Tabula Rasa - Carlo Fehn - E-Book

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Carlo Fehn

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Beschreibung

Deutschland ist im kollektiven Jubelrausch. Die Fußball-Nationalmannschaft hat soeben den Weltmeistertitel gewonnen, als am Tag nach dem großen Finale in einem Sonnenblumenfeld am Sportplatz des 1. FC Hirschfeld die Leiche einer Frau gefunden wird, die Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist. Ein Mann, der in unmittelbarem Kontakt zu ihr gestanden zu haben scheint, überlebt zunächst schwerverletzt. Für Hauptkommissar Pytlik und sein Team steht fest, dass der Täter, ebenso wie die Opfer, das Public Viewing auf dem Gelände des Vereins aus dem Steinbacher Gemeindeteil besucht haben muss. Als kurze Zeit darauf ein verdächtiger Zeuge nach einer brutalen Tat stirbt, werden die Zusammenhänge immer konfuser. Die Kronacher Ermittler tappen im Dunkeln.

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Carlo Fehn

Tabula Rasa

Deutschland ist im kollektiven Jubelrausch. Die Fußball-Nationalmannschaft hat soeben den Weltmeistertitel gewonnen, als am Tag nach dem großen Finale in einem Sonnenblumenfeld am Sportplatz des 1. FC Hirschfeld die Leiche einer Frau gefunden wird, die Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist.

Ein Mann, der in unmittelbarem Kontakt zu ihr gestanden zu haben scheint, überlebt zunächst schwerverletzt. Für Hauptkommissar Pytlik und sein Team steht fest, dass der Täter, ebenso wie die Opfer, das Public Viewing auf dem Gelände des Vereins aus dem Steinbacher Gemeindeteil besucht haben muss.

Als kurze Zeit darauf ein verdächtiger Zeuge nach einer brutalen Tat stirbt, werden die Zusammenhänge immer konfuser. Die Kronacher Ermittler tappen im Dunkeln.

Tabula Rasa - Hauptkommissar Pytliks 15. Fall

Carlo Fehn

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2022 Verlag Carlo Fehn

ISBN 978-3-756556-28-1

 

Sonntag, 13. Juli 2014

 

»Jetzt pfeif doch endlich ab, du Arsch!«

Die Stimmung war auf dem Siedepunkt! Aufgebracht hofften alle darauf, dass der Schiedsrichter die Partie beenden würde. In Hauptkommissar Pytliks Wohnzimmer hatten die letzten knapp drei Stunden Fußballübertragung deutliche Spuren hinterlassen. Bier- und Weinflaschen, Schüsseln mit allerlei Naschereien, ein Rest von Käse-Trauben-Spießen sowie stapelweise schmutziges Geschirr waren Zeugen eines feucht-fröhlichen Abends. Cajo Hermann, Pytliks Assistent bei der Kronacher Polizei, war aus dem aufgeregten Stimmenwirrwarr am lautesten zu hören. Dicht vor dem großen Fernseher war er auf die Knie gesunken und raufte sich die Haare. Dann sprang er plötzlich auf, machte einige Luftsprünge und fiel nach und nach den Anwesenden um den Hals, die ihrer Freude ebenso laut freien Lauf ließen. Anschließend tanzten Pytlik, seine Lebensgefährtin Franziska, Hermann, Justus Büttner, der Leiter der Schutzpolizei und Pytliks Sekretärin, Adelgunde Reif, eng umschlungen und sangen dazu Jubellieder.

»Weltmeister, Weltmeister, hey, hey! Weltmeister, Weltmeister, hey, hey!«

Immer wieder tönte das magische Wort durch die Doppelhaushälfte in der Rhodter Straße am Kronacher Flügelbahnhof. Nach wenigen Minuten waren durch die geöffnete Terrassentür bereits die ersten Hupen von Autos zu hören. Es war zwanzig Minuten vor Mitternacht und Deutschland hatte gerade das Finale der Fußball-WM gegen Argentinien gewonnen.

 

***

 

 

Montag, 14. Juli 2014

 

Erst leise, dann immer lauter und am Schluss ganz deutlich hörte Pytlik das Klingeln seines Handys, das auf dem Nachttischchen neben seinem Bett lag. Da er vermutet hatte, dass der gemeinsame Fußballabend sich bis in die Nacht ziehen würde, hatte er sich für diesen Montag vorsichtshalber einen Tag Urlaub gegönnt. Er öffnete die Augen und richtete den Blick auf das Display seines Radioweckers. 6:30 Uhr! Wenn die Anzeige stimmte, hatte er gerade einmal gute fünf Stunden geschlafen.

