Spinnentanz - Regine Kölpin - E-Book

Spinnentanz E-Book

Regine Kölpin

0,0

Beschreibung

Die drei Frauen Antke, Monika und Esther van der Kaark leben als Drei-Generationen-Haushalt in scheinbar perfekter Harmonie auf dem Seehof, einer Pferdepension im Wangerland. Diese Idylle wird durch das plötzliche Auftauchen einer fremden Frau empfindlich gestört. Als Antkes Enkelin Esther beginnt, an der Fassade der Familienidylle zu kratzen, um herauszufinden, wer die Unbekannte ist und was sie auf dem Seehof sucht, überschlagen sich die Ereignisse: Die Leiche einer Frau treibt eines Morgens im Hooksmeer und Monika ist spurlos verschwunden. Kommissar Rothko nimmt die Ermittlungen auf.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 298

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Regine Kölpin

Spinnentanz

Küsten-Krimi

Zum Buch

Geheimnisvolle Unbekannte Die drei Frauen Antke, Monika und Esther van der Kaark leben als Drei-Generationen-Haushalt in scheinbar perfekter Harmonie auf dem Seehof, einer Pferdepension im Wangerland. Diese Idylle wird durch das plötzliche Auftauchen einer fremden Frau empfindlich gestört. Vor allem Antke reagiert fast panisch. Sie scheint die Fremde von früher zu kennen, hüllt sich aber in Schweigen. Wer ist diese Frau und was hat Antke mit ihr zu tun? Antkes Enkelin Esther beginnt, an der Fassade der Familienidylle zu kratzen. Sie möchte wissen, wer die Unbekannte ist und was sie auf dem Seehof sucht. Doch dann treibt eines Morgens die Leiche einer Frau im Hooksmeer und Monika ist auf mysteriöse Weise spurlos verschwunden. Kommissar Rothko nimmt die Ermittlungen auf. Wer ist die Tote und warum musste sie sterben? Der Schlüssel zu all den Ereignissen ist tief in der Vergangenheit der van der Kaarks vergraben. Dort enthüllt sich schließlich ein schreckliches Geheimnis …

Regine Kölpin, geboren 1964 in Oberhausen, lebt seit ihrer Kindheit in Friesland an der Nordsee. Sie hat für namhafte Verlage zahlreiche Romane und Kurztexte publiziert und ist auch als Herausgeberin tätig. Regine Kölpin wurde mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Bronzenen »Homer« 2020 (mit Gitta Edelmann). Mit ihrem Mann Frank Kölpin lebt sie in einem kleinen idyllischen Dorf an der Küste. Dort konzipieren sie gemeinsam Musik- und Bühnenprojekte und genießen ihr Großfamiliendasein mit fünf erwachsenen Kindern und mehreren Enkeln oder lassen sich auf ihren Reisen mit dem Wohnmobil zu Neuem inspirieren. Mehr Infos unter: www.regine-koelpin.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2022 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Neuausgabe 2022

(Originalausgabe erschienen 2008 im Leda-Verlag)

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © druckingenieur/stock.adobe.com, AteHell/pixabay.com

ISBN 978-3-8392-6474-4

Prolog

Sonnenstrahlen bahnten sich den Weg durch die dünnen Nebelschleier, die sich wie ein weißes Tuch über das Wasser vom Hooksmeer gelegt hatten. In Ufernähe dümpelte eine Frau mit dem Gesicht nach unten. Ihre langen, blonden Haare bewegten sich wie feine Goldfäden auf dem grünlichen Wasser. Kaum ein Windhauch brachte Unordnung in das Bild, die Frau wurde nur leicht von ihrem Rock umweht, als tanze sie verstohlenen im Wasser.

Es war noch früh am Tag, nicht mehr lange und das Leben auf dem Hooksmeer würde erwachen. Schon jetzt hörte man Rufe von den Stegen, die ersten Segelboote wurden klar gemacht. Männer in Troyern schleppten Proviant an Bord, klapperten mit Geschirr und zerrten an Tauen und Segeln. Ihr Lachen klang wie Gesang an diesem Morgen. Es würde ein schöner Sommertag werden.

Das erste Segelboot durchpflügte das Wasser in Richtung Schleuse und hinterließ braunen Schaum mit viel Gischt. Kurz darauf folgten weitere Boote.

An der Surfanlage machten sich die ersten Wassersportler fertig, die den schönen Tag nutzen wollten, bevor zu viel Treiben auf dem Binnenmeer herrschte, wie immer in der Sommersaison.

An dem kleinen Strand ging der erste Frühschwimmer ins Wasser und zog gleichmäßig seine Runden. Nach einer Weile legte er sich auf den Rücken und blinzelte in den Himmel, dessen Blau nur von den Kondensstreifen einzelner Flugzeuge durchzogen wurde.

Ein paar Möwen schaukelten auf den kleinen Wellen, die die ersten Boote hinterlassen hatten, ließen sich aber von nichts beirren.

Erst als ein markerschütternder Schrei den Morgen durchschnitt, flogen sie auf, gellten einmal bedrohlich, ließen sich aber ein paar Meter weiter erneut auf dem Wasser nieder.

Mit einem Mal schien Bewegung in das Bild zu kommen. Immer mehr Boote lösten sich von den Stegen. Bald war das Hooksmeer von bunten Tupfen übersät. An einer Stelle, südlich der Schleuse, schaukelten drei Boote, deren Skipper hektisch an Deck auf und ab liefen, sich kurze Bemerkungen zuriefen. Jemand holte eine Stange, stakte damit im Wasser herum, konnte die Frau im flachen Ufergewässer aber nicht erreichen.

