The Ruby Circle (2). All unsere Lügen - Jana Hoch - E-Book

The Ruby Circle (2). All unsere Lügen E-Book

Jana Hoch

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Beschreibung

Hinter den Kulissen ist es im elitären Ruby Circle alles andere als friedlich Nach den Vorfällen mit dem geheimnisvollen Master kehrt die luxuriöse Highclare Academy langsam wieder zur Normalität zurück. Im Verborgenen allerdings brodelt es weiter im elitären Kreis des Ruby Circles. Davon will Louisa jedoch nichts wissen, sondern die Zeit mit Theo genießen, der sich ihr endlich geöffnet hat. Doch dann entdeckt sie einen roten Brief - das Markenzeichen des Masters, der neue düstere Intrigen spinnt. Das gefährliche Spiel geht weiter. Als auch Theo einen Brief erhält, spitzt sich die Lage zu. Der Master kennt sein dunkelstes Geheimnis, das alles zwischen Louisa und Theo zerstören könnte. Kann Louisa Theo vertrauen oder war alles zwischen ihnen eine einzige große Lüge? Band 2 der Highclare-Academy-Reihe: dramatisch, glamourös und hochromantisch. Für alle Romance- und Dark-Academia-Fans ab 14 Jahren. Band 3 erscheint am 08.11.2024!   Weitere Bücher von Jana Hoch: The Ruby Circle (1). All unsere Geheimnisse Royal Horses (1). Kronenherz Royal Horses (2). Kronentraum Royal Horses (3). Kronennacht Dancing with Raven. Unser wildes Herz  Weitere Infos zur SPIEGEL-Bestseller Autorin unter www.jana-hoch.de oder auf Instagram + TikTok unter @janahoch.autorin.

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The Ruby Circle. All unsere Geheimnisse

Royal Horses. Kronenherz

Royal Horses. Kronentraum

Royal Horses. Kronennacht

Dancing with Raven. Unser wildes Herz

© Tanja Saturno

Jana Hoch wurde 1992 in Hannover geboren und lebt heute immer noch in der Nähe der Stadt. Seit frühester Kindheit hat es sie begeistert, eigene Welten und Charaktere zu entwickeln und diese auf Papier festzuhalten. Die Pferdetrainerin nutzt jede freie Minute zum Schreiben – der perfekte Tag beginnt für sie bei Sonnenaufgang, mit dem Laptop auf dem Schoß und einer Tasse Kakao, und endet auf dem Rücken ihres Pferdes Jamie.

Mehr Infos unter www.jana-hoch.de und auf Instagram und TikTok unter @janahoch.autorin

Für DeboraIch bin so dankbar dafür, dass du meine Freundin bist.

HINWEIS

Dieses Buch kann sensible Themen enthalten.Weitere Informationen dazu am Ende des Buches.(Achtung: Diese Hinweise enthalten Spoiler!)

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

1. Auflage 2024

© 2024 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Text: Jana Hoch

Cover und Innenillustrationen: Clara Vath

Beigelegte Illustration: Courtney Fricke, @courtmakes_art

E-ISBN 978-3-401-81066-9

Besuche uns auf:

www.arena-verlag.de

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HAVERTON HOUSE

»Strebe nach Großem«

Haverton House ist der Teil des Ruby Circles, dem wohl die reichsten und berühmtesten Mitglieder der Highclare Academy angehören. Das luxuriöse Anwesen lässt keine Wünsche offen, doch hinter den Mauern gibt es auch viele Konkurrenzkämpfe, Intrigen und Geheimnisse.

BELMONT HOUSE

»Ehre, Pflicht, Weisheit«

Wer Mitglied im Belmont House ist, kann sich einer leuchtenden Zukunft gewiss sein. Hier wird großer Wert auf Fleiß, Ehrgeiz und Leistung gelegt, doch wer dem nicht gerecht wird, kann alles wieder verlieren.

SIR ARCHER REMINGTON

»Ewig treu, ewig verbunden«

Sir Archer Remington bleibt sowohl in Sachen Größe als auch Luxus hinter den beiden anderen Häusern der Highclare Academy zurück. Doch seine Mitglieder präsentieren sich als empathisch, offenherzig und tolerant. Stipendiaten werden hier gern gesehen, weswegen die anderen Häuser oft abfällig auf Sir Archer herabblicken.

Eine Hand über meinem Kopf abgestützt, drängte Theo mich gegen das Regal und küsste mich so leidenschaftlich, dass ich nach Luft schnappte. Die Holzböden drückten gegen meinen Rücken, aber alles, was ich spürte, war das warme Flattern in meinem Bauch, das mich jedes Mal durchströmte, wenn er mir so nah war.

»Ich glaube nicht, dass das in der Bibliothek erlaubt ist«, flüsterte ich, was Theo ein Schmunzeln entlockte.

»Ist mir egal«, antwortete er, beugte sich erneut vor und strich mit seinen Lippen sanft über meine.