»Verdammt!«, grummelte er vor sich hin, bevor er danach seinen rechten Arm ausstreckte und das Telefon heranholte. Er drehte sich auf den Rücken, wischte mit dem Zeigefinger kurz über das Display und gab dann dem Anrufer einen ernst gemeinten Rat, ohne ihn zunächst angemessen begrüßt zu haben. Er kannte die Nummer.

»Ich hoffe, du weißt, dass ich heute einen Tag Urlaub habe und meine Wohnung aussieht, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Also, wenn es nicht etwas annähernd Wichtiges ist, dann...«

Pytlik wurde von Egon Schneider, dem stellvertretenden Leiter der Schutzpolizei, sogleich unterbrochen.

»Guten Morgen, Franz!«

Da der Hauptkommissar die Hektik und Aufgeregtheit in der Stimme seines Kollegen bemerkte, schloss er für einen Moment die Augen und schüttelte verzweifelt den Kopf. Seinen Urlaubstag hatte er in diesem Moment innerlich bereits abgehakt.

»Nein, es ist wohl eher ein schlechter Morgen! Tut mir leid, Franz! Ich weiß, du hast heute frei, aber…«

Pytlik hatte sich im Bett bereits aufgerichtet.

»Komm zur Sache, Egon! Was ist los?«

Schneider fuhr fort.

»Wir sind auf dem Weg nach Hirschfeld. Vor zehn Minuten gab es einen Anruf. Ein Mann erzählte uns, dass er am Rande eines Feldes gegenüber dem Sportheim eine blutüberströmte Person gefunden hat. Zusammen mit einem anderen Mann hätte er den Schwerverletzten reanimiert, bis Notarzt und Rettungswagen vor Ort waren.«

Pytlik stand auf und lief zu seinem Kleiderschrank. Er wusste, was das bedeutete.

»So, wie es uns der Ersthelfer geschildert hat, müssen wir davon ausgehen, dass der Mann nicht nur einfach gestürzt ist, sondern dass es sich hier um ein Gewaltverbrechen handeln könnte. Ich habe irgendwie so ein komisches Gefühl. Deswegen habe ich gedacht, es wäre vielleicht besser, wenn du und…«

Pytlik hatte sich das Handy zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt und Socken, eine Hose sowie ein Polo-Shirt auf das Bett gelegt.

»Schon gut, Egon! Ich werde versuchen, Cajo aus dem Bett zu bekommen, was schwierig genug werden dürfte. Was ist mit Büttner? Der hat ja heute auch frei. Versuch, ihn zu erreichen! Der wohnt nicht weit weg und falls er einigermaßen einsatzfähig ist, soll er sich das mit anschauen.«

 

***

 

Es war kurz vor sieben, als Pytlik mit seinem Dienstwagen die Ortseinfahrt von Pressig passierte. Auf dem Beifahrersitz saß sein Assistent Cajo Hermann, der wie erwartet alles andere als ausgeschlafen war. Hermann hatte den WM-Sieg der deutschen Mannschaft am ausgiebigsten gefeiert und man merkte ihm deutlich an, dass er angeschlagen war. Er hatte den Kopf nach hinten übergestreckt und die Augen geschlossen. Pytlik hatte ihm die Informationen, die er von Schneider bekommen hatte, bereits erzählt.

In östlicher Richtung konnte Pytlik am Himmel in tiefem Flug einen Hubschrauber sehen. Er hatte eine Vermutung. In zehn Minuten würde er es genauer wissen.

»Muss ich das eigentlich verstehen?«, fragte Hermann mit rauer Stimme und massierte sich dabei mit den Fingerspitzen die Stirn.

»Was?«, entgegnete Pytlik und musste schmunzeln.

»Warum du bis zum Schlusspfiff fast einen halben Kasten Bier getrunken hast und danach unbedingt noch ›Ramazotti sauer‹ sein musste?«

Hermann dachte kurz nach.

»War ich eigentlich der Einzige, der besoffen war? Was war mit Justus und Franziska? Gut, Gundi ist ja eh eine Wassertante.«

Pytlik drückte aufs Gaspedal.

»Der Büttner ist ein Bär, der verträgt das ganz anders als du und ich, das weißt du doch! Franziska muss heute arbeiten, sie hat sich zurückgehalten und den Justus noch nach Hause gefahren. Du erinnerst dich sicherlich nicht!«

Hermann schüttelte langsam den Kopf.

»Was ich meine, ist: Warum müssen wir da mit voller Besatzung ausrücken? Scheint halt eine Schlägerei gewesen zu sein. Die haben bestimmt auch das Finale geschaut. Und?«

Pytlik zuckte kurz mit den Schultern.