Sie dümpelte weiter, als wäre nichts geschehen, und als bemerkte sie nichts von der Unruhe, die sie mit ihrer Leblosigkeit verursachte.

 

Einige Wochen zuvor

1.

Es war viel zu heiß und trocken an diesem Julitag. Antke van der Kark stand am Küchenfenster vom »Seehof«, einem großen Islandpferdehof in der Nähe der Nordsee, und schaute hinaus. Die Hitze ließ die Steine im Sonnenlicht flirren, jede Bewegung war schweißtreibend.

Es wurde Zeit, dass es regnete. Die Wiesen waren bereits gelb verfärbt.

Der Wetterbericht hatte eine Gewitterfront angekündigt und Antke hoffte, dass sie das Wangerland auch erreichen würde. Eine Abkühlung wäre wunderbar und würde allen gut tun. Sie war froh, dass sie im Frühjahr ihr graues Haar raspelkurz hatte schneiden lassen. Nun sah sie zwar ein bisschen aus wie ein Igel, der sich kurz vor dem Winterschlaf ordentlich gemästet hatte, aber damit konnte sie leben. Sie musste keinem Mann mehr gefallen.

Auf dem Hof war es ohnehin praktisch, wenn man weite Kleidung trug, und die umspielte dabei praktischerweise Bauch und Hüften ganz wunderbar.

Momentan war Hauptsaison und ihre Pension war bis zum letzten Zimmer ausgebucht. Heute waren die meisten allerdings am Strand, denn zum Reiten war es viel zu warm.

Antke zuckte zusammen, als ein kleiner, roter Flitzer auf den Hof brauste und abrupt stoppte. Die Tür öffnete sich eher vorsichtig und das Erste, was Antke von der Fahrerin sah, waren lange Beine, die in roten Lederpumps steckten und sich aus dem Wagen schoben. Darauf folgte der Körper einer überaus schlanken Frau. Der schwarze Rock klebte an ihr wie eine zweite Haut und eine wallende blonde Mähne umspielte ein Gesicht, das sich fast ganz hinter einer großen Sonnenbrille versteckte.

Antke lupfte den Vorhang mit dem Zeigfinger zur Seite, um die Frau besser in Augenschein nehmen zu können. Diese beugte sich gerade ins Innere des Wagens und zog eine weiße Tasche, passend zur Bluse, heraus.

Die Fremde stand unschlüssig auf dem Hof und sah sich suchend um.

Ob die sich wohl verfahren hat?, fragte sich Antke. So eine wird ja wohl kaum auf einem Islandpferdehof Ferien machen wollen.

Sie ließ die Gardine wieder vor das weiße Sprossenfenster gleiten. Sicher würde ihre Tochter Monika, die für den Ablauf auf dem »Seehof« verantwortlich war, gleich aus dem Stall kommen und die Frau fragen, was sie hier wollte.

Antke setzte sich wieder auf die Kücheneckbank, legte ein Kluntje in die Tasse und goss etwas Tee nach. Während sie trank, schweifte ihr Blick erneut nach draußen. Die Frau taxierte den Hof noch immer, als suche sie nach etwas, das ihr vertraut vorkam. Kurz war Antke versucht, doch rauszugehen und sie zu fragen, wen oder was sie suchte, doch dann entschied sie sich fürs Abwarten. Mit etwas Glück fuhr die Frau gleich einfach wieder weg.

Als ihre Tochter auch nach weiteren zwei Minuten nicht aus dem Stall auftauchte, wurde Antke unruhig.

Komisch, dachte sie seufzend. Wo steckt sie denn? Ich muss mich wohl doch selbst bemühen.

Sie wollte gerade aufstehen, als die Frau die Brille abnahm und sich der Haustür näherte.

Dieses Gesicht kannte sie!

Elisabeth Holzer war zurück!

Antke zuckte zusammen und sog die Luft scharf ein. Ihr Herz raste und stolperte. Das Auftauchen dieser Frau grenzte an eine Katastrophe.

Was tat sie hier?

Die Blonde erreichte jetzt den Schatten des Vordaches.

Es dauerte eine Weile, ehe Antke sich gefangen hatte.

Über ihre Haut kroch eisige Kälte. Etwas in ihr schrie, sie solle aufspringen, alles verrammeln, damit Elisabeth dieses Haus nicht betreten konnte und wieder fortfuhr.

Aber sie saß einfach nur da und versuchte, ruhig zu bleiben. Antke griff zum Henkel ihrer Teetasse, verfehlte ihn aber, weil ihre Hand so zitterte.

Elisabeth würde nicht klingeln, sondern einfach in die Küche kommen und lächeln. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie damals.

Doch dann war das Knirschen von Schritten, die sich eilig vom Haus entfernten, zu hören. Der Motor sprang an, und das Auto raste mit durchdrehenden Reifen davon.

Antkes Kinn zitterte heftig und zu ihren Füßen verteilte sich weißes Porzellan in einer braunen Pfütze.

*

Als Monika die Küche betrat, fiel ihr Blick als Erstes auf die Scherben. Danach auf ihre Mutter, die das Wollknäuel mit der Häkelnadel vor sich auf den Tisch gelegt hatte und mit stumpfem Blick aus dem Fenster sah.

»Mama, warum hast du die Tasse fallen lassen?«

Keine Antwort.

»Du hättest die Scherben aufsammeln können.«

Ihre Mutter reagierte wieder nicht. Monika kannte das schon. Wenn Antke van der Kaark nicht reden wollte, dann schwieg sie und war durch nichts in der Welt dazu zu bewegen, das zu ändern.

Monika strich ihr langes, blondes Haar hinter das Ohr, sammelte das zerschlagene Porzellan auf und wischte den Teefleck weg. Ihre Mutter sah teilnahmslos zu.

