Susan Sontag. 100 Seiten - Anna-Lisa Dieter - E-Book

Susan Sontag. 100 Seiten E-Book

Anna-Lisa Dieter

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Beschreibung

»Susan Sontag hat mein Leben verändert. Die Beschäftigung mit ihr hat mir schlagartig klargemacht: Denken kann glamourös sein, und es kann unsere Sinne schärfen.« Susan Sontag ist Kult. Für Generationen von Studierenden ist die New Yorker Intellektuelle ein Vorbild, ihre Essays zu Politik und Popkultur, aber auch zu Philosophie, Fotografie, Literatur und Sexualität sind bewusstseins- und stilprägend. Ihr bewegtes Leben (und Liebesleben) an der Seite zahlreicher Berühmtheiten – von Andy Warhol bis Annie Leibovitz – hat ebenfalls zum Mythos Sontag beigetragen. Anna-Lisa Dieter resümiert: Susan Sontag hat dem Denken erst Glanz verliehen – und es dabei geschafft, zum moralischen Gewissen Amerikas zu werden.

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Anna-Lisa Dieter

Susan Sontag. 100 Seiten

Reclam

Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:

www.reclam.de/100Seiten

 

2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH nach einem Konzept von zero-media.net

Infografik: annodare GmbH, Agentur für Marketing

Bildnachweis: siehe Anhang; Autorinnenfoto: © privat

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962087-9

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-20675-1

www.reclam.de

Inhalt

Ich, etc.: Sich selbst erfinden

Gegen Interpretation: Berühmt werden

Krankheit als Metapher: Überleben

Das Leiden anderer betrachten: Sehen und Handeln

Bergen-Belsen und Dachau

Vietnam

Bosnien

Ground Zero

Abu Ghraib

P. S. Es kann nur eine geben

Lektüretipps

Bildnachweis

Zur Autorin

Über dieses Buch

Leseprobe aus 11. September 2001. 100 Seiten

WAS FASZINIERT AN SUSAN SONTAG?

die ungewöhnliche Schönheit

die Verbindung von Glamour und Intellekt

die Coolness

die Geschwindigkeit ihres Denkens

»Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen.«

der aphoristische Stil: ein Satz ein Gedanke

die Neugier, das Interesse an allem

die Intensität (wie viel passt in einen Tag?)

die Fähigkeit, sich von Bewunderung antreiben zu lassen

die Begeisterung und Leidenschaft für Kunst und Politik

das Gespür für Zeitgeist (in den 60er Jahren)

die Lust an der Provokation

die Lebendigkeit: Bis zuletzt schien sie zu vital, um sterben zu können

der Ernst

die prophetischen Qualitäten, Stellenwert der Fotografie

die Listen

Ich, etc.: Sich selbst erfinden

Susan Sontag verzichtete beim Schreiben ihrer bekanntesten Texte aufs Ich-Sagen. Ihre berühmten Essays kommen fast ausnahmslos ohne erste Person Singular aus. Kein Ich, das das Geschriebene beglaubigen und an die eigene Erfahrung anbinden würde. Unpersönlich schreibt Sontag auch über Themen, die sie selbst betreffen. Sie widmete sich Phänomenen der queeren Kultur, ohne ihre lesbische Sexualität zu thematisieren. Als sie an Krebs erkrankt, schreibt sie einen Essay über die Krankheit, ohne auch nur einmal sich selbst zu erwähnen. Sie verarbeitet ihre Erkrankung, indem sie den Krebs mit einer Theorie und Kulturgeschichte ausstattet, ihre eigene Geschichte erzählt sie nicht. Auch die autobiographische Schicht ihrer fiktionalen Texte ist dünn. Drei von ihren vier Romanen behandeln historische Stoffe. Sontag selbst hat sich einmal als »anti-autobiographische« Autorin bezeichnet, die nie direkt aus persönlicher Erfahrung schreibe.

