsidian-und-Marmor-Foyer des Obersten Sanktuariums.

Die wachhabenden Sensenträger zeigten keinerlei Regung, doch einige der Leute, die vorbeieilten, warfen ihnen neugierige Blicke zu. Es verging ein Augenblick, bis Walküre merkte, dass sie nicht Skulduggery anschauten, sondern sie. Es war, als hätten sie nie zuvor eine Ripped Jeans gesehen.

Administrator Tipstaff kam herüber. Er war sehr schlank, hatte einen akkuraten Haarschnitt, trug einen Stapel Akten unter dem Arm und sah aus, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen.

„Skulduggery, Walküre“, grüßte er. „Danke, dass ihr pünktlich seid.“

„Wir sind pünktlich?“ Skulduggery klang überrascht.

„Ich weiß es wirklich sehr zu schätzen“, erwiderte Tipstaff, „da ich heute wahnsinnig viel zu tun habe. Auch wenn ich mir der Bedeutung von Walküres Berufung ins Schlichter-Korps bewusst bin, werden wir leider auf den üblichen Prunk verzichten müssen.“

Skulduggery legte den Kopf schräg. „Das läuft normalerweise prunkvoll ab? Ich habe keinen Prunk gesehen, als ich meinen Ausweis abgeholt habe. Es gab eine Andeutung von Feier, aber nichts Prunkvolles. Ich fühle mich einigermaßen betrogen.“

Tipstaff ignorierte ihn und gab Walküre eine Brieftasche. „Walküre, ich soll dir ausrichten, dass die Oberste Magierin, auch wenn sie bei deiner Ernennung kein Mitspracherecht hatte, einhundert Prozent hinter dir steht, sich freut, dass du wieder dazugehörst, und dich willkommen heißt.“

„Ich gehöre nicht wieder dazu“, widersprach Walküre, während sie die Brieftasche aufklappte. Neben ihrem Namen und dem Foto war eine silberne Sigille abgebildet, halb so groß wie ihre Handfläche. Sie steckte die Brieftasche in ihre hintere Hosentasche.

„Darf ich fragen, an welchem Fall ihr gerade arbeitet?“, erkundigte sich Tipstaff. „Von besonderem Interesse wären jedwede möglichen globalen Katastrophen. Seit der Nacht der Messer ist unser Frühwarnsystem auf diesem Gebiet reichlich eingeschränkt.“

Die Nacht der Messer hatte zwei Jahre zuvor stattgefunden. Zeitgleich hatten unbekannte Mörder in vier europäischen Ländern elf Sensitiven im Schlaf die Kehle durchgeschnitten. Wie es den Mördern möglich war, ein Komplott gegen Leute zu schmieden, die buchstäblich die Zukunft sehen konnten, und sie dann umzubringen, war auch nach fast zwei Jahren noch ein Rätsel.

„Falls ihr an einem Fall von entsprechender Tragweite arbeitet, hat die Oberste Magierin euch unsere uneingeschränkte Kooperation zugesichert.“

„Oberste Magierin“, wiederholte Walküre. „Großmagierin hat ihr wohl nicht gereicht. Sie musste sich über uns alle stellen.“

Tipstaff lächelte höflich. „Ihr Arbeitspensum ist immens, wie du wahrscheinlich weißt. Es gab jedoch keine Einwände, als sie ihren neuen Titel annahm.“

Walküre erwiderte sein leises Lächeln. „Das Fehlen einer Antwort spricht nicht unbedingt von begeisterter Zustimmung.“

„Vielleicht nicht“, gab Tipstaff zu. „Aber der Fall, an dem ihr arbeitet …?“

„Wahrscheinlich nichts von Bedeutung“, antwortete Skulduggery. „Ich dachte, ich lasse es langsam für Walküre angehen, damit sie sich nach und nach wieder in die Sache hineinfinden kann. Aber falls das Katastrophenpotenzial sich nennenswert erhöht, lassen wir es dich wissen. Versprochen.“

„Dafür wäre ich euch sehr dankbar.“ Tipstaff schaute auf seine Uhr. „Ich muss mich jetzt verabschieden. Viel Glück!“

Walküre nickte ihm zu, als er sich auf dem Absatz umdrehte und davoneilte. Im selben Moment sah sie, dass jemand sie beobachtete. Sie warf dem Mann einen finsteren Blick zu und er schaute rasch weg.