»So, fertig.« Monika setzte sich zu ihrer Mutter an den Tisch. »Was ist passiert? Du benimmst dich merkwürdig.«

Antke schüttelte fast unmerklich den Kopf.

»Mutter, nun rede doch mit mir!«

Doch Antke schwieg. So wie sie es immer tat, wenn es brenzlig wurde.

Monika zuckte genervt mit den Schultern. Dann eben nicht! Sie würde ohnehin nicht herausfinden, was ihre Mutter derart aus der Fassung gebracht hatte. Es wäre besser das Thema zu wechseln.

»Wer war das denn gerade? Mit dem Auto, meine ich?«

Die Lippen ihrer Mutter öffneten sich leicht, und für den Augenblick hatte es den Anschein, als wollte sie etwas sagen. Doch dann schlug die Tür auf und die Nachbarin Gerda Wiese trat in die Küche. Sie strahlte so breit, dass man fast das Gefühl hatte, ihr Lächeln habe gar nicht genug Platz auf dem Gesicht. So sah sie immer aus, nur erreichte dieses Lächeln meist ihre Augen nicht.

»Hier lebt man ja wirklich gefährlich«, sprudelte sie mit ihrer lauten, schnarrenden Stimme los, die immer ein wenig an ein Blechschild erinnerte, das im Wind knarrte. »Da komme ich doch ganz harmlos eure Allee hochgelaufen und werde fast von einer Verrückten totgefahren. Wäre ich nicht in die Büsche gesprungen …« Gerda deutete auf ihren Rock, der grünliche Schlieren aufwies. »Ist diese Kamikaze-Frau Feriengast bei euch?«

Monika warf einen Blick zu ihrer Mutter, die auf Gerdas Wortschwall gar nicht reagierte, sondern unbeirrt nach draußen starrte. Hatte ihr Schweigen mit der Frau zu tun?

Gerda wartete die Antwort ohnehin nicht ab – sie hörte sich selbst viel zu gern reden – und wandte sich an Monika. »Du siehst auch so bedröppelt aus. Ist das wegen der Raserin«, sie warf einen Blick auf Antke. »oder weil Mudder wieder so verquer ist? Ach nein, es ist wie immer wegen Esther? Die Deern braucht einen Vater, dann wird das schon.«

»Kein Kerl in Sicht«, wiegelte Monika ab. Gerda sollte sich da einfach raushalten. Die Beziehung zwischen ihrer Tochter Esther und ihr war nicht optimal, daran würde auch ein Mann nichts ändern. Ihr Pro­blem war ein anderes, aber darüber wollte Monika mit der Nachbarin ganz sicher nicht debattieren.

Monika war schon mit 19 Jahren schwanger geworden, und es war nicht einfach gewesen, in so jungen Jahren ein Kind ohne Vater großzuziehen, vor allem nicht nach dem, was alles passiert war.

Wir van der Kaarks haben eine Menge Geheimnisse, dachte Monika. Aber oft ist es besser, nicht daran zu rühren.

Gerda rückte lautstark einen Stuhl zurecht und ließ sich ächzend darauf fallen.

Monika sah zu ihrer Mutter. Die hatte nun zumindest ihre Häkelei wieder in der Hand und schien völlig konzentriert bei der Arbeit. Ein alltägliches Bild, mit dem sich ihre Mutter seit jeher ausklinkte.

Trotzdem bohrte es in Monikas Bauch. Irgendetwas war geschehen. Und inzwischen war sie davon überzeugt, dass es mit der Frau zusammenhing, die wie der Teufel vom Hof gerast war. Der unstete Blick ihrer Mutter erinnerte sie an eine Zeit, die sie lieber vergessen wollte.

Aber vielleicht lag es auch nur an der Hitze, dass sie sich so verrückt machte. Man glaubte förmlich, dass das Gehirn zerkochte.

Gerda wandte sich an Antke und stichelte in ihrer unnachahmlich nervigen Art weiter. »Bist du auch wieder griesgrämig, was? Ihr solltet das Leben ruhig mal leichter nehmen. Eure Weiberwirtschaft ist nicht gut. Drei Frauen unter einem Dach und dann von alt nach jung …« Sie wiegte den Kopf und griff mit den speckigen Fingern nach einem der umgedrehten Wassergläser, die stets zusammen mit einer Flasche Mineralwasser auf dem Tisch standen. »Gut, dass es wenigstens Hajo mit euch aushält. Aber der ist ja auch nur euer Stallbursche.«

»Wir brauchen keinen Mann.« Die Stimme von Monikas Mutter klang scharf. »Nicht für den Hof, nicht für uns. Wir haben nie einen gebraucht. Das ist anders als bei dir. Lass das Thema!«

Gerda zog einen Schmollmund.

Monika rollte mit den Augen, weil ihre Nachbarin nie zu bemerken schien, wenn sie störte oder übergriffig wurde.

»So als langjährige Freundin darf ich euch sagen, was ich denke.« Gerda hielt einen Augenblick inne. »Ja, wenn einer was sagen darf, dann ich. Immerhin habe ich Monika schon in Windeln gesehen.«

Monika versuchte, Gerda durch einen Themenwechsel abzulenken. »Das ist alles lieb gemeint, aber wir haben viel zu tun. Ich muss die Zimmer für die Gäste noch fertig machen.«

Gerda winkte ab und goss sich ein zweites Wasserglas voll. »Nein. Aber wie ich vorhin schon sagte …« Sie brach ab, als ihr Blick auf Monikas Mutter fiel, die einfach weiterhäkelte. Im vertraulichen Ton raunte sie Monika zu: »Ich meine … Jede Frau braucht doch … Du bist noch jung!«

*

Esther saß in ihrem Zimmer im Dachgeschoss und zappte sich durch ein paar Nachmittagssoaps. Sie öffnete das Dachfenster, denn es war einfach zu stickig.

