Südlich von Porto lauert der Tod - Mariana da Silva - E-Book
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Südlich von Porto lauert der Tod E-Book

Mariana da Silva

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Beschreibung

Mord an der Costa de Prata: der erste Fall für Ria Almeida Wie flüssiges Silber glänzt der Atlantik vor dem portugiesischen Küstenort Torreira, als Ria Almeida in der alten Heimat ihrer Eltern ankommt. Die Stuttgarter Polizistin ist für die Beerdigung ihres geliebten Großvaters angereist, doch die Trauerfeierlichkeiten werden vom Tod einer jungen Frau im Ort unterbrochen. Niemand ist darüber entsetzter als Dorfpolizist João, seines Zeichens Ehemann von Rias Cousine und eher mit Falschparkern als mit Leichen vertraut. Zunächst wirkt es, als handle es sich um einen tragischen Unfall. Aber dann verschwindet die Leiche über Nacht – und João und Ria ermitteln wider Willen in ihrem ersten gemeinsamen Fall. *** Für alle, die Portugal und gut erzählte Krimis lieben; für alle, denen beim Gedanken an Pastel de Nata das Wasser im Mund zusammenläuft; für alle, die sich durch die Buchseiten hindurch in den Urlaub träumen wollen. 

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Südlich von Porto lauert der Tod

Die Autorin

MARIANA DA SILVA lebt als freischaffende Autorin und Redakteurin in Hamburg. Als älteste Tochter ihrer portugiesischen Familie in Stuttgart aufgewachsen, weiß sie, dass ein Kühlschrank nie leer sein sollte und Wein am besten schmeckt, wenn liebe Menschen am Tisch sitzen. Südlich von Porto lauert der Tod ist ihr erster Krimi.

Das Buch

Mord an der Costa de PrataWie flüssiges Silber glänzt der Atlantik vor dem portugiesischen Küstenort Torreira, als Ria Almeida in der alten Heimat ihres Vaters ankommt. Sie kehrt in den Schoß der Familie zurück, um ihren geliebten Großvater zu beerdigen. Gleichzeitig nutzt die Stuttgarter Polizistin ihren Jahresurlaub, um sich neu zu sortieren: Mit Polizeiarbeit will sie erst einmal nichts mehr zu tun haben. Doch dann stirbt eine junge Frau. Ein tragischer Unfall? Davon geht zumindest Dorfpolizist João aus, der eher mit Falschparkern als mit Leichen vertraut ist. Erst als die Tote über Nacht verschwindet, gibt es keinen Zweifel mehr: Jemand im Ort hütet ein dunkles Geheimnis.

Mariana da Silva

Südlich von Porto lauert der Tod

Ein Portugal-Krimi

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Paperback1. Auflage April 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Umschlaggestaltung und -abbildung: bürosüd° GmbH, München Titelabbildung: © www.buerosued.de Karte: © Peter Palm, BerlinE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2955-0

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

1

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Karte

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1

Widmung

Für meine Familie

1

Avô

Ein Kosename für den Großvater, der neben der Liebe auch die Nostalgie über das Vergangene in sich trägt.

Samstag

Ria erhob ebenfalls ihr Glas.

»Auf Papa«, wiederholte ihre Tante Teresa. Und das Klirren sieben zusammentreffender Gläser erklang.

»Auf dich, avô«, murmelte Ria, mehr für sich als für die Ohren der anderen bestimmt, und trank einen Schluck Rotwein. Dabei ließ sie ihren Blick über den Rand der Terrasse gleiten, auf der sie mit ihrer Familie saß. Es war ein wunderschöner Tag, der langsam in den Abend überging. Ende September machte sich auch hier der Herbst bemerkbar, und die Wärme des Tages wurde von einer angenehm frischen Brise durchzogen. Großvater hätte sich gefreut, dass am Tag seiner Beerdigung das perfekte Wetter herrschte.

Hinter der Terrasse erstreckte sich die Ria de Aveiro, auf dem gemächlich ein paar Fischerboote schaukelten. Wäre die Dachterrasse auf der anderen Seite des Hauses gebaut worden, würde Ria nun auf den Atlantik blicken, denn das Dorf Torreira lag auf einer Landzunge zwischen dem Meer und dem Fluss. An seiner schmalsten Stelle war das Dorf kaum einen Kilometer breit. Auch flussseitig lag der schwere Geruch von Motorenöl und Salz in der Luft. Für Ria gab es kein besseres olfaktorisches Zusammenspiel. Gepaart mit den betörenden Aromen, die vom Grill herüberwehten, und der süßlichen Note von Sonnencreme schufen diese Gerüche für sie den Duft des Sommers. Und auch irgendwie den Duft ihrer Heimat. Denn auch wenn sie in Stuttgart und nicht in Portugal geboren und aufgewachsen war, fühlte sie sich dem Heimatdorf ihres Vaters sehr verbunden.

Ria atmete noch einmal tief ein und widmete sich dann wieder den Menschen, die versammelt um den großen Gartentisch saßen: Links von ihr ihre Eltern, José und Heike Almeida, an der Stirnseite des Tisches ihre Tante Teresa. Da es ihr Haus war, war es nur selbstverständlich, dass sie auf dem Platz der Gastgeberin saß.

Sie hatte ihr glattes dunkles Haar, das nur von einigen wenigen grauen Strähnen durchzogen war, zu einem strengen Zopf zusammengebunden und trug ein rot geblümtes Kleid. Gleich nachdem sie vom Friedhof wieder zu Hause angekommen waren, hatte Teresa sich aus der schwarzen Robe geschält und war in das rote Kleid geschlüpft. »Ich will kein Schwarz tragen, und zumindest in meinen eigenen vier Wänden kann ich auf diese Konventionen getrost verzichten, wenn mir danach ist. Wollt ihr euch auch umziehen?«, hatte sie die anderen gefragt. In diesem Punkt kam sie ganz nach Opa Fernando: ein rechter Dickkopf. Und sie hatte recht, denn er wäre der Letzte gewesen, der auf einer solchen Kostümierung bestanden hätte. Und so saß die ganze Familie kurze Zeit später in bequemen Kleidern, lockeren Stoffhosen und hellen Leinenhemden auf der Terrasse.

Auf der anderen Seite des Tisches, gegenüber von Ria und ihren Eltern, saßen Bruno, der Bruder von Teresa und José, und Teresas Tochter Mariposa mit ihrem Mann João. Bis vor Kurzem hätte auch noch ihr Großvater Fernando an diesem Tisch gesessen. Aber er war alt gewesen, sehr alt.

