Stiefmutter - Paula Daly - E-Book

Stiefmutter E-Book

Paula Daly

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Beschreibung

Seit eine Auseinandersetzung mit ihrer Stiefmutter Karen eskalierte, gilt die sechzehnjährige Verity als emotional instabil. Karen ignoriert sie seit dem Vorfall und legt all ihre Aufmerksamkeit auf ihre jüngere Tochter Brontë. Deren Tage sind vollgepackt mit Klavierunterricht und Nachhilfe – was immer es braucht, um sie zu neuen Höchstleistungen zu treiben. Denn Karen lässt nichts außer Perfektion gelten. Eines Tages entschließt Verity impulsiv, ihrer kleinen Schwester eine Auszeit zu gönnen, und geht mit ihr auf den Spielplatz. Doch der Ausflug wird zum Alptraum, als in einem kurzen unbeobachteten Moment Brontë spurlos verschwindet ...

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Buch

Karen Blooms Sohn Ewan hat die Schule beendet, keinen Job und wohnt in einem kleinen Apartment über der Garage. In den Augen seiner Mutter ist er eine Enttäuschung. Und damit ihr das nicht noch einmal passiert, erwartet sie von ihrer zehnjährigen Tochter Perfektion. Brontës Tage sind vollgepackt mit Musikunterricht, Tanzstunden, Nachhilfe: Was immer es braucht, um sie zu neuen Höchstleistungen zu treiben. Während Karen all ihre Aufmerksamkeit auf Brontë legt, entgeht ihr, dass ihre Familie vor dem Zusammenbruch steht. Ihr Mann Noel verbringt so viel Zeit wie möglich bei der Arbeit, ihre Stieftochter Verity scheint emotional instabil. Eines Tages beschließt Verity impulsiv, sich und ihrer kleinen Schwester eine Auszeit zu gönnen, und geht mit ihr auf den Spielplatz. Stunden später kehrt Verity allein zurück nach Hause – Brontë ist spurlos verschwunden. Die Polizei stochert im Nebel. Es gibt keinen Verdächtigen und niemand scheint gesehen zu haben, wie Brontë den Spielplatz verließ. Doch das Schlimmste steht der Familie noch bevor …

Weitere Informationen zu Paula Daly

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Paula Daly

Stiefmutter

Roman

Aus dem Englischen

von Eva Bonné

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Trophy Child« bei Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers, London.
Copyright © der Originalausgabe 2017 by Paula Daly Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: © Getty Images/Muntz © Getty Images/made by vitaliebrega.com Redaktion: Eva Wagner em · Herstellung: ik Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN: 978-3-641-21540-8V002www.goldmann-verlag.de
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Für Harvey

ERSTER TEIL

1

Montag, 21. September

Die Mädchenumkleide stank nach Schweiß, Erde und einem unangenehm süßlichen Deospray, das ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie machte sich nichts aus Hockey – ehrlich gesagt machte sie sich, seit sie unter Bewährung stand, aus dem gesamten Unterricht nichts mehr. Ein paar wohlmeinende Profis würden ihr Verhalten beobachten, auf unbestimmte Zeit.

Verity Bloom war kein ganz hoffnungsloser Fall.

Noch nicht.

Alle gaben sich die größte Mühe, damit Veritys Leistungen nicht weiter absackten, nicht zuletzt das Lehrerkollegium der Reid’s Grammar School. Bis vor Kurzem war sie eine Musterschülerin gewesen.

»Wir haben sehr viel in sie investiert«, hatte der Schuldirektor zu ihrem Vater gesagt. »Wir möchten, dass sie ihr Potenzial voll ausschöpft. Es wäre aberwitzig, einem Mädchen wie Verity in dieser schwierigen Lebensphase die Unterstützung zu entziehen. Sie alle haben es wohl nicht gerade leicht mit ihr.«

Veritys Vater war vollkommen niedergeschlagen aus dem Gespräch herausgegangen – ein vom Leben gebeugter Mann, der die Nase von allem gestrichen voll hatte. »Wirst du tun, was sie von dir verlangen?«, hatte er gefragt. Verity hatte so gleichgültig mit den Schultern gezuckt, wie es nur ein Teenager kann. »Wenn nicht, wirst du rausfliegen«, ergänzte er.

»Wäre das so schlimm? Vielleicht ist die Schule gar nicht so toll, wie alle denken.«

Ihr Vater hatte geseufzt.

»Diese Schule kostet mich achtzehntausend Pfund im Jahr. Insgesamt habe ich für deinen Besuch dort über fünfundsiebzigtausend Pfund bezahlt … und alles, damit du am Ende mit leeren Händen dastehst? Du meine Güte, Verity!«

»Na ja, nicht mit ganz leeren Händen«, hatte sie widersprochen. »Ich könnte meinen Abschluss woanders machen.«

Er hatte sie sehr lange und sehr bekümmert angesehen. Am Ende hatte sie die tiefe Traurigkeit in seinen Augen nicht mehr ausgehalten und nachgegeben: »Okay.«

»Okay«, hatte sie gesagt. »Ich werde mir Mühe geben.«

Drei Wochen nach Unterrichtsbeginn erschienen Verity die langen Sommerferien so fern wie ein halb vergessener Traum. Sie zog sich Schuhe, Schienbeinschoner und Unterwäsche aus, stellte sich unter die Dusche und ließ sich das Wasser über Schultern und Rücken rinnen. Die Temperatur war knapp zu kühl eingestellt, damit die Mädchen nicht trödelten und zur nachfolgenden Stunde pünktlich erschienen. Eigentlich war die Maßnahme überflüssig: Sechzehnjährige Mädchen fühlen sich in ihrem Körper in der Regel so unwohl, dass sie sich ohnehin nicht länger als nötig in einer Gemeinschaftsdusche aufhalten. Seit der siebten Klasse versuchten manche sogar, sich ganz davor zu drücken. Die Sportlehrer hatten die Ausreden allerdings durchschaut und führten genauestens Buch. Niemandem war es gestattet, das Duschen zwei Wochen in Folge zu schwänzen.

Die Sportlehrerin steckte den Kopf herein und scannte die Gesichter ab, bis sie Verity entdeckte.

»Was ist dein nächster Kurs?«

»Informatik.«

»Heute darfst du dich ein paar Minuten verspäten. Komm raus und zieh dich an. Ich warte in meinem Büro auf dich.«

Verity nickte. Getuschel und unterdrücktes Kichern hallten durch den Waschraum.

Alison Decker war eine Respektsperson. Wahrscheinlich ging das auch gar nicht anders, wenn man für einen ganzen Fachbereich zuständig war. Sie trug jeden Tag das Gleiche: schwarze Laufhosen von Ronhill und ein Sweatshirt mit Schullogo. Wie bei einem Netball-Profi prangte auf der Rückseite des Sweaters ihr Name. Früher hatte sie tatsächlich für Cumbria gespielt.

Verity mochte die Frau. Sie konnte sehr direkt sein; bei ihr wusste man immer, woran man war. Ganz anders als die verhuschte, flatterhafte Tanzlehrerin, an die Veritys Klassenkameradinnen sich mit ihren Problemen wandten. Oder die stark geschminkte Dame mit dem blonden Bob, die in den Sommermonaten Tennis unterrichtete. Sie hatte eine verschlagene Art, und oft hatten die Mädchen das Gefühl, sie würde ihre Unterhaltungen belauschen. Alison Decker hingegen war viel zu beschäftigt zum Spitzeln. Abgesehen davon kümmerte sie nicht, was die Mädchen zu besprechen hatten. Von ihren Schülerinnen erwartete sie Pünktlichkeit, Disziplin und vollen Einsatz – das Privatleben der Mädchen interessierte sie nicht.

Was sie zur perfekten Aufsichtsperson für den Test machte.

Verity hielt den Kopf gesenkt, schlüpfte hastig in ihre Kleider und spürte die Blicke. Alle gaben vor, sie zu ignorieren und mit etwas anderem beschäftigt zu sein. Ein zickiges Mädchen, das in Physik neben Verity saß, holte das iPhone heraus und zeigte den anderen Videos von einem Faultierbaby. Ihre Freundinnen säuselten affektiert – Ooooh,wie süß! –, als wären sie plötzlich Kleinkinder und die Umkleide voller Welpen.

