Sommer vorm Balkan - Danijela Pilic - E-Book

Sommer vorm Balkan E-Book

Danijela Pilic

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Beschreibung

Jugoslawien ist ein Land, das nicht mehr existiert. Hier wird die Autorin geboren, hier wächst sie auf. Und ihre Herkunft nimmt sie überallhin mit, auch nach Deutschland, wohin sie als Zehnjährige mit ihrer Familie zieht. Die Geschichte ihrer serbischen und kroatischen Familie liest sich wie eine Vorahnung: Ausgerechnet als die neue Heimat wiedervereinigt wird, beginnt das Land ihrer Kindheit auseinanderzubrechen. Aus der Frage: Woher kommst du? wird nun auch: Wohin gehörst du? Leicht und melodisch erzählt Danijela Pilic von den Winden, dem Meer und den Farben ihrer Heimat, von ihren Dichtern, Bildhauern und Erfindern. Aber auch von ihren blutigen Grenzen, dem Exil als Überlebensstrategie und dem Pulverfass voller Lebensfreude, warum sie Sitzen auf unfertigen Mäuerchen immer einem langen Spaziergang vorziehen wird und wie es sich anfühlt, verschiedene Identitäten aufeinander zu packen wie Schichten in einem Kuchen.

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Seitenzahl: 298

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Buch

Leicht und melodisch erzählt Danijela Pilic von den Winden, dem Meer und den Farben ihrer Heimat, von ihren Dichtern, Bildhauern und Erfindern. Aber auch von den blutigen Grenzen, dem Exil als Überlebensstrategie und dem Pulverfass voller Lebensfreude, warum sie Sitzen auf unfertigen Mäuerchen immer einem langen Spaziergang vorziehen wird und wie es sich anfühlt, verschiedene Identitäten aufeinanderzupacken wie Schichten in einem Kuchen.

Autorin

Danijela Pilic wurde 1971 in Split (Kroatien) geboren. 1981 zog sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Seit Abschluss ihres Studiums im Fach Writing an der Middlesex University in London ist sie als Journalistin und Redakteurin in den Bereichen Mode, Lifestyle und People tätig. Von 2008 bis 2009 war sie Editor At Large bei Vanity Fair, seit 2009 schreibt sie ein Stilblog auf glamour.de. Zurzeit leitet sie das Ressort Schönheit bei myself. Ihr erstes Buch »Yoga Bitch« erschien 2010. In »Jetzt rede ich schon wie meine Mutter!« (2012) erzählt sie, wie aufregend und komisch erste Male sein können. Danijela Pilic lebt und arbeitet in München.

Im Goldmann Verlag ist von Danijela Pilic außerdem erschienen:

Jetzt rede ich schon wie meine Mutter!

Danijela Pilic

_______________________________________

Sommer vorm Balkan

Mein Leben zwischen Alpen und Adria

1. Auflage

Originalausgabe Juni 2015

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © 2015 der Originalausgabe by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagabbildungen: FinePic®, München

und Privatarchiv der Autorin (Mija Adamovic, circa 1968)

KF · Herstellung: Str.

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-16021-0

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für mein Land und meine Leute und für Dan

Inhalt

Prolog

Teil IVon Vorfahren und Winden

Das Wiedersehen

Der Palast

Der Bildhauer

Die Statue

Der Dichter

Die Festung

Teil IIMit Tränen in den Augen kannst du nicht in die Zukunft blicken

Die Reise

Die Ankunft

Die Sprache

Der Marschall

Teil IIIEs war einmal ein Land. Dann war es nicht mehr.

Der Balkan

Das Exil

Die »Situation«

Das Genie

Krieg

Epilog

Prolog

Das Jahr war 1990, und darin taten sich große Dinge. Im Jahr zuvor war die Mauer gefallen, Deutschland stand kurz davor, seinen Westen und seinen Osten wie zwei Stücke eines viel zu simplen Puzzles, auf dessen Lösung womöglich gerade ob ihrer Banalität zu lange kein Mensch gekommen war, zusammenzufügen, somit seine schlanke Taille zu verlieren und sich zugleich, wenn man so will, der Figur Helmut Kohls anzupassen. Die fetten Jahre waren nicht vorbei, nicht hier, sie sollten erst noch beginnen, nicht nur für mein neues Land, sondern auch für mich: Ich war einen Monat nach dem Fall der Mauer volljährig geworden, und die Freiheit, die man in jenen Nächten gefeiert hatte, schmeckte ich jeden Morgen unabhängig von der Geschichte, die um mich herum geschrieben wurde, jeden Morgen, nur für mich in meinem Mund, und sie schmeckte nach unendlichen Möglichkeiten der Zukunft, nach allem, was vor mir lag, nach dem Jahreszeitenwechsel zwischen Sommer und Herbst, nach einer Mischung aus Wehmut und Vorfreude, und ich grüßte sie mit den Worten: Guten Morgen, Übermorgen.