Noch vor ein paar Wochen hatte Fernando augenzwinkernd zu seiner Enkelin gesagt: »Ich habe meine Pflicht erfüllt, Ria. Jetzt ist jeder weitere Tag Kür, und das ist schön. Aber es ist auch nicht schlimm, wenn es endet. Zumal deine Oma bestimmt schon stinksauer ist, weil ich mal wieder so spät nach Hause komme.« Sie war wieder einmal in seiner Stuttgarter Seniorenwohnanlage zu Besuch gewesen, in der er die letzten Jahre gelebt hatte. Kurze Zeit später war er morgens einfach nicht mehr aufgewacht.

Fernando war, wie so viele andere Portugiesen, Jahrzehnte zuvor von Portugal nach Deutschland ausgewandert und hatte seine Familie mitgenommen. Geblieben waren jedoch nur Fernando und Rias Vater José – seine Geschwister waren als junge Erwachsene in die Heimat im Süden zurückgekehrt. Und das war dieses Land auch für Fernando immer geblieben: die Heimat. Weshalb es sein ausdrücklicher Wunsch gewesen war, zu Hause in Torreira bestattet zu werden.

Ria wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, schnappte sich ein paar Tremoços aus der kleinen Tonschale vor sich und konzentrierte sich auf die Gespräche der anderen. Sie liebte die gelben Lupinensamen, die wie Oliven in Lake eingelegt werden. Sie hielt eine Lupine zwischen Zeigefinger und Daumen, knabberte ein Stück der Schale ab, drückte beide Finger fest zusammen und ließ so die gelbe Bohne aus der Schale in ihren Mund schnippen. Genau so, wie ihr Opa es ihr gezeigt hatte. Sofort breitete sich der herrlich salzige Geschmack aus, den sie mit einem weiteren Schluck Rotwein ausglich.

Wie immer, wenn ihre Familie beisammensaß, sprach jeder mit jedem. Mindestens vier Themen waberten zeitgleich über den Tisch, und jeder sprang von einem Gespräch zum nächsten, zurück zum ersten, ein Lob für das Essen und dann noch eine Anekdote zu einem ganz neuen Thema. Da konnte einem schon mal der Kopf rauchen, wenn man diese Vielfalt und das Tempo nicht gewohnt war. Doch Ria kannte es nicht anders und liebte es. Schon als Kind hatte sie sich immer ganz unbehaglich gefühlt, wenn sie bei einer ihrer Freundinnen zum Essen war und am Tisch Schweigen herrschte. Prompt schmeckte das ganze Essen fad.

Nach der Beisetzung heute Nachmittag waren sie alle zurück zum Haus ihrer Tante gefahren, die im Ortskern von Torreira wohnte. Nur die Familie, eine Tradition des Leichenschmauses wie in Deutschland gab es in Portugal glücklicherweise nicht. Ria konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als den restlichen Samstag mit irgendwelchen alten Bekannten ihres Großvaters und der gesamten Nachbarschaft zu verbringen. Und sie war sich sicher, dass es dem Rest ihrer Familie genauso ging. Obwohl Ria und ihre Eltern in Deutschland lebten, war die Beziehung zu ihrer Familie immer sehr eng geblieben. José telefonierte regelmäßig mit seiner Schwester und manchmal auch mit Bruno. Der Älteste der Geschwister war ein wenig sonderbar. Sehr liebenswürdig, aber seine eigene Gedankenwelt zog er der Realität meistens vor. Bruno hielt nicht so viel vom Informationsaustausch über das Telefon. Das hieß nicht, dass er die anderen weniger mochte oder nichts aus ihrem Leben wissen wollte. Sobald man mit Bruno zusammensaß, war es, als gäbe es für ihn nur die Person ihm gegenüber, und er widmete sich ihr mit seiner ganzen Aufmerksamkeit.

Teresa wandte sich an Rias Eltern. »Seid ihr sicher, dass ihr morgen schon wieder zurück nach Stuttgart wollt?« Den Namen der süddeutschen Stadt sprach sie dabei so portugiesisch aus, wie es eben nur ging: Eschtuagarda. Heike nickte. Nach Jahrzehnten mit Rias Vater verstand sie die portugiesische Sprache. Selbst sprechen tat sie sie aber selten, da ihr schwäbischer Dialekt auch dabei nicht wegzukriegen war.

»Wir müssen am Montag wieder arbeiten, länger konnten wir leider nicht freinehmen«, bedauerte José. Seiner Meinung nach hätten sie gerne noch ein paar Tage oder sogar Wochen dranhängen können. Das Einzige, was ihn irgendwann wieder nach Stuttgart zog, war sein Appetit auf Brezeln. Mit den Köstlichkeiten, die João gerade auf den Grill legte, ließ sich der schwäbische Heißhunger allerdings eine Weile hinauszögern. »Dafür bleibt Ria ja noch eine Weile bei euch«, fuhr ihr Vater fort und lächelte seiner Tochter zu.

»Ganz genau, Tia, ich bleibe noch. Und wahrscheinlich wirst du dir in ein paar Tagen schon wünschen, dass ich endlich wieder nach Deutschland gehe. Denn ich habe vor, es mir richtig gut gehen zu lassen bei dir«, verkündete Ria.

»Bei ihr?«, schaltete sich nun Mariposa ein. Die Empörung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Cousine«, fuhr sie fort, »du wirst gefälligst bei João und mir schlafen.« Teresa zog nur für einen Moment die Augenbrauen nach oben, dann positionierte sich in ihrem Gesicht alles wieder an seinen angestammten Platz. »Kinder, macht ihr, wie ihr wollt. Hauptsache, ihr kommt mal zum Essen vorbei.«

Zwei Dinge würden sich in dieser Familie wohl nie ändern, dachte Ria bei dieser Aussage. Zum einen würden sie in den Augen ihrer Eltern wohl immer die Kinder bleiben. Da konnten sie noch so volljährig, erwachsen und eigenständig sein. Einzig ihre Mutter Heike schien den Übergang vom Kindes- zum Erwachsenenalter wirklich mitbekommen und akzeptiert zu haben, und Ria war dankbar, dass es eine Person in ihrem Elternhaus gab, die sie nicht immer noch als Mädchen mit Spängchen im Haar sah. Das Zweite war, dass es immer ums Essen ging. Auf eine Einladung folgte immer die Frage, was man kochen solle. Bei der Planung und Vorbereitung für ein Fest nahm das Thema Essen den größten Teil ein. Auch Teresa blieb diesem Prinzip treu. Sie wollte nicht, dass Mariposa und Ria sie einfach besuchen kamen. Sie wollte, dass sie zum Essen kamen. Denn nur bei einem gemeinsamen Essen war man so richtig zusammen.