Verity packte ihre Sachen zusammen und machte sich auf den Weg ins Hauptgebäude. Weil es noch nicht geklingelt hatte, war der Korridor fast menschenleer, nur am hinteren Ende entdeckte sie einen Lehrer. Er pinnte gerade ein DIN-A4-Blatt ans Schwarze Brett des Fachbereichs Musik, trat einen Schritt zurück, verschränkte die Finger hinter dem Kopf und betrachtete die Aushänge.

Anders als der Name vermuten ließ, war die Reid’s Grammar School kein reines Gymnasium. Nach der Umwandlung in eine unabhängige Privatschule im Jahr 1977 hatte das Institut seinen alten Namen einfach behalten. Das Schulgelände lag in Countiesmeet am Ostufer des Lake Windermere auf der Grenze der Grafschaften Lancashire und Westmorland.

Reid’s Grammar war eine gute Schule, das sagte jeder: »Reid’s Grammar ist eine sehr gute Schule.« So eine Schule zu besuchen war ein Privileg, das wusste Verity. Außerdem war die Lage wirklich idyllisch. Die Schule stand auf einem der teuersten Grundstücke des Landes, es gab einen direkten Zugang zum See, drei Anleger (Eigentum der Segelschule), zwei Krocketplätze und einen hochmodernen Reitstall für die Pferde der Schülerschaft.

Die Schuluniform der Reid’s sah genau so aus, wie man sie sich vorstellen würde. Die Pausenaufsicht trug schwarze, weite Roben, die Klassen 7 bis 11 liefen in bunt gestreiften Blazern herum, und für die Mädchen waren lange Faltenröcke Pflicht. Früher gehörten in den Sommermonaten auch noch Strohhüte dazu, die jedoch in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von den Schülern der benachbarten Gemeinschaftsschule geklaut worden waren und später an den unmöglichsten Orten wieder auftauchten, unter anderem auf dem Kopf eines Pferdes. Jemand hatte zwei Löcher hineingeschnitten für die Ohren.

Die Schule genoss einen tadellosen Ruf, denn die meisten Schüler machten keinen Ärger.

Die meisten.

Die Glocke ertönte, und sofort füllte der Flur sich mit Kindern.

»He, Junge!«, rief jemand hinter Verity. »Im Flur wird nicht gerannt!«

Verity ließ sich mitziehen. Zwei Jungs aus der Stufe unter ihr kamen ihr entgegen, entdeckten sie und fingen sofort an, einander zum Spaß an die Gurgel zu gehen. Sie verdrehten die Augen, streckten die Zunge heraus und feixten. Verity ignorierte sie, bog nach rechts in einen schmalen Korridor ab und lehnte sich kurz neben die Tür zu Miss Deckers Büro, um zu verschnaufen.

Alison Decker musste sie durch die Milchglasscheibe erkannt haben, denn sie riss die Tür auf und bat Verity herein. Sie bot ihr keinen Platz an, sondern bedeutete ihr mit einer Geste, neben dem Schreibtisch zu warten; die Lehrerin musste erst noch die Mannschaftsaufstellung des U14-Hockeyteams für das Spiel gegen Stonyhurst am nächsten Samstag fertigstellen.

Verity biss sich auf die Unterlippe und trat von einem Bein aufs andere.

»Wie läuft es zu Hause?«, fragte die Lehrerin, ohne den Kopf zu heben. Verity fühlte sich überrumpelt. Alison Decker schnüffelte nie.

»Ganz okay«, sagte Verity.

»Okay gut oder okay schlecht?«

»Beides«, sagte Verity.

Alison Decker nickte knapp. »Also schön. Wir warten, bis der Unterricht angefangen hat, dann gehen wir rüber.«

Verity wusste, dass die Lehrerin nicht verpflichtet war, so viel Rücksicht auf sie zu nehmen. Ganz im Gegenteil; am Ende käme ihr Stundenplan noch so durcheinander, dass sie die nächste Sportstunde verpasste.

»Wirst du dieses Jahr wieder am Geländelauf teilnehmen?«, fragte die Lehrerin.

»Das habe ich noch nicht entschieden.«

»Es wäre zu schade, wenn du fehlst.«

Verity zuckte mit den Schultern.

»Tja«, sagte die Lehrerin. »Ich kann dich nicht zwingen. Lass uns gehen, umso schneller hast du es hinter dir.«

Verity folgte Miss Decker zu den Mädchentoiletten. Der Korridor war jetzt wieder leer. Weil sie eine vage Ahnung hatte, was auf der Mädchentoilette los war, ließ sie sich ein paar Schritte zurückfallen.

Wenige Augenblicke später blieb Alison Decker wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Ihre Turnschuhe quietschten.

Die Szene war zu komisch.

»Würdet ihr mir bitte sagen, was ihr da macht?«, fragte sie mit lauter Stimme.

»Nichts, Miss …«

»Sorry, Miss …«

»Wir wollten nur …«, tönte es aus einer der Kabinen.

Verity schaute zu, wie drei ältere Mädchen frisch geschminkt und in eine Parfümwolke gehüllt aus der Kabine traten. Als sie Verity entdeckten, dämmerte ihnen, warum die Lehrerin hier war. Sie funkelten Verity wütend an.

»Wenn ich euch noch ein einziges Mal während der Unterrichtszeit hier erwische, schrubbe ich euch persönlich das Gesicht ab!«, schimpfte Miss Decker. Die Mädchen eilten hinaus.

Die Lehrerin wandte sich Verity zu, zog einen Plastikbecher aus der Tasche und sagte: »Beeil dich.« Verity nahm den Becher mit gesenktem Kopf entgegen.

Gab es etwas Traurigeres, als im Alter von sechzehn Jahren in einen Becher urinieren zu müssen, während draußen vor der Kabinentür die Sportlehrerin wartet? Verity schämte sich zu Tode, als sie das warme Gefäß überreichte. Alison Decker nahm es mit ungerührter Miene entgegen, doch Verity war überzeugt, dass sie sich ekelte. Wahrscheinlich fragte die Lehrerin sich jede Woche erneut, warum diese Aufgabe ausgerechnet ihr zugefallen war.

»Los jetzt«, sagte sie.

Verity folgte ihr zurück ins Büro. Sie sprachen kein Wort, während Alison Decker einen verbeulten grauen Aktenschrank öffnete und einen Drogentest aus der mittleren Schublade holte. Unglaublich, dass es solche Sets inzwischen bei Amazon zu kaufen gab. Sie waren billig und einfach anzuwenden. Der Test gehörte zu der Vereinbarung, die Veritys Vater mit der Schule getroffen hatte: Verity durfte an der Schule bleiben, wenn sie sich wöchentlichen Drogentests unterzog und alle zwei Wochen zu einem Therapeuten ging.

Verity hatte verzweifelt versucht, den anderen zu erklären, dass sie keine Drogen nahm. Sie hatte niemals Drogen ausprobiert, und die Untersuchungen waren reine Zeitverschwendung. Aber anscheinend interessierte das niemanden.

Eine Minute verstrich. »Du bist sauber«, sagte Alison Decker. »Weiter so, Verity.«

»Klar.«

Die Lehrerin zögerte, als hätte sie ihr etwas äußerst Unangenehmes mitzuteilen.

»Ich bin für dich da, Verity«, sagte sie schließlich. »Falls du reden möchtest … oder wenn sonst etwas ist …«

Offenbar war Alison Decker verpflichtet, das zu sagen. Die Frau hatte kein Interesse daran, für Verity den Kummerkasten zu spielen, genauso wenig, wie Verity sich bei ihr ausheulen wollte.

»Nein danke, mir geht es prima«, sagte Verity und lächelte so herzlich wie möglich.

»Wenn du meinst. Ist wohl auch besser so.«

2

Detective Sergeant Joanne Aspinall stand in der Hotelbar und schaute sich nach ihrem Date um. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob die Leute tatsächlich eine Vorliebe für gute Restaurants und lange Spaziergänge hatten oder einfach nur zu feige waren, in ihrem Profil die Wahrheit zu schreiben. Hätte sich ein Interessent gemeldet, wenn sie sich als »überarbeitete Polizistin, fast immer zu müde zum Ausgehen und kürzlich von einem Kollegen abserviert; wohnt mit ihrer Tante zusammen und ist nicht besonders kinderlieb« beschrieben hätte?