Esther beugte sich hinaus und schaute über den Hof. Von ihrem Zimmer aus konnte sie über die Pferdeweiden sehen und auch einen Teil vom Reitplatz.

Statt der erhofften Abkühlung wurde sie allerdings nur von heißer Luft gestreift. In den Abendstunden würde es angenehmer werden, wenngleich sich die Hitze im Haus momentan lange hielt und es drinnen wohl kaum besser wurde.

Trotzdem waren ihr die heißen Sommertage, die es im Wangerland nur selten gab, immer noch lieber als Dauer­regen.

Ihr Handy piepte.

Esther drehte sich um und angelte es vom Schreibtisch, wo sie es zum Laden angeschlossen hatte.

Es war eine Nachricht von ihrer Freundin Hilka: Wollen wir zum Strand? In einer halben Stunde am zweiten Aufgang?

Esther musste nicht lange überlegen. Sie hatten Ferien, es war warm und die Nordsee mit dem Hooksieler Strand nicht weit.

Gerne, ich fahre gleich los, tippte sie in ihr Handy.

Esther wunderte sich, dass Hilka etwas mit ihr unternehmen wollte, denn sie waren im Streit auseinandergegangen, weil Esther sich wieder sehr über ihre Mutter aufgeregt hatte.

»Die ist nie für mich da. Manchmal glaube ich, meiner eigenen Mutter wäre es lieber, wenn es mich nicht gäbe.« Hilka konnte solche Gedanken nicht nachvollziehen. »Du spinnst«, hatte sie vorhin gesagt. »Schau dich doch um. Was hast du es gut hier! Eine Mutter, deine Oma, Hajo, mich, die Pferde, vor allem Leiknir und Kelda … Was willst du denn eigentlich noch mehr vom Leben?«

»Dazugehören«, war Esthers Antwort darauf. »Richtig zum Leben dazugehören. Alles soll normal sein.«

Hilka hatte sich an die Stirn getippt. »Was ist denn bei euch nicht normal? Mich ärgert es, wenn du so undankbar bist.«

»Undankbar, pah!«, hatte Esther hervorgebracht. »Bei uns ist gar nichts normal. Da schwebt was über unseren Köpfen, und ich weiß einfach nicht, was es ist.«

»So eine Art Damoklesschwert, oder was?«

»Ja, so in etwa. Ob du es glaubst oder nicht.«

Hilka verstand das wirklich nicht und hatte es auch nie verstanden. Sie lebte eben nicht hier auf dem Hof.

*

Elisabeth Holzer war unsicher, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, zu kommen. Eigentlich hatte sie es sich ganz einfach vorgestellt.

Ein Zimmer buchen – nicht direkt auf dem »Seehof«, das wäre zu aufdringlich gewesen, aber in der Nähe. Und nach all den Jahren mal in Ruhe mit Antke van der Kaark reden.

Es wurde Zeit, die Dinge zu klären, die schon längst hätten aus der Welt geschafft sein müssen. Und was hatte sie getan? Sie war geflüchtet.

Warum nur hatte sie das Haus vorhin nicht betreten können? Als sie ihre Hand auf die Klinke gelegt hatte, war ihr gewesen, als verbrenne sie bei der Berührung. Sie fürchtete sich vor Antke, ihrem Zorn und ihren Gemeinheiten.

Jedenfalls war Elisabeth in einem Affentempo zurück nach Hooksiel gefahren. Schon am Ortseingang war ihr eingefallen, dass es so nicht ging und sie sich der Sache stellen musste. Also war sie wieder umgedreht.

Nun parkte sie den Wagen vor einem Weidegatter nicht weit vom »Seehof« entfernt. In ihrer Tasche knisterte ein Stück Papier. Sie holte es heraus, faltete es auseinander, nicht ohne jede Ecke sorgsam zu glätten. Das Papier war schon weich, zeigte vom häufigen Auseinanderfalten und Lesen viele Kniffe und Falten.

Immer wieder las Elisabeth die Zeilen.

Sie legte den Kopf in den Nacken, umklammerte den Brief aber weiterhin fest. Sie hatte ein Recht, hier auf dem »Seehof« zu sein, ob es Antke van der Kaark passte oder nicht. Elisabeth faltete den Brief wieder sorgfältig zusammen, nahm ihre Brieftasche und verstaute ihn wieder sorgfältig in einem Fach. Dann starrte sie erneut die Straße hinunter, wo die kleine Allee zum Reiterhof abzweigte.

Es war schön hier. Die grüne Marsch hatte zwar auch unter der Hitze gelitten, aber es war längst nicht so vergilbt wie in Hessen, wo sie inzwischen lebte, wenngleich die lange Hitze durchaus Spuren hinterlassen hatte.

Sie mochte die Landschaft, diese unglaubliche Weite, die ihr Herz erfreute. Die schwarz-bunten Kühe, die friedlich auf den Wiesen grasten, und die Möwen, die ständig das Lied der Freiheit sangen. Von hier aus war auch der Deich gut zu erkennen. Und dahinter erstreckte sich die Nordsee mit den vorgelagerten Inseln.

Obwohl Elisabeth das Wangerland liebte, kam es ihr in der augenblicklichen Lage so vor, als würde ihr hier eine Idylle vorgespielt, die es so nicht gab und auch nicht geben konnte.

Elisabeth riss sich aus den Gedanken und überlegte, wie sie weiter vorgehen wollte. Außer Gerda, an die sie sich nur zu gut erinnerte, war keiner mehr in Richtung des Hofs gefahren oder hatte ihn verlassen. Also war es wahrscheinlich, dass die drei Frauen zu Hause waren.