»Und was ist, wenn die Bibliothekarin mit dem Buch zurückkommt, nach dem du sie gefragt hast?«

Theo lachte leise, ich spürte seinen Atem auf meiner Haut. Er unterbrach unseren Kuss, griff in seine Hosentasche und zog ein kleines Buch hervor. »Keine Sorge, Mrs Ellington wird noch ein bisschen mit der Suche beschäftigt sein.«

»Du hast es längst?«

Er zuckte mit den Schultern. »Hab’s vorhin eingesteckt, als sie uns von ihrem Urlaub in Schottland erzählt hat. Bevor wir gehen, stelle ich es zurück. Und so lange sind wir hier wohl ganz allein und ungestört.« Ein verwegenes Grinsen erschien auf seinen Lippen und ich konnte nicht anders, ich musste es erwidern.

»Ich hab dich vermisst«, sagte Theo leise, seine Finger glitten durch meine Haare. Die Berührung ließ mich erschauern und ich küsste ihn noch einmal. Diesmal fordernder, um ihm zu zeigen, dass es mir die letzten zwei Wochen genauso gegangen war. Theo war zum Jubiläum des Familienimperiums nach New York geflogen und anschließend noch etwas länger geblieben, um einige geschäftliche Angelegenheiten mit seinem Dad zu klären und Zeit mit seinen Eltern und seinem Grandpa zu verbringen. Ich hatte erwartet, dass das nicht so einfach möglich war, aber wenn man Vanderton hieß, konnte man anscheinend fernbleiben, wann immer man wollte, oder sich – wie in Theos Fall – von überall auf der Welt zu seinen Kursen zuschalten.

Während seiner Abwesenheit hatten wir uns unzählige Nachrichten und Fotos geschickt und jeden Tag trotz Zeitverschiebung telefoniert.

Doch es war einfach nicht dasselbe, wie ihm wirklich nah zu sein, seinen Körper an meinem zu spüren und zu merken, wie sein Herz unter meinen Berührungen ebenfalls schneller schlug.

Ich ließ meine Hände von seiner Brust nach oben wandern, griff nach dem Kragen seines Hemdes und zog ihn noch näher zu mir heran. Theo stieß einen kehligen Laut aus. Mit der freien Hand fuhr er an meinem Oberschenkel entlang und ließ sie unter meinen Rock gleiten.

»Whoa«, entwich es mir und Theo hielt sofort inne.

»Was ist?« Er wollte einen Schritt zurückmachen, doch ich hielt ihn fest.

»Das … ist verdammt … heiß«, flüsterte ich und kurz fragte ich mich, ob das vollkommen bescheuert klang, aber da begannen Theos Augen zu funkeln.

»Verdammt heiß, ja?«, wiederholte er neckend und auch wenn ich wusste, dass ich damit sein Ego in ungeahnte Sphären katapultierte, nickte ich.

Er lächelte, beugte sich vor und zog eine feine Spur aus Küssen an meinem Hals entlang und weiter über meine Wange, bis sich unsere Lippen wieder trafen.

»Ich bin dafür, dass wir ab jetzt jeden Tag zusammen an unseren Hausarbeiten schreiben«, hauchte er.

Ich brachte keine Antwort hervor, vergrub nur meine Finger in seinen Haaren und drängte mich noch weiter an ihn, um ihm zu zeigen, wie sehr mir sein Vorschlag gefiel. Sein Vorschlag und einfach alles an ihm. Die Art, wie sich seine Pupillen leicht weiteten, wenn er mich ansah, sein Körper, der unter meinen Berührungen erzitterte, und seine leisen atemlosen Seufzer, die mich wünschen ließen, wir wären wirklich allein. Allein, ohne …

Schritte erklangen neben uns im Gang. Ich versteifte mich und sofort ließ Theo mich los. Eine Sekunde schauten wir uns an, in seinen Augen konnte ich erkennen, dass auch er kurz vergessen hatte, dass wir uns immer noch in der Bibliothek befanden.

Da tauchte ein dunkler Schatten am Rand meines Sichtfelds auf, blieb direkt vor uns stehen und streckte eine Hand aus, um dicht neben meinem Gesicht ein Buch aus dem Regal zu ziehen.

Atlas. Wie beiläufig strichen seine Finger an meinem Ohr entlang. Er sagte nichts und tat bloß so, als würde er den Einband betrachten. Doch als sein Blick kurz über mich huschte, verzog er missbilligend das Gesicht.

»Was soll das?«, fragte Theo kühl und schob sich zwischen uns. Atlas gab sich jedoch völlig unbeeindruckt. »Was meinst du? Ich brauche lediglich ein Buch für meine Hausarbeit.«

Theos Augenbrauen wanderten nach oben. »Charles Dickens?«, fragte er zynisch und presste die Lippen zusammen.

Atlas zuckte mit den Schultern. Es war klar, dass ihm das Buch völlig egal war. »Ja … Solltest du vielleicht auch mallesen. Es geht um einen reichen Scheißkerl, der von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht wird. Müsste also genau dein Ding sein.«

Theo spannte sich an und ich schloss meine Finger blitzschnell um sein Handgelenk: eine stille Bitte, sich von Atlas nicht provozieren zu lassen. Kurz glaubte ich, Theo würde sich wieder entspannen, aber dann verengten sich seine Augen und ich befürchtete schon, dass die Situation eskalieren würde. Doch da wandte Atlas sich ab, bedachte mich mit einem letzten herablassenden Blick und schritt in aller Seelenruhe den Gang entlang. Kurz darauf hörte ich eine Tür ins Schloss fallen.