Zur gleichen Zeit stand meine Heimat, Jugoslawien, kurz vor dem Kriegsausbruch. Die Vorahnung eines Kriegs war so unheilvoll und unfassbar wie nichts zuvor in meinem achtzehnjährigen Leben, und das glich, vielleicht nicht unüblich für eine Abiturientin im München der frühen neunziger Jahre, einer Liebesparade. (Genau zu dieser Zeit wurde auch die echte Love Parade erfunden. Wer war es, der gesagt hat, Zufälle seien Gottes Möglichkeit, anonym zu bleiben?) Sich mit einem realen Krieg auseinanderzusetzen war für mich, wie für wahrscheinlich jeden jungen Menschen des späten 20. Jahrhunderts, kaum vorstellbar. Mein Leben damals: Kollegstufe, die Klassiker lesen, lernen, raven, knutschen, sich um halb sieben unten in der U-Bahn-Station Münchner Freiheit treffen, mit den Eltern um mehr Freiheit/Geld/Respekt streiten, Augen rollen, Führerschein – beim ersten Anlauf! – schaffen. Das Foto, das mich aus dem rosagrauen Lappen ansieht, auf einem Papier, das fünfundzwanzig Jahre später immer noch den gleichen speckigen Glanz hat wie nach einer Woche, zeigt ein aufmüpfiges Gesicht, von einer Dauerwelle umrahmt, mit einem unbedingten Glauben in den Augen, den nur die wirklich Jungen haben können: dass die Welt uns gehört, dass alles gut werden wird, dass wir unseren Weg finden und gehen werden.

»Führerschein« – das war so ein Wort, das den Unterschied des Eingelebtheitsgrads zwischen meinen Eltern auf der einen und meinem Bruder und mir auf der anderen Seite eindeutig indizierte. Meine Eltern zuckten bei »Führer« jedes Mal zusammen und verharrten, als würden sie sich sogleich sehr gerade hinstellen und dann kräftig die Hinterseiten ihrer Fersen aneinanderklacken, während mein Bruder und ich entspannt blieben, weil es uns nicht weiter überraschte, dass auf das Wort »Führer« das Wort »schein« folgte.

Ich war angekommen, zwar nicht bei mir, aber hier, in diesem Land: Deutschland.

Dann kam der Brief an.

Sein Umschlag war nicht Normal-Weiß, sondern Zugestellt-Gelb, vielleicht war es auch ein Behörden-Grün oder Justiz-Blau, jedenfalls handelte sich um eine Farbe, die auf postalisch wichtigmachte und die man wegen aufkommender Panik gar nicht erst öffnen wollen würde, sondern auf einen Stapel legen und dann nachts in kaltem Schweiß deswegen aufwachte – natürlich erst, wenn man erwachsen war, nur wusste ich das damals noch nicht. Ob meiner Jugend hatte ich noch nie einen solchen Brief erhalten. Wie es sich herausstellen sollte, würde ich nie wieder einen Brief mit solchem Inhalt erhalten. Ich öffnete ihn.

Sehr geehrte Frau Pilic,

Diese Anrede gefiel mir sehr gut. Ich wurde mit Frau-plus-Nachname angesprochen und gesiezt, und zu Hause wurde ich »wie ein Kind behandelt!« (Ich.) »Dann benimm dich halt nicht so!« (Meine Eltern.)

Der Inhalt des Briefes besagte in sehr umständlicher Sprache, dass mir hiermit die deutsche Staatsangehörigkeit angeboten wurde, und Glückwunsch auch dazu.

Und mit einem Mal musste ich mich entscheiden.

