Tannenblut - Klaus-Peter Wolf - E-Book

Tannenblut E-Book

Klaus-Peter Wolf

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Beschreibung

Hände hoch! Oder lieber doch den Kopf einziehen? Und auf keinen Fall etwas schlucken, von dem man nicht genau weiß, was es ist! Niemand kann sich sicher sein, der in der besinnlichen Weihnachtszeit auf das Fest der Liebe wartet. Denn das Böse lauert überall – mal im roten Kostüm, im Dunkel beschneiter Tannen, aber vor allem im Eis gebrochener Herzen. Lassen Sie sich fesseln: Unsere Autoren halten heiter-skurrile, berührende und bittersüße Präsente für Sie bereit – Krimi-Kurzgeschichten, ohne die Ihnen in der Weihnachtszeit etwas fehlen würde!

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Die Geschehnisse, sämtliche Handlungen und Charaktere – außer den historisch gesicherten – sind frei erfunden.Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.de© 2018 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8350-7

Hoch oben in den Tannenspitzen Gaby Kaden

Tödliche Schwestern

Langsam zog das schmale Ruderboot aus Richtung Küste kommend seine Bahn durch die schwarze Nacht. Nebelschwaden hingen tief über dem Wasser des kleinen Flüsschens Harle. Aus dem Nebel rieselte ganz feiner Schneegriesel, legte sich wie Puderzucker über die Landschaft. Niemand war zu sehen. Die Uferpromenaden rechts und links schienen menschleer, wie ausgestorben. Kein Wunder, um diese Uhrzeit. Die Menschen schliefen nachts um vier in dem kleinen Küstenort. Nur zwei Personen nicht. Die eine schlug die Ruder sanft in das eiskalte Wasser, leise, um so wenig wie möglich Geräusche zu verursachen. Die andere peilte am Bug des Bootes den Weg durch den Nebel, gab Kommando: „Mehr rechts, mehr links, so ist es gut …, weiter so …“

Ihr Ziel war klar. Der „Schwimmende Weihnachtsbaum“, ein weitbekanntes und beliebtes Wahrzeichen im Hafen von Carolinensiel. Sie wollten ein Exempel statuieren. Alle sollten es sehen, alle sollten ihn sehen, irgendwann. Nicht heute, nicht morgen, aber spätestens, wenn der Baum im Januar wieder abgebaut werden würde. Sie waren zu zweit im Boot und … nein, zu dritt! Zwischen den beiden Frauen lag ein Mann! Tot! Erstochen mit sechs Messerstichen. Drei für jede, so hatten sie es sich ausgemalt, so hatten sie es auch ausgeführt! Neben dem toten Mann waren fein säuberlich ein Seil und eine Zange drapiert. Mehr brauchten sie nicht.

Lange hatten sie sich überlegt, wie er zu bestrafen wäre. Erbarmungslos sollte es sein, so erbarmungslos, wie er mit ihnen umgegangen war. Grausam, so grausam, wie er zu ihnen gewesen war. Mitleid hatten sie keines, so wie er auch mit ihnen nicht!

Das Letzte, was sie jetzt noch tun mussten, war, ihm den rechten Zeigefinger abzutrennen. Den Finger, mit dem er ihnen im Taschenrechner seines Handys immer wieder vorgerechnet hatte, welch enorme Rendite die Geldanlage bringen würde. So hatten sie es beschlossen, so musste es ausgeführt werden.

Sie waren auf diesen Anlageberater, der vor einiger Zeit bei ihnen auf dem Hof aufgetaucht war, hereingefallen und nun arm wie die Kirchenmäuse. Alles Ersparte war verloren, ihr Hof mit hohen Hypotheken belastet. Lange würden sie dort nicht mehr wohnen können. Aber das alleine war nicht ihr Problem. Sie wollten heiraten, hatten im Internet zwei Männer kennengelernt. Eine andere Möglichkeit gab es für die beiden Frauen nicht. Zu viel war auf dem Kartoffelhof in Ostfriesland zu tun. Das Internet darum eine ideale Plattform, auch ohne an Tanz- oder anderen Veranstaltungen teilzunehmen, einen Mann kennenzulernen. Cludius und Jakob hießen die beiden Brüder, stammten von einem Apfelhof aus dem „Alten Land“ und wurden von ihren Eltern nach Apfelsorten benannt.

Welch ein Zufall!

Aber nun war alles vorbei. Würden die Männer wirklich zwei bettelarme, nicht mehr ganz junge Frauen heiraten?

Das Seil hatten sie zu einem Galgenstrick geknotet und dem Mann um den Hals gelegt. Daran sollte er hängen. Am „Schwimmenden Weihnachtsbaum“, der am Vortag im Museumshafen aufgestellt worden war, wollten sie ihn hochziehen und dort hängen lassen, bis man ihn im Januar finden würde. Eiskalt hatten sie es geplant. Eiskalt wie das Wasser der Harle, durch das sie nun glitten und das kurz davor war, sich in Eis zu verwandeln.

Jede der beiden Frauen wusste, was zu tun war. Sie kannten sich aus, waren Hiesige. Bintje und Linda, von den Eltern nach Kartoffelsorten benannt.

Welch ein Zufall!

„Bintje, gleich sind wir da, ich übernehme die Ruder und treffe dich am Baum.“

Die angesprochene Bintje nickte stumm, formte mit den Lippen: „Okay, Linda!“ Mehr kam nicht, denn Bintje war stumm. Im Hafen angekommen, sprang sie aus dem Boot, lief geduckt zielstrebig auf einen Sicherungskasten zu. Mit gekonntem Griff war nun auch der Hafen, der gerade noch weihnachtlich beleuchtet strahlte, in tiefes Schwarz getaucht. Linda legte das Boot am Ponton unter dem schwimmenden Baum an und machte es fest.

Sie verstanden sich blind, selbst in der Dunkelheit saß jeder Handgriff. Kurz darauf sprang Bintje wieder zurück ins Boot.

Sie half ihrer Schwester, den toten Körper des Mannes aufzurichten, zog den Strick enger um seinen Hals und klopfte Linda dann auf die Schulter. Die verstand, legte die tote Hand auf die Bank des Ruderbootes und versuchte sie zu spreizen. Dann nahm Linda die Zange, um ihm den Zeigefinger abzutrennen. Aber das war inzwischen gar nicht so einfach. Bedingt durch die Kälte – oder hatte schon die Leichenstarre eingesetzt? – ließen sich die einzelnen Finger nicht mehr wirklich bewegen. So kniff sie dem Toten damit kurzerhand nur das vordere Glied des rechten Zeigefingers ab und legte es in eine Plastiktüte. Das Ganze ging recht blutlos vonstatten, denn der Mann war schon seit einigen Stunden tot, sein Blutkreislauf damit auch.