»Na, dann ist ja alles geritzt«, sagte Mariposa sehr zufrieden. Das leise Seufzen von João überhörten alle geflissentlich. Dass er von seiner Frau gar nicht erst gefragt wurde, war normal. João war zwar der Polizeichef von Torreira, und während Mariposa ihm im Revier als Sekretärin, bei der Recherche, am Empfang und als Telefonistin zuarbeitete, hatte er zu Hause nur wenig Mitspracherecht. Dass in dieser Beziehung Mariposa die Chefin werden würde, das hatte er schon damals bei ihrem ersten Date erkannt, hatte er Ria einmal erzählt.

»Wie lange wirst du denn bleiben, Ria?«, richtete Bruno das Wort an sie.

»Ich weiß es noch nicht so genau.« Ihr war klar, dass niemandem das leichte Zögern in ihrer Stimme entging. »Aber ich denke, ich bleibe die ganzen vier Wochen.«

»So lange hast du Urlaub?«, fragte ihr Onkel.

»Ja, ich habe dieses Jahr bisher kaum Urlaubstage verbraucht und einfach meinen ganzen Jahresurlaub genommen.«

Bruno war offensichtlich erstaunt. »Aber wer stellt denn sicher, dass die Verbrecher in Deutschland nun geschnappt werden, wenn Stuttgarts beste Polizistin sich die ganze Zeit hier in Torreira herumtreibt?«

Statt eine Antwort darauf zu geben, versteckte sich Ria mit einem weiteren Schluck hinter ihrem Weinglas. Sie wollte nicht über die Arbeit sprechen.

»Das Hähnchen ist gleich fertig«, sagte João von seiner Position am Grill aus über die Schulter zu Heike und Bruno, denn alle anderen warteten auf die Doraden. Ria war dankbar dafür, dass João ohne sein Wissen ihrem Wunsch nach Ablenkung nachgekommen war. Er wendete Hähnchenteile und mit Kräutern und Zitronenscheiben gefüllte Doraden auf dem fest installierten Grill. Solche Steingrills fand man in zahlreichen Gärten Portugals.

»Es ist mir bis heute ein Rätsel, wieso du keinen Fisch magst«, sagte Teresa zu ihrem älteren Bruder. Ein Satz, den Bruno ständig zu hören bekam. Er war in diesem Fischerdorf geboren und groß geworden, als Einziger war er nicht mit nach Deutschland gekommen, sondern hatte, damals schon fast volljährig, entschieden, als Fischer anzuheuern. Ein Beruf, dem er jahrelang nachgegangen war, bevor er seine Bar eröffnet hatte. Bruno war also prädestiniert dafür, Fisch zu essen.

»Jedes Mal dasselbe Thema«, tadelte Bruno seine Schwester – allerdings mit einem unüberhörbaren Augenzwinkern. Es war ein Ritual zwischen den beiden, das immer mit derselben Geschichte endete: Noch nie hatte Bruno Fisch gemocht, auch als kleiner Junge schon nicht. Er hatte sich immer vehement geweigert, wenn ein Stück auf seinem Teller lag, und nur die Beilagen gegessen. »Probier doch wenigstens!«, hatte seine Mutter immer gesagt. Fernando, sein Vater, hatte zeit seines Lebens behauptet, den kleinen Bruno eines Tages dabei beobachtet zu haben, wie er in der Ria de Aveiro stand, mit bloßen Händen einen Fisch aus dem Wasser zog, daran leckte und angewidert das Gesicht verzog. Er warf den Fisch zurück ins Wasser und machte ein für alle Mal einen Haken an das Thema.

Wie immer bei dieser Geschichte, rollte Teresa auch jetzt spielerisch mit den Augen.

Bruno zuckte entschuldigend mit den Achseln. »So hat es sich zugetragen, so hat es Vater erzählt.«

»Eine waschechte Legende, Tio«, bestätigte João, der Bruno und Heike das fertige Fleisch auf die Teller legte. »Ganz so, wie es Fernando auch gewesen ist.«

Ein Seufzen machte die Runde, und für einen Moment hing jeder seinen eigenen Erinnerungen an den Vater, Schwiegervater oder Großvater nach.

Ria spürte, wie ihr Hals enger wurde. Ein Kloß breitete sich aus. Ihr Vater, der neben ihr saß, nahm sie schweigend in den Arm und streichelte ihr sanft über den Rücken. Von allen hatte Ria wohl die engste Bindung zu Fernando gehabt. »Zwei verwandte Seelen«, witzelte José immer, wenn Ria ihre Eltern und auch Freunde förmlich links liegen ließ, sobald ihr Opa anwesend war. Stundenlang konnten sie zusammensitzen und die Welt um sich herum vergessen.

Bei den Erinnerungen an ihren Großvater hatte Rias Rationalität schon den ganzen Tag schlichtweg gegen ihre Emotion verloren, und so rollten ihr immer wieder stumme Tränen über die Wangen, die gleich darauf verebbten, weil ein heftiger Lachanfall ihren ganzen Körper schüttelte. Beispielsweise wenn Teresa und Bruno ihre eigenen Eltern in Perfektion nachahmten und parodierten.

Ria konnte nicht sagen, dass der Tag der Bestattung ihres Opas nur dunkel oder traurig war. Vielmehr streifte er wohl jedes Gefühl, holte altbekannte und auch seltene Erinnerungen hervor und ließ die Familie noch ein Stück enger zusammenrücken, weil die Endgültigkeit des Lebens so greifbar war in diesem Moment. Auf seine ganz eigene Art war dieser Tag einfach nur schön.

Etwas riss sie aus ihren Gedanken. Es war das Geräusch von vorsichtigem Klopfen auf Glas und ein verhaltenes Räuspern. Ria hob überrascht den Kopf, ihr Blick suchte die Geräuschquellen und entdeckte Nuno in der Terrassentür. Nuno, seufzte Ria in Gedanken und spürte ein altbekanntes wohliges Gefühl aufsteigen. Die Guerreiros wohnten schon seit Ria denken konnte in dem Haus neben dem von Tante Teresa. Nuno war wie Ria Mitte dreißig. Er war schon früh in die beruflichen Fußstapfen seiner Eltern getreten und hatte das örtliche Bestattungsinstitut übernommen. Außerdem war er früher Rias bester Freund gewesen. Jede Ferien, die Ria in Torreira verbracht hatte, hatte es Ria und Nuno nur im Doppelpack gegeben. Er war damals der vielleicht einzige Mensch gewesen, den Ria fast so gernhatte wie ihren Großvater. Mit dem Älterwerden, Studium, Ausbildung und dem ganz normalen Wahnsinn des Erwachsenwerdens hatten sich Ria und Nuno etwas aus den Augen verloren. Ein Umstand, der jetzt aber keine Rolle spielte. Nuno trat auf die Terrasse und kondolierte seiner Ersatzfamilie, indem er Teresa lange und innig in den Arm nahm. Bruno reichte er die Hand, und der ältere Mann legte ihm seine freie Hand auf die Schulter.