Theo atmete aus. Er lockerte die Schultern, dann schaute er zu der Nische am Fenster, wo wir unsere Bücher und seinen Laptop abgestellt hatten. Ich verstand sofort – und mir entwich ein frustrierter Laut, weil Atlas sein Ziel erreicht hatte. Der Moment zwischen Theo und mir – einer der seltenen Momente, in denen er seinen Kopf ausschaltete und sich erlaubte, sich fallen zu lassen – war vorüber.

Wir arbeiteten noch eine Weile an unseren Hausaufgaben – Theo an einer wissenschaftlichen Arbeit und ich an einem Referat –, ehe er den Laptop zuklappte und ihn in seiner Tasche verschwinden ließ.

»Wollen wir los? In einer Stunde beginnt das Training.«

Ich nickte, notierte einen letzten Satz und verstaute alle Unterlagen in meiner Umhängetasche, während Theo heimlich das Buch zurückstellte und sich von Mrs Ellington verabschiedete. Die Bibliothekarin wollte ihn überhaupt nicht gehen lassen. Immer wieder betonte sie, wie leid es ihr täte: »Ich kann gar nicht verstehen, warum das Buch plötzlich verschwunden ist.«

»Das ist kein Problem, wirklich«, beteuerte Theo. »Ich bin auch sehr gut ohne klargekommen. Aber vielen Dank für Ihre Mühe.«

»Natürlich, immer gerne, Mr Vanderton.«

Sie winkte uns zum Abschied und als Theo mir die Tür aufhielt, schlüpfte ich hindurch und steuerte auf unsere Fahrräder zu, die draußen vor dem imposanten Portal der zentralen Academy-Bibliothek an einem Laternenpfahl lehnten.

Theo ließ nie heraushängen, wie viel Geld seine Familie besaß, und das war eine der Eigenschaften, die ich an ihm besonders liebte. Genau wie ich ging er meist zu Fuß oder fuhr mit dem Fahrrad und verzichtete darauf, sich von den Shuttles der Academy umherkutschieren zu lassen oder selbst mit einem teuren Sportwagen über den Campus zu rollen.

Anfangs hatte ich sogar geglaubt, dass er wie ich auch ein Stipendium für die Highclare hatte. Erst als wir uns schon eine ganze Weile kannten, hatte ich herausgefunden, dass der verschlossene Junge, in den ich mich so Hals über Kopf verliebt hatte, der mit Abstand reichste Student am gesamten Campus war. Als einziger Enkel seines Großvaters würde Theo einmal die Vanderton Group übernehmen, ein Imperium, das laut Internet rund achtzig Milliarden Dollar wert war. Bei dieser Summe wurde mir immer noch schwindelig. Hinzu kam das private Vermögen der Familie, mehrere Anwesen, Jachten und Flugzeuge sowie weitere Wertanlagen, die ich mir wahrscheinlich nicht einmal vorstellen konnte. Trotzdem verhielt sich Theo nie, als würde ihm die Welt gehören. Im Gegenteil: Er ging einkaufen, wusch seine Wäsche selbst und wohnte in dem kleinsten aller Häuser des Ruby Circles: Sir Archer Remington. Im Gegensatz zu Haverton und Belmont House, die wie Paläste aussahen und auch entsprechend ausgestattet waren, glich Sir Archer eher einem verwunschenen Cottage. Mit der über und über von Efeu bewachsenen Fassade, den Sprossenfenstern und dem angrenzenden gläsernen Gewächshaus wirkte das kleine Herrenhaus immer ein wenig, als wäre es einem Märchen entsprungen. Es gab keinen Fitnessraum, keinen Indoor-Pool oder gläserne Panels in jedem Raum, über die man in Sekundenschnelle einen Dienstboten herbeirufen konnte. Doch inmitten des ganzen übersprudelnden Luxus und der vielen prominenten Namen waren genau dieses Haus und seine Bewohner in den vergangenen Monaten zu meinem persönlichen Ruhepol geworden.

An der Highclare Academy ging es oft darum, sich den anderen im besten Licht zu präsentieren, das hatte ich schnell gelernt. In den alten Gemäuern waren Geheimnisse die heißeste Währung und es war manchmal nicht leicht, zwischen echten und falschen Freunden zu unterscheiden. Doch Sir Archer Remington war mit der Zeit zu einem richtigen Zuhause geworden. Hier fühlte ich mich angenommen, genau so, wie ich war. Und so verbrachte ich meine freie Zeit inzwischen nicht mehr in Haverton House, wo ich mein Zimmer hatte, sondern dort. Oder im Reitstall, der genau wie alle anderen Sportanlagen im Zentrum des großzügigen Geländes lag.