„Den Finger entsorgen wir später!“, bestimmte Linda mit Blick auf ihre Schwester und sprang mit einem Satz aus dem Boot auf den Ponton unter dem Baum. Bintje warf ihr ein Seilende zu, Linda fing es blind auf. Leichtfüßig kletterte sie zum Baum, nahm das Seil zwischen die Zähne und angelte sich am Stamm des Weihnachtsbaumes hoch. Flink wie eine Katze. Konnte sie im Dunkeln sehen?

Oben in luftiger Höhe angekommen, warf sie das Seil um einen dicken Ast und pfiff leise durch die Zähne.

Das war das Signal für Bintje. Die zog am Seil und gab ihrer Schwester somit das Zeichen, ebenfalls bereit zu sein. Nun ging es los.

Oben zog Linda am Ende des Seiles, unten schob Bintje den toten Körper nach und kletterte hinterher. Fast lautlos ging das vonstatten. Die beiden Frauen arbeiteten stumm. Eine oben, die andere von unten, bis sie fast auf gleicher Höhe waren. Zwischen ihnen nur noch der tote Mann.

Kein Laut war von ihnen zu hören. Nur ab und zu das Knacken eines Zweiges, der dem Körper im Wege war.

Knapp eine halbe Stunde dauerte es, dann war der Tote an dem Platz, den die Frauen für ihn vorgesehen hatten.

Hoch oben in den Tannenspitzen.

Linda befestigte das Seil noch an den Ästen, dann kletterte sie hinter ihrer Schwester her nach unten.

Im Boot angekommen, klatschten die beiden Frauen sich zufrieden ab. Bintje stumm, Linda mit einem bekräftigenden: „Ja!“

Das abgetrennte Fingerglied lag noch immer auf der Bank im Boot, Bintje nahm die Plastiktüte und steckte sie in ihre Hosentasche.

„Bintje, morgen und jeden Tag des Wintermarktes werden wir hier sein und wissen, dass das Schwein dort oben hängt. Nur wir!“

Dann deklamierte sie leise:

„Hoch über den Tannenspitzen sah ich eine Leiche blitzen!“

Linda verfiel in ein böses Lachen. Bintje tat es ihr mit unartikulierten Lauten nach. Aber ebenso grausam.

Dann ruderten sie den Weg zurück, so, wie sie gekommen waren.

Marie und der Weihnachtsbaum

Es war viel los im Museumshafen von Carolinensiel. Der kleine Wintermarkt mit dem „Schwimmenden Weihnachtsbaum“ in der Mitte des Hafens lockte wie jedes Jahr Tausende von Gästen an.

Am Vortag hatte man den Baum unter dem Applaus begeisterter Zuschauer aufgestellt und die Lichterketten befestigt, heute begann nun der kleine Winter- und Weihnachtsmarkt, der bis in den Januar dauern sollte. So lange, bis die Weihnachtsferien zu Ende waren.

Die Holzhütten rund um den kleinen Hafen waren gut besucht. Es gab allerlei an alkoholischen wie auch nicht alkoholischen Getränken. Ady mit seiner Fischbude war da, außerdem ein Bratwurststand, kleine Geschenkartikelstände und mehr. Auch ein Stand mit warmen Mützen und Schals war wie jedes Jahr vor Ort. Natürlich gab es heute, am Eröffnungswochenende, wieder die begehrten Prülkers, eine ostfriesische Hefeteigspezialität, die von zwei Frauen der Dorfgemeinschaft zubereitet wurden. Lecker und heiß begehrt.

Gäste wie auch Einheimische bummelten durch den Hafen. Darunter auch der Clan um die beiden Kommissare der Wittmunder Kriminalpolizei, Tomke und Hajo, die mit Oma Jettchen und Tant’ Fienchen wie auch ihrem Kollegen Carsten Schmied mit seiner Familie vertreten waren.

Carsten, Tomke und Hajo hatten auf dem Kommissariat in Wittmund zwar Rufbereitschaft, aber was sollte heute schon passieren? Heute war das erste Weihnachtsmarktwochenende. Mit vielen Einheimischen standen sie an einem der Stände, an denen es Glühwein – mit und ohne – wie auch andere Heißgetränke gab. Direkt nebenan hatte sich Ady mit seiner Fischbude platziert, bei dem sich Marie, Carstens Tochter, gerade eine riesige Portion Kibbeling geholt hatte.

Nun stand das Mädchen an einem der hohen Bistrotische und schob die kleinen, gebackenen Fischteile in den Mund. Was die Erwachsenen um sie herum erzählten, interessierte Marie nicht. Sie schaute sich kauend die Leute und natürlich den „Schwimmenden Weihnachtsbaum“ mitten in der Harle an. Er war so gewaltig groß, über und über mit Lichtern bestückt, die sich im Wasser spiegelten.

Dann aber stutzte das Mädchen. Da war doch was, ganz oben im Baum. Ein paar Zweige wackelten so komisch. Fest richtete sie ihren Blick darauf.

„Mama“, kauend zupfte sie am Ärmel ihrer Mutter. „Mama, da im Weihnachtsbaum ist etwas!“

Marie schubste Michaela fester an und deutete nach oben. Die schaute zu dem riesigen Baum hoch, fixierte ihn einen Moment und schüttelte den Kopf. „Nein, mein Schatz, da ist nichts, das war bestimmt der Wind.“

„Doch, ganz sicher! Ich habe es genau gesehen. Die Zweige da in der Mitte, die haben ganz doll gewackelt. Nur die, andere nicht!“ Marie ließ nicht locker und zupfte ihre Mutter nochmals am Ärmel. „Da! Jetzt schon wieder!“ Das Mädchen sprang von einem Fuß auf den anderen. Michaela schüttelte den Kopf. „Was du wieder siehst, Kind!“

„Dann sage ich es eben Papa, der ist schließlich bei der Polizei und wird sicher nachsehen. Papa, Papa!“

„Warte, warte, Marie, iss doch erst mal deine Kibbelinge, die werden doch kalt!“

Aber Marie war nicht zu bremsen. Sie drängte sich durch die Menschentraube hindurch bis zu ihrem Vater und meinte energisch:

„Da musst du gleich mal nachschauen, da oben!“ Sie zeigte auf den Baum.

Carsten verstand nicht. „Was ist denn los, Marie?“

„Der Baum wackelt dort oben ganz doll. Schau doch mal.“

Auch Carsten fixierte den Baum und konnte nichts entdecken. „Was meinst du denn, Marie? Ich kann nichts erkennen.“

Marie stöhnte laut auf.