»Es tut mir leid, dass ich an der Beisetzung nicht teilnehmen konnte. Ich hatte die alte Maria de Lourdes auf dem Tisch.«

Für Außenstehende hätten solche Aussagen wohl befremdlich gewirkt, doch die Almeidas waren es gewohnt. Bis zu einem gewissen Maß stumpfte wohl jeder in seinem Beruf ab, wieso sollte das bei Bestattern anders sein? Nuno war täglich vom Tod umgeben, und dennoch war das hier etwas anderes, es ging auch ihm persönlich nahe, und das war schließlich alles, was zählte. Er ging reihum und begrüßte alle Anwesenden, bis er vor Rias Stuhl stand.

»Ria«, sagte er mit überraschter Freude in der Stimme, die nicht so ganz zu seinen tränenden Augen passen wollte. »Es tut mir leid, dass es ein solcher Anlass ist, aber ich freue mich sehr, dich zu sehen.«

Dann umarmte er Ria, und die Jahre des Nichtsehens waren wie vergessen. Ria spürte direkt wieder diese Verbundenheit, die sie schon als Kinder gehabt hatten. Nuno war natürlich größer geworden und nicht mehr ganz so schlaksig wie als kleiner Junge, doch ihre Umarmung fühlte sich immer noch so an wie damals.

Nuno ließ sie wieder los. »Und ich habe gehört, du bleibst ein paar Wochen, um Urlaub zu machen? Das ist schön, du warst lange nicht mehr da.« Das stimmte.

»Ja«, Ria bemühte sich um einen lockeren Ton. »Und ich dachte, wir könnten den ein oder anderen gemeinsamen Ausflug oder Strandtag machen. So wie früher.«

»Sehr gerne«, antwortete Nuno und stellte eine Flasche Portwein auf den Tisch, die er aus seiner ledernen Umhängetasche gezogen hatte. Dann griff er sich einen freien Stuhl, warf sein dunkelblaues Jackett über die Lehne und ließ sich neben Ria nieder.

Ria betrachtete sein Profil. Ja, er war eindeutig erwachsen geworden. Die süße Stupsnase aus Kindertagen war einem markanteren, aber geraden Modell gewichen. Die Augen trugen immer noch den ernsten Ausdruck, der so gar nicht zu dem Kind damals hatte passen wollen, ihm jetzt aber einen seriösen und fast schon mysteriösen Zug verlieh, und wurden von einer Hornbrille umrandet. Einzig seine Haare, eine Mähne aus dunkelblonden Locken, waren wie eh und je ungezähmt.

Nuno bemerkte Rias Blicke und schmunzelte. »Ja, diese Haare zu bändigen habe ich schon vor Jahren aufgegeben. Es lebt sich leichter, wenn man einfach seinen Frieden damit macht.«

»Dem kann ich nur zustimmen«, meldete sich José zu Wort und strich sich über die Glatze. Alle brachen in Lachen aus. Rias Schultern zuckten so stark, dass die Erschütterung ihren Nacken hinaufstrahlte, und sie sah, wie ihr Vater sich den Bauch hielt vor Gelächter über den eigenen Witz.

Teresa, über deren Gesicht Lachtränen rollten, hob erneut ihr Glas. »Auf die Freude!«, sagte sie fröhlich. »Und auf das Leben, die unser Vater beide mindestens so sehr geliebt hat wie unsere Mutter«, stimmte Bruno ebenso federleicht ein, und wieder klirrten die Gläser.

Alle versanken in Gesprächen, und Nuno wandte sich wieder Ria zu. »Also, erzähl, wie geht es dir? Was macht das Leben in Deutschland? Wie geht es bei der Arbeit?«

Ria seufzte innerlich. Eigentlich war Nuno, oder eher sein Auftauchen, doch der Grund gewesen, warum sie diesem Thema gerade noch mal entkommen war. Und jetzt bohrte Nuno genau an der Wunde weiter.

»Es geht mir ganz gut, danke. Der Job läuft so vor sich hin.« Sie versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen. »Aber erzähl du doch mal. Du hast das Bestattungsinstitut deiner Eltern übernommen?«

Nuno zog erstaunt die Augenbrauen nach oben. »Ja, schon vor zwei Jahren.«

»Das ist ja der Wahnsinn.« Ria merkte selbst, dass man ihrer Stimme anhörte, dass die Begeisterung nur vorgegaukelt war.

»Na ja, die ganz große Überraschung ist das nicht. Es war immer klar, dass ich das Geschäft eines Tages übernehmen werde.«

»Trotzdem! Jetzt ist es dein Laden, die Verantwortung liegt bei dir. Das ist ja nicht nichts.« In die letzten beiden Worte legte sie sehr viel Betonung.

Nuno lachte auf.

»Du hast recht, es ist auf jeden Fall mehr, als du bereit bist, über deine Arbeit zu erzählen. Was ist los? Gibt es einen Grund, weshalb du so lange Urlaub machst?«

»Darf ein Mensch denn keinen Urlaub nehmen?« Rias Stimme klang schnippischer als beabsichtigt.

»Ein Mensch schon. Aber du? Nein, da werde ich stutzig, Ria Almeida. Du konntest sonst nie aufhören, über die Arbeit zu reden. Sogar, als du noch ein Kind warst, gab es für dich nur das Thema Polizei – dein großer Traum. Und als du dann die Ausbildung begonnen hast – Ria, ich bin ganz ehrlich, uns haben die Ohren geraucht. Und jetzt bist du vier Wochen hier und willst nicht über die Arbeit reden. Außerdem hat Teresa damals erzählt, dass du dich von der Kriminalpolizei in den Streifendienst hast versetzen lassen. Da ist doch was im Busch.«

Auch wenn Ria selbst lange nicht mehr in Torreira gewesen war – die Informationen über ihr Leben kamen dank der regelmäßigen Telefonate zwischen José und Teresa weiterhin hier an. So waren alle bestens informiert, außer über die Beweggründe, warum sie sich hatte zurückstufen lassen. Die kannten nicht mal Rias Eltern.