»Wenn es dann so ist, fahren wir wieder heim. Wir frühstücken bei mir und du hilfst mir ein bisschen aufräumen. Was meinst du?«

Pytlik lachte, Hermann konnte lediglich mit einem gequälten Lächeln antworten, als das Handy des Hauptkommissars über die Freisprechanlage des Dienstwagens klingelte. Im Display wurde der Name Egon Schneider angezeigt.

»Ja!«, sagte Pytlik erwartungsvoll.

»Es gibt ein Problem!«, begann Schneider. Im Hintergrund war das Geräusch eines sich nähernden Helikopters zu hören. Pytliks Kollege von der Schutzpolizei musste mit jedem weiteren Wort gegen den lauter werdenden Lärm ankämpfen. Der Hauptkommissar schaute hinüber zu Hermann, der nun angestrengt versuchte, seine Sinne zu schärfen. Er erwiderte Pytliks Blick kurz und skeptisch.

»Erzähl schon! Wir sind in zehn Minuten bei euch.«

»Im Moment landet gerade der Rettungshubschrauber, der den Verletzten wegbringen wird. Sieht nicht gut aus! Der Notarzt, mit dem ich gesprochen habe, meinte, es seien massive Verletzungen im Gesicht und am Kopf. Er könne keine Prognose abgeben.«

Pytlik legte die Stirn in Falten und fragte nach.

»Nicht gut! Aber das ist nicht das Problem, von dem du gesprochen hast. Richtig?«

»Es gibt eine…«

Schneider war plötzlich nicht mehr zu hören; umso deutlicher jedoch das ratternde Geräusch des Hubschraubers, der allem Anschein nach in unmittelbarer Nähe zur Landung ansetzte. Es dauerte einige Sekunden, ehe Schneider wieder da war. Nur noch schwach war der Lärm jetzt im Hintergrund zu hören.

»So, bin jetzt mal ins Auto gegangen, hat ja so keinen Sinn!«, erklärte er, bevor er fortfuhr.

»Wir haben nicht nur einen Schwerverletzten, es gibt auch noch eine Leiche!«

Schneider machte eine Pause. Er wusste, dass Pytlik und Hermann diese Nachricht wie ein Stich ins Mark treffen würde. Der Hauptkommissar haute mit der flachen Hand auf das Lenkrad und ließ zischend einige Flüche folgen. Hermann schlug mit einer Faust auf seinen Oberschenkel.

»Erzähl schon!«, bat Pytlik mit gedämpfter Stimme.

»Ihr müsst euch das gleich hier vor Ort anschauen, dann wird euch das klarer, als wenn ich das jetzt im Detail schildere; soweit wir überhaupt schon irgendwelche Details wissen! Nur so viel: Gegenüber dem Sportheim ist ein großes Sonnenblumenfeld, ich schätze: gute zwei Hektar! Der Schwerverletzte wurde allem Anschein nach im Feld attackiert und hat es mit letzter Kraft geschafft, sich bis hier auf die Straße zu schleppen. Wir haben die Spur verfolgt und circa fünfzig Meter im Feld drin eine Frau gefunden. Tot! Genau so übel zugerichtet wie der Mann! Beide etwa Mitte oder Ende 30, würde ich schätzen. Noch nicht identifiziert!«

»Was haben die da im Feld gemacht?«, ging Hermann dazwischen.

»Weiß ich nicht!«, antwortete Schneider und gab weitere Informationen preis.

»Hier war aber gestern – bitte nicht wundern, dass aktuell die Hölle los ist! – großes Public Viewing. Mir wurde gesagt, es sollen um die 2.000 Leute gewesen sein. Ich vermute, die beiden haben sich auf ein Schäferstündchen im Korn… äh Sonnenblumenfeld getroffen; so sieht es zumindest aus. Die Frau war nur spärlich bekleidet.«

Pytliks Gedanken kreisten.

»Ihr müsst unbedingt…«

Schneider unterbrach ihn selbstbewusst.

»Die Ortsverbindung nach Steinbach haben wir bereits blockiert, auch aus dem Dorf kommt niemand mehr hier hoch. Das Feld wird gerade abgesperrt. Ich habe bereits mit den Kollegen der Spurensicherung in Coburg gesprochen. Der Fuchs war natürlich wieder sehr erfreut, kannst du dir ja vorstellen! Justus weiß auch Bescheid, ist auf dem Weg! Die Woche fängt leider beschissen an!«

Pytlik war einigermaßen beruhigt, dass Schneider vor Ort das Wichtigste bereits veranlasst hatte. Er beschleunigte, als sie den Ortsausgang in Förtschendorf passiert hatten.