„Dass ihr Erwachsenen nie was merkt. Guck doch mal genau hin!“ Wieder zeigte sie auf den Baum. Aber nun war tatsächlich nichts zu sehen. Es war windstill, der Baum rührte sich nicht. Murrend zog sich das Mädchen wieder zu ihrem Teller mit Kibbelingen zurück, den Baum aber ließ sie nicht aus den Augen.

*

Bintje und Linda waren ebenfalls im Hafen. Auch der Blick der beiden ging ab und an zum Baum, immer von einem spöttischen Grinsen begleitet. Bintje schubste ihre Schwester an und deutete auf einen Stand, vor dem sich schon eine größere Schlange gebildet hatte.

„Willst du?“, fragte Linda. Bintje nickte. Die beiden stellten sich an und warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren.

Alle Weihnachtshütten im Hafen waren gut besucht. Überall standen größere und kleinere Menschengruppen davor, schnackten und hielten Becher mit Glühwein, Punsch oder anderen hochprozentigen Sachen in der Hand. Was nicht nur der Kälte geschuldet war.

Anke und Antje, die Frauen der Dorfgemeinschaft, hatten alle Hände voll zu tun, um die Schlange vor ihrem Prülkerstand zu bewältigen. Anke buk im Akkord das leckere Hefegebäck, das Antje dann an die Gäste verkaufte.

Linda und Bintje waren inzwischen fast an der Reihe. Bintje stieß ihre Schwester an und zeigte mit den Fingern an, dass sie zwei Stück wolle. „Ich auch zwei!“, bestätigte Linda und zog ihre Geldbörse aus der Hosentasche. Das Münzfach war bis auf zwei Euromünzen leer. „Hast du noch Kleingeld?“, wollte sie von Bintje wissen. Die zuckte mit den Schultern und griff in ihre Hosentasche, zog ein benutztes Taschentuch heraus, kramte weiter, zerrte dann mit Schwung einen Plastikbeutel heraus und suchte in der Tiefe der Tasche nach ein paar Münzen. Dann zählte sie zwei Euro ab, gab sie ihrer Schwester und steckte alles andere wieder in die Tasche. Doch etwas war nun anders. Bintje stutzte, der Plastikbeutel war leer. Erschrocken schaute sie sich um. Bückte sich, suchte den Fußboden ab. Die Menschen in der Schlange hinter ihr allerdings schoben sie weiter, sodass Bintje ins Stolpern kam und gegen ihre Schwester stieß.

„Was ist denn? Hast du was verloren?“, wollte diese wissen. Bintje formte etwas mit den Lippen, doch Linda verstand nicht. Sie war an der Reihe, bekam ihr warmes Hefegebäck, zahlte und zog Bintje mit sich.

Als sie etwas abseits, in ein paar Metern Entfernung, standen, jede mit einem Prülker in der Hand, deutete Bintje auf den leeren Beutel und schaute ihre Schwester fragend an. Für Zeichensprache fehlte ihr eine freie Hand. „Weg!“, formulierte sie darum mit den Lippen stumm. „Der Finger ist weg!“

„Wo hast du ihn?“, wollte Linda entsetzt wissen. Bintje allerdings zuckte nur mit den Schultern.

Es war viel zu dunkel und auch zu voll um den Stand herum, um nach dem Inhalt des Beutels zu suchen. Außerdem standen die Menschen dicht gedrängt zwischen den Ständen. Hier und heute hatten die beiden keine Chance, den Finger zu finden.

*

Marie hatte ihre Portion Kibbelinge aufgegessen, die Glühweinbecher der Erwachsenen waren leer, die Gruppe zog weiter. Oma und Tant’ Fienchen mittendrin. Immer wieder fixierte das Mädchen den Weihnachtsbaum. Sie war sich sicher, dass ganz oben etwas war. Aber keiner glaubte ihr. Fienchen, die seit Jahren kaum Alkohol trank, hatte sich heute einen Punsch gegönnt und war fröhlich und ausgelassen wie nie. Carsten trug den kleinen Felix auf dem Arm, und so wanderten sie, Tant’ Fienchen rechts und links stützend, auf die andere Hafenseite. Alle wollten noch etwas essen. Tomke und Hajo hatten sich bei Ady jeder ein Fischbrötchen geholt, Michaela gelüstete es nach einer Bratwurst, Oma und Tant’ Fienchen nach Prülkers, die sie zu Hause, ob des Fettgeruches in der Wohnung, nur noch selten zubereiteten.

Bintje und Linda standen inzwischen auf der Brücke der Harle, genau gegenüber des Weihnachtsbaums. Das Wissen um den seltsamen Baumschmuck, tief versteckt zwischen den Ästen, gab ihnen ein zufriedenes Gefühl.

Eine Gruppe Menschen wanderte laut lachend an ihnen vorbei, ein Mädchen aus der Gruppe zeigte unentwegt auf die große Tanne. Was das wohl zu bedeuten hatte?

„Lass uns gehen, Bintje“, beschloss Linda dann. „Morgen kommen wir wieder und suchen ihn, heute hat es keinen Sinn.“ Bintje aber deutete nach unten zu den Buden und zeigte ihrer Schwester mit den Fingern an, dass sie noch etwas essen wollte. Auf dem Weg zum Bratwurststand hielt Bintje ihre Schwester fest und lachte. Mit Zeichensprache ließ sie Linda wissen: „Wenn wir ihn nicht finden, dann findet ihn vielleicht ein Hund und frisst ihn auf.“ „Na und?“, meinte Linda, „dann isser eben weg!“ Beide lachten herzhaft.

Die Truppe um Tomke & Co. war inzwischen auf der anderen Hafenseite angekommen und alle nun mit Leckereien versorgt. Carsten hatte sich am Stand von Andreas und Susanne, deren Plattbodenschiff „De Zwarte Piet“ auch im Museumshafen von Carolinensiel lag, eine Schale Champions mit Kartoffeln und Knobisoße geholt, Oma und Tant’ Fienchen bei der Dorfgemeinschaft eine Tüte mit Prülkers.

Fienchen, die immer aß wie ein Spatz, wollte sich ihr Hefegebäck unbedingt mit ihrer Schwester teilen. Nach langem Hin und Her gab diese nach und meinte: „In Gottes Namen, dann reiß das Ding halt auseinander.“

Marie war satt! Sie hatte auch andere Dinge im Kopf. Der Weihnachtsbaum und das, was sie beobachtet hatte, ließen ihr keine Ruhe. Immer wieder schaute sie hoch zu der riesigen Tanne. „Da, jetzt! Papa!“, rief sie laut. „Er hat sich wieder bewegt!“ Carsten drehte sich um und tatsächlich: Im Baum war Leben! Zweige raschelten im oberen Teil, Lichter bewegten sich, obwohl es windstill war. Äste knackten. Dann setzte sich die Bewegung weiter nach unten fort und etwas schlug auf dem Wasser auf. Gleichzeitig vernahm Carsten hinter sich einen entsetzten Schrei: War das Fienchen? Danach erscholl ein zweiter von Oma. Hatten sie gesehen, was da ins Wasser gefallen war? Carsten drehte sich zu den beiden um und erkannte den Grund ihres Entsetzens nicht gleich. Bis Tomke erschrocken auf den aufgerissenen Prülker zeigte. Carsten wusste nicht, wohin er den Blick zuerst richten sollte, rief: „Habt ihr das gesehen? Da ist doch etwas ins …“, er deutete auf das Wasser. Gleichzeitig rief Hajo:

„Nee, aber hast du das gesehen?“ Hajo zeigte auf das Gebäck.