Damit einher geht die Weigerung, sich identitätspolitisch zu positionieren. Sontag war Jüdin, wollte aber nicht als jüdische Schriftstellerin wahrgenommen werden. Sie war Feministin, ohne sich zum Feminismus zu bekennen oder sich als feministische Autorin zu verstehen. Sie war bisexuell, aber nichts lag ihr ferner, als aus ihrer sexuellen Orientierung ihr Selbstverständnis als Schreibende abzuleiten. Vielmehr verstand sich Sontag als Ausnahmeerscheinung, dem enthoben, was heute Identitätspolitik genannt wird. Die autoritäre Stimme, mit der sie in ihren Essays spricht, hat sich von der eigenen Erfahrung, auch der identitätsbezogenen, emanzipiert. Die Oberfläche ihrer Prosa ist kühl und in sich geschlossen, die Sprecherin bleibt bewusst unnahbar.

Mit dieser Haltung nimmt Sontag die größtmögliche Distanz zu unserer Gegenwart ein: Heute regiert das Ich. In der Literatur hat es der Gattung der Autofiktion, in der vorgeblich die eigene Geschichte erzählt wird, zum Erfolg verholfen. Der Essay zeichnet sich gegenwärtig dadurch aus, dass nach Belieben »Ich« gesagt werden darf – oder sogar muss. Essayistisches Schreiben beruht heute auf einem Ich, das seine intimen, oftmals leidvollen Erfahrungen offen bekennt. »Wer spricht? Und von welchem Kummer?« ist zu einer Frage der Gegenwart geworden, die eine möglichst genaue identitätspolitische Antwort verlangt. Die sozialen Medien haben einen regelrechten Bekenntniswahn ausgelöst und das Bekenntnis zum Sprechakt gemacht, der den öffentlichen Diskurs prägt. Von all dem könnte Sontag nicht weiter entfernt sein.

Und dennoch: So diskret ihr Umgang mit der persönlichen Erfahrung in den meisten ihrer zu Lebzeiten veröffentlichten Texte war, so sehr sie ihre Privatsphäre auch geschützt hat, es sind ihre posthum veröffentlichten Tagebücher, mit denen Sontag nach ihrem Tod zu neuem Ruhm kommt. Die Tagebücher geben intime Einblicke und erzählen davon, wie Susan Sontag sich selbst erfand. Wieviel Arbeit sie in dieses Projekt, vielleicht ihr eigentliches Lebensprojekt, gesteckt hat.

Ihr erstes Tagebuch, das sie ab ihrem 14. Lebensjahr führt, ist auch der Versuch, ihre unglückliche Kindheit zu überschreiben. Wiedergeboren lautet der Titel, den Sontags Sohn David Rieff, der Herausgeber ihrer Tagebücher, dem ersten Band gegeben hat, der ihre Tagebücher aus den Jahren 1947 bis 1963 versammelt. Der Titel stammt von einer Notiz, die Sontag in die Innenseite eines ihrer Hefte aus dem Jahr 1949 geschrieben hat: »In der Zeit, die in diesem Notizbuch wiedergegeben wird, werde ich wiedergeboren.«

Was genau hat es mit diesem Ich, das wiedergeboren wird, auf sich? Sontags erster Auftritt im Tagebuch ist der eines intellektuellen Wunderkinds. Als 14-Jährige formuliert sie ihr persönliches Glaubensbekenntnis.

Ich glaube:

(a)

Dass es keinen persönlichen Gott und kein Leben nach dem Tod gibt

(b)

Dass es im Leben nichts Erstrebenswerteres gibt als die Freiheit, sich selbst treu zu sein, d. h. Ehrlichkeit

(c)

Dass Menschen sich allein durch ihre Intelligenz unterscheiden

(d)

Dass eine Handlung nur danach beurteilt werden sollte, ob sie die betreffende Person letztlich glücklich oder unglücklich macht

(e)

Dass es falsch ist, einem Menschen das Leben vorzuenthalten

[Die Einträge f und g fehlen.]