»Ach, überhaupt nichts ist da, es gibt noch nicht mal einen Busch, in dem etwas sein könnte.« Beschwichtigend legte Ria ihre Hand auf Nunos Unterarm. »Ich bin nur müde. Opas Tod nagt an mir, und ich würde gern die Batterien wieder ein bisschen aufladen, solange ich hier bin. Dazu gehört auch, dass ich bitte keinem Kreuzverhör unterzogen werde. Und schon gar nicht heute.«

»Du hast recht, tut mir leid. Ich mache mir nur …«, doch das Sorgen schluckte Nuno offenbar runter, als er ihren Blick traf. Abwehrend hielt er die Hände in die Höhe. »Ist gut, ich habe verstanden. Also dann, was möchtest du in den nächsten Tagen machen?«

»Morgen möchte Ria erst mal mit mir zum Strand gehen«, schaltete sich Mariposa ein.

»Ganz genau, für morgen haben wir nur einen Plan – nämlich keinen Plan zu haben. Wir liegen am Strand und werden uns den ganzen Tag vom Bauch auf den Rücken rollen und sonst überhaupt nichts machen.« Ria klang wieder fröhlicher, sie wollte sich nicht weiter mit Nunos Verhör aufhalten. Doch sie konnte sehen, dass Nuno nicht überzeugt war von ihrer Geschichte mit den leeren Batterien. Natürlich nicht, dafür kannte er sie einfach zu gut, selbst nach all den Jahren noch, und Ria fürchtete, dass das Thema jetzt zwar ruhte, Nuno aber nicht aufgeben würde, herauszufinden, was mit ihr und ihrer Leidenschaft für ihren Beruf geschehen war. Er würde herausfinden wollen, warum sie ihren großen Traum – die Kriminalpolizei – abgeschrieben und seitdem jegliche Leidenschaft für ihren Beruf verloren hatte.

Sollte er doch, dachte sie, sie war Schlimmeres gewohnt.

2

Largo da Varina

Die zentrale Flaniermeile Torreiras ist nach den altehrwürdigen Fischerfrauen benannt, die ihren frischen Fisch direkt aus Körben verkauften. Es gibt sie vereinzelt noch heute, man erkennt sie an den vielen Schichten an Röcken und Strümpfen und ihren durchdringenden Stimmen.

Montag

João Pinto war nur schwer in die Gänge gekommen an diesem Morgen. Mariposa hatte sich den Tag freigenommen, um mit Ria an den Strand zu gehen, weshalb er allein auf dem kleinen Kommissariat war. Ria war nicht die einzige Polizistin in der Familie, auch João hatte seinen Beruf der Sicherheit seines Ortes verschrieben. Er arbeitete allerdings nicht wie Ria bei der Kriminalpolizei, sondern bei der GNR – der Guarda Nacional Republicana. In Portugal unterteilte sich der Polizeiapparat in drei Bereiche: die Kriminalpolizei Polícia Judiciária, die Polícia de Segurança Pública, kurz PSP, und eben die GNR. Die letzten beiden waren unter anderem für alle Bereiche der Sicherheitspolizei zuständig mit dem Unterschied, dass die PSP in Städten operierte und die GNR in ländlichen Regionen. Wie es Torreira nun mal war.

Die Polizeistation hier war ein Pilotprojekt der eigentlichen Hauptdienststelle der GNR in Ovar, der nächstgrößeren Stadt an der Abzweigung zwischen Festland und der Landzunge, auf der Torreira lag. Dieser gesamte Bereich hatte eigentlich auch der Zugehörigkeit der Dienstelle in Ovar unterstanden. Doch von dort bis nach Torreira brauchte man – selbst mit einem schnell fahrenden Polizeiauto – etwa eine halbe Stunde. Von den Ortschaften, die noch weiter südlich lagen, ganz zu schweigen, und gerade im Sommer, wenn die Touristen die Gegend für sich eroberten, war es nicht selten vorgekommen, dass einige Kollegen ihre gesamte Schicht auf der Landzunge verbringen mussten. Das war ein Problem. Deshalb war eine alte Einsparmaßnahme rückgängig gemacht und das Revier in Torreira wieder eröffnet worden.

Das Projekt war vorerst auf zwei Jahre begrenzt, die Vorgesetzten in Ovar wollten erst mal sehen, ob sich eine weitere Polizeistation wirklich rechnete. Auch wenn João über diese Befristung nur immer wieder den Kopf schütteln konnte – denn wie wollte man die Sicherheit der Bürger gegenrechnen? –, war er froh, nicht mehr jeden Tag nach Ovar fahren zu müssen. Er führte das kleine Revier allein. Na ja, das stimmte nicht ganz. Ohne Mariposas Hilfe wäre er vermutlich aufgeschmissen gewesen. Beide konnten die kurze Strecke morgens gemütlich zu Fuß herlaufen. Der Dienstwagen stand die meiste Zeit auf dem Parkplatz hinter der Dienststelle.

Das neue, alte Revier lag in der Largo da Varina, einer Straße, die vom Strand ins Dorfinnere führte und rechts und links von Restaurants und kleinen Souvenirshops gesäumt war. Wenn es in Torreira einen Ortskern gab, dann war er hier. Während der Sommermonate erweiterten Büdchen in der Mitte der Fußgängerzone das kulinarische und unterhaltende Angebot. Doch nun, Ende September, waren diese bereits verschlossen und winterfest gemacht. Die Saison war nahezu vorbei, nur noch vereinzelt hatten Touristen eine der Ferienunterkünfte gemietet. Im Oktober würden auch die meisten Strandcafés schließen und in die Winterpause gehen. Zum Glück aber nicht die kleine Bäckerei, die genau gegenüber der Polizeistation auf der anderen Straßenseite lag und in der er sich heute schon zwei kleine café gegönnt hatte (und die beiden Pastéis de Nata dazu, so ehrlich musste er sein). Jetzt gerade kroch der betörende Duft nach Frischgebackenem durch das Fenster des Reviers direkt in Joãos Nase. Ganz offensichtlich holten die Bäckerinnen gerade eine neue Fuhre süßer Köstlichkeiten aus Blätterteig und Creme aus dem Ofen, und João überlegte, ob er zum dritten Mal den kleinen Platz überqueren und sich einen Kaffee holen sollte. Denn trotz der steten Koffeinzufuhr wollte es mit der Motivation nicht so richtig klappen. Erfahrungsgemäß würde an einem Tag wie heute aber auch nicht viel passieren.