Marie stellte sich neugierig auf die Zehenspitzen und konsternierte: „Das ist ein Finger, frag mal am Prülkerstand, ob die einen vermissen.“

„Marie!“ Michaela zog ihre Tochter zur Seite. Der Anblick war eklig, aber Marie störte das nicht. Die lief plötzlich vor zur Hafenkante und rief: „Da schwimmt jemand mit dem Bauch nach unten im Wasser, langsam müsste der mal Luft holen, oder Papa?“

Nun reagierten die drei Kommissare schnell. Tomke kippte die restlichen Prülkers auf den Tisch, nahm die Tüte und stülpte sie über den ekligen Fund. Dann schob sie sich durch die umstehenden Menschen Richtung Prülker­stand. Das Backen musste sofort gestoppt werden, wer wusste denn, was an Körperteilen noch zum Vorschein kommen würde? Mit dem Widerstand der Menschen in der langen Reihe hatte sie allerdings nicht gerechnet. Ein großer Proteststurm brach los. Auch die Frauen im Stand waren nicht begeistert.

„Tomke, das geht nicht!“, warf Anke ein. „Wir haben hier noch eine fast volle Wanne mit Teig stehen, der verarbeitet werden will und eine weitere wird gleich gebracht! Sieh dir mal die Schlange an. Alle warten auf unsere Prülkers. Die Leute steinigen uns, wenn wir hier schließen.“

Doch die Kommissarin blieb hart und bestand außerdem darauf, dass die angefangene Wanne mit dem Hefeteig zur Seite gestellt und abgedeckt wurde. „Das ist Beweismaterial, da muss unsere Spurensicherung ran.“

Hajo und Carsten stürmten zur gleichen Zeit zur Hafenkante, sprangen nach unten auf eines der Plattbodenschiffe. Marie wollte mit, aber Michaela hielt sie fest. Die Kommissare kletterten weiter in das nächste Schiff, bis sie erkennen konnten, dass dort tatsächlich jemand im Wasser schwamm. Ein Seil war teilweise um den Körper der Person gewickelt, sodass sie nicht versinken konnte.

„Der ist tot, würde ich sagen“, erkannte Carsten.

„Ja, genau! Ich springe da aber nicht rein“, war Hajos nüchterne Antwort, „da holt man sich ja den Tod, wie du siehst.“

„Ich auch nicht!“, Carsten schüttelte den Kopf. Er schaute sich um und griff nach einem langen Holzstiel, der seitlich im Schiff lag. An dessen Spitze war ein Haken angebracht. Damit angelten die beiden nun nach dem Mann, konnten aber nur das Seil, das um seinen Körper schwamm, erreichen. Mit einiger Mühe schafften sie es, den Körper Richtung Schiff zu ziehen. Sie zogen und zerrten, bis das Seil nachgab. Inzwischen war auch Tomke bei ihnen angekommen und so hievten sie den Körper mit vereinten Kräften auf das Schiff. Nachdem sie ihn umgedreht hatten, bestätigte sich, was eigentlich schon klar war: Sie hatten eine Leiche geangelt!

Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts Marie zwischen den dreien auf. „Mann, ist das spannend, darüber schreibe ich einen Krimi.“

Carsten zog seine Tochter, die inzwischen nicht mehr nur Polizistin, sondern auch Schriftstellerin werden wollte, kopfschüttelnd von dem grausamen Fund weg und brachte sie ans Ufer. Marie, zwar erst knapp zwölf Jahre alt, hatte aber doch schon, seit sie im Deutschunterricht einen Kriminalschriftsteller kennengelernt hatte, ihr Faible fürs Schreiben entdeckt. Aufsätze waren ihr da nicht mehr genug, sie wollte Romane schreiben, was ihre Eltern mit einem wohlwollenden Lächeln quittierten. Aber nun musste Carsten energisch werden und sie mit strengen Worten zurück zur Hafenkante bringen.

Tomke zog in der Zwischenzeit ihr Handy aus der Tasche und bestellte die Spurensicherung sowie den diensthabenden Rechtsmediziner aus Wilhelmshaven. Anschließend sah sie sich die Leiche, soweit es bei der diffusen Beleuchtung auf dem Boot möglich war, nochmals genauer an und zog erneut ihr Handy hervor. Sie wählte Michaelas Nummer und bat sie: „Bevor uns die Leute da oben erschlagen, geh bitte hoch zum Prülkerstand. Anke und Antje können mit einer neuen Wanne Teig weiterbacken. Es wird sicher kein weiteres Körperteil mehr auftauchen. Die angefangene Wanne aber bleibt beschlagnahmt, sag es ihnen.“

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, zeigte Tomke auf die Hand der Leiche und meinte zu Hajo: „Im ersten Moment dachte ich, wir haben zwei Fälle bekommen, aber wie es scheint, gehört der Finger in Fienchens Prülker zur Leiche hier. Bin gespannt, was unser Leichenfledderer sagt.“

*

Linda und Bintje beobachteten das alles vom Glühweinstand aus. Linda murmelte: „Wenn’s nich löpt, löpt’s nich!“, stieß ihre Schwester an und wollte gehen. Bintje aber formulierte mit den Fingern: „Nein, wir bleiben. Will sehen, was drüben noch passiert.“ Gespannt beobachteten die beiden nun aus der Ferne, was auf der anderen Harleseite geschah. Dass der verschwundene Finger inzwischen aufgetaucht war, bekamen sie hier aber nicht mit.

Inzwischen hatten immer mehr Menschen bemerkt, dass im Hafen etwas passiert sein musste. Viele standen auf der Brücke, von wo aus sie die Leiche im Schiff liegen sehen konnten.

„Was ist denn passiert?“, hörte Tomke jemanden rufen.

„Do hät sük een uphangen“, rief ein anderer.

„Jaja“, murmelte Tomke nun. „Uphangen. Und vorher hat er sich noch den Finger abgebissen und ihn in den Prülkerteig ge­worfen.“ Kopfschüttelnd drehte sie sich wieder der Leiche zu, zog ein paar Einweghandschuhe aus der Manteltasche und streifte sie über.