Nicht dass jemand gedacht hätte, eine Entscheidung würde noch ausstehen, vor allem meine Eltern nicht. Sie waren es, die drei Jahre zuvor den Antrag gestellt hatten, in meinem minderjährigen Namen, in jener Villa in Bogenhausen, die Adolf Hitler 1935 für Eva Braun gekauft hatte und in der sich nun das jugoslawische Konsulat befand – ein Geschenk des deutschen (meines neuen) an den jugoslawischen (meinen alten) Staat. (In einer interessanten zeitgeschichtlichen Parallele standen beide Staaten vor rasanten Veränderungen, die ihre Grenzen betrafen; einer würde vereint, der andere zerstückelt werden.) Das jugoslawische Konsulat hatte also den Auftrag erhalten, mich aus der Staatsbürgerschaft zu entlassen. Ob es nun daran lag, dass sie sehr langsam arbeiteten, oder ob sie jeden Jugoslawen und jede Jugoslawin, jene Nationalität, die es so bald nicht mehr geben würde, daran hindern wollten, das sinkende Schiff zu verlassen – in jedem Fall hatte der Vorgang sehr lange gedauert. Für einen Teenager sind drei Jahre lang genug, um etwas so Entscheidendes völlig zu vergessen.

Für meine Eltern war die Sache nicht einfach, aber logisch: Die doppelte Staatsbürgerschaft gab es nicht, also musste man sich für eine entscheiden. Ich brauchte den deutschen Pass, denn hier würde ich sehr wahrscheinlich bleiben, und sie wollten mir ermöglichen, dass ich das ohne Schwierigkeiten und Schikane tun konnte. Außerdem, keine kleine Sache: Jugoslawien stand ein Krieg bevor. Wir hofften zwar, dass das durch irgendein Wunder verhindert werden könnte, alles hätten wir dafür gegeben, daran gerade noch vorbeizuschrammen, doch die Schwierigkeiten, die sich für mich auftaten als Tochter einer Serbin und eines Kroaten machten ihre Entscheidung von einer Herz- flugs zu einer Kopfsache. 1990 gab es in Deutschland vielleicht Zeit für Nostalgie, bei uns nicht.

»Scheiß drauf«, sagte ich und knallte den Brief hin. »Ich mach das nicht.«

Meine Mutter sah von ihrer Illustrierten auf, die sie stets sehr elegant blätterte, sanft und müde lächelnd, denn meinen Ausruf Scheiß drauf, ich mach das nicht hörte sie in dieser Zeit ständig.

Weil sie nicht reagierte, spezifizierte ich meine Weigerung.

»Scheiß drauf, ich mache das nicht, das mit dem deutschen Pass.«

»Waaaas? Nikola, komm sofort her«, schrie sie, und mein Vater schrie aus dem ersten Stock zurück: »Was? Wieso, was ist denn jetzt schon wieder?«

»Danijela will den deutschen Pass nicht annehmen.« (Somit war klar, dass die Sache ernst war, denn wenn ich mit Danijela – statt Elja – bezeichnet und/oder gerufen wurde, handelte es sich um Dringlichkeitsstufe eins im Gebiet der Kinderwiderborstigkeit.)

Mein Vater stürzte die Treppen hinunter, und beide plärrten auf mich ein, vernünftig solle ich sein, und was sei denn nur los mit mir und so weiter. Und ich dachte nur:

Mein armes Land, es ist im freien Fall. Ich kann es doch nicht jetzt im Stich lassen.

»No way. Ich bin Jugoslawin«, sagte ich bestimmt und gar nicht zickig, wirklich nicht.

»Ja und? Der neue Pass ändert doch nichts daran.«

»Ich will aber meinen Pass nicht hergeben.«

»Warum? Du weißt doch, was bei uns los ist. Was meinst du, was erst passiert wenn …«

Ich wollte sie das Wort nicht sagen lassen und unterbrach: »Weil ich aus Jugoslawien stamme.«

»Das wirst du immer.«

»Deine Herkunft kann dir niemand nehmen.«

Und immer wieder:

»Kind. Komm doch zur Vernunft! Es ist nur ein Stück Papier.«

»Wenn es nur ein Stück Papier ist, kann es euch doch wurscht sein, welches ich besitze.«

Und immer wieder:

»Außerdem bin ich volljährig und darf selbst entscheiden!«

Wochenlang ging das so. Die Argumente meiner Eltern, das sehe ich heute, waren gleichermaßen von Liebe und Angst bestimmt, denn es wäre nicht nur töricht, sondern womöglich auch gefährlich gewesen, die deutsche Staatsangehörigkeit nicht anzunehmen. Wer weiß schon, wie sich so ein Krieg entwickelt, wie lange er dauert, wie weit er wütet, welche Opfer er fordert; all das, was theoretisch immer so erschreckend wie hanebüchen ist, war für uns mit einem Mal zum Greifen nah.