Theo und ich radelten ein Stück auf der breiten Straße entlang, die ringförmig angelegt war und alle Häuser miteinander verband. Dann bogen wir ab und ich ertappte mich dabei, dass ich automatisch fester in die Pedale trat, sobald die Stallungen samt Paddocks und die zwei riesigen Reithallen in Sicht kamen. Auch Theo wurde schneller und kaum, dass wir die Räder an die Stallwand gelehnt hatten, griff er nach meiner Hand und zog mich mit zur Weide, um seine Pferde zu begrüßen. Alaska und Coco, zwei seiner drei Fuchsstuten, kamen sofort angetrabt. Skye, das neueste Mitglied in seinem Team, hob zuerst nur den Kopf, setzte sich dann jedoch ebenfalls in Bewegung. Ich stieß einen leisen Pfiff aus und mein Herz machte einen Hüpfer, als auch Twister, der mir von der Academy zur Verfügung gestellt wurde, ein Wiehern ausstieß und sich Skye anschloss. Mit einem leisen Brummeln kam der Schecke neben mir zum Stehen. Ich streichelte ihn an der Stirn und umarmte ihn. Anschließend begrüßte ich auch Theos Pferde und kraulte Skye unter dem Schopf.

Während Theo in Amerika gewesen war, hatte ich mich um sie gekümmert und die rotbraune Stute mit der schmalen Blesse und dem rosafarbenen Fleck auf den Nüstern noch mehr ins Herz geschlossen.

»Sie sieht richtig klasse aus«, sagte Theo und streichelte ihr über den Hals. »Bist du, während ich weg war, auch auf ihr geritten?«

Ich nickte. »Aber nicht oft. Zwei-, dreimal.«

»Und wie lief’s?«

»Ich glaube, ganz gut.«

Ich lächelte, weil es mir immer noch ziemlich viel bedeutete, dass er mir eines seiner Pferde anvertraut hatte. Sie waren seine größten Schätze. Den Angestellten und Bereitern der Academy erlaubte Theo lediglich, sie zu füttern und täglich auf die Weide zu bringen.

»Meistens habe ich Bodenarbeit gemacht und frei mit ihr gearbeitet. Wir haben geübt, dass sie stehen bleibt und auf das Kommando wartet, wenn ich sie abrufe. Da ist sie immer noch ziemlich ungeduldig. Aber es wird besser. Und …« Nun grinste ich ihn an, weil ich darauf besonders stolz war: »Vorgestern ist sie komplett frei über mehrere Hindernisse gesprungen. Nur auf mein Handzeichen hin. Genau, wie du es mit Alaska immer machst.«

»Das muss ich mir unbedingt ansehen.« Theo schmunzelte, beugte sich zu mir und gab mir einen Kuss.

»Besser nicht.« Ich lehnte mich an ihn. »Skye und ich sind nämlich inzwischen ein Dreamteam. Ich fürchte, dein Ego würde das nicht verkraften.«

Das Springtraining lief großartig. Seit Theo den Knoten in meinem Kopf gelöst hatte, gelang es mir immer besser, meine innere Anspannung und den Leistungsdruck, den ich mir selbst so häufig machte, beiseitezuschieben. In meinen ersten Wochen an der Academy hatte Twister es nicht leicht mit mir gehabt, weil ich gedanklich oft woanders gewesen war, voller Sorgen und Angst vor der Zukunft. Aber jetzt, da ich vor dem Stiftungskomitee bewiesen hatte, dass ich wirklich Talent im Umgang mit Pferden besaß, konnte ich es endlich wieder genießen zu reiten.

»Das war eine sehr gute Runde, Louisa«, sagte Liz, unsere Trainerin, mit einem Blick auf ihre Stoppuhr. »Damit bist du bisher die Schnellste.«

»Aber nicht mehr lange«, warnte mich Bellamy, der gerade auf seinem Schimmel Amethyst an mir vorbeiritt. »Ich bin nämlich jetzt dran. Und ich werde dich schlagen.«

»Das will ich sehen«, sagte ich feixend, woraufhin er ein Handzeichen machte, das wohl so viel wie Watch me heißen sollte. Er zwinkerte mir zu, dann ritt er los und tatsächlich gelang es ihm, meine Zeit noch zu unterbieten.

Als er durchparierte, hielt ich ihm die Hand zum Abklatschen hin. »Glück gehabt, Champ«, sagte ich und grinste. »Du hast dir den Titel Superstar in diesem Team gerade noch so gesichert.«

»Ja, aber langsam muss ich mich echt anstrengen.« Bellamy beugte sich herüber und tätschelte Twisters Mähne. »Wenn ihr so weitermacht, ist mein Ruf als Liebling des Komitees nämlich ernsthaft gefährdet. Und das kann ich auf keinen Fall zulassen.«

Ich lachte und wir alberten weiter herum, bis Liz uns alle zu sich rief und ich zwischen Bellamy und Theo anhielt.

»Ich bin wirklich zufrieden mit euch«, sagte sie und lächelte in die Runde. »So wie ihr gerade reitet, sollte es kein Problem für euch sein, in zwei Wochen in Manchester zu gewinnen.«

Manchester. Im meinem Bauch begann es zu kribbeln. Zwar war ich in den vergangenen zwei Wochen bereits einmal bei einem Turnier gestartet, aber das war eigentlich nur eine Testrunde gewesen, bei der Liz sehen wollte, ob Twister und ich zu einem Team geworden und bereit für den großen Parcours waren. Und ich fühlte mich so was von bereit! Während meine Teamkollegen viel öfter an den Start gegangen waren, Bellamy und Holly sogar international, war es mir schwergefallen, die Füße still zu halten. Aber jetzt war sie da: meine Chance, mich endlich zu beweisen. Das Turnier in Manchester – das Winter Horse Festival – würde über zwei Tage gehen und sehr wahrscheinlich würden potenzielle Sponsoren im Publikum sitzen, die mich und auch alle anderen Reiter ganz genau unter die Lupe nahmen. Vor meinem inneren Auge malte ich mir bereits aus, wie man Twister eine Schleife an die Trense steckte und ich eine Ehrenrunde ritt.