Dann griff die Kommissarin vorsichtig in die Hosentasche des Mannes. Rechts war nichts zu finden, die linke Tasche war ebenfalls leer. Sich vorsichtig umschauend, ob Hajo Manninga, der Rechtsmediziner schon zu sehen war, drehte sie den toten Körper etwas zur Seite und griff zur Gesäßtasche des Mannes. Hier konnte sie etwas fühlen. Vorsichtig schob sie ihre Finger hinein und zog eine Geldbörse hervor.

„Raubmord war das nicht!“, stellte sie nüchtern fest und zeigte Hajo die nassen Scheine in der Börse.

„Pack das wieder weg, du weißt, was Manninga …“

„Ich weiß, aber notiere dir vorher den Namen, bitte. Stefan Wimmer, wohnhaft in Jork. Das liegt im ,Alten Land‘!“, las sie vor und gab Hajo auch noch die genaue Adresse des Mannes. „Klugscheißer!“, murmelte der, aber Tomke hörte es nicht.

Ein kurzer Blick auf das Passfoto zeigte ihr, dass sie tatsächlich den Ausweis der Leiche in Händen hielt. Auch wenn die dicke Kartoffel, die in seinem weit aufgerissenen Mund steckte, das Gesicht verzerrte.

Nun hieß es warten, bis Spusi und Rechtsmediziner eintrafen. Das allerdings war nichts für die ungeduldige Tomke. Am Hemd des Toten konnte man erkennen, dass er erstochen worden sein musste. Vorsichtig tastete sie den Brustkorb ab und zählte sechs Einstiche. Blut war keines mehr zu erkennen, das Harlewasser hatte es abgewaschen. Das Hemd aber hatte sechs Löcher, unter denen sie Einstiche in den Brustkorb fühlte.

„Hat sich erstochen, den Finger abgetrennt und dann erhängt! Passt!“, nickte sie leise murmelnd nach oben Richtung Brücke und wunderte sich, dass sich dort noch keiner zu der Kartoffel im Mund der Leiche des Mannes geäußert hatte. Auf der Brücke war inzwischen eine Menschentraube an Schaulustigen versammelt, die munter ihre Handys aufblitzen ließen. Tomke hasste das!

*

Bintje und Linda hatten genug gesehen. Die beiden Schwestern gaben ihre leeren Glühweintassen am Verkaufsstand ab, nahmen das Pfandgeld in Empfang und liefen zurück zu ihrem Kleintransporter. „Beste Kleikartoffeln“ stand in verwaschenem Schriftzug seitlich auf dem Fahrzeug. Nicht mehr lange, so wussten sie, und ihr Hof würde aufgrund der Spekulationen, die ihnen Wimmer aufgedrückt hatte, nicht mehr zu halten sein.

Zu Hause jedoch erwartete sie eine weitere böse Überraschung: Jemand hatte einen Brief unter der Tür hindurchgeschoben.

*

Im Hafen von Carolinensiel nahm nun alles seinen üblichen Lauf. Manninga und Spusi waren fast gemeinsam eingetroffen. Manningas Erscheinen wie immer von lautstarken Schimpftiraden begleitet. Dass Tomke die Leiche bewegt hatte, bemerkte er nicht.

Tomke, Hajo und Carsten zogen sich zurück und ließen die Kollegen arbeiten. Sie wollten noch ein paar Befragungen durchführen. Tomke hoffte, dass Anke und Antje Aussagen zu dem verbackenen Finger machen konnten. Große Erwartungen hatte sie allerdings nicht.

Für Michaela und Carsten war es nicht leicht, Marie vom Fundort wegzubringen. Das Mädchen bestand vehement darauf, alles zu verfolgen, schließlich müsse sie wahrheitsgemäß in ihrem Krimi berichten, erklärte sie ihren Eltern.

„Okay, lass sie hier“, gab Carsten nach. „Wir sind sicher bald durch, dann bringe ich sie nach Hause. Was soll schon noch passieren? Das Schlimmste, den Finger und die Leiche, hat sie ohnehin gesehen. Geh du mit den anderen nach Hause. Felix muss ins Bett und für Oma und Tant’ Fienchen war das sicher auch aufregend genug.“

Zögernd lenkte Michaela ein, nicht ohne ihre Tochter zu ermahnen, nicht zu forsch und vorlaut zu sein.

Marie war glücklich. Mit ihrem kleinen Notizbuch in der Hand saß sie am Hafenrand und machte sich unentwegt Notizen.

Auf dem Kartoffelhof

Der Schock war riesig und Bintje konnte nicht glauben, was sie da las. Die Frage, wo der abgetrennte Finger geblieben war, hatte ihre Wichtigkeit gerade verloren. Ein stummer Schrei drang aus ihrer Brust. Stumm und doch so laut und erbärmlich, dass ihre Schwester ihn in der Küche nebenan hörte.

„Was hast du denn, Bintje?“, rief sie. „Komm in die Küche, ich kann gerade nicht weg.“

Bestürzt, den Brief in der rechten Hand haltend, erschien Bintje in der Tür.

„Was ist das? Wer will etwas von uns?“

Linda verstand nicht, nahm ihrer Schwester das Schreiben aus der Hand und begann kopfschüttelnd zu lesen. Was sollte denn noch Schlimmeres kommen als das, was dieser Wimmer ihnen angetan hatte?

Nach einigen Zeilen glitt ihr die dünne Teekanne mit dem zarten blauen Muster, in der sie gerade einen abendlichen Tee zubereiten wollte, aus der Hand. Klirrend zerschellte sie auf dem Steinboden.

„Das ist doch …“, stotterte Linda. „Diese …, diese Schweine! Diese verdammten Schweine!“ Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihre Schwester an. „Das!“, stotterte sie weiter und hielt den Brief hoch, „das war alles geplant? Jetzt geht mir ein Licht auf, nein, ein kompletter Kronleuchter erhellt mein dummes Hirn. Das war geplant, um uns den Hof …? Ich kann es nicht glauben.“ Schwer ließ sie sich auf den Küchenstuhl fallen. Die Scherben auf dem Boden interessierten sie nicht. Nichts interessierte sie mehr, nicht die kaputte Teekanne, ein Erbstück der Mutter, nicht der verlorene Finger.

Wieder starrte sie auf das Schreiben.

„Und jetzt?“ Linda richtete sich auf. Bintje, die noch immer im Türrahmen stand, machte eine Handbewegung, die eine eindeutige Antwort zeigte.

„Du meinst …?“ Linda wiederholte die Handbewegung. Ihre Schwester nickte.

„Wie?“, wollte Linda dann wissen.