»Ich mache einen zweiten Anlauf«, machte sie sich selbst Mut.

Gerade, als sie das Auto starten wollte, radelte ein junges Mädchen aus der Allee. Schlank, fast zu dünn und mit einem kurzen, burschikosen Haarschnitt.

Sie fiel auf, weil sie ähnlich hochgewachsen war wie Elisabeths eigener Sohn, der einen ähnlich hünenhaften Wuchs hatte, und der sich manchmal leicht vornüberbeugte, um kleiner zu erscheinen.

Elisabeth musste bei den Gedanken hart schlucken. Sie ahnte plötzlich, wer das Mädchen war, und sie ahnte auch, dass sie einen riesigen Fehler gemacht und die falsche Entscheidung getroffen hatte.

Nicht jetzt. Damals. Vor 18 Jahren.

Sie kniff die Lippen entschlossen zusammen. Jetzt würde sie es besser machen und alles ins Lot bringen.

Ihr Herz klopfte heftig, als sie dem Mädchen langsam folgte.

2.

»Und, wie viele Feriengäste habt ihr schon?« Hilka wälzte sich im Sand. Die Körner blieben an ihrem eingeölten Körper kleben. Der Rücken sah aus wie paniert, als sie sich aufsetzte.

Der Hooksieler Strand war unglaublich voll. Sämtliche Badegäste aus der Umgebung und viele Einheimische zog es bei diesem Wetter an die See, denn hier war es am besten auszuhalten.

»Wir sind fast ausgebucht«, erwiderte Esther. »Morgen sollen drei weitere Familien kommen und ein alleinstehender Mann, was auch immer der auf einem Ponyhof will.« Sie pustete sich ihre Haarsträhne aus dem Gesicht. Ansonsten trug sie das Haar ähnlich raspelkurz wie ihre Oma. Bis auf die schlaksige Figur ähnelte sie ihr sehr. »Hast du mal was zu rauchen?«

Esther wühlte im Liegen in der Tasche ihrer Freundin. Sie zog ein Tabakpäckchen hervor. »Wenigstens was.« Esther war froh, dass Hilka sie nicht auf ihre Schimpftiraden ansprach, sondern einfach einen coolen Strandtag haben wollte. Sie setzte sich auf und begann eine Zigarette zu drehen.

»Was ist denn das da für eine?« Hilka hieb ihrer Freundin den Arm in die Seite. »Die Blonde da!«

Esther hielt mit dem Drehen inne und verfolgte die Frau mit ihren Blicken. Sie stellte ihre Tasche eben im Sand ab, schälte sich aus ihrem Minirock und lief in einem knappen, schwarzen Bikini auf Zehenspitzen in Richtung Wasser.

»Sieht aus wie eine Prostituierte, wenn du mich fragst«, sagte Esther. »Wer trägt denn sonst so etwas? In diesem Alter!«

»Ist die für den Job nicht zu alt?« Hilka runzelte die Stirn. »Guck doch mal!«

Esther verzog die Mundwinkel und schaute der Frau hinterher. Ihre Zigarette war fertig gedreht. »So alt ist sie wohl noch nicht. Vielleicht wie meine Mutter?« Das Feuerzeug klackte, als Esther das Rädchen an der Seite betätigte. Sie schenkte der Frau noch einen kritischen Blick und wackelte mit dem Kopf. »Nö, die ist wohl doch schon älter …« Mit vorgeschobener Unterlippe blies sie den Qualm aus.

»Dafür ist die noch richtig gut gebaut.« Hilka schürzte die Lippen. »Aber guck dir mal die Haut an!«

»Solarium geschädigt. Gibt Weiber, die finden es schön, ewig braun gebrannt zu sein.« Esther legte sich zurück auf die Decke und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.

Hilka war mit ihren Betrachtungen aber noch nicht fertig. »Die ist doch mindestens 50. Oder 55. Also jünger als deine Großmutter, aber älter als deine Ma, oder?«

»Oma ist 67 und glaub mir, die würde hier so nicht rumrennen.« Esther grinste. »Bei ihrer Leibesfülle wäre das auch schlimmer als bei der da …«

»Vielleicht ist das eine High-Society-Lady aus Sankt Moritz oder von Sylt«, spekulierte Hilka.

Esther gähnte. »Wahrscheinlich hat sie sich hierher verirrt, weil sie bei einer ihrer Schönheitsoperationen versehentlich das Hirn mit entfernt haben und sie deshalb nicht mehr örtlich orientiert ist.«

»Quatsch nicht so geschwollen!« Hilka zog die Stirn in Falten, konnte sich ein Lachen aber nicht verkneifen. Sie wandte den Blick noch immer nicht von der Frau. »Hast du die Nägel gesehen, Esther? Das sind Krallen. Echte, ausgefahrene Krallen. Natürlich bunt bemalt.«

»Nun hör schon auf. Mein Gott, die Alte interessiert mich nicht!« Esther machte eine wegwerfende Handbewegung.

Inzwischen war die Unbekannte am Wattsaum angekommen und tauchte vorsichtig den Fuß ins Nass.

»Weißt du was?«, sagte Hilka. »Die tut zwar unbeteiligt, aber in Wirklichkeit beobachtet sie uns. Sie schaut immer wieder her.«

Esther sah kurz zu der Frau, gähnte ein zweites Mal. Es war einfach zu heiß. Sie verspürte auch keine Lust dazu, sich über eine fremde, aufgedonnerte Frau zu unterhalten.