So in Gedanken versunken, entging mir komplett, was Liz noch sagte. Erst als Theo, der schon abgestiegen war, mich fragend ansah, merkte ich, dass sie uns entlassen hatte. Ich verabschiedete mich von ihr, dann folgte ich den anderen zum Stall.

»Bis heute Abend«, rief Bellamy uns zu und stieg in Holly Sages Cabrio ein, nachdem wir alle unsere Pferde versorgt und auf die Weide gebracht hatten. Flora und Nat hingegen verabschiedeten sich nicht. Wortlos nahmen sie auf der Rückbank des Wagens Platz und taten, als wären wir Luft.

»Was ist heute Abend?«, fragte Theo und runzelte die Stirn.

Ich verdrehte die Augen. »Edens Geburtstagsparty.« Fast hätte ich es auch vergessen. »Du weißt schon, die Party des Jahres.«

»Oh«, machte Theo nur und ich musste lachen, weil ihm seine Gedanken ins Gesicht geschrieben standen. Oh, traf es ziemlich gut, denn Eden, der Vorsitzende von Haverton House, hatte es sich in den Kopf gesetzt, alles zu übertrumpfen, was es bisher im Ruby Circle – der Gemeinschaft der drei Häuser – an Partys gegeben hatte. Und da er auch noch einundzwanzig wurde, war das Motto des Events besonders extravagant: Dark Circus.

Seit Tagen schwirrten bereits diverse Partyplaner durchs Haus und vorgestern hatte doch tatsächlich ein Lkw in der Einfahrt gehalten, der haufenweise Deko lieferte: Girlanden, samtene Vorhänge, eine riesige bunte Plane und sogar ein Karussellpferd. Ich hatte versucht, mich weitestgehend aus dem aufgeregten Klatsch und Tratsch, der mit der Organisation einherging, herauszuhalten, und war, wann immer möglich, aus Haverton House geflohen. Dennoch hatte ich heute Morgen mitbekommen, dass sogar Schauspieler und Artisten angereist waren. Vollkommen surreal. Obwohl ich nun schon seit September Mitglied im Ruby Circle war, erschien mir der Lebensstil der anderen manchmal immer noch befremdlich. Und nach der letzten Party, auf der mein bester Freund Jeremy auf abstoßende Weise vor den Augen aller geoutet worden war, war mir der Spaß an derart abgehobenen Veranstaltungen endgültig vergangen.

Die Sache mit Jeremy war der Höhepunkt eines ziemlich kranken Spiels gewesen, das sich jemand, der sich »der Master« nannte, für die Schüler und Studenten des Ruby Circles ausgedacht hatte: Bereits kurz nach meiner Ankunft an der Academy waren geheimnisvolle rote Briefe aufgetaucht. Anfangs hatten sich alle darauf gestürzt, weil sie eine der beliebten Ruby-Circle-Challenges witterten. Doch dann hatte sich herausgestellt, dass die Umschläge Aufgaben enthielten. Erfüllte man sie, winkte eine Belohnung; weigerte man sich, wurde man bestraft. Jeremy war einer derjenigen gewesen, die sich geweigert hatten mitzuspielen, und er hatte einen hohen Preis dafür bezahlt: Die ganze Schule, seine Familie und sogar die Klatschpresse wussten nun, dass er als Student an der Highclare Academy eine heimliche Beziehung mit meinem Klassenlehrer Mr Crawley führte.

Das war nun drei Wochen her. Seitdem hatte es keine neuen roten Briefe und Aufgaben gegeben … aber ich spürte instinktiv, dass der Master nicht einfach aufgegeben hatte und nur kurz Atem holte, bevor es weiterging.

Jede eurer Entscheidungen hat Konsequenzen und die Spiele haben erst begonnen, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf seine letzten Worte an diesem Abend und wie damals bekam ich eine Gänsehaut, die meinen ganzen Körper überzog.

»Wir könnten einfach nicht hingehen«, schlug Theo jetzt vor und holte mich damit in die Gegenwart zurück. Ich nickte, immer noch leicht abwesend, und verbannte die schrecklichen Gedanken energisch in den hintersten Teil meines Bewusstseins. Trotzdem löste sich der Knoten in meinem Magen, der sich bei der Erinnerung an die seltsam blecherne Stimme des Masters und an Jeremys Demütigung gebildet hatte, nur langsam. Erst als Theo mich sanft an sich zog und mir einen Kuss auf die Lippen hauchte, wurde es in mir wieder warm.

»Wie wäre es, wenn wir den Abend stattdessen gemütlich in Sir Archer verbringen?«

Ja, das klang wundervoll. In Haverton House würde es so voll sein, dass niemandem auffiel, wenn wir fehlten, und wenn Gary, der über siebzigjährige Hausvorsteher von Sir Archer Remington, abends nach Hause fuhr … hätten wir das Herrenhaus der Remingtons für uns allein. Nur Theo und ich und unendlich viel Zeit, in der wir vielleicht, ganz vielleicht … all das tun konnten, was ich mir in den vergangenen Wochen immer wieder ausgemalt hatte.