Wieder machte Bintje eine Handbewegung, die unmissverständlich war.

Hoch über den …

Vier Tage später …

Erneut zog das schmale Ruderboot seine Bahn durch die schwarze Nacht. Nebelschwaden hingen tief über dem Wasser. Niemand war zu sehen. Die Wege rechts und links der Harle schienen menschleer, wie ausgestorben. Alle Fenster der Häuser waren dunkel. Kein Wunder, um diese Uhrzeit. Die Menschen schliefen nachts um vier in dem kleinen Küstenort. Nur zwei Personen nicht. Die eine schlug die Ruder sanft in das eiskalte Wasser, die andere …

Linda und Bintje hingen auf dem Weg zum „Schwimmenden Weihnachtsbaum“ stumm ihren Gedanken nach. Die beiden Schwestern waren so innig miteinander verbunden, dass die eine von der anderen wusste, was sie dachte, sich ihre Gedanken sogar ergänzten.

Es war richtig, was wir getan haben …, sinnierte Linda.

Es musste getan werden …, grübelte Bintje.

Sie haben ihre Strafe verdient, lief die Gedankenspirale in Lindas Kopf weiter.

Auge um Auge, Zahn um …, bestätigte Bintje ihr Handeln.

Der Brief, den die beiden erhalten hatten, war ein Schock für die Schwestern. All das sollte geplant gewesen sein? Geplant, um sie beide in den Ruin zu treiben und den Hof zu übernehmen? Warum? Was wollten zwei Apfelbauern aus dem „Alten Land“ mit einem Kartoffelhof?

Bintjes Recherche im Internet hatte ergeben, dass Stefan Wimmer aus Jork kam. Somit aus der Gegend, in der Cludius und Jakob ihren Hof hatten und dass sie sich offensichtlich gut kannten. Aber was verdammt wollten die beiden mit ihrem Hof? Ostfriesland war nun wirklich nicht die Gegend, um Plantagen mit Apfelbäumen zu pflanzen. Nach weiteren Recherchen war es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. Die beiden Männer, die ihr und ihrer Schwester Zuneigung vorgegaukelt und von Heirat gesprochen hatten, waren nicht nur Bauern, sondern auch an einem Investmentunternehmen beteiligt, das große Höfe aufkaufte und dort Hotelanlagen, erstellte. Hotelanlagen die, wie Bintje dann lesen musste, in Appartements umgewandelt und gewinnbringend verkauft wurden. Ihren Hof allerdings hatten die Kerle gar nicht erst versucht zu kaufen, sondern ihnen eiskalt abgezockt. Immer wieder hatte Wimmer von hohen Renditen gesprochen, Gelder nachgefordert und sie waren darauf hereingefallen. Nun waren sie pleite und Wimmer tot. Den Schweinen Cludius und Jakob durfte es nicht anders gehen. Sie waren die Auftraggeber, sie hatten Wimmer vorgeschickt.

Nachdem Bintje ihre Schwester über das Ergebnis ihrer Recherche aufgeklärt hatte, war ihnen klar, was nun geschehen musste. Die beiden Männer sollten ebenso hängen wie ihr Komplize.

„Wie?“, formulierte Bintje stumm.

„So, dass wir unseren Spaß haben, aber so was von Spaß haben.“ Das Wie und auch die Frage, wie sie die Männer nochmals auf den Hof locken konnten, wurde von ihnen in einem teuflischen Plan ausgeheckt.

„Hoch über den Tannenspitzen!“, sang Linda damals in der Küche mit einem bösen Ton in der Stimme, „seh’ ich ihre Leichen blitzen!“

In ihren Augen loderte unsagbarer Hass.

Nun war es geschehen, wieder geschehen und sie zogen mit ihrem Boot lautlos Richtung Museumshafen. Es war leichter, als gedacht, die beiden kaltzustellen. Zuerst das Betäubungsmittel im angebotenen Tee, dann der Bolzenschussapparat, der seit Jahren ganz hinten im Stall lag und schon ewig nicht mehr benutzt worden war. Das Betäubungsmittel hatten die beiden Frauen so dosiert, dass Cludius und Jakob regungslos, aber bei Bewusstsein waren und den Akt der Tötung miterlebten. Grausam!

Diesmal nicht von Norden kommend, sondern aus dem Hinterland, von dort, wo sie auch wohnten, steuerten sie den Hafen an. Es war der kürzere Weg. Linda und Bintje durchfuhren das Sieltor von Süden aus und legten, wie schon eine Woche zuvor, am „Schwimmenden Weihnachtsbaum“ an. Die beiden Männer zwischen ihnen im hölzernen Boot waren genauso tot wie vor einer Woche Stefan Wimmer. Nur, dass in ihren Mündern keine Kartoffel, sondern je ein Apfel klemmte. Zwei Männer, zwei Äpfel, zwei Seile …

Schnell war der Hafen wieder in Dunkelheit getaucht und sie konnten die Leichen im Baum platzieren. Mit viel Kraft in den Armen, angeeignet durch die schwere Arbeit auf dem Hof, vollendeten sie ihr Werk. Aber etwas war anders. Die Seile hatten sie den beiden nicht um den Hals, sondern um die Füße gebunden. So würden sie die Leichen besser durch das Astwerk ziehen können. „Man lernt beim Tun!“, hatte Linda ihrer Schwester erklärt.

Anschließend waren sie mit ihrem Kartoffeltransporter nach Hause gefahren, hatten in der Scheune die Seiten des Wagens mit roter Folie beklebt und mit dickem Filzstift: „Just Married“ darauf geschrieben. Sollte ihnen mal einer nachweisen, dass sie kein frisch verliebtes Paar, sondern Schwestern waren. Schwestern, die sich allerdings über alle Maßen liebten. Im Grunde waren sie ein altes Ehepaar.

Am nächsten Morgen packten sie ein paar Matratzen, Geschirr, einen Spirituskocher und weitere Dinge, die man für eine lange Reise benötigte, in den Wagen und fuhren vom Hof. Viel Geld steckte für diese Reise ins Ungewisse nicht in ihren Taschen, aber Linda hatte da eine Idee. Sie zeigte Bintje den Schlüssel der Männer vom Apfelhof und erklärte: „Wir werden einen kleinen Umweg machen!“

Weder Linda noch Bintje warfen einen Blick zurück.