Luís, der das Revier geleitet hatte, bevor die Sparmaßnahmen für seine Schließung gesorgt hatten, würde vielleicht wie üblich auf einen Plausch vorbeikommen. Obwohl er seit Jahren im Ruhestand war, schaute er mehrmals die Woche auf dem Revier vorbei. Einmal Polizist, immer Polizist.

João schaltete den Fernseher ein, der in der linken oberen Ecke seines Büros hing, und öffnete die obersten Knöpfe des Poloshirts mit dem Logo der GNR, das er heute als Uniform trug. Auch wenn der Hochsommer sich langsam verabschiedete, war es an einigen Tagen immer noch fast unerträglich heiß. Heute ließ es sich glücklicherweise aushalten, sonst hätte er den kleinen Tischventilator einschalten müssen und über den Lärm dieses beinahe urzeitlichen Gerätes das Fernsehprogramm nicht verfolgen können.

Auf die zur Uniform gehörende dunkelblaue Hose hatte er, wie an den meisten anderen Tagen auch, verzichtet. Eigentlich war es Vorschrift, aber wer sollte das in Torreira überprüfen? Er könnte auch in Zivilkleidung unterwegs sein, und jeder wüsste, dass er Polizist war. Man kannte sich ja schließlich. João war schon erleichtert gewesen, als sie vor einigen Jahren das Hemd durch Polos ersetzt hatten. Es bot so viel mehr Tragekomfort, und wenn er eines nicht mochte, dann unbequeme Kleidung. Nicht, dass sie ihn bei der Arbeit behinderte oder Ähnliches. Es saß sich einfach nicht so gut in ihnen. Selbstverständlich war ein Hemd noch immer Teil der Uniform, doch es wurde für gewöhnlich nur noch zu besonderen Anlässen getragen. João hatte eines im Büro deponiert, für den unwahrscheinlichen Fall, dass doch einmal spontaner Besuch aus Ovar vor der Tür stand und er nicht einmal ein passendes Polo trug, was an den ganz heißen Sommertagen auch keine Seltenheit war. Vielleicht würde er die Leitstelle irgendwann davon überzeugen können, eine Sommeruniform aus Leinen anzufertigen, dann würde auch er zwischen Juni und August konform gekleidet in seinem Revier sitzen. So viel war er bereit zu versprechen.

Er erlaubte sich, die Füße für einen Moment auf dem Schreibtisch abzulegen, lehnte sich im Stuhl zurück und fuhr sich mit der Hand über die kurzen Haare. Mariposa hatte wie alle paar Wochen gestern Abend den elektrischen Rasierer gezückt, auf sieben Millimeter eingestellt und Joãos Kopf wieder salonfähig gemacht. Zufrieden seufzte er. Heute war ein ruhiger Tag, der perfekt zu seiner ruhigen Verfassung passte, das war genau das, wonach ihm der Sinn stand. Da klingelte das Telefon.

João hatte die aufgeregte Stimme am Telefon nicht gut verstehen können, alles, was aus dem Hörer drang, war ein aufgeregtes Schluchzen gewesen, das João sofort in Alarmbereitschaft versetzt hatte. Irgendwann hatte die Frau zwischen Schluchzern gerade so eine Adresse durchgeben können. Alles Weitere würde er vor Ort erfahren. Dass dieses Weitere nichts Gutes sein konnte, wusste er aber jetzt schon. Er schnappte sich die Schlüssel und den Pistolengurt mitsamt der Waffe aus der Schublade, verließ das Revier durch die Hintertür, die zum Hof führte. Zehn Minuten später war João in der Rua das Dunas eingetroffen. Die Straße war eine Sackgasse, für Autos ging es hier nicht weiter, jedoch führte an ihrem Ende ein schmaler Weg in den beginnenden Pinienwald. João parkte den Wagen, folgte zu Fuß dem Schotterweg und sah einen Moment später das Haus auf der linken Seite stehen. Er durchschritt das niedrige Gartentor und fand die Haustür offen vor. Automatisch scannte er das Schloss und die Zarge nach Kratzspuren oder anderen Anzeichen für einen Einbruch, aber es war nichts zu sehen.

»Hallo?«, rief er in den dunklen Flur.

Er öffnete den Verschlussriemen des Holsters, hielt seine Hand locker um den Griff der Waffe, sodass er sie im Notfall ziehen konnte, und machte einen Schritt ins Innere. Durch die Abwesenheit von Fenstern im Eingangsbereich und den Boden aus Steinfliesen war es hier drin angenehm kühl. Im August, wenn die Luft förmlich brannte, war dies hier bestimmt der begehrteste Platz im ganzen Haus. João ging weiter durch den Flur. Gleich dahinter öffnete sich der Raum zu einem Wohnzimmer. Rechts sah João zwei offene Türen, die jeweils ins Bade- und Schlafzimmer führten. Von links hörte er Geräusche. Er drehte sich um. Hinter einem Fliegenvorhang, der statt einer Tür im Durchgang zur Küche hing, vernahm er ein leises Schluchzen. Er schloss die Hand um den Griff der Pistole fester, schob die bunten Fäden mit Glasperlen beiseite und schlüpfte hindurch. Klimpernd fielen sie hinter ihm wieder an ihre Position. Ein großer Raum öffnete sich vor ihm. Statt einer Wand befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers eine Glasfront, die den Blick in den Garten öffnete. Die Tür zur Terrasse stand offen, und die Sonne durchflutete den gesamten Raum. Zu Joãos Rechten befand sich eine Küchenzeile mit altmodischem Gasherd, die in L-Form an der Wand entlanglief. Vor ihm stand ein runder Holztisch aus Kirsche mit vier passenden Stühlen. Auf einem davon saß eine Frau. Sie hatte die Ellbogen auf dem Tisch und ihr Gesicht in ihren Handflächen abgestützt und weinte leise. Durch das Klirren der Glasperlen aufgeschreckt, schaute sie hoch und stand ruckartig auf.

»Senhora«, sagte João vorsichtig und ging einen Schritt auf sie zu.

»Sind Sie von der Polizei?«, fragte sie und schnäuzte sich in ein Taschentuch, das neben ihr auf dem Tisch gelegen hatte. Er zog seinen Ausweis aus der hinteren Hosentasche und hielt ihn ihr entgegen.

»Richtig, João Pinto mein Name, Sie haben eben mit mir telefoniert. Können Sie mir sagen, was passiert ist?«

»Meine Schwester«, sagte die Frau, und sofort brach ihr die Stimme weg, und der Rest des Satzes ging in erneutem Schluchzen unter. Sie ließ sich zurück auf ihren Stuhl fallen.