„Die Leute starren mich ständig an“, beschwerte sie sich.

„Das bildest du dir sicher nur ein“, erwiderte Skulduggery und machte sich auf den Weg zum Ausgang.

Als die Türen sich öffneten, folgte Walküre ihm hinaus in die Sonne. Menschen schlenderten durch die Ringzone, und ein paar trotzten sogar der Kälte und aßen am Brunnen und am Sockel des Uhrendenkmals ihr Mittagessen. Dahinter erhob sich die Dunkle Kathedrale.

„Sie gefällt mir nicht“, sagte Walküre.

Skulduggery wusste, ohne nachzufragen, was sie meinte. „Es ist ein ziemlich beeindruckender Bau, wenn man sich von Bauwerken beeindrucken ließe.“

Sie verschränkte die Arme. „Mir gefällt der Standort nicht. Es sieht aus, als stellte sie die Autorität des Sanktuariums infrage. Eliza findet das super, jede Wette.“

Skulduggery zupfte seine Manschettenknöpfe zurecht. „Eliza Scorn ist nicht mehr Oberhaupt der Kirche. Ich glaube, sie ist nicht einmal mehr in der Stadt.“

„Wie schrecklich. Sie wird mir wirklich fehlen.“

„Sie war tatsächlich sehr charmant.“

„Ich glaube trotzdem, dass ich darüber wegkomme.“

„Wir anderen haben es schon geschafft.“

„Wer hat jetzt das Sagen?“

„Hier beginnt die Sache entschieden weniger spaßig zu werden“, antwortete Skulduggery. „Ein Mann namens Creed soll sie ablösen. Ein ganz frommer Bursche. Hält sich strikt an die Vorschriften. Ist für Selbstgeißelung.“

„Ach“, erwiderte Walküre respektlos, „wer peitscht sich nicht ab und zu gern mal selbst ein bisschen aus?“

„Während des Krieges beschuldigte er Mevolent, die Lehren der Gesichtslosen zu großzügig auszulegen.“

„Er hielt Mevolent für nicht streng genug? Mevolent? Der Typ, der die Weltherrschaft an sich reißen und alle Sterblichen töten lassen wollte?“

„Oh, oooh. Er hat nie gesagt, dass er alle töten wollte. Er wollte nur ein paar töten und den Rest versklaven.“

„Und dieser neue Typ hat ihn angeschwärzt. Muss ein entzückendes Bürschchen sein.“

„Du wirst ihn mögen. Ich weiß es einfach.“

Sie beobachteten die Vorübergehenden.

„Du hast Tipstaff nicht verraten, woran wir arbeiten“, sagte sie.

„Nein, habe ich nicht.“

„Gibt es einen bestimmten Grund dafür?“

Skulduggery zuckte mit den Schultern. „Ich muss es nicht. Ich bin hier niemandem Rechenschaft schuldig. Wenn sie clever sind, gehen sie mir aus dem Weg und lassen mich meinen Job machen. Manchmal tun sie es. Manchmal auch nicht.“

Das Kunstwerk gegenüber dem Brunnen in der Ringzone stellte eine riesige, dreiseitige Uhr dar, deren Uhrwerk den Elementen ausgesetzt war. Man hatte die Uhren zu unterschiedlichen Zeiten angehalten und sie markierten unterschiedliche Ereignisse am Tag der Verwüstung. Die erste Uhr zeigte den Moment an, als Darquise die Energiebarriere durchbrach, die die Stadt schützte; die zweite Uhr war zu der Zeit angehalten worden, als sie diese verheerende Explosion im Ostteil der Stadt auslöste; und die Zeiger der dritten Uhr standen bis in alle Ewigkeit auf dem Augenblick, als Darquise diese Wirklichkeit verließ, in dem Glauben, alles Zerstörenswerte zerstört zu haben.