Hoch oben in den …

Es war jahrelange Tradition, wenigstens an einem Tag des Wochenendes, den kleinen Wintermarkt im Museumshafen zu besuchen. Oma Jettchen, Tant’ Fienchen, Marie, ihre Eltern und der kleine Felix waren wieder unterwegs. Nur Tomke und Hajo fehlten. Sie beschäftigten sich intensiv mit dem ermordeten Mann aus dem Weihnachtsbaum. Skurril genug, dass er in unserem Baum hing, hatte Tomke gemeint und sich zur Aufgabe gemacht, den Fall so schnell als möglich zu lösen. Das war allerdings leichter gesagt, als getan. Entgegen anderer Mordfälle, bei denen es an Motiven und Tatverdächtigen mangelte, war inzwischen klar, dass Wimmer sehr viele Feinde hatte. Alles Menschen, die er im Laufe der Jahre um ihr Erspartes gebracht hatte. So waren sie nun in Recherchen vertieft, mussten nach Tatverdächtigen suchen. Die Liste derer war lang.

*

Marie stand wieder an Adys Fischstand und verputzte eine Portion Kibbeling. Sie musste daran denken, was am vergangenen Wochenende passiert war. Spannend war es gewesen. Das Mädchen hatte alles in ihrem kleinen Buch notiert, das es immer bei sich trug und überlegte nun, wie es wohl weitergehen würde.

Marie ließ nicht davon ab, Schriftstellerin zu werden.

Wieder fiel ihr Blick auf den Baum. Aber, was war denn das?

„Papa!“, rief sie aufgeregt. „Papaaaa! Da oben im Baum ist was. Schau mal … Hoch oben in den Tannenspitzen …“

Ein Nachwort ist wichtig: Den „Schwimmenden Weihnachtsbaum“ im Hafen von Carolinensiel gibt es wirklich. Eine wunderschöne Veranstaltung in der Weihnachtszeit bis Anfang Januar. Alles, was hier in der Geschichte passiert, ist natürlich frei erfunden, Gäste können die Veranstaltung sorglos besuchen.

Weihnachtsworkshopim Westerwald Micha Krämer

Melanie Geldermann zischte „Teambildende Maßnahme … was für ein unnützer, blöder Mist“, und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Alleine bei dem Gedanken an die nächsten drei Tage schauderte es sie. Ihr Blick fiel auf die Anzeige rechts neben dem Tachometer ihres VW Golfs, auf dem die aktuelle Außentemperatur angezeigt wurde. Minus dreizehn Grad. Die Felder, Wiesen und Wälder, die rechts und links der Straße förmlich an ihr vorbeiflogen, waren von einer dicken Schicht Frost überzogen. Warum zum Kuckuck schneite es eigentlich nicht in diesem Winter? Nicht eine Flocke war bisher vom Himmel gefallen. Weder in Köln Nippes, wo sie seit einigen Jahren wohnte und arbeitete noch hier im Westerwald, wo sie die nächsten drei Tage eher widerwillig verbringen würde. Ihr Blick wanderte zum Himmel, an dem sich dunkle Wolken zusammenballten. Vorhin, im Radio, hatten sie von einem Schneesturm gesprochen, der aus Osten, von Sibirien her, auf Deutschland zurollte. Im Gepäck jede Menge Neuschnee und die sprichwörtliche sibirische Kälte. Wer es glaubte! Sie nicht. Die von den Wetternachrichten erzählten auch schon mal viel, wenn der Tag lang war.

Als sie den Ortsausgang des kleinen Städtchens Daaden passierte, zeigte das Navi noch 2,8 Kilometer bis zu ihrem Ziel, dem Schloss Friedewald in dem gleichnamigen Örtchen. Melanie tastete nach ihrem Handy auf dem Beifahrersitz und sah kurz auf das Display. Enttäuscht stellte sie fest, dass es immer noch keine neuen Nachrichten gab. Empfang hatte das Gerät zum Glück ja. Wenn auch neben dem Symbol mit der kleinen Antenne lediglich ein einziger mickriger Balken angezeigt wurde.

Was, wenn er sich nicht melden würde? Sie seufzte und krallte ihre Fingernägel in das Leder des Lenkrades. Irgendwie hatte sie einfach kein Glück mit den Kerlen. Dabei hatte sie diesmal wirklich geglaubt, dass Frank anders war als die anderen und sich bei ihr melden würde. Sie hatte ihn erst gestern am Abend „Em goldenen Kappes“, der Kneipe in ihrer Straße, kennengelernt und ihn spontan, nach einigen Gläsern Kölsch, mit nach Hause genommen. Nicht weil sie so mannstoll war und es nötig hatte, unbedingt den erstbesten Typen abzuschleppen, der ihr vor die Flinte lief. Nein, bei ihm hatte sie auf Anhieb das Gefühl, dass er endlich der Richtige war. Klar war sie schon ein wenig enttäuscht gewesen, als sie nach dem Wachwerden feststellen musste, dass das Bett neben ihr leer und kalt war. Doch zum Glück hatte sie ihm noch in der Kneipe eine ihrer Visitenkarten mit ihrer Mobilnummer zugesteckt. Er würde sich bei ihr melden. Ganz bestimmt. Sie wischte den Gedanken an Frank zur Seite und versuchte an das zu denken, was sie heute noch erwarten würde. Eine „Teambildende Maßnahme“. Melanie schlug genervt auf das Lenkrad. Was hatte sich ihr Chef, Heinz Kalbe, bloß dabei gedacht, sie und die anderen Kollegen drei Tage vor Weihnachten zu diesem blödsinnigen Workshop, Lehrgang oder wie immer man diesen Ringelpietz mit Anfassen auch nennen sollte, einzuladen? Sie hatten doch vor dem Jahresabschluss wahrlich Besseres zu tun. Außerdem waren sie doch ein eingespieltes Team. Der Großteil der fünf Mitarbeiter war schon seit Jahren in der Agentur Kalbe beschäftigt. Was zum Kuckuck sollte dann noch dieser Mist mit der „Teambildenden Maßnahme“? Okay, natürlich gab es auch eine Kollegin und einen Kollegen, die noch nicht so lange dabei waren. Hannah Küppers, eine zierliche Blonde Mitte zwanzig, hatte erst vor drei Monaten bei ihnen angefangen. Und dann war da ja noch Kevin Köster, der Azubi im zweiten Lehrjahr. Sie beugte sich nach vorne über das Lenkrad und spähte hinaus. Links voraus erhoben sich, vor dem mit schwarzen Wolken behangenen Himmel, zwischen einigen Häusern und großen, kahlen Bäumen, die Türme eines alten Gebäudes. Das musste das Schlosshotel Friedewald sein. Sie hatte, nachdem Heinz Kalbe ihnen die Einladung für die Maßnahme gemailt hatte, natürlich sofort nachgeschaut, was das denn für eine Absteige war, in die er sie da einlud. Die Fotos, Bewertungen und Berichte, die sie im Netz fand, waren auf den ersten Blick auch gar nicht mal so übel. Nein, überhaupt nicht. Einzig die Tatsache, dass das Hotel seit gut und gerne vier Jahren geschlossen sein sollte, ließ sie stutzig werden. Jedoch vermutete sie hinter dieser Info eine dieser typischen Internet-Enten. Das Internet vergaß nämlich nie. Wer einmal pleite war oder zum Beispiel fälschlich beschuldigt vor Gericht gestanden hatte, der wurde einen solchen Makel nicht mehr los. Ein Laden, der geschlossen wurde, blieb dies im Internet für immer. Da konnte zwischenzeitlich schon dreimal ein neuer Besitzer sein Glück versucht haben. Egal, wer lange genug suchte, würde bei Google und Konsorten immer wieder auf Meldungen stoßen, in denen behauptet wurde, dass der betreffende Betrieb geschlossen war. Andersherum natürlich auch. Da gab es Kneipen und Hotels, die über den Klee gelobt wurden, aber schon lange zu waren. Oder die Falschmeldungen in den sozialen Netzwerken. Wirklich schlimm! Da wurden regelmäßig Suchaufrufe nach verschwundenen Personen geteilt, die bereits seit Jahren wieder zu Hause waren. Das alles nur, weil die Menschen zu faul waren, die Berichte, die sie teilten, ordentlich zu lesen und gegebenenfalls auch einmal zu hinterfragen.