Wahrscheinlich schon.

Wahrscheinlich irgendein Spinner, der auf traurige, erschöpfte Frauen stand.

Eine Kollegin von der berittenen Abteilung hatte sich neulich mit einem Mann getroffen, den sie über ein Datingportal kennengelernt hatte. Er bat sie darum, ihm ihre getragene Unterwäsche nach Devizes zu schicken, wo er an einer Vertreterkonferenz teilnahm. Damit ich dich nicht vergesse, wenn ich bei der Arbeit bin.

Joanne hatte in ihrem Profil nicht die ganze Wahrheit gesagt. Am Ende hatte sie sich für die üblichen »Restaurantbesuche« und »langen Spaziergänge« entschieden, um einen möglichst normalen Mann für sich zu interessieren. Dennoch waren Wochen vergangen, bis es zu einer Verabredung kam. Einer einzigen. Das Ganze hätte so einfach sein können, aber Joanne war gleich bei ihrem ersten Besuch auf secondchance.com klar geworden, dass die meisten Menschen nicht auf der Suche nach Liebe waren. Die meisten wollten nur unkomplizierten Sex. Joanne hatte nächtelang am Computer gesessen, sich durch die Profile gewühlt und die persönlichen Fragen potenzieller Kandidaten beantwortet.

Wenn du an deinem Aussehen eine einzige Sache ändern könntest – welche wäre das?

Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, die Wahrheit zu sagen. Dass sie die eine Sache, die sie an sich nicht mochte, längst geändert hatte, nämlich durch eine Brustverkleinerungs-OP. Doch vermutlich erwarteten die Männer eher Antworten wie: »Meine unterspritzten Lippen sind viel zu dick, und außerdem neige ich, wenn ich Alkohol getrunken habe, zu absoluter Hemmungslosigkeit!«

Joanne war auf Nummer sicher gegangen und hatte den nächsten Kandidaten angeklickt.

Und so hatte sie Graham Rimmer kennengelernt.

Graham Rimmer, der jetzt schon erheblich verspätet war.

Im Chat hatte Joanne ihm verschwiegen, dass sie Polizistin war. So etwas war kein Thema für das erste Date; sie hatte keine Lust, sich Löcher in den Bauch fragen zu lassen und den ganzen Abend über ihren Job zu reden. Außerdem wurden viele Leute hektisch und nervös, wenn sie erfuhren, dass Joanne bei der Kriminalpolizei war. Als könnte sie wie eine Psychiaterin oder eine Kneipenwirtin den Menschen in die Seele blicken und alle schmutzigen Geheimnisse sehen.

Joanne winkte den Kellner heran. In der Bar war viel los, trotzdem hatte er immer wieder herübergeschaut. Er wusste, dass sie drüben im Restaurant einen Tisch für zwei reserviert hatte. Joanne fürchtete, sich durch ihre Körpersprache zu verraten; wahrscheinlich konnten alle sehen, dass sie auf einen Mann wartete. Auf einen Mann, der mit seinem Profilbild möglicherweise wenig gemein hatte.

Graham Rimmer hatte geschrieben, er arbeite beim National Trust und sei für die Gegend um den Ullswater-See zuständig. Joanne hatte das ziemlich sexy gefunden, sie musste an Lady Chatterley und ihren Wildhüter denken.

Falls er überhaupt die Wahrheit gesagt hatte. Andererseits würde sie sich, sollte er sich als Lügner entpuppen, kaum beschweren können, denn sie hatte ihre eigene Beschäftigung mit »Buchhalterin« angegeben.

»Was kann ich Ihnen bringen?«, fragte der Kellner.

»Ein Glas Merlot, bitte.«

»Sicher, dass Sie keine Flasche bestellen möchten?«

»Ich muss noch fahren.«

Joanne überprüfte die Zeit. 20.23 Uhr, die ersten Paare brachen vom Barbereich ins Restaurant auf. Sie zog ihr Handy heraus und hoffte auf eine Nachricht wie: »Komme fünf Minuten später!« Was allerdings ein Wunder gewesen wäre; sie hatte Graham Rimmer ihre Handynummer nicht gegeben.

»Bitte sehr«, sagte der Kellner und stellte das Glas vor sie hin. »Kann ich Ihnen noch etwas bringen? Ein paar Oliven vielleicht? Oder …«

»Nein danke.«

Da stand ein Mann allein an der Bar. Er drehte sich kurz um, begegnete Joannes Blick und wandte sich schnell wieder ab. Seit ihrer Ankunft hatte er zwei Whisky getrunken. Sie fragte sich, ob er heute Abend noch Auto fahren wollte. Seine Kleidung unterschied ihn deutlich von den übrigen Restaurantbesuchern, denn er trug Hemd und Krawatte. Der Krawattenknoten war gelockert und das Hemd so zerknittert, als steckte er seit dem Morgen darin. Joanne hätte getippt, dass er sich vor der Heimfahrt drückte. Abgesehen davon sah er wirklich nett aus.

Und dann endlich kam Graham Rimmer herein.

Joanne rutschte das Herz in die Hose. Der Mann war die Kugelfischversion seines Profilbilds. Er näherte sich dem Tisch mit pfeifendem Atem und wirkte kein bisschen wie jemand, der Trockensteinmauern restauriert oder verirrte Schafe aus Dornenhecken befreit.

Er streckte eine Hand aus. »Joanne … ich bin Graham. Schön, dich kennenzulernen. Bitte entschuldige die Verspätung.«

Weiter erklärte er sich nicht.

Er legte die Lederjacke ab, ein schweres, abgewetztes Ding, und hängte sie über die Stuhllehne. Der Stuhl drohte nach hinten umzukippen, und Grahams routinierter Griff ließ vermuten, dass ihm das ständig passierte. »Ich hol mir schnell was zu trinken. Bin gleich zurück.«

Er drängelte sich an die Bar durch und bestellte ein Guinness. Während er darauf wartete, schob er sich die Hände in die Taschen und wippte auf den Zehen vor und zurück.

Joanne versuchte, nicht vorschnell zu urteilen, aber hier stimmte gar nichts. Der Mann aus dem Datingportal hatte einen höflichen, netten Eindruck gemacht, doch der Kerl an der Bar war ein Rüpel und das genaue Gegenteil von allem, was sie erwartet hatte. Abgesehen davon war er wesentlich älter und etwa fünfundzwanzig Kilo schwerer als auf dem Foto.

Bevor er an den Tisch zurückkehrte, trank Graham zwei ordentliche Schluck Bier.

Er wischte sich den Schaum mit dem Handrücken von den Lippen, nahm laut ächzend Platz und sagte: »Also dann … du bist Buchhalterin? Wahrscheinlich bist du froh, mal rauszukommen, wo du den ganzen Tag vor dem Computer hockst, was? Also, für mich wär das nichts. Ich bin lieber in der freien Natur. Leider komme ich nicht mehr so viel raus wie früher; sobald man in die Führungsetage aufgestiegen ist, verliert man den Kontakt zur Basis und sitzt nur noch in Meetings rum. Aber hey … es könnte schlimmer sein. Joanne, Schätzchen, hast du Kinder?«

»Nein, ich …«

»Ich habe vier. Zwei große und zwei kleine. Und zwei Exfrauen, die mich ausnehmen wie eine Weihnachtsgans, aber lass uns lieber nicht darüber reden. Das wäre unpassend für ein erstes Date. Nicht dass man sich verstellen sollte … am besten zeigt man sich so, wie man ist. Ich verhalte mich allen Menschen gegenüber gleich, ich spiele keine Spielchen. Du kriegst, was du siehst. Warst du schon mal hier? Das Bier ist ganz schön teuer.«

»Mein erstes Mal.«

»Meins auch. Und womöglich auch das letzte. Du hast geschrieben, du stammst aus Kendal?«