(h)

Des Weiteren glaube ich, dass der ideale Staat (über »g« hinaus) ein starker zentralistischer Staat wäre, d. h. staatliche Kontrolle über Versorgungsbetriebe, Banken, Minen + öffentliche Verkehrsmittel sowie Subventionierung der Künste, ein ausreichender Mindestlohn, Unterstützung von Behinderten und Alt[en]. Staatliche Gesundheitsfürsorge für schwangere Frauen, ohne dass etwa nach ehelichen + unehelichen Kindern unterschieden wird.

Es ist kein Zufall, dass Sontag die Form der Liste wählt, um ihr Tagebuch zu eröffnen und ihren inneren Kompass freizulegen. Ihre Tagebücher enthalten zahllose Listen, Listen der Bücher, die sie kaufen und lesen will, der Filme, die sie gesehen hat, Listen von Wörtern, mit denen sie ihren Wortschatz erweitert, Listen der Komponisten und Werke, die sie begeistern. Das gesamte Bildungsprogramm, das sich Sontag auferlegt hat, steckt in diesen Listen. Darin hält sie fest, was sie interessiert, begeistert, verzückt, wen sie bewundert und verehrt, aber auch, was sie von sich verlangt und an sich verbessern möchte. Listen schreibend und sie abarbeitend erschafft sie sich selbst. Die Liste ist das Fundament ihrer Selbsterfindung (und daher auch ein Gestaltungsprinzip dieses Buches).

Bücher, die sich Sontag zur mehrfachen Lektüre verordnet (1948–1979)

Thomas Mann: Der Zauberberg

André Gide: Die Tagebücher

– Der Immoralist

Johann Wolfgang von Goethe: Faust

Dante: Die Göttliche Komödie

Lukrez: Über die Natur der Dinge

Henry James: Das Raubtier im Dschungel

– Die goldene Schale

James Joyce: Ein Porträt des Künstlers als junger Mann

Thomas Mann: Doktor Faustus

Aldous Huxley: Schöne neue Welt

Franz Kafka: Das Schloss

Gertrude Stein: Melanctha

Leo Tolstoi: Anna Karenina

Joseph Conrad: Mit den Augen des Westens

Walter Benjamins Essays

Hermann Broch: Der Tod des Vergil

In kurzen Einträgen notiert Sontag, wie ihr die gelesenen Bücher gefallen haben. Als 16-Jährige schreibt sie: »Habe heute Demian abgeschlossen und bin alles in allem sehr enttäuscht. Es ist nicht der romantische Ton, der mich stört (Werther zum Beispiel hat mir gut gefallen), es sind Hesses (ich kann es nicht anders ausdrücken) kindliche Vorstellungen …« Susan Sontag war zu cool für eine Hermann-Hesse-Phase.

Der Entwurf der Person, die sie sein will, umfasst alle Sphären des Geistes. Jede Form von Unwissenheit soll überwunden werden, dazu dienen auch Vorsätze wie: »Es ist besser, die Namen von Blumen zu wissen, als mädchenhaft zu gestehen, dass ich mich in der Natur nicht auskenne.« Die Erschaffung des Selbst schließt aber auch das ganz Basale mit ein, den Umgang mit dem eigenen Körper. Manche Listen formulieren Regeln und Pflichten wie weniger zu essen, gründlicher zu kauen, an der Haltung ihrer Schultern zu arbeiten, weniger zu lächeln, tiefer zu atmen, sich weniger oft ins Gesicht zu fassen. Und wiederholt ermahnt sie sich, auch noch als Erwachsene, öfter zu baden: »Jeden Tag baden und alle zehn Tage die Haare waschen.« Anders als ihr Geist macht ihr der Körper Probleme. Körperliche Hygiene fällt ihr schwer, und noch als fast dreißigjährige Frau versucht sie zu verstehen, warum das so ist: »Reinlichkeit – das Problem hängt mit der Sexualität zusammen. Nach einem Bad fühle ich mich ›bereit zum Liebesakt‹, aber es findet keiner statt; deshalb bade ich ungern.« Unmittelbar einleuchtend.