Alles wurde praktisch und persönlich.

Letzten Endes entschieden weder sie noch ich, sondern indirekt ein besonders blöder Beamter des KVR München. Das KVR (Kreisverwaltungreferat) an der Poccistraße – genau dort, wo ich heute, nach vielen Zwischenstationen, fünfundzwanzig Jahre später lebe – war, soweit ich mich richtig erinnern kann, damals sehr unbeliebt und erfüllte schon rein optisch das Klischee einer riesigen kafkaesken Behörde: lange graugrüne Gänge, ein trister Ficus benjamina hie und da, schlechte Luft, Eau de Verzweiflung, volle Wartesäle, geflüsterte Sätze. Die jungen Münchner meiner Generation regten sich immer darüber auf, dass das KVR »fei scho wieder einen geilen« Laden dichtmachte und grundsätzlich daran interessiert zu sein schien, München ein cooles Nachtleben und eine Subkultur zu untersagen (was natürlich nicht gelang, denn Trotz kann ein großer Ansporn sein). Ich fand mich nun im KVR in der Rolle eines stempelsuchenden Ausländers wieder. Nix mehr coole Abiturientin, voll integriert und so, sondern mit einem Mal Bittstellerin mit fremdländisch klingendem Namen.

Da ich nun volljährig war, musste ich meine Aufenthaltsgenehmigung selbst verlängern lassen. Ich saß in einem Wartesaal der Ungewissheit, nicht wirklich meiner, sondern der der anderen: Ihre Nummern wurden aufgerufen, und an einem Schreibtisch, auf dem ein Katzenkalender stand, entschied ein Fremder über ihr Schicksal: ob nun für sechs Monate Ruhe war oder für ein Jahr, ob Familien zusammenbleiben würden, ob man arbeiten durfte. Oder eben nicht, und was dann?

Das alles bestimmte der zuständige Beamte. Meiner hatte eine kräftige krause Prollmatte auf dem Kopf und lächelte mich recht freundlich an.

»So, Frau ääh Pillitsch, hehe. Du wollen Stempel, he?«

Ich war perplex. Noch nie hatte jemand so mit mir gesprochen. Warum der Deppen-Infinitiv? Natürlich: weil er konnte.

»Wie bitte?«, fragte ich.

Und er wieder: »Du Stempel wollen?« Diesmal sagte er es etwas langsamer.

Ich wollte nicht frech sein, sondern ehrlich wissen: »Warum reden Sie denn so mit mir?«

»Wie denn? Wös?«

»Na ja, so … falsch?«

»A so! Ja Kruzitürken, woher soll i denn wissen, dess du Deitsch konnst!«

Ich beherrschte »Deitsch« zwar besser als er, doch er war es, der über meinen Verbleib in diesem Land urteilte. Also hielt ich die Klappe, wahrscheinlich auch aus Überforderung, denn so etwas war mir noch nie passiert. Und ich würde sicher nicht zulassen, dass es mir noch einmal passiert.

Ich weiß nicht, wie es weitergegangen wäre, wenn er mir die Aufenthaltsgenehmigung verweigert hätte. (Nicht auszudenken! Dann hätten meine Eltern total Recht behalten.) Doch ich wusste, dass ich solch eine Willkür nicht noch einmal über mich ergehen lassen wollte, dass ich für mich beschließen wollte, wo ich leben und mit wem und wie und wohin ich reisen, wo ich studieren wollte. Das wurde mir mit einem Mal sehr klar, und ich tat das, was vernünftig war. Ich hielt den Mund, ließ mir den Stempel geben und nahm kurz darauf die deutsche Staatsbürgerschaft an.

Meine Eltern ließen zwar ein paar Erleichterungsseufzer raus, doch sie hielten sich zurück mit dem »Warum nicht gleich so« und »Ich hab’s dir ja gesagt«. Dafür war die Sache zu wichtig. Wie wichtig, würde sich erst noch zeigen.