João setzte sich zu ihr. »Können Sie mir für den Anfang vielleicht Ihren Namen sagen?«

Die blonde Frau nickte. »Inês Martins de Souza.«

»Guten Tag, Senhora de Souza, Inês. Ist etwas mit Ihrer Schwester …«

»Raquel.«

»Wie bitte?«

»Meine Schwester heißt Raquel.«

Die Frau tupfte sich erneut die Augen trocken und schaute wieder auf.

»Und ist Raquel etwas passiert?«

Inês Martins de Souza nickte stumm, und ihr Kinn zitterte. Dann zeigte sie mit der Hand in Richtung des Gasherdes, bevor sie sich das Taschentuch vor den Mund presste. João stand auf und trat auf den Herd zu. Entgegen seiner ersten Annahme zog sich die Küchenzeile nicht in einem Stück um die Ecke. Stattdessen gab es neben dem Herd einen kleinen Durchgang zu einer Vorratskammer. Vom Kücheneingang hatte er diesen lediglich nicht gesehen. Ebenso wenig wie die beiden Frauenfüße, die neben dem Herd ein Stück in den Raum ragten. Der eine Fuß steckte noch in einem schwarzen Pumps, der andere Schuh lag etwas abseits. João näherte sich der Stelle, und gleich darauf bestätigte sich, was er befürchtete: Neben dem Herd lag eine tote Frau. Er drehte sich wieder zum Tisch um.

»Ist das Ihre Schwester?«

Inês nickte.

»Haben Sie den Notarzt verständigt?« Jetzt schüttelte sie den Kopf. João zückte sofort sein Smartphone aus seiner Hosentasche und entsperrte es.

»Dann mache ich das jetzt.«

Sie riss die Augen auf. »Aber sie ist doch tot!«, rief sie aufgebracht.

»Haben Sie ihren Puls gefühlt?«

Wieder schüttelte sie den Kopf. »Nein. Aber sie ist ganz kalt. Und … und sie reagiert gar nicht. Ich wollte sie schütteln, aber sie ist ganz hart, und dann …« Erneut brach ihre Stimme.

Mit schnellen Schritten war João nun bei der Frau auf dem Boden, fühlte nach einem nicht vorhandenen Puls und wählte gleichzeitig die Nummer des Dorfarztes. Inês hatte recht, man sah, dass diese Frau nicht mehr lebte.

»O Senhor Doutor«, begann er und beschrieb in wenigen Worten die Situation. Gleich darauf wählte er eine weitere Nummer, die von Nuno Guerreiro, dem Bestatter des Dorfes. Woran diese Frau auch immer gestorben war, Nuno hatte als Einziger das passende Gefährt und das Know-how, um die Leiche von hier wegzubringen.

Nach den beiden Telefonaten hieß es warten, mehr konnte João im Moment für die tote Frau nicht tun. Er steckte sein Handy zurück in die Brusttasche und wandte sich wieder der lebenden zu.

»Inês, lassen Sie uns raus in den Garten gehen. Ich denke, ein bisschen frische Luft wird Ihnen guttun.« Zeitgleich öffnete er den Kühlschrank und fand, worauf er gehofft hatte: Er angelte eine kleine Flasche Wasser raus. Natürlich konnte man das Leitungswasser in Portugal trinken. Wirklich gefahrenfrei war das allerdings erst seit ein paar Jahren möglich, und den meisten Portugiesen fiel die Umgewöhnung schwer. Oder sie trauten dem Leitungswasser einfach nicht, wie Mariposas Mutter Teresa, dachte João. Sie würde für immer abgefülltes und »sauber gefiltertes Wasser« in Flaschen kaufen, wie sie immer wieder betonte.

Er half Inês auf die Beine. João wollte die Leiche aus ihrem Blickfeld kriegen, da er hoffte, dass sie ihm ein paar Fragen beantworten konnte, wenn sie ihre tote Schwester nicht ständig vor sich sah.

Er hob den Vorhang mit den Plastikfransen beiseite, der vor der Terrassentür baumelte, damit Inês hindurchgehen konnte. Diese Vorhänge waren ganz typisch für Portugal, sie sollten Insekten und Hitze draußen halten. Das gelang jedoch nur bedingt. Auch hier lagen einige tote Insekten auf dem Boden. Deren Versuch, den Weg nach draußen zu finden, im Flatterwerk geendet und ihren Tod bedeutet hatte. Ein typisches Bild im Sommer in Portugal.

Wie die Küche war auch die Terrasse mit Natursteinen gefliest, zumindest der Bereich direkt hinter der Tür. Hier standen ein Tisch und zwei bequem aussehende Gartenstühle. Auf den einen drückte er Inês, zog den anderen heran und setzte sich ebenfalls. Eine Markise über ihnen spendete Schatten. Hinter der Terrasse erstreckte sich eine grüne Wiese, die ebenso gepflegt aussah wie die Hecke, die den Garten umgab.

Definitiv ein Ferienhaus, dachte João. Der Rasen wurde regelmäßig gewässert, das konnte man an dem satten Grün sehen. Wenn man so viel Mühe und Wasser, einen knappen Rohstoff in dieser Gegend, in eine Wiese investierte, die weder Obst noch Gemüse trug und auch nicht in einem Vorgarten lag, sodass man damit Passanten beeindrucken könnte, dann tat man es für die Bewohner: Touristen, die viel Geld für den perfekten Urlaub zahlten.

»Ihre Schwester wohnte nicht hier, oder?«, setzte er wieder an.

»Nein«, sagte sie. Ihre Stimme war noch brüchig, aber sie wirkte schon ruhiger. Der Ortswechsel schien eine gute Idee gewesen zu sein. »Sie war wegen der Arbeit hier. Eigentlich lebt Raquel in Lissabon, sie arbeitet dort als Kunstgutachterin. Sie sollte sich hier ein altes Fresko anschauen, das man in irgendeiner alten Kapelle gefunden hat. Ich kenne mich damit nicht sonderlich aus, ich habe mich nur gefreut, dass sie endlich mal wieder so nah bei mir war.«

João nickte. Er hatte natürlich schon von dem Fresko gehört. Seit dem Moment, als vor ein paar Wochen in der Kapelle Staub und Putz von der Wand gerieselt waren und den Blick freigegeben hatten auf das Gemälde darunter, waren hier alle in heller Aufregung darüber.