Aber Hilka gab keine Ruhe. »Guck doch! Die zieht uns ja förmlich aus mit ihrem Blick.«

Esther stieß Hilka sacht von hinten an. »Ist gut jetzt!« Sie drückte die angerauchte Zigarette im Sand aus. »Einfach ein bisschen entspannen, bevor gleich zu Hause der Stress mit den Touris wieder losgeht!«

Hilka grinste. »Aber das ist doch das Beste, wenn man hier ist! Wir liegen am Strand und beobachten so schräge Vögel wie die Frau da!«

Esther setzte sich wieder auf und grinste breit. »Wo du recht hast, hast du recht. Ich glaube, wenn die ihren BH öffnet, fällt alles raus.«

»Wahrscheinlich nicht, wegen Silikonanhäufung …«

So lagen sie eine lange Zeit dort, beobachteten die Menschen und lästerten wie verrückt. Die merkwürdige Frau hatte sich derweil ein Stückchen entfernt in die Sonne gelegt.

Esther kramte in ihrer Tasche und suchte nach der Armbanduhr. Sie warf einen Blick aufs Ziffernblatt und fuhr erschrocken hoch. »Verdammt, weißt du, wie spät es ist?«

»Ist das wichtig?«, fragte Hilka träge.

»Und ob. Oma macht mich einen Kopf kürzer, wenn ich nicht pünktlich zurück bin.«

»Denn man tau – ich bleib noch ein bisschen.«

Esther sprang auf und raffte ihre Sachen zusammen. »Bis demnächst. Ich mach mich jetzt vom Acker! Sonst gibt es richtig Ärger.«

Sie warf alles in die mitgebrachte Strandtasche. »Du weißt schon. Die Gäste. Würg.« Esther steckte sich den Zeigefinger halb in den geöffneten Mund. »Wird nichts mit Ferien für eine wie mich.«

Als sie sich aufrichtete, sah sie, dass die fremde Frau sich aufgerichtet hatte und sie wieder beobachtete. Mit einem unangenehmen Gefühl im Bauch verließ Esther rasch den Strand.

Am Kassenhäuschen drehte sie sich noch einmal um. Die blonde Frau war ihr gefolgt und fixierte sie noch immer mit ihrem Blick.

*

Monika brachte Gerda zur Tür. Die war heute wieder zu einer lästigen Stubenfliege mutiert und stundenlang geblieben. Gerda Wiese war wirklich ein Fall für sich. Nachbarn konnte man sich ebenso wenig aussuchen wie nervige Verwandte. Aber nun war sie ja erst einmal wieder weg.

Monika hatte gesehen, dass Esther mit dem Rad davongefahren war. Auf dem Gepäckträger hatte sie die Strandtasche geschnallt. Wahrscheinlich war sie mit Hilka verabredet.

Es war ein träger Nachmittag, der Monika an das Märchen von Dornröschen erinnerte, als alle zum Schlafen verdonnert worden waren. Auch hier schien alles nur noch in Zeitlupe zu gehen, selbst die Zeiger der Küchenuhr kletterten nur mühsam weiter. Monika sehnte den Abend herbei.

Ihre Mutter saß noch immer häkelnd auf der Küchenbank. Dabei bewegten sich ihre Hände ruhig und gleichmäßig. Und doch war unschwer zu erkennen, dass sie etwas belastete. Am Gespräch mit Gerda hatte sie sich jedenfalls nicht beteiligt.

»Nun sag schon!«, forderte Monika sie auf. »Ist was? Du bist schon den ganzen Nachmittag so komisch. Es hängt mit dem flotten Auto zusammen, oder? War ein Porsche, glaube ich. Wer saß denn drin? Kanntest du sie? Oder ihn?«

Ihre Mutter grub die Schneidezähne in die Unterlippe, hielt aber nicht einmal für einen Augenblick mit ihrer Häkelarbeit inne.

Monika bückte sich, um eine Scherbe aufzuheben, die sie vorhin übersehen hatte.

»Wenn du nicht mit mir reden willst, lass es«, sagte Monika. »Ich hätte nur gern gewusst, was dir mal wieder die Laune verhagelt hat.«

Ihre Mutter atmete kurz etwas lauter ein, setzte aber unvermindert gleichmäßig ihre Häkelei fort. Monika unterdrückte den Wunsch, ihr die Nadel und das Garn aus der Hand zu reißen. Sie merkte, dass sie ihre Hände bereits leicht erhoben hatte, und ließ sie resigniert wieder sinken.

Gerade als sie sich zu Tür wenden wollte, räusperte sich ihre Mutter.

Monika beugte sich über sie. Antke krallte die Finger in Monikas Unterarm. Sie zog ihre Tochter an sich heran. »Sie ist wieder da, Monika. Elisabeth Holzer ist wieder da.«

*

Das also ist tatsächlich Esther van der Kaark, dachte Elisabeth, nachdem Monikas Tochter den Strand verlassen hatte.

Esther war ein völlig anderer Typ als ihre Mutter. Monika war weiblicher und runder gebaut, hatte lange blonde Haare und wirkte weicher.

Schade, dass Esther es plötzlich so eilig gehabt hatte und davongerannt war. Elisabeth hätte gern mit ihr gesprochen. Sie hätte sie nach einer Zigarette fragen können. Oder wann wieder Ebbe wäre. Irgendetwas Zufälliges.

Elisabeth stieg in den dunklen Porsche und fuhr zu ihrer Pension nach Hooksiel.

Es war besser, sich einen Überblick zu verschaffen, bevor sie wieder auf dem »Seehof« auftauchte.

Sie nahm ihren Laptop, loggte sich im Internet ein und rief die Homepage der Pension auf.

Sie hatte Glück, weil sämtliche Familienmitglieder und das Personal dort aufgeführt wurden.