»Klingt nach einem fantastischen Plan«, sagte ich, lächelte Theo an und dachte daran, wie er mich in der Bibliothek geküsst hatte. Leidenschaftlich und so intensiv, dass mir schon wieder die Knie weich wurden. Ja, ich wollte das. Ihn. Dass er seinen Kopf ausschaltete und all seine kontrollierenden Gedanken verdrängte. Seine Haut auf meiner, meinen Namen auf seinen Lippen.

Alles an ihm. Und noch viel mehr.

Auf dem Weg nach Sir Archer Remington wurde der Himmel immer dunkler und kaum, dass wir den See hinter uns gelassen hatten und mit unseren Fahrrädern auf das kleine Waldstück dahinter zusteuerten, begann es zu schütten. Wir hatten keine Chance gegen die Wolkenmassen. Als Theo fünf Minuten später die Haustür aufschloss, waren wir völlig durchnässt und unsere Haare klebten uns im Gesicht. Rasch zogen wir unsere Jacken aus und kickten die Schuhe von den Füßen.

Von drinnen schlug uns eine angenehme Wärme entgegen und bereits im Flur hörte ich das leise Knistern des Kaminfeuers aus dem Wohnzimmer. Wie immer lag ein herrlicher Geruch in der Luft, eine Mischung aus frisch gebackenen Keksen und Früchtetee. Ich liebte Sir Archer Remington, die Menschen hier, die behagliche Atmosphäre und die vielen heimeligen Details, die dem Haus seinen ganz besonderen Charakter verliehen: das Bücherregal unter jeder einzelnen Stufe der Treppe, die nach oben führte, die Sitznischen in den Fenstern, die gemütliche Hängeschaukel neben dem Sofa und die kleinen Pflänzchen, die aus den Regalen hervorlugten oder in der Küche in Makramee-Ampeln von der Decke hingen.

»Da seid ihr ja endlich!«, wurden wir von Jasper begrüßt, der in seinem weißen Hemd, der beigefarbenen Hose und den cognacfarbenen Lederschuhen ungewohnt seriös aussah. Seine blonden Haare waren ordentlich gestylt und nur die Tatsache, dass er auf der Kücheninsel hockte und sich gerade einen Schokocookie aus einem Glas fischte, hielt mich davon ab, ihn zu fragen, wer er war und was er mit Jasper gemacht hatte.

»Ich habe schon gedacht, ihr kommt gar nicht mehr aus dem Stall zurück«, sagte er, fast ein wenig vorwurfsvoll. »Jetzt müsst ihr euch aber echt beeilen.«

»Wegen der Party?«, fragte Theo und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ihr braucht nicht auf uns zu warten. Wir kommen nicht mit.«

»Was?«, erklang es sofort schrill aus dem Wohnbereich. Keine Sekunde später kam Colin zu uns herüber. Ich schnappte nach Luft, als ich sah, was er mit seinem Rollstuhl angestellt hatte.

»Colin, was zur …?«

»Genial, oder?« Colin tätschelte dem gigantischen Dinosaurierkopf vor sich den Hals. Der gesamte Rollstuhl war Teil eines ziemlich spektakulären Kostüms – es sah aus, als würde Colin auf einem Velociraptor reiten. Aufgenähte Beine baumelten an den Seiten herunter und er zog sogar einen Schwanz hinter sich her. Colin selbst trug einen Cowboyhut und hielt die Zügel des Sauriers in der Hand.

Ich schaute zu Theo, der seinen Mitbewohner ebenfalls sprachlos und auch ein wenig verstört musterte, dann brach ich in Gelächter aus.

»Ave und ich wollten ja, dass Jas als Triceratops geht.« Colin grinste. »Aber der wollte nicht mitmachen. Was für ein Spielverderber.«

»Entschuldige, aber das geht heute echt nicht«, brummte Jasper und schob sich einen weiteren Cookie in den Mund, wodurch seine nächsten Worte nur undeutlich zu verstehen waren. »Ich singe heute vor meiner zukünftigen Ehefrau. Da kann ich mich nicht als Dino verkleiden. Partymotto hin oder her.«

Theo hob eine Augenbraue. »Wenn ich mich recht erinnere, warst du bei deinem letzten Auftritt mit nichts als einer Haverton-Flagge bekleidet.«

»Ja!«, rief Colin. »Außerdem liebt ja wohl jeder Dinos. Bestimmt ist Holly Sage ganz verrückt nach Jurassic Park und du versaust dir heute deine einzige Chance, bei ihr zu landen.«

»Tja, selbst schuld«, kam es da aus dem Obergeschoss und gleich darauf stapfte ein T-Rex die Treppe herunter. Avery!