»Das ist nicht weit von …«

»Ich bin in Penrith geboren. Bin nie groß rumgekommen. Hab keinen Sinn drin gesehen. Die Leute sind doch überall gleich. Hast du neben der Arbeit noch irgendwelche Hobbys? Ich nicht. Hab keine Zeit. Ja, ich sollte mehr für mich tun. Ich weiß, was du jetzt denkst: Wie soll man jemanden kennenlernen, wenn man nie rausgeht?« Er holte zu einer weitschweifenden Geste aus, als wäre die Erklärung für seinen Singlestatus irgendwo da draußen zu finden. »Ich habe meine Frau niemals betrogen.« Er hustete. »Sorry … meine Frauen, falls du das gerade gedacht hast. Obwohl sich, Gott weiß, mehr als eine Gelegenheit bot. Meine erste Gattin hat behauptet, sie hätte mich nie betrogen, aber dann hatte sie keine sechs Wochen nach der Trennung den Nächsten am Start. Überraschung! Er heißt Brian. Fährt Fleischwaren aus. Ich dachte immer, er wäre ein guter Kumpel von mir, aber was soll’s. Ich bin nicht nachtragend, das bringt doch nichts. Dafür ist das Leben zu kurz. Außerdem … Was wollte ich gerade sagen? Ach ja, Nummer zwei, die war ein echter Drachen. Hab sie nur geheiratet, weil ich nach der Trennung ganz unten war. Ich würde nie wieder überstürzt heiraten. Nichts für ungut.«

»Kein Problem.«

»Ehrlich gesagt war sie ein bisschen gestört. Sie ist als Kind zwar nicht missbraucht worden, aber ihre Mutter hat sie mit einem Holzlöffel verprügelt und in den Schrank eingesperrt, manchmal sogar über Nacht. Ich denke, das hat seine Spuren hinterlassen. Ich habe mir Mühe gegeben mit ihr, ehrlich. Niemand würde das Gegenteil behaupten. Wenn ich nur dran denke, was ich alles getan habe, um die Frau glücklich zu machen … Egal, das willst du gar nicht hören. Aber Hauptsache, wir reden nicht über Politik, oder? Oder? Nein, im Ernst, Cameron ist ein Idiot. Das geht eben nicht gut, wenn ein Haufen Geldsäcke das Land regiert, was? Das ist nicht richtig. Und die Landwirte müssen es ausbaden. Also, wenn ich Bauer wäre, würde ich mir eine Flinte ins Maul schieben und dem ganzen Elend ein Ende machen.« Er hielt kurz inne, um sein Glas zu leeren, und erklärte Joanne dann, Verabredungen machten ihn immer sehr durstig. »Ich hol mir schnell noch eins.«

Joanne spielte mit dem Gedanken zu gehen. Sie könnte sich einfach ins Auto setzen und verschwinden. Sollte Graham Rimmer doch für den Rest des Abends mit sich selber reden. Oder sie könnte sich in der Toilette verstecken. Die Aussicht auf einen ganzen Abend mit diesem Mann erfüllte sie mit Furcht, aber wie befreite man sich aus so einer Lage? Wenn sie ihm die Wahrheit über ihren Job erzählt hätte, könnte sie sich jetzt eine Ausrede ausdenken. Einen Notfall. Einen Mord. Sie könnte ihn einfach sitzen lassen, ohne dass er schlecht über sie – oder sich – denken müsste. Aber so angestrengt sie auch nachdachte, ihr kam einfach kein Notfall in den Sinn, der irgendwie mit Buchhaltung zu tun hatte.

Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Oberlippe. Sie kramte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch, sah den kleinen Kreuzschlitzschraubendreher und das Pfefferspray. Sie hatte die Sachen eingepackt für den Fall, dass ihr Date sich als geistesgestörter Frauenmörder entpuppte. Seltsam, dass sie eher damit gerechnet hätte als mit einem übergewichtigen Langweiler, der sie höchstwahrscheinlich ins Koma quatschen würde.

Sie drehte sich zur Bar um. Während er auf sein Guinness wartete, hatte Graham Rimmer eine Unterhaltung mit dem Whiskytrinker mit der lockeren Krawatte begonnen. Er erklärte dem Mann gerade, dass er auf einem ersten Date sei und sich nicht beklagen könne; von einer Frau, die er über das Internet gefunden hatte, erwarte er sich ohnehin nicht viel. »Das Internet ist eine Resterampe«, sagte er.

Graham Rimmer kehrte an den Tisch zurück. Diesmal verzichtete er darauf, sich den Bierschaum von den Lippen zu wischen. Er setzte sich, grinste Joanne breit an und sagte ihr, für eine Vierzigjährige habe sie eine tolle Figur.

Auf einmal fühlte Joanne sich nicht wie vierzig, sondern sehr viel älter.

Lief darauf ihr Leben hinaus? Auf Dates wie dieses? Auf Männer wie diesen?

Sie stellte sich vor, wie sie neben Graham Rimmer im Bett lag, er laut furzte, mit verstellter Stimme fragte: »Na, gefällt dir das?«, und sich selbst urkomisch fand.

»Du redest nicht viel«, sagte er.

Joanne versuchte zu lächeln. »Vielleicht bin ich ein bisschen aufgeregt.«

Er streckte eine Hand aus und legte seine dicken, fleischigen Finger auf ihren Arm. Er drückte fest zu und sagte: »Kein Grund, nervös zu sein, Schätzchen. Ich beiße nicht … Es sei denn, du stehst drauf!«

Joanne machte sich los.

»Zwischen meinen beiden Ehen hatte ich eine Affäre«, fuhr Graham mit gedämpfter Stimme fort. »Mit einer Hundetrainerin aus Wigton. Eigentlich war sie zu jung für mich, aber sie war verrückt nach mir, und da habe ich mich drauf eingelassen. Sie wollte, dass ich sie beiße, in den …« Er hielt inne, schaute sich verstohlen um und zeigte dann mit dem Daumen hinter sich.

»In den Rücken?«, fragte Joanne.

»In den Hintern«, sagte er. Er runzelte die Stirn, atmete schwer aus. »Ich fand das seltsam. Ehrlich gesagt war mir dabei nicht ganz wohl, aber wie sagt man so schön? Jeder nach seiner Fasson.«

In der Tat.

Joanne rutschte auf ihrem Platz herum, richtete sich gerade auf. »Graham«, sagte sie und versuchte zu lächeln, »weißt du noch, dass du dein Alter mit siebenundvierzig angegeben hast? Tja, ich will dir nicht zu nahe treten, aber ehrlich gesagt siehst du ein wenig älter aus. Wie alt bist du eigentlich?«

Graham stellte das Bierglas ab.

»Einundsechzig.«

Er zog eine Augenbraue hoch und sah Joanne gespannt an. Sie begriff, dass er jetzt ein Kompliment für seine jugendliche Erscheinung erwartete. Unter anderen Umständen hätte sie sich darauf eingelassen, aus reiner Höflichkeit.

Aber nun sagte sie: »Findest du das nicht unfair, einfach so zu lügen?«

»Lügen nicht alle, wenn es ums Alter geht?«

»Nein«, sagte Joanne. »Nein, tun sie nicht.«

Ganz kurz wirkte Graham verlegen. Er starrte stumm in sein Bierglas und sagte schließlich: »Du wirst schon noch merken, dass ich für meine einundsechzig Jahre ausgesprochen jung geblieben bin.«

Joanne antwortete: »Klar, Graham. Aber ich will ehrlich sein. Ich bin auf der Suche nach jemand Jüngerem.«

Er hob den Kopf.

»Ach, tatsächlich?«, fragte er ungehalten.

»Ja.«

Graham war verärgert. Er musterte sie verächtlich von oben bis unten, wie um zu sagen: Da kannst du lange suchen. Dann räusperte er sich und stand auf.

»Tja«, sagte er, »in dem Fall würde es sich für mich wohl kaum lohnen, dich zum Essen einzuladen, was?«

»Eher nicht.«

Graham schnappte sich seine Jacke und ging ohne ein Wort. Joanne blieb peinlich berührt, aber dennoch erleichtert zurück. So etwas würde ihr nicht noch einmal passieren. Dieses Treffen hatte sie viel Zeit und Energie gekostet, doch am Ende war es womöglich zielführender, sich in einer überfüllten Bar umzuschauen und jemanden zu entdecken, den man aus unerfindlichem Grund interessant fand.