 

***

 

Das 450-Seelen-Dorf präsentierte sich an diesem Montagfrüh wie alle anderen Ortschaften und Städte in ganz Deutschland: schwarz-rot-goldene Fahnen und Fähnchen an Häusern und Autos! Weder Fahrzeuge noch Fußgänger waren in Hirschfeld unterwegs! Pytlik konnte allerdings nicht glauben, dass der Buschfunk die dramatischen Ereignisse nicht bereits von Wohnstube zu Wohnstube verbreitete.

Er bog rechts in die Heeresstraße ab, die nach einem halben Kilometer Anstieg direkt am Sportgelände des heimischen 1. FC Hirschfeld endete. Auf halber Strecke stand ein Polizeiauto am Straßenrand, ein junger Kollege hob die Kelle und Pytlik verlangsamte die Fahrt, bevor er anhielt und die Scheibe herunterließ.

»Guten Morgen! Sie können hier im Moment nicht weiterfahren! Bitte wenden Sie und nehmen Sie die Straße über Windheim!«, gab Benno Pfeifer, ein etwas untersetzter Mann mit randloser Brille und kurzgeschorenem Haar, pflichtbewusst Auskunft.

Pytlik kannte ihn flüchtig und wusste, dass er zur Mannschaft der Dienststelle in Ludwigsstadt gehörte. Egon Schneider hatte wohl um entsprechende Unterstützung gebeten. Dann holten der Hauptkommissar und Cajo Hermann ihre Dienstausweise hervor, und nach ein paar kurzen Informationen Pfeifers fuhren sie weiter.

 

***

 

»Ach, du Scheiße!«, entfuhr es Hermann, als das Auto mit den beiden Kronacher Kommissaren langsam vor dem Sportheim auf die Fläche mit den gekennzeichneten Parkplätzen rollte. Unwirklich mutete das hektische und auf den ersten Blick unübersichtliche Treiben für die Polizisten an. Pytlik hatte während der bedächtigen Fahrt durch eine Art Spalier aus umherlaufenden Personen, abgestellten Fahrzeugen, Schank- und Toilettenwagen und Essensbuden nicht einmal den Kollegen Büttner wahrgenommen, der mit deutlichem Winken auf sich aufmerksam machen wollte. Der Hauptkommissar zog den Zündschlüssel ab und schaute Hermann besorgt an.

»Dann wollen wir mal!«

Pytlik und Hermann begrüßten Justus Büttner und Egon Schneider mit einem verhaltenen »Guten Morgen!«. Anschließend bat Schneider alle drei mit einem kurzen Kopfnicken, ihm zu folgen. Hinter dem Sportheim war das immer schwächer werdende Zischen der Rotorblätter zu hören. Während der wenigen Meter, die Pytlik und Hermann den beiden Kollegen hinterherliefen, machte sich der Hauptkommissar nun ein erstes Bild von den Gegebenheiten.

Es war viertel nach sieben am Morgen, und das Männerquartett stand nun zwischen »Peter’s Pizza-Express« und den geöffneten Türen des Wagens mit den mobilen Sanitäranlagen, um den Blick über den Fußballplatz schweifen zu lassen.

»Da!«, begann Schneider, der zuvor mit Justus Büttner abgesprochen hatte, dass er über den aktuellen Stand der Dinge berichten würde. Er zeigte auf den Rettungswagen des Roten Kreuzes, der entlang der Außenlinie des Spielfeldes in Richtung Mittelkreis fuhr. Am roten Hubschrauber wurden bereits die Vorkehrungen getroffen, um den schwerverletzten Mann zügig abzutransportieren.

»Man wird ihn vermutlich nach Leipzig fliegen.«

Schneider machte eine Pause und wischte ein paar Mal auf seinem Handy. Dann hielt er Pytlik und Hermann das Telefon vor die Augen.

»So sieht er aus!«

Die beiden Kommissare verzogen das Gesicht und sagten zunächst nichts. Schneider nickte so, als hätte er genau diese Reaktion erwartet. Dann drehte er sich um und zeigte mit ausgestrecktem Arm in östliche Richtung, direkt in das Feld, das mit der aufgehenden Sonne im Hintergrund einen Anblick bot, der nicht vermuten ließ, dass hier ein grausames Verbrechen begangen worden war. Ein junger Schutzpolizist rammte mit einem Hammer eine Eisenstange am vorderen rechten Rand des Feldes in den Boden, die er anschließend mit dem Absperrband umwickelte.