»So nah?«

»Ja, ich lebe in Porto, und da haben wir uns natürlich nicht so häufig gesehen. Aber seit sie hier in Torreira war …«

»Seit wann war sie denn hier?«

»Bestimmt schon seit sechs Wochen. So genau weiß ich das gar nicht.«

»Braucht man denn so lange, um den Wert eines alten Gemäldes zu schätzen?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht beantworten, wie gesagt, ich kenne mich damit nicht aus. Ich bin Anwältin.«

»Wissen Sie, wer Ihre Schwester beauftragt hat?« Eine rhetorische Frage, denn João glaubte, die Antwort schon zu kennen. Immerhin wurde der alte Luís nicht müde, von den Erfolgen seines Sohnes zu erzählen. Auch wenn João ihn nicht persönlich kannte, da Luís ihn früh aufs Internat und dann zum Studium geschickt hatte, wusste er einiges über den Mann. Manuel Avis war mit Mitte dreißig der jüngste Bürgermeister, den der Bezirk je hatte. Und er hatte Ambitionen: Er wollte von der lokalen am liebsten auf die nationale Ebene aufsteigen. Oder für die EU nach Brüssel. Eine Sensation wie ein wertvolles Fresko und das damit verbundene Potenzial für den Ort würden diesen Weg weiter ebnen.

»Ja, es war der Bürgermeister. Avis ist sein Name. Er hat das Büro in Lissabon kontaktiert, und daraufhin wurde Raquel hierhergeschickt. Die Firma, für die Raquel arbeitet, ist die beste auf ihrem Gebiet, müssen Sie wissen.« Sie hielt kurz inne und korrigierte sich dann: »Gearbeitet hat«, sagte sie leise, und erneut rollten Tränen über ihre Wangen.

»Inês, wieso waren Sie eigentlich hier?«, fragte er und bemühte sich darum, so neutral wie möglich zu klingen. Er wollte die Frau nicht verschrecken mit der Frage. Doch ihr schien vom Schock das Gehirn so vernebelt zu sein, dass sie eine mögliche Anmaßung gar nicht wahrnahm.

»Wir waren zum Frühstück verabredet. Wie gesagt, seit Raquel in Torreira war, haben wir uns öfter gesehen. Und da ich von Porto aus nur eine Dreiviertelstunde brauche, konnten wir auch so etwas wie ein Frühstück vereinbaren.« Sie schluckte, dann flüsterte sie: »Wir haben erst vor zwei Tagen noch miteinander telefoniert.«

»Und wie sind Sie ins Haus gekommen?«

»Raquel hatte das Haus über mehrere Monate gemietet, weshalb sie von ihrem Vermieter zwei Schlüssel dafür ausgehändigt bekam. Einen hat sie mir gegeben für den Fall, dass sie sich mal ausschließen würde. Ich trage ihn immer am Bund. Als sie vorhin nicht auf die Klingel reagierte, habe ich die Tür aufgeschlossen.«

Noch bevor João darauf antworten konnte, erschienen zwei Personen in der Terrassentür. Der Arzt Dr. Duarte und Nuno waren offensichtlich zeitgleich eingetroffen. João entschuldigte sich mit einer Geste bei Inês und ging zu den beiden Männern.

»Bom dia«, begrüßte er sie und betrat mit ihnen erneut die Küche. »Das ist die Tote, ihr Name ist Raquel Martins de Souza. Ihre Schwester, mit der sie zum Frühstücken verabredet war, hat sie gefunden. Sie ist ziemlich mitgenommen, ich habe sie erst mal raus an die frische Luft gebracht.«

»Geht es der Schwester gut?«, fragte Dr. Duarte, als er sich neben die Leiche kniete und mit der Untersuchung begann.

»Ja, sie ist ruhiger, seit sie draußen sitzt«, bestätigte João und deutete auf den Leichnam. »Ich bin natürlich kein Arzt, aber für mich sieht es aus, als wäre sie einfach zusammengebrochen. Was sagen Sie?«

»Es sind tatsächlich weder Blut noch andere, äußere Verletzungen zu sehen«, murmelte der Arzt vor sich hin. Als Landarzt gehörte es auch zu seinen Aufgaben, Totenscheine auszustellen. Selbstverständlich nur, wenn es sich um eine natürliche Todesursache handelte, was in Torreira meistens der Fall war. Die Leute starben schließlich überall. Es war also nicht überraschend, dass Dr. Duarte seine Untersuchung des Körpers mit einer gewissen Routine vollzog, um festzustellen, ob auch hier der Tod ohne fremde Hilfe eingetreten war. Und offensichtlich kam auch der Arzt zu der Überzeugung, dass diese Frau zwar viel zu früh, aber nicht durch Fremdeinwirkung aus dem Leben geschieden war, denn er fuhr fort: »Kein Blut äußerlich oder auffällige Petechien oder Einblutungen, keine Brüche oder Hämatome, Mund und Rachen sind in Ordnung. Sie wurde also weder niedergeschlagen noch erstickt. Sieht mir eher nach Herzstillstand aus.«

»Könnte sie vergiftet worden sein?«, schaltete sich Nuno dazwischen.

Der Arzt blickte sich um. »Dafür gibt es an der Leiche keine Anzeichen, weder auffällige Totenflecken, wie sie beispielsweise bei einer Vergiftung durch Kohlenmonoxid auftreten, noch Verätzungen, Schaum vor dem Mund oder Ähnliches. Was sagen Sie, João?«

»Bin ich ganz Ihrer Meinung. Ich habe am Haus nichts Verdächtiges bemerkt, weder wurde das Schloss aufgebrochen, noch gibt es hier Auffälligkeiten. Ich schaue mich gleich in den anderen Räumen um, aber bisher lässt nichts auf eine Todesursache wie Vergiftung schließen. Seit wann ist sie schon tot, Doutor?«

Der Arzt tastete den Körper an einigen Stellen ab und antwortete ihm, ohne aufzublicken. »Die Leichenstarre ist voll ausgeprägt, also irgendwann gestern Abend.«

João nickte.

»Ist sie dafür nicht etwas jung?«, fragte Nuno und trat ebenfalls einen Schritt näher. »Für einen Herzstillstand, meine ich. Ich würde sie auf Anfang, Mitte dreißig schätzen.«

Der Arzt wandte sich an João: »Hat sie irgendwelche Vorerkrankungen? Ein schwaches Herz zum Beispiel. Oder irgendwelche Allergien?«

»So weit waren wir noch nicht, aber ich werde das sofort in Erfahrung bringen.«

»Sie war allergisch gegen Bienen.«