Profile bewerten, tagelang auf eine Antwort warten, intime Details preisgeben … so hatte Joanne sich ihr Liebesleben wahrlich nicht vorgestellt. Und alles wäre anders gekommen, wenn Detective Inspector McAleese nicht plötzlich an Krebs erkrankt wäre; aber so hatte er die Beziehung gleich nach der Diagnose beendet. Joanne hatte das für eine Überreaktion gehalten, seine Heilungschancen standen gut. Die Ärzte hatten einen kleinen Teil seines Dickdarms entfernt, die Chemo erfolgte allein aus Gründen der Vorsicht. Angeblich würde McAleese vollständig genesen.

Doch er hatte es sich in den Kopf gesetzt. »Es ist vorbei, Joanne«, hatte er pathetisch gesagt. Es hatte ihr nicht gerade das Herz gebrochen, doch sie war dennoch traurig gewesen. Pete McAleese hatte behauptet, sie vor Kummer schützen zu wollen. Er wollte nicht, dass sie ihr Leben auf Eis legte, während er auf unbestimmte Zeit mit der Krankheit rang. Joanne hatte protestiert und ihm versichert, sie habe nicht vor, ihr Leben auf Eis zu legen. Ihr Leben finde jetzt an seiner Seite statt.

Doch davon hatte er nichts hören wollen. Joanne hatte das Gefühl gehabt, in eine Schnulze aus den Fünfzigern geraten zu sein, wo der kleine Junge mit tränenüberströmtem Gesicht auf der Veranda steht und dem streunenden Hund zuruft: »Geh! Verschwinde! Hast du verstanden?«

Der Hund war in dem Fall sie.

Der Kellner tauchte wie aus dem Nichts am Tisch auf. Offenbar hatte sie geträumt.

»Das ist von dem Herrn an der Bar«, erklärte er mit gesenktem Blick und stellte ein Whiskyglas vor sie hin.

Joanne stutzte.

»Was ist das?«, flüsterte sie.

»Whisky. Glenlivet. Er meint, Sie könnten einen gebrauchen.«

Joanne spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. »Also nein, wirklich«, sagte sie, »den sollte ich nicht trinken.«

Sie versuchte, sich zu sammeln.

»Bitte sagen Sie ihm vielen Dank«, sagte sie mit fester Stimme.

»Sagen Sie es ihm doch selbst«, schlug der Kellner vor und nickte zur Bar hinüber. Dann beugte er sich herunter und raunte: »Er scheint ganz nett zu sein.«

Joanne riskierte einen Blick. Anstatt ihr jetzt aufdringlich zuzuprosten, kehrte der Unbekannte ihr den Rücken zu. Er stand leicht vorgebeugt und hatte die Ellenbogen auf den Tresen gestützt. Sie hatte gleich beim Hereinkommen gewusst, dass er nicht Graham Rimmer war. Man konnte ihm ansehen, dass er auf niemanden wartete und einfach nur Zeit totschlug.

Ganz anders als Joanne, die kerzengerade und voller Hoffnung am Tisch gesessen und jeden Hereinkommenden erwartungsvoll gemustert hatte.

Ihr Weinglas war noch fast voll. Sie ließ es stehen, sammelte Handtasche und Jacke ein und trug den Whisky an die Bar.

Als sie neben ihm stand, drehte er den Kopf und lächelte müde. »Anstrengendes Date?«, fragte er, und sie nickte.

»Darf ich mich setzen?«, fragte sie.

»Bitte sehr.«

Sie breitete ihre Jacke über den Hocker und ließ die Handtasche an die Holzverkleidung des Tresens sinken. Sie hob sich den Whisky an die Lippen und murmelte: »Übrigens, danke«, woraufhin er den Kopf neigte, wie um zu sagen: Gern geschehen.

Sie saßen schweigend nebeneinander. Zum ersten Mal an diesem Tag entspannte Joanne sich ein wenig. Zurzeit ermittelte sie in einem besonders frustrierenden Drogenfall. Der Hauptverdächtige, ein schmieriger Typ, verwendete mehrere Alias und war vor allem unter dem Spitznamen Sonny bekannt. Er verkaufte Heroin und diverse Pillen in Joannes Bezirk. Angeblich lagerte er seinen Stoff bei verschiedenen Frauen, aber die Polizei wusste nicht einmal, wie diese Frauen hießen oder wo sie wohnten.

Joanne trank einen weiteren Schluck und versuchte, ihre Schultern zu entspannen.

Ihr Sitznachbar leerte sein Glas und gab dem Barmann einen Wink. Wenn er heute noch Auto fahren wollte, würde Joanne ihn festnehmen müssen.

Er wandte sich ihr zu. »War es ein Blind Date?«, fragte er.

»Fast. Ich hatte ein Foto von ihm gesehen, aber man kann da nicht von besonderer Ähnlichkeit sprechen.«

»Auf einem Datingportal?«

Joanne nickte.

Sie spähte auf seine linke Hand, konnte keinen Ring erkennen. Die Haut zwischen seinen Fingern war sehr hell, auch an den Knöcheln und Fingerspitzen entdeckte sie weiße Flecken. »Haben Sie es je versucht?«, fragte sie. »Internet-Dating, meine ich.«

»Nein.«

»Zu schade. Sie hätten mir ein paar Tipps geben können.«

Er wirkte belustigt.

»Sie brauchen keine Tipps«, sagte er. »Halten Sie sich einfach an Menschen, die Ihnen optisch zusagen.« Und dann sah er ihr eine, zwei … drei Sekunden lang in die Augen.

Flirtete er mit ihr? Joanne war so aus der Übung, dass sie die Situation nicht einschätzen konnte. Und ja, der Tipp mochte gut sein, aber was sollte man machen, wenn man in seinem Alltag praktisch niemals Menschen begegnete, die einem optisch zusagten? Man war gezwungen, im Bademantel vor dem Computer zu sitzen, sich unter den strengen Blicken der eigenen Tante durch die Profile zu klicken und angesichts der enttäuschenden Auswahl traurig zu seufzen.

»Ich bin Seamus«, sagte er.

»Joanne.«

»Schön, Sie kennenzulernen, Joanne.«

Er streckte nicht seine Hand aus, lächelte sie einfach nur an. Joanne spürte, wie die Ader an ihrem Hals zu pochen anfing. Sie bedeckte sie mit der Hand.

»Sind Sie hier Stammgast?«

»Ich habe nur kurz einen Stopp nach der Arbeit eingelegt. Heute war ein langer Tag.«

»Was machen Sie beruflich?«

»Rechnungswesen.«

Super. Als Buchhalterin konnte sie sich jedenfalls nicht mehr ausgeben.

»Wohnen Sie in der Nähe?«

»Halbe Stunde von hier.«

»Wenn Sie noch fahren wollen, sollten Sie den Whisky lieber stehen lassen.«

»Da haben Sie recht«, sagte er. »Werde ich aber nicht.«

Kurz fürchtete Joanne, einen Fehler begangen zu haben. Er wollte nicht mit ihr flirten; er war einfach nur ein netter Mann, der Mitleid mit ihr hatte. Von der Sorte kannte sie jede Menge.

»Vielleicht können Sie ja noch eine Weile hierbleiben«, sagte er, »und mir Gesellschaft leisten, bis ich wieder nüchtern bin.«

»Oh.«

»Wir könnten uns ins Restaurant setzen, falls Sie noch nicht gegessen haben.«

»Ich habe noch nicht gegessen.«

Seamus hatte Buchhalterhände – glatte Haut und lange, schlanke Finger. Anscheinend hatte er nie körperlich gearbeitet. Joanne schätzte ihn auf achtundvierzig. Ganz offensichtlich war er in seiner Jugend sehr attraktiv gewesen, aber nun waren seine Mundwinkel sorgenvoll nach unten gezogen. Das Leben hatte auch ihn nicht verschont.

Ob er ihr gefiel?

Und wie.

Sie trank noch einen Schluck Whisky. Wieder schwiegen sie.