Und so wurde in dem ersten Jahr der Neunziger, des grauenvollsten Jahrzehnts meines in grauenvollen Jahrzehnten so erprobten Landes, aus mir eine deutsche Staatsbürgerin, mit einem Gefühl der Verbundenheit meinem neuen Land gegenüber und diesem Stück Papier, das es mir gegeben hatte, dank dessen ich frei leben und reisen konnte, und auch mit einem Gefühl der Schuld, einen Verwundeten auf der Flucht liegen gelassen zu haben. Völlig irrational der Gedanke, natürlich, denn wäre ich Jugoslawin auf dem Papier geblieben, hätte das den Verlauf der Geschichte kaum beeinflusst, höchstwahrscheinlich nicht – wobei dies nicht wirklich ein Gedanke war, eher ein Zustand, der zur Folge hatte, dass mir die Wichtigkeit meiner Wurzeln fortan stets bewusst war. Eine Erkenntnis lieferte die Sache auf jeden Fall und schob den Migrationshintergrund fortan in den Vordergrund: Auch wenn das ganze Leben und das eigene Schicksal ein Labyrinth waren, der Ausgangspunkt waren die Wurzeln. Sie bestimmen nicht nur, woher du kommst, wie du aussiehst, woran du dich erinnerst, wie rastlos du bist, wie du alterst, sondern auch, was du bist, warum du bist, wo du bist, und außerdem: wohin du gehst, wie häufig du das Ziel änderst und wie leicht dir Letzteres fällt. Gut, dass ich die Wichtigkeit der Wurzeln erkannte, denn in den Jahren, die folgten, würde mir die Frage nach meiner genauen Herkunft sehr häufig gestellt werden, denn je klarer sich die Kriege abzeichneten, desto interessanter wurde sie für andere Menschen.

Man ist mehr als die Summe seiner Teile, doch was ist, wenn sich die Teile völlig und konstant verändern?

Um das nachzuvollziehen: Ein Blick nach hinten, scharf und eindeutig und heiter wie ein Sonnenstrahl, der sich unverzagt durch eine schwarze Wolke drängt.

Teil IVon Vorfahren und Winden

Das Wiedersehen

Wie ein Sonnenstrahl, der sich unverzagt durch eine schwarze Wolke drängt und sie am unteren Rand hell werden lässt, immer heller, als hätte er mit einem Mal durch eine Eingebung das Wort gefunden, das das Gegenteil von dimmen bedeutet:

Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, eine Straße mitten in Belgrad, am nördlichen Ende des Tašmajdan Park. Gegenüber dem Theater Atelier 212 parkt ein silberner Mercedes 280 SL Pagoda französisch verwegen halbschief auf dem Gehweg, als würde das exquisite Automobil an sich zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort nicht schon genügend Auffallen erregen. Es ist Mai oder vielleicht September, es scheint eine sanfte, trotzige, wohlwollende Sonne vom Himmel. Auf der Fahrerseite, hinter einer Sonnenbrille, die man heute wohl als cool bezeichnen würde, sitzt ein hochgewachsener junger Mann mit hellem Haar und dalmatinischen Gesichtszügen, im Kofferraum sind zwei Koffer und zwei Tennisschläger, in der Innentasche seines Jacketts befindet sich sein weinroter Pass, die Farbe des Umschlags ein heißes Eisen im Kalten Krieg. Der Pass, auf dem in goldenen Buchstaben in lateinischer Schrift:

SFR JUGOSLAVIJA

und darunter in Kyrillisch:

СФР ЈУГОСЛАВИЈА

zu lesen ist, darüber abgebildet, auch in Gold, das Wappen mit dem Feuer und dem fünfzackigen Stern, ist bis auf die letzten zwei Seiten voll mit Visa und Ein- und Ausreisestempeln, nach grimmigem Durchblättern und dem Augen-Pass-Augen-Pass-Augen-Pause-Seufzer-Stempel-Spiel von westlichen Grenzbeamten mal knallend, mal widerwillig verabreicht. Doch er beklagt sich nicht, natürlich nicht, denn er darf reisen und spielen, und nur ein bisschen weiter östlich darf man gar nichts. Jetzt aber ist sein Kopf flau und sein Magen leer, oder umgekehrt, das Herz pocht so schnell und heiß, wie es sich geziemt, wenn es um Angelegenheiten des Herzens geht. Dabei ging es bei dieser ungeplanten Reise nach Belgrad eigentlich um Zollangelegenheiten, doch sobald er an der Straße Lole Ribara vorbeikam, verfuhr er sich dreimal, setzte zurück und blieb schließlich stehen, und mit dem satten Abdrehgeräusch des Motors wurden aus Zollangelegenheiten solche, die mit Sehnsucht und Erinnerung zu tun hatten.