»Dort auf der Straße, wo die Pylonen stehen«, begann Schneider dann erneut, »lag der Mann, als er von Klemens Schnappauf, eine Art Hausmeister hier im Verein, gefunden wurde. Das war etwa kurz nach sechs, dazu aber gleich noch mehr! Wir haben dann versucht herauszufinden, wo im Feld der Mann gelegen haben könnte. Die Spur war nicht schwer nachzuverfolgen. Etwa fünfzig Meter geradeaus im Feld haben wir die Frau entdeckt. Sie war bereits tot! Weder den Mann noch die Frau konnten wir bisher identifizieren. Wir überprüfen gerade schon die ganzen Autos, die hier noch stehen und versuchen, die Halter zu erreichen. Vielleicht haben wir ja Glück!«

»Müssen die alle hier sein?«, wollte Pytlik wissen, der sich das Treiben unten auf dem Sportplatz anschaute und noch nicht wusste, wie und wo er mit Ermittlungen anfangen sollte, wenn ein gutes Dutzend Menschen hier mit Aufräumarbeiten beschäftigt war.

»Wadd öschd moll obb, bis die gleich alla kumma und ihra Budn obbhuhln!«, zeigte sich Büttner, dem man die Feierlichkeiten des Vorabends nur wenig anmerkte, besorgt. Pytlik verließ sich auf die Einschätzung seines Kollegen und instruierte ihn entsprechend.

»Die sollen alle informiert werden! Wer aktuell noch nicht hier ist, kann heute ab…« – er schaute zum Leiter der Schutzpolizei, der zunächst die Schultern zuckte, dann aber eine Prognose wagte. Dass Gerhard Fuchs mit seiner Mannschaft erst die Spuren sichern müsse und bald vor Ort sein sollte, wusste Büttner und dass das Team kaum vor dem Nachmittag abrücken würde.

»Gut! Dann alle informieren, dass hier vor fünfzehn Uhr niemand kommen kann, der jetzt nicht schon hier ist. Die, die schon da sind, sollen zügig ihre Arbeit machen und dann verschwinden. Der LKW mit der Videowand scheint ja bereits abfahrbereit zu sein.«

Tatsächlich schien es so, dass der Truck, der den sieben mal fünf Meter großen Bildschirm transportierte, sich jeden Moment in Bewegung setzen würde.

»Möchtest du jetzt die Leiche im Feld anschauen?«, wollte Schneider von Pytlik wissen. Der Hauptkommissar überlegte einen Augenblick, während er sah, wie die Trage mit dem schwerverletzten Mann hinten in den Helikopter geschoben wurde. Dann wandte er sich an Schneider.

»Ich warte, bis Fuchs mit seinen Leuten hier ist. Ich möchte mit diesem Hausmeister sprechen. Schnappauf?«

»Klemens Schnappauf!«, bestätigte Schneider.

»Ich bring dich zu ihm.«

 

***

 

Pytlik betrat den Gastraum des Sportheims. Hier wirkte alles sehr aufgeräumt, keine Spur von Party am Vortag. An einem Tisch saß mit einem Handtuch auf den Schultern ein Mann, der laut und aufgebracht telefonierte. Der Hauptkommissar machte sich mit einem kurzen Handzeichen bemerkbar und blieb zunächst an der Theke des schmucken Saals stehen. Er schaute sich etwas um, nachdem sein Hereinkommen mit einer Geste erwidert worden war, die so viel heißen sollte wie »bin gleich bei Ihnen!«.

Pytlik ließ seinen Blick über eine Vielzahl von Pokalen und Erinnerungsfotos wandern, gleichzeitig lauschte er aber gezwungenermaßen dem Gespräch, das nun seinen Höhepunkt erreichte.

»Dann, wenn das eure Einstellung ist, dass die einen hier immer nur für das Feiern zuständig sind und die anderen am nächsten Tag antanzen können, um alles wieder aufzuräumen, dann habt ihr mich hier zum letzten Mal gesehen! Und jetzt schau bloß, dass du deinen Arsch hierher bewegst! Der FC war Veranstalter und anscheinend gibt es neben dem verletzten Mann auch noch eine Tote! Also…!«

Klemens Schnappauf ließ sein Mobiltelefon auf den Tisch fallen, nahm das Handtuch und wischte sich Gesicht, Hände und Arme noch einmal ab. Dann gingen die beiden Männer aufeinander zu und begrüßten sich.

»Entschuldigen Sie bitte!«, begann Schnappauf, der äußerlich ein naher Verwandter Pytliks hätte sein können, nachdem er dem Hauptkommissar die Hand geschüttelt hatte. Das weiße Handtuch zeigte noch schwache Blutspuren. Vermutlich von der Rettungsaktion, dachte sich Pytlik.

»Es ist halt immer das Gleiche! Bei uns früher hätte es das nicht gegeben! Da haben alle an einem Strang gezogen.«

Dann winkte er ab.

»Aber gut! Das ist nicht Ihr Problem!«

Pytlik war überrascht, dass der Mann relativ gelassen mit den seiner Meinung nach viel gravierenderen Ereignissen umging, die draußen geschehen waren.