Joanne kannte nur wenige Menschen, die einfach mal den Mund halten konnten. Ausgenommen natürlich straffällige Teenager – eine schwierige Klientel, die sie gelegentlich verhören musste. Die Jugendlichen hassten die Polizei und hatten kein Problem damit, es zu zeigen. Sie schöpften ihr Recht auf Schweigen voll aus und sagten nicht einmal so etwas wie »Kein Kommentar«.

»Sind Sie schon länger allein?«, fragte Seamus.

»Sie meinen Single? Nein, nicht allzu lange. Ich war mit einem Kollegen liiert, aber das ging zu Ende, weil … na ja, es ist vorbei. Was ist mit Ihnen? Sind Sie Single?«

»Ja.«

»Seit wann?«

»Lange Zeit«, sagte er. »Zu lange.«

»Zu lange ohne Beziehung oder zu lange ohne Frau?«, fragte sie, und Seamus warf ihr einen schelmischen, schuldbewussten Blick zu, wie um zu sagen: Erwischt.

Er sagte ihr, er habe seit einigen Jahren keine Beziehung mehr gehabt.

»Aus einem bestimmten Grund?«, fragte sie.

Er lächelte. »Niemand hat mir zugesagt, rein optisch … Wie dem auch sei«, fügte er hinzu, schob das Glas von sich und stand auf, »gehen wir essen?«

3

Dienstag, 22. September

Die Vormittagssprechstunde war fast vorüber. Noel Bloom gönnte sich einen Moment allein, bevor die ersten Notfallpatienten hereinschneiten, einer nach dem anderen; ein jeder würde eine ungute Mischung aus Sorge um den eigenen Zustand und Ärger über die lange Wartezeit mit ins Sprechzimmer bringen.

Zweimal pro Woche war Noel über Mittag für die Notfälle zuständig, während seine Kollegen die Hausbesuche absolvierten. Inzwischen mochte er den Außendienst am liebsten, doch früher war das anders gewesen. In seinen ersten Jahren als Allgemeinmediziner hatte er sich über die langen Autofahrten geärgert. In der Zeit, die ein einziger Hausbesuch verschlang, konnte er in der Praxis sechs Patienten behandeln, und die meisten Leute wären durchaus in der Lage gewesen, ihren Arzt persönlich aufzusuchen – wenn sie es nur versuchen würden. Aber gerade die älteren erwarteten immer noch, zu Hause besucht zu werden.

Mittlerweile genoss Noel die Fahrten durch sein Einsatzgebiet, einen winzigen Winkel von South Lakeland. War das, fragte er sich, mit dem Alter gekommen? Dieser Wunsch, die Natur zu sehen, aus dem Auto zu steigen und das Panorama zu genießen? Oder lag es daran, dass die Arbeit nie weniger wurde, egal wie viele Patienten er an einem Tag behandelte? Als Hausarzt würde er nie groß Karriere machen, das hatte er jetzt akzeptiert.

Nach der Ausbildung hatte Noel den Berufsalltag überwältigend gefunden. Die Arbeitszeiten, die Verantwortung, die Angst vor Fehlern. Doch jetzt, mit siebenundvierzig, war die Arbeit zu seiner Zuflucht geworden. Hier konnte er sich vor der Welt verstecken, hier hatte er alles unter Kontrolle, nur hier passte alles so zusammen, wie er es sich wünschte.

Bei der Arbeit wurde er gebraucht.

Er warf einen Blick auf die Uhr und sah, dass er noch Zeit für einen Kaffee hatte. Zu seinem letzten Geburtstag hatte er sich selbst eine Kaffeemaschine geschenkt (eines von diesen neuen Geräten mit kleinen Kapseln in Metallicfarben), was seinen Arbeitsalltag verändert hatte. Nicht dass er kein geselliger Mensch war, aber er hatte keine Lust, sich bei jedem Gang in die Küche mit Schwesternschülerinnen, Rezeptionisten oder Venenspezialisten zu unterhalten, und mit der Kaffeemaschine hatte er eine ideale Lösung gefunden. Er trank Kaffee ohne Milch und Zucker, brauchte also nichts weiter als eine saubere Tasse. Erstaunlich, wie schnell seine Laune sich nach einem Kaffee aufhellte. Außerdem roch es in seinem kleinen Sprechzimmer jetzt wie in einer italienischen Espressobar, was auch den Patienten nicht entging; sie atmeten tief ein und freuten sich über das köstliche Aroma. Alles war besser als der Gestank von Handdesinfektionsmittel oder die Körpergerüche der Vorpatienten.

Während die Maschine zischte und rappelte, machte Noel ein paar Dehnübungen. Er macht einen Ausfallschritt und streckte das linke Knie zehn Sekunden durch. Gerade als er das Bein wechseln wollte, hämmerte jemand gegen die Tür. Eine Stimme ertönte: »Bloom, haben Sie Zeit?«

John Ravenscroft. Ein Fan von Tweed, Dreiteilern und handgenähten Oxford Brogues. Ravenscroft sprach immer zwanzig Dezibel lauter als alle anderen. Er war achtundsechzig Jahre alt und der letzte verbliebene Gründer der Praxis, die 1980 eröffnet hatte.

»Kommen Sie rein«, rief Noel.

Normalerweise sprach Ravenscroft nur durch die geöffnete Tür mit Noel; er schob eine Schuhspitze vor und bellte schnelle Kommandos, als wäre seine Zeit Geld wert. Sicher haben wir alle Besseres zu tun, als hier herumzustehen und über Einzelfälle zu diskutieren?

Doch heute betrat er Noels Sprechzimmer und schloss die Tür hinter sich. Noel hielt mitten in der Bewegung inne. Er richtete sich auf und schenkte Ravenscroft seine volle Aufmerksamkeit.

»Sie haben heute Notdienst, nicht wahr?«, fragte Ravenscroft, und Noel bejahte. »Hören Sie, ich habe Polly Footit da draußen gesehen. Verschreiben Sie ihr bloß keine Osteopathie mehr! Sie zieht sich vor dem jungen Stefan bis auf die Strumpfhalter aus – das volle Programm sozusagen –, und er ist dann jedes Mal fertig mit den Nerven. Sagen Sie ihr, sie soll sich an das Westmorland General Hospital wenden, wenn sie weitere Behandlungen braucht. Unser Budget sei ausgeschöpft.«

»Alles klar«, sagte Noel.

Er beobachtete Ravenscroft aufmerksam. Er spürte, dass Polly Footit nicht der wahre Grund für seinen Besuch war.

Ravenscroft räusperte sich.

»Mir ist aufgefallen, dass Sie ständig Überstunden machen«, sagte er.

»Das ist Ihnen nur aufgefallen, weil Sie selbst Überstunden machen, John.«

»Tja, der verdammte Job hält mich am Leben. Wohingegen Sie …«

Er beendete den Satz nicht, zog eine Augenbraue hoch und wartete auf eine Erklärung für Noels verändertes Verhalten.

Aber Noel konnte es nicht erklären. Es war nur ein weiterer Hinweis darauf, wie chaotisch sein Leben mittlerweile war.

»Ich wollte mich längst nach Verity erkundigt haben«, fuhr Ravenscroft fort. »Hat die Untersuchung irgendetwas Neues gebracht?«

Noel schüttelte den Kopf. »Angeblich war es ein einmaliger Vorfall. Keiner glaubt, dass es noch einmal passieren könnte.«

»Und wie hat Karen es aufgenommen?«

»Wie man erwarten würde. Sie ist skeptisch. Sie hat sich eine Menge Wissen über cannabisinduzierte Psychosen im Teenageralter angelesen. Sie ist überzeugt, dass das der Grund war.«

»Und was meinen Sie?«

Noel zuckte mit den Achseln. »Ich glaube das eigentlich nicht.«

»Dieses Zeug, das heute verkauft wird, ist viel stärker als das, was wir in den Siebzigern geraucht haben«, sagte Ravenscroft. »Wie geht die Schule damit um?«

»Sehr diskret. Die wollen weder ihren Ruf ruinieren noch Verity als Schülerin verlieren …«

»Sie ist eine hervorragende Schülerin.«

»War. Ihre Noten sind miserabel«, sagte Noel. »Ihr Schnitt ist praktisch über Nacht von A auf D abgerutscht. Angeblich wird sie die Kurve kriegen, aber sie muss sich Drogentests unterziehen und regelmäßig mit einem Psychologen reden … wahrscheinlich damit die Schule sagen kann, sie hätte alles richtig gemacht, falls doch wieder etwas passiert.«

»Dieser Schuldirektor ist ein Clown, das wissen Sie schon?«

»Ich weiß«, sagte Noel.