Eine Uhr, selbst eine so symbolträchtige wie diese, galt jedoch anscheinend nicht als Uhr, wenn sie nicht auch in der Lage war, die aktuelle Zeit anzuzeigen. Deshalb waren auf jedem Zifferblatt die Schatten von Zeigern, die selbst nicht zu sehen waren. Das war, wie Skulduggery Walküre nach ihrer Rückkehr erklärt hatte, eine Metapher für das Leben, das auch nach einer Katastrophe weitergeht. Sie zeigten die Zeit außerdem ziemlich genau an, was ein Plus war.

Walküre schaute nach der Uhrzeit und wartete, bis niemand mehr in Hörweite war, bevor sie weitersprach. „Du hast mich noch zweiundzwanzig Stunden und dreiunddreißig Minuten“, stellte sie fest. „Und Temper Fray ist immer noch nicht aufgetaucht. Wie sieht dein Plan aus?“

„Ich fürchte, wir brauchen einen verdeckten Ermittler. Es wird nicht gefährlich, so viel kann ich dir versichern. Zumindest sollte es nicht gefährlich werden. Ich gehe davon aus, dass es vollkommen ungefährlich ist. Falls wir Pech haben, könnte es allerdings doch ein klein wenig gefährlich werden. Und gewöhnlich haben wir Pech, wenn wir ehrlich sind.“

Sie wandte sich ab, damit er den Zweifel in ihren Augen nicht sehen sollte, doch es war zu spät.

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

„Ich kann es nicht tun“, antwortete sie leise.

„Du kannst was nicht tun?“

Sie räusperte sich. „Ich kann nicht verdeckt ermitteln, Skulduggery. Ich kann es einfach nicht. Ich bin nicht … ich bin nicht in bester Verfassung und ich bin noch nicht bereit dafür. Meine Güte, ich will eigentlich gar nicht hier sein. Es tut mir leid. Ich will dich nicht im Stich lassen, aber es gibt doch sicher jemand anders, den wir schicken können. Es muss jemanden geben.“

Er legte den Kopf schräg. „Es gibt jemanden.“

Sie runzelte die Stirn. „Tatsächlich?“

„Ich hatte nicht vor, dich zu schicken, Walküre. Du bist viel zu bekannt, besonders in Roarhaven. Nein, das muss jemand ganz Neues sein. Jemand, der weder mit dir noch mit mir in irgendeiner Verbindung steht. Eine Person, von der niemand erwarten würde, dass sie etwas auch nur andeutungsweise Gefährliches tut. Zum Glück weiß ich schon, welcher Junge dafür optimal geeignet ist.“

DIE PROPHEZEIUNG sprach vom erstgeborenen Sohn von Caddock Sirroco und Emmeline Darkly, einem Jungen voller Klugheit und Stärke und mit mutigem Herzen, der in seinem siebzehnten Lebensjahr dem König der Nachtländer in einer Schlacht gegenüberstehen würde, die über das Schicksal der Menschheit entschied.

Omen Darkly war nicht dieser Junge. Omen Darkly war der zweitgeborene Sohn von Caddock Sirroco und Emmeline Darkly, und obwohl er nur wenige Minuten jünger war als sein Bruder, bekam er von allem nur die Reste ab.

Auger, der Erstgeborene, war groß und sah gut aus. Omen musste erst noch richtig anfangen zu wachsen und er machte sich Sorgen wegen einer ganzen Reihe neuer Pickel, die über Nacht auf seinem Kinn aufgeblüht waren. Augers dunkles Haar sah auch unfrisiert gestylt aus, während Omens Haar, auch gestylt unfrisiert aussah.

Es gab noch andere Problemzonen. Seine Taille zum Beispiel. Ja, sie war umfangreicher, als ihm lieb war, doch noch mehr störte ihn die Tatsache, dass es aufgrund ihrer Ausprägung keinem Hemd möglich war, in der Hose zu bleiben. Möglicherweise war auch mit seinen Füßen etwas nicht in Ordnung, da Schnürsenkel sich hartnäckig weigerten, zugebunden zu bleiben. Abgesehen vom Äußeren, hatte Omen im Vergleich zu seinem Bruder auch in anderen Bereichen zu kämpfen. Auger wäre, selbst wenn er nicht hart gearbeitet hätte, Klassenbester gewesen, aber er arbeitete hart. Omen hatte die Kunst des Arbeitens noch nie beherrscht. Vor die Wahl gestellt, ein Lehrbuch durchzuackern oder Tagträumen nachzuhängen, würde er sich immer für Tagträume entscheiden. Einige Fächer gefielen ihm ja ganz gut, besonders die Sprachen der Magie, doch ihm fehlte einfach der Lerntrieb, den sein Bruder besaß. Er hatte auch nicht dessen Zielstrebigkeit. Und ganz gewiss nicht sein angeborenes Talent.