»Ich kann Sie durchaus verstehen, Herr Schnappauf! Wahrscheinlich ein Generationenproblem!«

Pytlik hielt kurz inne. Er schaute seinen Gesprächspartner mit ernstem Blick an. Der wiederum wusste, worum es nun gehen sollte.

»Aber ich gehe davon aus, dass Sie mit mir über ganz andere Dinge reden wollen.«

Pytlik nickte.

»Setzen Sie sich doch bitte, Herr Hauptkommissar! Möchten Sie etwas trinken? Ich habe auch einen Kaffee gekocht.«

Pytlik war aufgestanden und hatte beobachtet, wie am Hubschrauber die Vorbereitungen für den Start getroffen wurden. Als er zurück an den Tisch ging, kam Klemens Schnappauf mit einem Tablett wieder herein, auf dem eine große Kanne und zwei Tassen sowie Zucker und Milch standen. Er goss beiden ein, dann setzte er sich gegenüber dem Hauptkommissar.

»Was möchten Sie wissen?«

Pytlik rührte mit dem Löffel in seiner Tasse und lehnte sich zurück an die Sitzbank.

»Darf ich zunächst fragen, wie alt Sie sind und was Sie beruflich machen?«

»Ich bin jetzt 65! Habe vor zwei Jahren die Möglichkeit genutzt, in Frührente zu gehen und war bis dahin Produktionsleiter in einem metallverarbeitenden Betrieb. Ich bin in Hirschfeld geboren, wohne seit meiner Geburt hier und bin seit vielen Jahren im Verein; zwei Jahrzehnte war ich auch Vorstandsmitglied. Ich kümmere mich mittlerweile hauptsächlich um Instandhaltung und die Pflege der Anlage.«

»Also, eine Art Mädchen für alles!«, stellte Pytlik mit leicht amüsiertem Unterton fest.

Schnappauf lächelte etwas gequält zurück.

»Waren Sie beim Public Viewing gestern auch dabei?«

»Ja!«, erwiderte Schnappauf.

»Nur als Zuschauer oder hatten Sie Aufgaben zu erledigen?«

»Wir haben im Vorstand sehr kontrovers über diese Veranstaltung diskutiert. Klar, im Nachhinein hat sich das bei etwa 2.000 Leuten, die hier waren, für uns wieder mal gerechnet. Aber ich und die Mehrheit im Vorstand wollten das Sportheim dafür nicht geöffnet haben. Somit lag rein von der Organisation her alles bei der ›Abteilung Jugend‹, wie ich die jüngeren Leute bei uns immer nenne. Nicht, dass Sie das falsch verstehen! Die sind auch engagiert, aber der Fokus ist bei denen manchmal etwas anders. Die denken viele Dinge einfach nicht zu Ende! Es hat mich interessiert, wie alles funktionieren würde und natürlich habe ich hier und da ein Auge darauf geworfen, dass alles reibungslos abläuft. Wenn Sie so wollen, war ich als Zuschauer hier – ja!«

»Gut!«

Pytlik öffnete sein Notizbuch und drückte mit dem Daumen einmal kurz oben auf seinen Kugelschreiber.

»Erzählen Sie! Von gestern Abend und vor allem davon, was sich vorhin hier ereignet hat! Lassen Sie sich Zeit!«

Die scheinbare Unbekümmertheit und Gleichgültigkeit, die Klemens Schnappauf bisher vermittelt hatte, änderten sich nun. Der Mann mit dem kurzen, grauen Haar, der ein schwarzes T-Shirt mit dem roten Vereinslogo auf der Brust trug, legte sein Kinn auf die sich einander stützenden Fäuste und begann mit ernstem Blick zu berichten.

»Als der Götze das Ding reingemacht hat, dachte ich, es wäre ein Erdbeben. Der Boden hat richtig vibriert. Plastikbecher mit Bier flogen aus den Händen in die Menge. Aber das war alles egal! Alle lagen sich in den Armen. Da haben teilweise Leute miteinander gejubelt, von denen ich weiß, dass sie schon jahrelang nicht mehr miteinander reden. Mein Nachbar war hier! Der hat in seinem ganzen Leben noch kein Fußballspiel angeschaut! Aus allen Ortschaften waren Leute hier und es wurde natürlich auch ordentlich gesoffen. Aber alles dennoch sehr friedlich. Nach meinen Informationen hat es keine Schlägereien oder sonst irgendwie Stress gegeben.«

Schnappauf trank einen Schluck Kaffee. Pytlik wollte ihn nicht unterbrechen.