Der Sex ist neben dem Projekt der Selbstoptimierung das zweite große Thema der Tagebücher. Schon in der Jugend steht für Sontag fest: »Ich will mit vielen Leuten schlafen. Ich gedenke nicht, mich von meinem Verstand dominieren zu lassen. Ich werde überall Vergnügen erwarten und es auch finden, denn es ist überall!«

Schreiben und Sex sind Quellen der Intensität, die für Sontag eng miteinander verbunden sind. Mit 26 schreibt sie: »Der Orgasmus erzeugt Konzentration. Es gelüstet mich zu schreiben. Zum Orgasmus kommen zu können bedeutet nicht die Erlösung meines Ichs, sondern vielmehr dessen Geburt. Ich kann erst schreiben, wenn ich mein Ich gefunden habe.« Sontag setzt die intellektuelle der sexuellen Ekstase gleich, als zwei Facetten ihrer Lebendigkeit.

Ihre Tagebücher sezieren ihre Lust, ihre Erregung, ihre Einsamkeit. Die Erotik bringt größtes Glück, oft aber auch größtes Unglück. In ihren romantischen Beziehungen, vor allem denen zu Frauen, plagen Sontag Selbstzweifel. Sie wird sich oft als diejenige beschreiben, die mehr liebt, als sie geliebt wird.

* * *

Die Tagebücher dokumentieren, wie akribisch Sontag über sich nachgedacht, ja wie sie sich selbst erdacht hat, ein Prozess, der zwischen Ehrgeiz und Leiden changiert. Woher kam dieses Wunderkind, das hochbegabte Mädchen, das im Tagebuch seine Selbstzeugung vorführt? Welche Herkunft wollte sie ausradieren? Die wenigen autobiographischen Erzählungen, die Sontag verfasst hat, die zahlreichen Interviews, in denen sie sich zu ihrer Vita geäußert hat, die vielen Texte, die über ihr Leben und Werk geschrieben wurden, vor allem Daniel Schreibers Biographie Susan Sontag. Geist und Glamour, sind Quellen, die Antworten auf diese Fragen geben können.

»Ich hatte eine völlig wurzellose Kindheit«, hat Sontag in dem berühmten Interview gesagt, das sie der Zeitschrift Rolling Stone gab. Sie lebte als Kind an zahlreichen Orten, die sie wie die Wüstenstadt Tucson nicht wieder aufsuchte, nachdem sie von dort weggezogen war: »Ich will nicht zu meinen Ursprüngen zurückkehren. Ich denke, meine Ursprünge sind nur ein Ausgangspunkt. Nach meinem Empfinden bin ich einen weiten Weg gegangen. Und es ist gerade die Entfernung, die mich von diesem Ausgangspunkt trennt, auf die ich stolz bin.« Undenkbar, dass Sontag den Stoff ihres späteren Werks ihrer Herkunft aus der Provinz und den Erfahrungen entnommen hätte, die sie als »Exotin der Familie« an unterschiedlichen Orten im Osten und Westen der USA gemacht hat. Ihr Selbstverständnis als Schriftstellerin hat keine geographischen Wurzeln, vielmehr verwurzelt sie sich durch ihre Bildung selbst: als Kosmopolitin, deren Lebensmittelpunkt New York sein wird und für die der europäische Kanon eine fundamentale Rolle spielt.

Geboren wurde Susan Sontag als Susan Lee Rosenblatt am 16. Januar 1933 in New York. Ihre frühe Kindheit war geprägt durch die Abwesenheit ihrer Eltern, Jack und Mildred Rosenblatt, und durch ein Land in der Ferne: China. Ihrem Vater gehörte ein Pelzhandelsunternehmen im chinesischen Tianjin, die Kung Chen Fur Corporation, mit der er in jungen Jahren schnell zu Wohlstand kam. Die Mutter half in der Familienfirma mit. Auf den wenigen Bildern, die erhalten sind, sehen Sontags Eltern attraktiv, ja glamourös aus, ein junges aufstrebendes jüdisch-amerikanisches Ehepaar in der Britischen Kolonie. Sontag wuchs wie ihre jüngere Schwester Judith bei Verwandten und ihrer Kinderfrau Rosie auf (die später auch auf Sontags Sohn aufpassen sollte).