Die Straße, die in einigen Kurven bergauf an alten Fachwerkhäusern vorbeiführte, wirkte wie ausgestorben. Keine Menschenseele war zu sehen. Erst als sie direkt vor dem Hauptportal des Schlosses ihren Wagen stoppte, änderte sich dieser Umstand. Aus einem silbernen Porsche Boxter, der rechts vor dem Gebäude parkte, stiegen gerade Freddie Waldmann und Hannah Küppers. Direkt daneben hockte, auf einer niedrigen Bruchsteinmauer, eingepackt wie zu einer Arktisexpedition und zu seinen Füßen einen großen Rucksack, Kevin Köster. Die viel zu kleine rot-weiße Weihnachtsmannmütze mit den blinkenden Sternchen daran wirkte nicht nur kitschig, sondern auch vollkommen deplatziert auf seinem eiförmigen Kopf. In seiner linken Hand hielt er ein Stück Holz, an dem er mit dem albernen Butterflymesser, mit dem er ständig herumspielte, schnitzte.

Melanie stellte den Motor ab und sah noch einmal auf ihr Handy. Verflucht, nun war auch noch der letzte kleine Balken neben der Antenne verschwunden. Sie seufzte erneut, verstaute das Gerät in ihrer Handtasche und stieg aus. Dann würde sie gleich eben ein bisschen um das Gebäude herum suchen müssen, um eine Stelle zu finden, an der es Empfang gab. Empfang gab es im Grunde überall. Man musste eben nur richtig suchen, dann fand man selbst an einem gottverlassenen Ort wie diesem Friedewald eine Stelle. Dennoch war dies ein Umstand, der ihr das Verbleiben in dieser Einöde nicht gerade versüßte. Warum nur hatte sie blöde Kuh sich nicht einfach heute Morgen krankgemeldet? Jetzt war es zu spät um umzukehren. Die Kollegen hatten sie ja bereits gesehen.

Der Wind, der ihr entgegenblies, als sie die Tür öffnete, war schneidend kalt und trieb zu allem Unglück nun auch noch erste winzige Schneeflocken mit sich, die wie Tausende kleine Nadeln auf ihrer Stirn und den Wangen stachen. Sie schüttelte sich. Verdammt, war das kalt. Täuschte sie sich oder war es in Köln noch um einige Grad wärmer gewesen als hier im Westerwald? Oder sollte das doch schon der angekündigte Wind aus Sibirien sein?

Kevin schien ebenfalls heftig zu frieren. Seine Lippen zitterten so stark, dass sogar der weiße Bommel der Weihnachtsmannmütze vibrierte. Wie lange der wohl hier schon wartete? An den vielen Schnitzspänen, die vor seinen Füßen lagen, gemessen, schon sehr lange. Egal! Nicht ihr Problem. Sie hätte ihn ja im Wagen mitgenommen, so, wie Heinz Kalbe ihr Chef es vorgeschlagen hatte, als er meinte, sie sollen Fahrgemeinschaften bilden. Ja, sie hätte es getan… wenn der Typ nicht immer so nach Knoblauch stänke, dass einem dabei schlecht wurde. Allein der Mief nach Dönerimbiss, wenn man an seiner offenen Bürotür vorbeiging, war grauenhaft. Auch sonst hatte es mit dem Bilden einer Fahrgemeinschaft nicht so richtig klappen wollen, da es eigentlich niemanden unter den Kollegen gab, den sie wirklich gerne mitgenommen hätte. Vielleicht noch Hannah, aber die wollte ja lieber mit Freddie in dessen Porsche fahren. Melanie vermutete schon lange, dass da was lief zwischen den beiden. Und wenn auch … ihr war es egal. Das Flittchen würde schon sehen, was es von dem hatte.

„Na, Puppe, auch schon da?“, begrüßte Freddie sie, der so lässig an seinem Porsche lehnte, als wäre er James Dean persönlich. Nett anzusehen der Typ, aber ein Blender vor dem Herrn. Wie sie selbst auf den mal reinfallen konnte, war ihr heute noch schleierhaft. Alleine für die „Puppe“ könnte sie ihm schon die Augen auskratzen. Konnte der Arsch nicht einfach mal seine blöde Klappe halten?

Melanie zwang sich zu lächeln und nickte nur höflich. Hier war jedes Wort zu viel. Sie ging an den Kofferraum, öffnete ihn, holte den Koffer heraus, stellte ihn betont lässig auf den Boden und zog den Griff heraus.

„Wir sehen uns dann später. Ich checke schon mal ein“, beschied sie den anderen und ging auf das große Portal zu.

„Kannst du vergessen … da ist zu“, hörte sie Kevin rufen.

Sie drehte sich zu ihm um. Er war aufgestanden. Sie sah, wie er den Stock wegwarf, sein Messer in die Jackentasche gleiten ließ und nun auf sie zugeschlurft kam. Die Wissenschaftler mussten sich täuschen, ging es ihr bei seinem Anblick durch den Kopf. Es gab doch Menschen, die vom Affen abstammten! Und ganz sicher war Kevin einer davon. Wäre der komische Vogel nicht auf irgendeine Art und Weise mit Heinz Kalbe, ihrem Chef, verwandt, dann hätte er bestimmt keine Lehrstelle in der Firma bekommen. Nie und nimmer!

„Was meinst du mit ‚zu‘?“, mischte sich Freddie nun ein und stieß sich von seinem Porsche ab.

„Na, zu ist zu. Der Laden hat geschlossen“, antwortete Kevin.