»Das Spiel war um 20 vor zwölf zu Ende. Es hatte bereits zu Beginn der Verlängerung eine Durchsage gegeben, dass unabhängig vom Spielausgang das Gelände bis spätestens 1:00 Uhr zu räumen wäre und nach Mitternacht kein Ausschank mehr stattfinden würde. Die, die noch fahren konnten oder gefahren wurden, machten sich dann ohnehin schnell auf und davon, um einen Autokorso durch die ganze Gemeinde zu starten. Kurzum: Ich blieb bis circa gegen halb eins und habe eine Art Kontrollrunde gedreht, einfach noch mal nach dem Rechten gesehen. Die Veranstaltung hat sich dann relativ schnell aufgelöst, ein Kollege hat mir um zwei Uhr eine SMS geschickt, dass er jetzt die Lichter ausmacht und nach Hause geht. So weit, so gut! Naja, und dann halt heute Morgen der Schock!«

Schnappauf senkte kurz den Kopf und zuckte mit den Schultern.

»Erzählen Sie bitte so genau wie möglich! Jedes noch so kleine Detail kann uns vielleicht weiterhelfen«, bat Pytlik.

Schnappauf nickte, dann setzte er seinen Bericht fort.

»Ich bin um kurz vor sechs von zu Hause los! Über die Wiesen da unten bin ich in fünf Minuten hier, da brauche ich nicht das Auto; außer, ich habe etwas zu transportieren. Ich wollte früh als Erster hier sein, einfach, um gleich noch mal eine Kontrollrunde zu drehen. Ich wusste, dass der LKW, der den Anhänger mit der Videowand abholen wollte, auch sehr früh kommen würde. Der muss morgen schon wieder in Frankfurt stehen für den Empfang der Mannschaft in der Stadt.

Ich komme also hier an, schließe das Sportheim auf, mache die Kaffeemaschine an und gehe dann zunächst runter in den Geräteschuppen, Schubkarre, Besen und Schaufel holen. Vor dem Toilettenwagen hatte ich schon ein paar zerbrochene Gläser und Flaschen gesehen, die wollte ich gleich wegmachen. Draußen auf dem Parkplatz standen noch einige Autos. War ja klar, das nicht mehr alle noch fahren konnten! Ich laufe also am Sportheim entlang nach vorne, als ich plötzlich meinen Augen und Ohren zunächst nicht traue.«

Klemens Schnappauf hielt kurz inne. Nun kam ihm noch einmal deutlich in Erinnerung, was dann geschah.

»Erst dachte ich, dass es ein Reh sein könnte, da ich es nur leicht habe rascheln hören; es war ja ansonsten totenstill! Ich war auf jeden Fall sofort hellwach, als es plötzlich ganz schnell ging. Der Körper rutschte an der kleinen Kante des Feldes zur Straße hinab, fiel dann etwas auf die Seite und blieb regungslos liegen. Ich weiß nicht mehr, was ich in diesem Moment gedacht habe. Ich vermute, alles, was ich dann gemacht habe, war Intuition, Verzweiflung, Angst, was Falsches zu tun! Keine Ahnung!«

Klemens Schnappauf nahm das Handtuch von der Lehne des Stuhls neben ihm und fuhr damit noch einmal langsam über seine Arme, als wollte er sich die Erinnerungen endgültig wegwischen. Pytlik sagte nichts. Er ließ seinem Gegenüber Zeit.

»Ich bin zu der Person hingelaufen und sah sofort, dass sie blutüberströmt war. Überall war Blut! Der ganze Kopf sah aus, als wäre ein Ventil geplatzt und das Blut wäre herausgeströmt! Das eine Auge hing irgendwie ganz unnatürlich, das andere war komplett zugeschwollen! Die Wangen…«

Wieder stoppte Schnappauf, sein Blick war eingefroren und ging an Pytlik vorbei ins Leere.

»Als hätte jemand ganz massiv mit einem schweren Gegenstand darauf eingeschlagen!«

Da Klemens Schnappauf wieder innehielt, fragte Pytlik dazwischen.

»Konnte der Mann etwas sagen? Haben Sie mit ihm gesprochen?«

Schnappauf schüttelte zunächst den Kopf und hob dann zweimal die Schultern.

»Ich weiß es nicht! Wahrscheinlich habe ich versucht, ihn zu beruhigen! Oder mich! Dann ging alles schnell! Die Atmung des Mannes überschlug sich förmlich! Er röchelte, winselte, es hörte sich nach Jammern eines kleinen Kindes an, aber ganz schwach! Er packte mit letzter Kraft mein Handgelenk so, als ob er mir etwas sagen wollte! Dann kollabierte er, wurde ohnmächtig!«

Schnappaufs Stimme wurde hektischer und Pytlik merkte, dass der Mann selbst nun sehr angestrengt war. Aber er erzählte weiter.