In »Projekt einer Reise nach China«, einer ihrer autobiographischen Erzählungen, erinnert sich Sontag an ihre kindliche Faszination für das Land der Eltern, von dem sie ausgeschlossen war. »Was machten sie eigentlich alle in China, damals?« Fernweh nach den Eltern in China war vermutlich eines der ersten Gefühle, die Sontag empfand. In dem Haus, das ihre Eltern auf Long Island, der New Yorker Halbinsel, kauften und in dem Sontag lebte, bis sie sechs Jahre alt war, war China im Alltagsdekor präsent, in den Gegenständen, die die Eltern von dort mitgebracht hatten, Nippes aus Elfenbein und Rosenquarz und Schriftrollen aus Reispapier. Zum fünften Geburtstag bekam Sontag ein Armband aus grüner Jade, »jedes winzige Ende in Gold gefasst«, das sie nie getragen hat. »China hieß für mich Gegenstände. Und Abwesenheit.«

Auch die erste Lüge, an die sie sich erinnert, hat mit China zu tun: Als Erstklässlerin erzählte sie in der Schule, sie sei in China geboren, obwohl sie wusste, dass es nicht stimmte. Sie lernte mit vier Jahren vom Geschäftspartner ihres Vaters, mit Stäbchen zu essen. Er sagte ihr, sie sehe chinesisch aus. Vergeblich versuchte Sontag, sich dem ihr verschlossenen Land der Eltern anzuverwandeln.

Als Sontag fünf Jahre alt war, starb ihr Vater in China an Tuberkulose, was sie von ihrer Mutter erst einige Monate später erfuhr. Keine Beerdigung, kein Grab, kein Abschied. Sontag konnte nicht glauben, dass ihr Vater »wirklich tot« war. »Ein weißer Seidenschal mit den mit schwarzem Seidenfaden aufgestickten Initialen und eine schweinslederne Brieftasche, auf deren Innenseite sein Name in kleinen Goldbuchstaben geprägt ist, das ist alles, was ich von dem besitze, was ihm gehört hat.« Die Nachricht von seinem Tod, die ihr die Mutter wenig einfühlsam überbrachte, führte zu Sontags erstem Asthmaanfall.

Das extravagante Chinakapitel im Leben der Mutter ging mit dem Tod des Vaters zu Ende. Sie zog mit ihren Töchtern von New York nach Miami, in den Südosten der USA, denn die wärmeren Temperaturen sollten das Asthma ihrer Tochter lindern. Das subtropisch-feuchte Klima Floridas machte es allerdings schlimmer, so dass die Familie schon bald in den Südwesten weiterzog und sich in Tucson in der Wüste von Arizona niederließ. Trockenes Wüstenklima galt als heilsam.

Während Sontag den Mangel an Erinnerung im Fall ihres Vaters in Idealisierung ummünzte und sich ihn als einen guten Vater vorstellte, war sie zeitlebens voller Bitterkeit, wenn es um ihre schöne und depressive Mutter ging. Eine gleichgültige, emotional unzugängliche Frau, die nie für sie da war, sich mit Alkohol betäubte, nach dem Tod des Vaters zahlreiche »Onkel« um sich scharte und immer wieder ohne Erklärung verschwand, so erscheint Mildred in ihren Erinnerungen. Sontag fühlte sich von ihrer Mutter vernachlässigt und alleingelassen. Dieser Schmerz heilte nicht.

Die Wüstenkleinstadt Tucson war der Ort, den Sontag am ehesten mit ihrer »wenig überzeugenden« Kindheit verband. Nachdem sie schon mit zwei oder drei Jahren lesen gelernt und Comics gesammelt hatte, begann sie etwa sechsjährig mit dem Lesen von Büchern. Die Biographie über die Nobelpreisträgerin Marie Curie (1867–1934), geschrieben von deren Tochter Eve Curie, war ein Buch, das ihre Kindheit prägte. In Marie Curie begegnete Sontag erstmals einer eigenständig wissenschaftlich arbeitenden Frau, die durch ihre Forschung berühmt geworden war. Sie eignete sich als Vorbild, mit dem sich Sontag identifizieren konnte.