Sofort sprang ihr das Konterfei von Antke van der Kaark ins Auge. Sie erschrak regelrecht. Von der einst gepflegten und hübschen Frau war nichts geblieben. Das Einzige, was noch immer übereinstimmte, waren die tragisch dreinblickenden dunklen Augen, jetzt noch düsterer als zuvor. Und dick war sie geworden. Dazu die kurzen Haare, die ihr aufgeschwemmtes Gesicht viereckig aussehen ließen. Bei ihrem Anblick musste jeden Betrachter das Gefühl beschleichen, eine unglückliche Frau vor sich zu haben, die auf ein positives Aussehen keinen Wert legte. Weder sich selbst noch einem anderen zuliebe. Selbst auf dem Foto schien ihre Kleidung schäbig und alt.

Elisabeth schüttelte den Kopf. Da war sie sogar im Osten besser gekleidet gewesen. Aber erst nach dem Mauerfall war es ihr möglich geworden, sich die Sachen zu kaufen, die ihren Typ optimal unterstrichen. Damals war es ihr wichtig gewesen mitzuhalten. Heute brauchte sie die auffällige Kleidung, um sich dahinter zu verstecken.

Elisabeth fand es erschreckend, wie sehr sich ein Mensch in all den Jahren veränderte. Wahrscheinlich war es mit ihr nicht anders.

Sie lehnte sich zurück und hing alten Erinnerungen nach.

Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie Arnold nicht kennengelernt hätte?

Wenn sie damals nicht auf der Krankenstation in dem Ostberliner Krankenhaus zum Nachtdienst eingeteilt worden wäre.

Sie hatte Arnolds Mutter schon länger gekannt, aber nun ging es dem Ende zu. Auch jetzt, nach so langer Zeit, meinte sie noch immer den Körper der sterbenden Frau zu spüren, sah ihre angstvollen Augen, die sich geschlossen hatten, bevor der Sohn aus dem Westen anreisen konnte. Er war sofort aufgebrochen, hatte in der nächsten Nacht völlig verzweifelt vor ihr gestanden, froh darüber, dass es Elisabeth gab. In der Nacht und anschließend in vielen weiteren.

Das Leben hatte für Elisabeth nach der Wende privat keinen guten Verlauf genommen.

Sie hätte eben einfach schon eher zum »Seehof« kommen sollen. Aber Elisabeth hatte es vorgezogen, nichts zu hinterfragen. Hinsehen und sich äußern hatte damals Gefahr bedeutet. Tat man es, war es möglich, dass einen die nächsten Jahre graue Mauern umschlossen. Wie es ihrem Vater passiert war. Und so hatte sie weggeschaut. Ganz so, wie sie es all die Jahre gelernt hatte.

*

Monika sah in den Flurspiegel und schüttelte unmerklich den Kopf. 18 Jahre war jetzt alles her. Das wusste sie auf den Tag genauso sicher wie ihre Mutter. Damals war sie so alt gewesen wie Esther jetzt. Die Jahre hatten seitdem an ihr gezehrt und sie schneller altern lassen.

Sie hatte gehofft, dass die Angst eines Tages schwächer werden würde, aber das war nicht so. Und nun war Elisabeth Holzer wieder da. Was wollte sie? Es gab absolut nichts, was sie noch zu regeln hätte.

Monika ging zum Wäscheschrank, der sich ebenfalls im Flur befand, und zog die blau karierten Bettbezüge heraus. Die Arbeit würde sie ablenken.

Monika riss in den Gästezimmern die Fenster auf und begann, die Betten zu beziehen. Als sie fertig war, schüttelte sie die Kissen auf, stellte sie an die Rückwand des Bettes und hieb mit Wucht in die Mitte hinein, dass sich zwei Ohren bildeten. Draußen hörte sie Esther mit Hajo herumalbern. Der alte Mann war für Monikas Tochter so etwas wie ein Großvater. Er war der Einzige, bei dem Esther sich so verhielt, wie es ihrem Naturell entsprach.

Wenn Monika ihre Tochter so unbefangen erlebte, gab es ihr jedes Mal einen Stich. Esther war selten sorglos. Wirklich nur, wenn sie mit Hilka oder Hajo zusammen war. In Monikas Gegenwart wirkte ihre Tochter immer arg verkrampft. Meist wussten beide nicht, was sie sich erzählen sollten, und oft endete eines der seltenen Gespräche im Streit. Hinterher wusste keiner zu sagen warum, aber beide waren froh, wenn sie sich wieder aus dem Weg gehen konnten. Je älter Esther wurde, desto schlimmer wurde es.

Monikas Hals wurde trocken, ein schlechter Geschmack legte sich auf ihre Zunge. Das Kissen bekam einen zweiten Schlag in die Mitte.

Sie arbeitete sich durch die Zimmer, putzte ein bisschen mehr als nötig, nur damit sie nicht nachdenken musste. Doch es gelang ihr nicht, die Gedankenflut einzudämmen.

3.

Esther hatte schlecht geschlafen, denn es war unter dem Dach viel zu warm gewesen. Deshalb hatte sie schon überlegt, die Nacht auf der Terrasse zu verbringen. Schlussendlich war sie dann doch in ihrem Bett geblieben, weil Esther keine Lust auf die vielen Mückenstiche hatte. Nun stand sie stand am Weidezaun und betrachtete die ruhig grasenden Pferde, deren langen Schweife gemächlich die Fliegen vertrieben.