Er sieht sich um, als wollte er nicht, dass man ihn wahrnimmt, denn obwohl er vor dem Theater parkt, weil er weiß, dass bald die Probenpause ist, sie hinauskommen könnte und sie sich nach zwei Jahren zum ersten Mal wiedersehen würden, will er seinen Besuch hier auch geheim halten, was allein dadurch – und das muss ihm klar sein – unmöglich ist, weil das Auto so viel Aufsehen erregt wie Sophia Loren in einem engen Kleid. So haben ihm (dem Auto, nicht ihm selbst) die Menschen hinterhergepfiffen, bewundernd wie hinter einer schönen Frau; sobald er damit in Split angekommen war, hatte sich die halbe Stadt um ihn versammelt. Menschentrauben! Nur sein Vater fragte, was soll denn dieses Auto, das hat ja nur zwei Sitze. Dann auf der Fahrt nach Belgrad, durchs dalmatinische Hinterland, das genau zu dieser Zeit als Kulisse für Cowboyfilme diente, an Filmdreharbeiten vorbei, durch die Herzegowina, durch Bosnien, nach Serbien, an Obstständen, Tankstellen und kleinen kavanas1 am Weg. Man bestaunt ihn, Gott fährt Mercedes, der Titel eines Liedes, das erst im neuen Jahrtausend würde komponiert werden, seiner Zeit nicht voraus, sondern drei Jahrzehnte hinterher. Schweres Silber außen, glitzernd und hart wie Diamantenstaub, dunkelblaues Leder innen und als Kennzeichen ST–11111. Seine Schulfreundin Branka arbeitete bei der Stelle für die Nummernschildvergabe und dachte, sie würde ihm damit eine Freude machen. Natürlich würde er in den nächsten elf Jahren damit noch mehr auffallen.

»Genosse Pilić, ich weiß ehrlich nicht, wie ich das jetzt besteuern soll«, schnaufte der feste Major, den er mitten in seiner marenda, dem in Dalmatien obligatorischem zweiten Frühstück, unterbrochen hatte. Er war erstaunlich flink zum Wagen gehüpft, hatte sich mit seinem Taschentuch noch den Mund abgewischt und dann die Schweißtropfen auf seiner Glatze drumherum getänzelt und gepfiffen ob dieses Wunders der deutschen Autobaukunst! Das Wunder war zwei Monate zuvor in der Fabrik in Stuttgart bestellt worden, und »Genosse Pilić« hatte es persönlich abgeholt, sobald es bereitstand, und dann von Stuttgart nach Split gefahren, direkt zum Hafen, wo das Amt für Zollangelegenheiten saß.

Der Major kratzte sich am Kopf, in einer Mischung aus Verlegenheit und Bewunderung, nur Genosse Tito besäße so einen, sagte er, und dann: »Eine Schönheit ist er – wie von Meštrović gemeißelt!«

»Ja. Danke. Aber es muss doch einen Steuersatz für einen Mercedes geben«, sagte Pilić etwas verzweifelt zum Major.

»Ich habe bei Gott noch nie so einen Wagen in unserem Land gesehen! Lassen Sie mich telefonieren.«

Das tat er also.

»Hm … verstehe … ein Pagoda, 280 SL … ja, verstehe, direkt dort, einen schönen Tag noch!«

Er wandte sich wieder an sein Gegenüber.

»Genosse Pilić, es hilft nichts. Sie müssen nach Belgrad, ich sage General Ivanović Bescheid, dass Sie kommen. Das muss in Belgrad geregelt werden, aber kommen Sie doch gerne noch einmal vorbei, wenn Sie wieder da sind!«

Gleich am nächsten Tag war er nach Belgrad aufgebrochen. Der Traum, den er sich mit dem Auto erfüllt hatte, sollte nicht einen Tag länger als nötig durch Behördenformalien ausgebremst und aufgeschoben werden. Es war eine lange Fahrt von Split nach Belgrad, 700 Kilometer, die ersten der rund 27000 Kilometer, die er in diesem Wagen im nächsten Jahrzehnt hinter sich bringen würde, und es war auch eine der schönsten, denn sie galt nur dem Auto selbst. Doch je näher er Belgrad kam, umso häufiger dachte er an sie. Und nun stand er an der Ecke der Straße Lole Ribara. Heute heißt die Straße Svetogorska und gehört zu den Top-drei-Straßen in Belgrad, deren Namen am häufigsten geändert wurde. Das dunkelblaue Straßenschild liest sich wie folgt:

Frühere Namen der Straße

Dva Bela Goluba 1872–1896

Svetogorska 1896–1922

Bitoljska 1922–1930

Žorža Klemensoa 1930–1943

Svetogorska 1943–1946

Lole Ribara 1946–1997

Ulica Svetogorska

Der erste Name, Dva Bela Goluba, »Zwei weiße Tauben«, ist der hübscheste, der erfolgreichste in der Kategorie »Comeback/Aller guten Dinge sind drei« ist der Name der Svetogorska. Warum man den Namen von Ivo Lola Ribar 1997 ändern musste, bleibt ein Rätsel, doch ausgerechnet in den Zeiten der größten Umbrüche und Krisen schienen in diesem Land Ideen für neue Straßennamen besonders gut anzukommen, als hätte man sich um nichts Dringenderes zu kümmern.

Belgrad. Beograd. Die weiße Stadt, beo grad, in der sich Donau und Sava treffen, auf achtundzwanzig Hügeln errichtet, zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte neununddreißigmal zerstört und neununddreißigmal wieder aufgebaut. Kaum vorstellbar, und noch weniger, dass dieser Frieden nicht währen wird.

Er blickt an einer braunen Fassade hoch. Diese eigenartige Farbe: Er nennt sie Belgradbraun und findet sie so erhebend wie die Stadt selbst. Warum, fragte er sich, warum hatte ausgerechnet die weiße Stadt ein so sattes Braun vorzuweisen, das derart vielfältig war: charmant und gefährlich, wenn es bewölkt ist, und aufrichtig und hoffnungsvoll, wenn der Himmel blau leuchtete? In seiner Heimatstadt, in Split, im selben Land, Jugoslawien, nur 700 Kilometer weiter südlich, herrschte schon ein anderes Klima; allein das Himmelblau der beiden Städte fand er ähnlich flirrend. In Split gab es keine harten Winter, dafür Meer, keine Boulevards wie in Belgrad, dafür genauso schöne Mädchen. Ihm fiel jetzt dieser ganz besondere Stein ein, der, der in den Mauern von Diokletians Palast steckte und ihm Glück brachte, seit er ein Junge war. Als er noch innerhalb der Palastmauern wohnte, in den ersten sieben Jahren seines Lebens, entdeckte er ihn und legte seitdem, sooft er konnte, die linke Hand darauf, die, mit der er nicht schreiben durfte. Er tat dies so fest, bis seine Finger die maximale Spanne erreichten. Insgesamt drei Sekunden lang, eine für die Sekunden, auf die es ankam, eine für die Minuten, an die man sich erinnert, und eine für die Tage, die noch kommen. Und das alles tat er, obwohl er Aberglauben, im Gegensatz zu den meisten seiner jugoslawischen Landsleute, auf ein Minimalmaß beschränkte. Wie, wo und wann man sich die Nägel zu schneiden hat, was es bedeutet, wenn die rechte Handinnenfläche oder die Nase juckt oder wenn einem die Ohren brennen, wenn man Krümel verschüttet, wenn ein Hund Gras frisst, wenn man einen weißen Schmetterling erblickt, wo man einen Regenschirm aufbewahrt, oder was passiert, wenn man in eine faule Birne beißt – was in diesem oder jenem Falle, dann und dann nicht, passiert, all das wusste sein Volk, bei dem der Begriff »Aberglaube« wortwörtlich »Leerglaube« heißt. Denn man glaubt doch in Richtung große Leere, man betet, doch man weiß nicht genau, zu wem. Dass alle in Split den linken Zeh des großen Bischofs rieben, wollte ihm nie so recht einleuchten, denn selbst der fortunageladenste Zeh konnte doch nur ein begrenztes Kontingent an Glück enthalten.