»Leute, ich will euch echt nicht den Spaß verderben«, sagte Theo. »Aber es ist eine Haverton Party, noch dazu Edens Einundzwanzigster. Das wird ganz sicher kein Kindergeburtstag und …« Er schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, dass das gerade wirklich passierte. »Ach, egal. Macht, was ihr wollt.«

»Oho, da spricht der Haverton-Experte«, witzelte Colin, was dazu führte, dass Theo den Mund verzog. Er konnte es nicht leiden, wenn er daran erinnert wurde, dass er in Haverton House gelebt hatte, bevor er nach Sir Archer Remington umgezogen war. Warum, wusste ich nicht und bisher hatte sich auch noch keine gute Gelegenheit ergeben, ihn danach zu fragen. Außerdem waren wir in unserer Beziehung noch ganz am Anfang – er mochte seine Mauern ein Stück weit für mich gesenkt haben, aber vorhanden waren sie immer noch. Und wenn ich eins gelernt hatte, seit wir zusammen waren, dann, dass Theo sich zurückzog, wenn man ihn zu sehr bedrängte, und zu- statt aufmachte.

»Von wegen Experte«, gab er nun zurück. »Ich wollte ja nur sagen, dass es sein kann, dass ihr auf der Party die Einzigen sein werdet, die … auf diese Weise herausstechen.«

»Das hoffe ich doch!«, rief Avery und Colin bestätigte: »Alter, wir sind die Remingtons. Man erwartet quasi von uns, dass wir aus der Reihe tanzen.«

»Wie ihr meint«, murmelte Theo, griff nach meiner Hand und nahm mich mit zur Treppe und die Stufen hinauf.

»Oh nein! Ihr werdet euch jetzt ganz sicher nicht aus dem Staub machen!«, rief Jasper uns hinterher. »Ich brauche euch als Unterstützung. Das wird heute Abend ein geschichtsträchtiger Augenblick und den dürft ihr nicht verpassen.«

Theo blieb stehen und drehte sich um. »Warum?«, fragte er. »Weil Holly sich nach jahrelangem Schmachten deinerseits endlich Hals über Kopf in dich verliebt?«

»Ja, ganz genau.« Jasper nickte und ließ sich von der Kücheninsel heruntergleiten. »Und wie willst du auf meiner Hochzeit eine Rede darüber halten, wenn du nicht live dabei warst?«

Theo antwortete ihm nicht und sah mich nur an, als wollte er sagen: Hilfe, wo sind wir hier nur gelandet?

»Solltest du Holly wirklich mal heiraten, werde ich die beste Rede halten, die du je gehört hast«, versprach er. »Aber deswegen lasse ich mich nicht von euch auf diese Party schleifen.« Damit nahm er die letzten Stufen, zog mich hinauf in sein Zimmer und schloss die Tür hinter uns.

Theo war der Einzige in Sir Archer Remington, der unter dem Dach wohnte. Zusammen mit dem angrenzenden Bad war der Raum größer als die Zimmer der anderen, wirkte aber auch irgendwie unfertiger. An der Wand, an der sein Bett stand, lag das Mauerwerk offen, der dunkle Holzboden war voller Macken und zur Beleuchtung baumelten lediglich vereinzelte Glühbirnen von der Decke. Doch in Kombination mit Theos dunklen modernen Möbeln, seiner schlichten Kleiderstange und den Kohlezeichnungen an der Wand hatte der Raum einen ganz eigenen Charme. Kühl und gleichzeitig tiefgründig, genau wie Theo.

Auf dem Boden lagen noch immer die Sachen verstreut, die er in New York dabeigehabt hatte: ein geöffneter Hartschalenkoffer und eine lederne Dufflebag, aus denen Hemden und Socken quollen.

»Wir sollten aus den nassen Sachen raus.« Kurzerhand streifte Theo seinen Hoodie über den Kopf und warf ihn achtlos auf den Boden neben den Koffer. »Am besten duschen wir und ziehen uns dann etwas Warmes an.« Er rubbelte sich über die Haare, öffnete seinen Gürtel und strich sich die Hose von den Beinen. Ich erstarrte. Inzwischen hatte ich Theo schon so viele Male geküsst, mit meinem Gesicht auf seiner Brust gelegen und die Konturen seiner Muskeln mit den Fingerspitzen nachgemalt. Aber … komplett nackt gesehen hatte ich ihn noch nicht. Und bei der Vorstellung, jetzt zu duschen – mit ihm zusammen –, begann auf einmal alles in mir wie wild zu kribbeln und mein Gesicht fühlte sich heiß an. Ja, ich wollte das, keine Frage. Aber hier und jetzt, so plötzlich, überforderte mich die Situation dann doch ganz schön. Theo sah hoch, fing meinen Blick auf und hielt mitten in seiner Bewegung inne.

»Sorry«, sagte er und fuhr sich mit der Hand über den Nacken. »Das sollte jetzt nicht so klingen, als ob … Also natürlich nicht zusammen. Ich wollte dich zu nichts drängen.«

Kurz glitt sein Blick zu seinem Pullover, als überlegte er, ihn wieder anzuziehen. Doch ich war schneller und hielt ihn davon ab, indem ich ihm die Arme um die Taille schlang.

»Ist schon okay, das hast du nicht«, sagte ich leise und stellte mich auf die Zehenspitzen, um meine Lippen sanft über seine streichen zu lassen. Dann sammelte ich meinen Mut, umfasste den Bund meines eigenen Pullovers und streifte ihn ebenfalls ab. Theo rührte sich nicht, aber ich hörte ihn deutlich einatmen, und als ich ihn abermals küsste, legte er die Arme um mich. So vorsichtig, als wäre ich das Kostbarste, das er jemals festgehalten hatte.