»Kann ich irgendwas für Sie tun?«

»Wir schaffen das schon. Aber danke für Ihre Anteilnahme, John.«

Noch so eine Lüge. Sie würden es nicht schaffen. Dafür war es zu spät. Deswegen verkroch er sich in der Praxis. Er wollte auf keinen Fall nach Hause und sich dem Problem stellen.

Ravenscroft legte die Handflächen aneinander. »Schön, schön«, sagte er. »Nun denn. Wahrscheinlich braucht es nicht mehr als ein bisschen gesunden Menschenverstand und ein wenig Zeit, damit Gras über die Sache wachsen kann.«

»Genau so sehe ich das auch«, sagte Noel.

Ravenscroft legte die Hand an die Türklinke, hielt aber im letzten Augenblick inne.

Als er da mit dem Rücken zu Noel stand, wirkten seine schmalen Schultern unter dem altmodischen Sakko ganz verloren. Offenbar rang er mit sich.

»Ich möchte mich ja nicht einmischen, Noel«, sagte er und drehte sich langsam wieder um. Sein Gesicht war sorgenvoll. »Das Familienleben eines Kollegen geht niemanden etwas an außer ihn selbst … aber wenn ich Ihnen vielleicht einen Rat geben dürfte?«

Er war so höflich, auf eine Reaktion zu warten. Noel nickte.

»Ich weiß ja nicht, was sich bei Ihnen zu Hause abspielt, und ich möchte meine Nase da nicht hineinstecken. Aber ich kann Ihnen eines sagen: Probleme lassen sich nicht aus der Welt räumen, indem man abends nach der Arbeit nicht nach Hause geht.«

Noel sah ihn leicht beschämt an. »Verstehe.«

»Gut«, sagte Ravenscroft.

Dann fügte er hinzu: »Und am Boden eines Whiskyglases werden Sie die Lösung auch nicht finden, mein lieber Freund.«

Also fuhr Noel nach Hause.

Um Viertel nach sechs parkte er seinen Volvo auf der rechten Seite der Garage.

Er stieg aus, hörte einen dröhnenden Bass und schwere Schritte. Ewan, Karens Sohn aus erster Ehe, war an seinem siebzehnten Geburtstag in die Einliegerwohnung über der Garage gezogen. Das Arrangement sagte allen zu, besonders Karen.

Noel blieb vor den Recyclingtonnen stehen und nahm sich die Zeit, ein paar Plastikflaschen und Pappkartons plattzudrücken. Er würde den Abfall morgen auf dem Weg zur Arbeit entsorgen. Vielleicht könnte er, wenn er nur früh genug losfuhr, sogar noch das Auto waschen. Die Radkästen des Volvo waren seit dem Hausbesuch in Kentmere letzte Woche dreckverkrustet. Er sollte den Wagen wirklich besser pflegen.

Noel schindete Zeit, und das Gefühl war ihm vertraut. In letzter Zeit stellte es sich immer häufiger ein. Er lenkte sich mit willkürlich gewählten Aufgaben ab, die wenig Konzentration erforderten, und hielt damit alle Probleme hübsch auf Abstand.

Früher waren sie glücklich gewesen. Oder etwa nicht?

»Alles in Ordnung, Dr. Bloom?«

Noel fuhr herum und sah Dale Brokenshire in der Auffahrt stehen, ein Viererpack Bier in jeder Hand.

»Guten Abend, Dale. Wie geht es deiner Mutter?«

Dale lief knallrot an und wand sich. Normalerweise stellten die Leute ihm keine Fragen, sie ignorierten ihn oder wussten nicht, was sie zu ihm sagen sollten. Sie fragten sich, wie viel er überhaupt verstand.

»Besser«, sagte Dale.

»Magst du sie von mir grüßen?«, fragte Noel, und Dale entblößte die Zähne in einem schiefen Grinsen. Seine weit aufgerissenen Augen glänzten, als hätte er dort auf dem Betonboden der Garage etwas Magisches entdeckt.

Dale litt an einer Störung, die bei Kindern »Entwicklungsverzögerung« und bei Erwachsenen »Lernschwäche« hieß. Noel fand, dass die Beschreibung nicht so recht passte, aber bislang hatte niemand eine bessere gefunden.

Noel wandte sich ab, Dale blieb wie angewurzelt stehen und starrte weiter. So ging das häufig – er wartete darauf, entlassen zu werden.

»Willst du Ewan besuchen?«, fragte Noel und drückte die Luft aus einer Plastikflasche.

»Ja.«

»Dann geh doch einfach rauf … falls er dich erwartet.«

Dale streckte beide Hände vor. »Ich habe ihm das hier mitgebracht«, sagte er stolz und hielt das Bier in die Höhe.

Noel spielte den Schockierten.

»Also wirklich, Dale, bist du denn schon über achtzehn?«, fragte er, und Dale nickte ernst.

»Fünfzehnter Mai 1996«, sagte er prompt, als hätte Noel auf einen Knopf an seinem Kopf gedrückt.

Noel richtete den Blick an die Decke. Er tat so, als müsste er die Jahre an den Fingern abzählen, um Dales Alter zu ermitteln. »Ja, das kommt hin«, sagte er schließlich, und Dales Sorgenfalten glätteten sich wieder. »Aber ihr solltet etwas dazu essen«, fügte er hinzu, und Dale antwortete: »Ja, Dr. Bloom, dafür werde ich sorgen. Ich kümmere mich drum, versprochen.«

Noel hörte Dales schwere Schritte auf der Holztreppe, die neben der Garage zur Wohnung hinaufführte. Sekunden später verstummte die Musik, eine Tür wurde geöffnet und zugeschlagen, die Musik ertönte wieder.

»Der arme Junge«, murmelte Noel.

Karen schaute aus ihrem Terminkalender auf, das Telefon noch in der Hand, und fragte in schneidendem Ton: »Du bist zu Hause?«

Noel zuckte mit den Schultern, ignorierte die Frage und erkundigte sich nach dem Abendessen.

»Abendessen?«, fragte sie und lachte schrill. »Es gibt kein Abendessen. Mach den Kühlschrank auf und such dir was. Irgendwo müssten noch Fertiggerichte sein.«

Sie trug ihre Uniform aus schwarzer, schmaler Hose, schneeweißer Bluse, spitzen Pumps und schwerem Goldschmuck. Sie entschied sich immer für Kombinationen aus Schwarz und Weiß, um nie zu lange über ihre Garderobe nachdenken zu müssen (»Ich habe keine Lust, meine kostbare Zeit mit Anziehen zu vergeuden«).

»Isst du denn nichts?«, fragte Noel.

»Heute ist Dienstag«, sagte sie, als wäre das eine Erklärung.

Noel sah sie fragend an. »Brontë und ich essen unterwegs, hast du das vergessen?«, sagte sie. »Dienstags hat sie eine Doppelstunde Harfe. Ich muss um sieben in Lancaster sein und bin jetzt schon spät dran, weil ich wegen ihrer Hand bei einem Facharzt war. Würdest du ihr bitte sagen, sie soll ihre Schuhe anziehen? Oh, und sie braucht die Noten aus der rosa Mappe, nicht aus der schwarzen. Okay?«

»Rosa, nicht schwarz«, wiederholte Noel. »Was hat der Neurologe gesagt?«

»Wie bitte?« Ganz kurz schien Karen die Frage nicht zu verstehen. »Ach«, sagte sie dann, »der hat keine Ahnung. Hat behauptet, er könne keinen körperlichen Grund für ihre Beschwerden in den Fingern finden.«

»Hat er eine Erklärung, warum sie plötzlich nicht mehr fest zugreifen kann?«

»Er glaubt an eine psychosomatische Ursache. Was natürlich Unsinn ist. Sie wird jetzt auf Karpaltunnelsyndrom untersucht, aber nur weil ich darauf bestanden habe. Wie dem auch sei, bevor wir losfahren, muss ich unbedingt noch diese dumme Gans erreichen. Brontë kann am Sonntag nicht an der Tanzprobe teilnehmen, denn sie hat eine zusätzliche Klavierstunde bei Clive Lishman ergattert.«

Karen zog die Augenbrauen hoch. Noel verstand nicht, warum, bis sie den Namen wiederholte. »Clive Lishman.«

Anscheinend sollte er wissen, wer der Mann war.