»Einen Moment lang war ich wie in einer Schockstarre! Ich wusste nicht, was ich zuerst tun sollte. Mein Handy lag im Sportheim, aber ich wollte den Mann ja auch nicht alleine zurücklassen. Und dann sah ich plötzlich, dass sich von rechts etwas näherte. Ich habe nur geschrien: ›Ruf Notarzt und Rettungswagen! Beeil dich! Er stirbt!‹ Dann habe ich den Verletzten noch etwas nach vorne auf die Straße gezogen, ganz vorsichtig. Ich habe Puls und Atmung überprüft und dann einfach nur noch gedacht: Erinnere dich an den Ersthelferkurs! Falsch machen kannst du jetzt eh nichts mehr!«

»Wenn ich hier kurz unterbrechen dürfte«, ging Pytlik dazwischen. Klemens Schnappauf nickte und wirkte dabei leicht abwesend.

»Es kam Ihnen also jemand zu Hilfe. Verstehe ich das richtig?«

»Ja, Gott sei Dank! Es war einfach nur so, dass ich in dieser Situation nicht alleine sein wollte. Der Oli hat dann den Notruf abgesetzt, keine fünf Minuten später – schätze ich – waren die Sanitäter da, kurz danach der Notarzt. Ich weiß nur noch, dass ich wie in Trance Herzmassage gemacht und immer wieder beatmet habe. Ich war völlig am Ende, als die Sanitäter übernommen haben und irgendwann habe ich gehört, dass sie ihn wieder hatten. Das hieß wohl, er atmete wieder! Ich musste fast heulen, so glücklich war ich.«

Einige Sekunden fiel nun kein weiteres Wort. Pytlik schrieb ein paar Zeilen in sein Notizbuch; er wollte Schnappauf etwas Pause gönnen. Dann hakte er noch einmal nach.

»War der Mann danach noch einmal ansprechbar?«

»Nein! Ich war auch nicht mehr die ganze Zeit bei ihm, aber der konnte sicherlich nichts mehr sagen!«

»Wie alt schätzen Sie ihn?«

»Schwer zu sagen! Ich denke, so Mitte bis Ende 30! Kann mich aber auch täuschen, denn das Gesicht war ja – wie gesagt – ziemlich entstellt!«

Pytlik nickte mitleidig.

»Die andere Person – Oli?«

»Oliver Baier!«, antwortete Schnappauf.

»Er fährt bei fast jedem Wetter mit dem Fahrrad auf die Arbeit. Der arbeitet in Steinbach im Rathaus. Wie gesagt, in diesem Moment hat es mir schon geholfen, dass er die Rettungskräfte alarmiert hat.«

»Wissen Sie, ob der noch hier ist?«

Klemens Schnappauf schüttelte den Kopf.

»Der Oli ist dann irgendwann weitergefahren. Für den gab es hier ja nichts mehr zu tun, und ich glaube, den hat das auch ziemlich mitgenommen. Aber wenn Sie ihn auch noch befragen wollen, einfach mal in der Gemeinde anrufen.«

Pytlik nickte dankbar und überlegte kurz. Er wollte nun zunächst nach draußen gehen und sich die Leiche anschauen.

»Gut, Herr Schnappauf! Vielen Dank bis hierhin! Falls noch Fragen auftauchen, müssten wir noch mal auf Sie zukommen. Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte…«

Schnappauf wollte noch etwas wissen.

»Stimmt es, dass da im Feld auch noch eine tote Frau liegt?«

Der Hauptkommissar gab sich erst gar keine Mühe, die Frage mit einem Pokerface abzutun.

»Allem Anschein nach ist hier in der letzten Nacht etwas gründlich schiefgelaufen.«

Pytliks Blick beantwortete Schnappaufs Frage eindeutig. Dann stand er auf und ging.

 

***

 

Vor etwas mehr als einer Stunde hatte Egon Schneider den Hauptkommissar aus dem Schlaf gerissen. Nun stand Pytlik am Anfang einer Ermittlung, in der es um schwere Körperverletzung und möglicherweise einen Mord ging. Nachdem er das Sportheim verlassen hatte, telefonierte er zunächst mit seiner Lebensgefährtin. Franziska hatte an diesem Tag einen wichtigen Termin im Büro und deswegen in ihrer eigenen Wohnung in Pressig übernachtet, nachdem sie Justus Büttner noch nach Hause gefahren hatte.

»Ja, das ist wirklich das Letzte, das ich heute gebrauchen kann. Aber es ist nun mal so! Wir sind gerade noch dabei, alles ein bisschen zu sortieren. Ich mach jetzt mal Schluss, hier wird es gleich wieder laut werden. Ich melde mich später!«