Jeden Augenblick würden die neuen Gäste eintrudeln. Ihre Mutter hatte gestern viel Zeit damit verbracht, die Zimmer herzurichten. Darauf legte sie viel Wert. Der »Seehof« sollte nicht nur ein einfacher Ferienhof sein. Nein, hier war es auch wichtig, sich wohlzufühlen und sich zu erholen. Jedes Zimmer war individuell gestaltet, in allen Räumen fand der Gast ein Pferdethema vor. Entweder Springreiten oder Dressur. Ein Zimmer hatte Westernambiente, ein anderes war als Indianerzimmer eingerichtet. Zudem waren sämtliche Zimmer nach den Islandpferden auf dem Hof benannt.

Esther hatte den Reitplan für die Woche schon erstellt. Wenn Gäste da waren, musste alles genau durchdacht sein. Die Reitstunden, das Longieren und so weiter. Ihre Mutter konnte sich dabei voll auf sie verlassen. Schade, dass sie das nicht zu schätzen wusste und sie niemals für ihren Einsatz lobte. Esther trat gegen einen Stein. Andere junge Mädchen gingen auf Tour, amüsierten sich nach der Schule. Sie dagegen kümmerte sich um den Hof und gab Reitunterricht für die Feriengäste. Ohne zu murren. Und wer dankte es ihr?

Sie ging zu Leiknir auf die Weide, legte ihren Kopf an seinen Hals. Vorsichtig zupfte der Wallach mit seinen Lippen an ihrer Hosentasche. »Ich habe nichts für dich mit«, flüsterte Esther. »Entschuldige.«

Sie schob ihren Kopf unter die Mähne des Pferdes. Leiknir roch gut. Nicht typisch wie andere Pferde. Er hatte noch den wilden Geruch der Freiheit an sich.

»Hallo? Haaallooo!«

Esther wandte ihr Gesicht in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Eine Frau stolperte über die Weide, schien sich vor der Ponyherde nicht zu fürchten. Sie hatte einen großen Sonnenhut auf und trug eine dunkle Brille. Als sich ihr die Stute Kelda näherte, strich sie ihr über die Nüstern.

Esther sah der Fremden entgegen und positionierte sich vor Leiknir. »Es ist Fremden nicht erlaubt, die Weide einfach so zu betreten«, sagte sie.

»Ich wollte …« Die Frau war ganz aus der Puste. »Ich wollte auch nur fragen …« Sie nahm die Brille ab.

Jetzt erkannte Esther, wer da auf sie zukam und erschrak. Vor ihr stand die blonde Frau vom Strand. Esther wich unwillkürlich einen Schritt zurück, denn sie hatte deren stechenden Blick noch gut in Erinnerung. Dann musterte sie die Unbekannte.

Die Fremde sah allein deshalb interessant aus, weil sie mit Sommersprossen übersät war, was Esther gestern aus der Entfernung gar nicht gemerkt hatte. Heute trug sie einen knielangen, grün bedruckten Rock, der ihre Schlankheit fast aufdringlich unterstrich.

Ihr Dekolleté war, genau wie das Gesicht, mit Sommersprossen bedeckt. Die Dinger schlucken ihre Sonnenbankfalten, dachte Esther.

Sie sah der Frau in die Augen. Es war das gleiche Phänomen wie gestern: Auf den ersten Blick hatte es den Anschein, man stehe einer jugendlichen Person gegenüber, aber schon beim zweiten Hinsehen erkannte man das als Trugschluss. Esther vermutete, dass diese Frau tatsächlich schon Mitte 50 war.

Die Fremde hatte sonst noch nichts weiter gesagt, als warte sie darauf, dass Esther mit ihrer Musterung fertig wurde.

»Was möchten Sie?« Esther bemühte sich, ihrer Stimme einen festen, aber freundlichen Klang zu geben. Als Tochter des »Seehofes« musste sie sich Gästen gegenüber erwachsen verhalten, auch wenn sie so etwas wie das Herumalbern mit Hajo oder das lockere Zusammensein mit Hilka entschieden vorzog. Danach fragte aber keiner.

Esther betrachtete das Schuhwerk der Blonden, das farblich dem weit ausgeschnittenen smaragdfarbenen Sonnentop angepasst war. Diese Frau war für ihr Alter einfach zu bunt.

Sie streckte ihr die Hand entgegen.

»Mich kurz vorstellen. Elisabeth Holzer ist mein Name.« Ihre Sommersprossen tanzten kurz auf dem leicht faltigen Gesicht herum, huschten aber rasch wieder an ihren alten Platz, als schämten sie sich, für Unordnung gesorgt zu haben. Esther war fasziniert von diesem Mienenspiel. Sie schlug in deren Hand ein, weil sie plötzlich den unwiderstehlichen Drang verspürte, sie zu berühren.

»Esther van der Kaark. Was kann ich für Sie tun?«

Erneut tanzten die Sprossen einen wilden Reigen, aber die Frau hatte sich rasch wieder gefangen. Ihr Tonfall war fest, konnte allerdings über ihre sichtliche Unsicherheit nicht hinwegtäuschen. »Schön, Sie kennenzulernen.«

»Möchten Sie reiten?«, fragte Esther, weil sie irgendetwas sagen musste.

Statt einer Antwort erklärte Elisabeth Holzer: »Ich war früher mal hier.« Sie verschlang die Finger ineinander.

Die langen Krallen von gestern waren verschwunden, aber die Nägel waren sehr wohl lackiert.

Kunstnägel, dachte Esther. Gestern waren es Kunstnägel. Sie schüttelte sich innerlich.

Sie versuchte, sich mit vorgeschobener Unterlippe die Haarsträhne aus dem Gesicht zu pusten. Aber die blieb an der schweißigen Stirn kleben, sodass sie ihren Handrücken zur Hilfe nehmen musste. Sie hätte, wie sonst auch, wenn sie bei den Pferden war, ihr Tuch um den Kopf wickeln sollen.