Aber er war nicht eifersüchtig. Trotz all seiner Fehler, und er wusste, dass er jede Menge davon hatte, machte er wenigstens seinen Zwillingsbruder nicht für seine Defizite verantwortlich. Sein Bruder war schwer in Ordnung. Sein Bruder war großartig, der großartigste Typ überhaupt, denn in drei Jahren würde er siebzehn, die Darkly-Prophezeiung würde sich erfüllen und er würde kämpfen und die Welt retten. Noch großartiger ging nicht.

Deshalb machte es Omen nichts aus, dass er selbst ständig übersehen wurde. Er war es zu Hause genauso gewohnt wie in der Schule. Alle wollten ihre Zeit mit dem Auserwählten verbringen. Mit dem Bruder des Auserwählten wollte niemand seine Zeit verbringen.

In seinen stilleren Momenten fragte sich Omen manchmal, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er als Erster geboren wäre. Es wäre der Wahnsinn gewesen, jede Wette.

Doch auch hier: keine Eifersucht. Keine Verbitterung. Nur schnell unterdrückte Neugier. Es machte ihm nichts aus.

Er sah Auger über den Flur gehen. Ein Junge aus der ersten Klasse stolperte und ließ seine Bücher fallen und Auger half ihm, sie wieder aufzusammeln. Er scherzte mit dem Jungen, der vor Glück ganz rot wurde und mit seinen Büchern in den Armen und neuem Schwung in seinen Schritten davonging. Der Auserwählte hatte diese Wirkung auf Menschen.

Omen beobachtete seinen Bruder weiter, als ein Junge mit bronzefarbenem Haar und ein Mädchen mit einem breiten Lächeln sich diesem anschlossen. Augers Freunde waren fast so cool wie Auger selbst. Sie hatten sich ihren Platz an seiner Seite dadurch verdient, dass sie sich den Teufel um seinen Promistatus scherten. Omen wusste, dass Auger sie sich ausgesucht hatte, nachdem sie alle Punkte auf seiner geheimen Checkliste erfüllt hatten. Es brauchte eine Menge, um mit Auger befreundet zu sein, doch Kase und Mahala hatten den Test bestanden, ohne zu wissen, dass sie sich ihm unterzogen hatten.

Omen sperrte sein Schließfach ab, hängte sich seine Tasche über die Schulter und machte sich auf den Weg zu seiner nächsten Stunde.

Das war sein drittes Jahr an der Corrival-Schule im Herzen des Kulturviertels von Roarhaven. Sie war von den umliegenden Straßen durch vier dicke Mauern mit vier massiven Türmen an den Ecken abgeschirmt und wäre das größte Gebäude in der Stadt gewesen, hätte es die Dunkle Kathedrale und natürlich das Oberste Sanktuarium nicht gegeben. Innerhalb dieser dicken Mauern stand das Hauptgebäude aus Stein, mit Treppen, Balustraden und Balkonen. Darum herum verteilten sich ein Dutzend weitere Gebäude auf dem Gelände.

Omen gefiel es hier ganz gut. Er mochte auch Roarhaven. Hier war es entschieden besser als dort, wo er aufgewachsen war. Die magische Gemeinde in seiner Heimatstadt in der Nähe von Galway war klein und voller Argwohn gegenüber ihren sterblichen Nachbarn. Insbesondere seine Eltern hegten ein tiefes und unerschütterliches Misstrauen gegenüber allen, die ohne magische Kräfte geboren waren. Sie misstrauten allerdings auch den meisten Leuten, die mit magischen Kräften geboren waren, weshalb er froh gewesen war, alles hinter sich lassen zu können und hierher an die exklusivste Schule der Welt zu kommen. Die Tatsache, dass er nur wegen der Darkly-Prophezeiung aufgenommen worden war, kümmerte ihn nicht die Bohne.