»Ist Verity zu Hause?«, fragte er vorsichtig, doch Karen war schon wieder am Telefon und hob einen Finger, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Samantha? Hier spricht Karen Bloom. Schön, dass Sie endlich wieder da sind. Hören Sie, wir fallen am Sonntag wohl aus, Brontë konnte eine Unterrichtsstunde bei …«

Noel ließ sie allein und ging ins Wohnzimmer hinüber, wo Verity sicherlich in Schuluniform und mit heruntergeschobenen Kniestrümpfen zwischen Chipskrümeln und Apfelresten auf dem Sofa liegen würde. Aber der Raum war leer und tadellos sauber.

Noel sprang die Treppe hoch. In ihrem Zimmer war Verity auch nicht. Er ging zu Brontë hinüber.

Seine Jüngste kniete mit dem Rücken zur Tür am Boden und hatte ihre Mathearbeitsblätter um sich ausgebreitet. Karen bestellte sie im Internet. »Hey, Spätzchen«, sagte er, und Brontë drehte sich um.

»Hallo, Daddy.«

»Ich habe eine Nachricht von Mum. Zieh deine Schuhe an, und nimm die rosa Mappe mit. Nicht die schwarze. Oder war es andersherum?«

Brontë sammelte die Blätter ein. »Rosa. Sie hat es mir schon gesagt.«

»Du solltest dich beeilen«, sagte er, und Brontë kam gehorsam auf die Beine. Sie war zehn Jahre alt und von der Pubertät noch weit entfernt. Brontë war pflegeleicht, ein süßes Kind, das alles tat, was Karen verlangte. Manchmal staunte Noel über ihre Gutmütigkeit. Verity war vollkommen anders und so starrsinnig wie ihre leibliche Mutter; niemand konnte sie zu etwas zwingen, auf das sie keine Lust hatte. Wahrscheinlich hatte er sich gerade deswegen in seine erste Frau verliebt. Jennifer war keine gewesen, die blindlings Befehle befolgte.

Brontë griff nach der Mappe und lächelte Noel im Vorbeigehen artig an.

Blass sah sie aus.

Er würde mit Karen darüber sprechen müssen. Seit den Sommerferien wirkte Brontë so schlapp. Sie sollte öfter an die frische Luft gehen. Sie brauchte mehr Freizeit. Karen verlangte ihr zu viel ab. Er wollte sich nicht in die Erziehung einmischen, doch das Kind war eindeutig überfordert.

Als Brontë den Absatz auf halber Höhe der Treppe erreicht hatte, rief Noel ihr nach: »Ist alles in Ordnung, Brontë?«

Sie blinzelte. »Klar, Daddy«, sagte sie. »Meine Finger fühlen sich immer noch ein bisschen taub an, aber ich glaube, es geht schon besser.«

Ihre rechte Hand war betroffen. Die stärkere. Das Ganze hatte vor ein paar Monaten angefangen. Zunächst hatten sie sich nichts dabei gedacht. Jeder, der ein Musikinstrument lernte, konnte einen Durchhänger haben, und Brontë lernte gleich zwei. Irgendwann hatte sie angefangen, Sachen fallen zu lassen, sie konnte sich die Bluse nicht mehr selbst zuknöpfen und auch keinen Stift mehr halten. Noel hatte Karen gebeten, dem Kind eine Auszeit zu gönnen. Karen hatte den Rat widerwillig befolgt, aber Brontës Zustand hatte sich nicht verbessert. In der Folge hatte Karen beschlossen, persönlich für die »Kräftigung« von Brontës Hand zu sorgen, was zu einem unglücklichen Vorfall mit Verity geführt hatte. An den Auswirkungen litten sie bis heute.

»Viel Spaß, Spätzchen«, sagte Noel.

»Klar«, antwortete Brontë, und im selben Moment ertönte Karens Stimme aus dem Untergeschoss.

»Beeil dich!«, rief sie. »Du hast ja noch nicht einmal deine Schuhe an! Du weißt doch, dass ich mich nicht gern verspäte. So bin ich nicht. Und du auch nicht, Brontë Bloom. Wer zu spät kommt, ist nicht bloß schlecht organisiert, sondern hat keinen Respekt vor der Planung anderer Leute. Willst du, dass man dich so wahrnimmt? Als respektlos?«

Noel seufzte, schloss kurz die Augen und ging noch einmal in Veritys Zimmer.

Am Kopfende des Bettes lag ihre Schuluniform, wie er erst jetzt bemerkte. Noel öffnete den Kleiderschrank und sah, dass die Laufschuhe fehlten. Sie war joggen gegangen. Früher waren sie zusammen gelaufen. Wann hatte das eigentlich aufgehört?

Er kehrte ins Erdgeschoss zurück und erwischte Karen gerade noch an der Tür, schwer beladen mit Mappen, Wasserflaschen, einem Sack Mandarinen und drei Salamisnacks. »Hast du Verity heute Abend schon gesehen?«, fragte er sie hastig.

»Warum fragst du?«

»Nur so. Hast du mit ihr geredet?«

»Wieso sollte ich, Noel?« Karen runzelte die Stirn, als hätte er sie um etwas gebeten, das mit ihrer Rolle als Stiefmutter unvereinbar war. »Ich bin spät dran, ich muss jetzt wirklich …«

Noel streckte die Hand aus und berührte ihren Arm. »Karen, bitte, gib dir ein bisschen mehr Mühe. Mir zuliebe.«

Karen schüttelte seine Hand ab und funkelte ihn böse an. »Ich tue nichts anderes, Noel. Nur falls du es noch nicht bemerkt hast.«

4

Mittwoch, 23. September

Verity stieg eine Haltestelle später aus dem Schulbus aus als sonst und zog die Visitenkarte aus der Tasche, um die Adresse nachzulesen. Psychotherapeuten waren nicht gerade für grelle Ladenschilder bekannt. Sie fand ein Haus mit einer Messingplakette und der Gravur Jeremy Gleeson und überprüfte die Adresse ein weiteres Mal, bevor sie auf den Klingelkopf drückte.

Sie hatte um eine Therapeutin gebeten, doch ihr Vater hatte sie bei Gleeson angemeldet.

»Ich glaube, ich würde lieber mit einer Frau reden«, hatte sie gesagt, und obwohl ihr Vater ihr den Wunsch gern erfüllt hätte, war am Ende kein Platz bei einer Therapeutin frei gewesen.

Zuerst hatten sie es im staatlichen Gesundheitssystem versucht. Schließlich sah es nicht gut aus, wenn die Tochter eines Hausarztes, der im öffentlichen Sektor tätig war, Hilfe in einer Privatpraxis suchte. Doch selbst mit Noels Unterstützung hätte Verity frühestens in sechs Wochen einen Termin bekommen, was ihre Stiefmutter einfach nur »empörend« fand.

Verity glaubte, dass ihr Vater wahrscheinlich gewartet hätte. Doch letztendlich war ihnen keine Wahl geblieben, weil der Schuldirektor einen Therapienachweis binnen zwei Wochen verlangt hatte. Noel hatte in seiner Verzweiflung alle ortsansässigen Therapeuten gegoogelt und nach einem kurzen Telefonat mit Jeremy Gleeson beschlossen, dass ein Termin bei ihm »besser als gar nichts« sei.

»Das ist eine reine Formsache«, hatte ihr Vater am Morgen gesagt, kurz bevor er zur Arbeit gefahren war. »Mach dir keinen Kopf deswegen. Die wollen nur sehen, dass du zu irgendeinem Psychologen gehst.« Verity wusste genau, er hätte das niemals gesagt, wenn ihre Stiefmutter im selben Raum gewesen wäre. Karen hielt sie für absolut irre. Wenn es nach ihr ginge, würde Verity zwangseingewiesen.