* * *

Nur ein paar hundert Meter weiter nördlich des parkenden Mercedes, genau am Tašmajdan Park und gegenüber vom Hotel Metropol Palace: Im dritten Stock des Hauses der Georgi Dimitrova 18 (heute: Ilije Garašanina) roch es nach Belgrad – ein Gemisch aus Holz, Seife, Kaffee, Pfeifenrauch, Rauch, Feuer, Ruß und Nebel, das so übrigens nur in seltenen japanischen Räucherstäbchen vorkommt. In einem der Zimmer kämmt eine junge Frau ihr langes schwarzes Haar. Sie gilt als eine der schönsten Frauen der Stadt, so steht es in den Klatschspalten, die in dieser Zeit saftiger gefüllt sind als eine heiße gibanica2 – die sechziger Jahre sind gut zu Belgrad, und alle feiern, als wäre Krieg oder Krise oder so etwas. Sie ist mittendrin, und sie spürt es, und sie wird viel später diese Jahre in Belgrad, deren Ende schon bald naht, als die besten years of my life bezeichnen.

Die Tür geht auf: Olja, die Haushälterin, bringt ihr den zweiten Kaffee. Sie murmelt den Monolog, das macht sie morgens immer, obwohl sie die Vorstellung gestern zum vierunddreißigstenmal gespielt hat, nicht weit von hier, eigentlich nur geradeaus nach Norden, den Tašmajdan auf ihrer linken Seite bis zur Lole Ribara zum Theater Atelier 212, wo sie fast jeden Abend auf der Bühne steht. Um ins Atelier 212 zu gelangen, muss sie nicht durch die Ulica Dalmatinska (die Dalmatinische Straße), in der sie jedes Mal eine Ausrede hat, an ihn zu denken, doch selbstverständlich tut sie es manchmal, weil es gerade der Umweg ist, der einem nicht nur das Ziel offenbart, sondern auch, ob man überhaupt eins hat. In der Georgi Dimitrova 18 wohnt sie bei ihrer Tante Zora und deren Mann Dušan, dem General, und deren gemeinsamem Sohn Boba, zwischen dunklen Ölgemälden, sehr weichen, tiefen Teppichen, Elefantenstatuen, Familiengeheimnissen, Pianoklängen und Pfeifenrauch. Palilula heißt dieser Stadtteil Belgrads, was »Zünde an« (pali) »die Pfeife« (lula) bedeutet. Erst gestern erzählte ihr Dušan, während er sich eine Pfeife stopfte, woher der Name des Viertels Palilula stammt: Lange bevor die Habsburger im 18. Jahrhundert das Stadtviertel so gestalteten, wie es heute angeordnet ist, war es ein Teil des Osmanischen Reichs. Die türkischen Herrscher verboten das Rauchen, um die Ernte, die hier gelagert wurde, nicht zu gefährden. Im Spätsommer und frühem Herbst, als die Ernte sicher verstaut war, durfte die Pfeife schließlich gezündet werden, und dies rief man einander zu – deshalb Palilula. »Zünde die Pfeife an«: Daran hält sich der General jeden Tag, an schlechten Tagen auch zweimal.

Ihr fällt der unregelmäßige Husten ein, der die gestrige Vorstellung durch die zweite Hälfte begleitet hatte, und wie sie einmal beinahe aus dem Konzept geröchelt wurde, aber nur beinahe, in der einen Sekunde, in der sie sich fragte, ob es nicht doch eine Frau sein könnte, die da hustet. Aber nein, nein, nein, weiter im Text, und ihr wird klar, wie viel wichtiger manche Sekunden als andere sind, nicht Tage, Sekunden, in denen man standhaft und ruhig und konzentriert bleiben muss, im Gegensatz zu denen, die das plötzliche Umschlagen der Gedanken als den einzig richtigen Weg offenbaren.

Jetzt bewegt sie sich zum Fenster und blickt hinaus und sieht ein Taksi wegfahren, und schon kommt Olja wieder ins Zimmer: das Telefon, für sie. (Das Telefon! Ihre Kinder würden sie Jahrzehnte später aufziehen, weil sie immer sehr viel lauter in das Telefon sprach als im wirklichen Leben, und wenn es sich um einen, wie sie es heute noch nennt, long distance call handelte, schrie sie geradezu hysterisch hinein. Und sie würde sogar verstehen können, warum das die Kinder belustigte: Wie sollten sie nachvollziehen, dass ihre Generation noch Achtung vor jeder technischen Innovation besaß? Dass ihre Tante es zu einem eigenen Telefon gebracht hatte, einem grünen massiven, das auf einem eleganten Biedermeiertischchen mit Spitzendecke neben einem Adressbüchlein stand, daneben ein schwerer grüner Ohrensessel aus Samt, der passend zum Telefon gekauft wurde, war ein Privileg, aufregend und kostbar, der Geschmack der Zukunft.)

ENDE DER LESEPROBE