»Ernsthaft? Ihr habt es nicht einmal zwei Minuten allein in einem Raum ausgehalten, ohne übereinander herzufallen?«

Die Stimme erklang so unerwartet, dass ich heftig zusammenzuckte. Sabia! Sie war einfach hereingeplatzt, stand nun im Türrahmen und musterte uns grinsend. Allem Anschein nach hatte sie sich erfolgreich gegen ein Dinokostüm gewehrt, trug aber zu ihrem engen schwarzen Minikleid einen braunen Lederhut auf dem Kopf, der aussah, als hätte sie ihn Indiana Jones persönlich geklaut.

»Raus«, knurrte Theo, aber sein scharfer Tonfall reichte nicht aus, um sie zu beeindrucken.

»Ach, hab dich nicht so. Das Erste, was ich in diesem Haus gelernt habe, war, dass man abschließen muss, wenn man so etwas wie Privatsphäre haben will. Und du wohnst schon deutlich länger hier. Also, heul nicht rum.«

Theo stöhnte auf. »Was willst du?«

»Na, was wohl?« Sabia verschränkte die Arme vor der Brust. »Euch zu dieser Party überreden. Ihr könnt nicht einfach hierbleiben. Jeremy hat nur zugesagt, weil ich versprochen habe, dass wir ihn den Abend über nicht allein lassen – schließlich ist es das erste Mal, seit … na, ihr wisst schon. Und Jas ist es wirklich wichtig, dass ihr mitkommt. Ich kann verstehen, dass ihr zwei euch gerade nicht so sehr nach Gesellschaft sehnt, aber dieser Auftritt ist eine große Sache für ihn. Und wir können ihn jetzt nicht hängen lassen. Du auch nicht, Theo. Du bist sein Freund.«

»Sagt wer?«, knurrte Theo frustriert. Doch an seiner Haltung konnte ich sehen, dass Sabias Worte ebenso zu ihm durchdrangen wie zu mir. Ich war mir sicher, dass es Eden nicht auffallen würde, wenn wir fehlten. Aber ich wusste, wie wichtig Jasper der Rückhalt seiner Freunde war. Und Jeremy? Wenn Sabia ihn wirklich überredet hatte, zu der Party zu kommen, musste ihn diese Zusage viel Überwindung gekostet haben. Ich seufzte und Theos Gesicht verriet mir, dass auch er sich geschlagen gab, wenn auch murrend.

»Ich habe aber gar nichts zum Anziehen«, stellte ich mit einem Blick an mir herunter fest.

»Das sehe ich.« Sabia nickte. »Kleidung scheint hier ja gerade generell eher Mangelware zu sein.« Sie streckte eine Hand nach mir aus und sah mich auffordernd an. »Na los, komm mit in mein Zimmer. Ich bin sicher, in meinem Schrank finden wir etwas Passendes für dich.«

Wir hörten die Musik schon von draußen und als sich die Haustür von Haverton House öffnete, kam ich mir kurz vor wie in einer Parallelwelt. Das historisch anmutende Foyer mit seinen hellen Marmorböden, den stuckverzierten Wänden und der breiten Treppe hatte sich verwandelt. Sämtliche Fenster waren verhangen und rotes Licht waberte über uns hinweg. Neben der Tür, auf einem runden Podest, drehte sich eine stark geschminkte Frau wie eine Spieluhrpuppe um die eigene Achse und auch am Geländer der Treppe rekelten sich leicht bekleidete Tänzer und Tänzerinnen.

Willkommen auf Eden Caldwells ganz persönlichem Trip – und das ohne Halluzinationen. Irre!

»Oha«, machte Colin, als wir unsere Jacken abgaben. Er warf den Tänzern einen irritierten Blick zu, den sie erwiderten, dann lenkte er seinen Dino an ihnen vorbei und weiter auf den dunklen Teppich, der die Besucher durch das Entree leitete.

»Ich habe euch ja gleich gesagt, dass das keine Verkleidungsparty ist«, murmelte Theo. Sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er am liebsten sofort wieder umdrehen wollte. Mir ging es ähnlich. Warum noch mal hatte ich mich zu diesem verrückten Event schleifen lassen, statt den Abend eingekuschelt mit Theo in seinem Bett zu verbringen? Ach ja: wegen meiner Freunde! Ein Blick auf Jasper genügte, damit ich mir wieder ganz sicher war, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Obwohl er als bekannter YouTube-Star für gewöhnlich keine Probleme hatte, vor anderen zu sprechen und etwas Privates von sich zu teilen, machte ihn sein heutiger Auftritt sichtlich nervös. Den Griff seines Gitarrenkastens hielt er so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß hervortraten, und während wir uns einen Weg durch die Grüppchen der anderen Gäste bahnten, blickte er sich immer wieder suchend um.

»Hey!« Ich berührte ihn am Arm. »Entspann dich, du wirst großartig sein. Und Holly Sage wird es lieben.«

Hoffentlich, formten seine Lippen, dann lief er Colin hinterher und ich warf im Vorbeigehen einen Blick in einen der hohen Wandspiegel. In dem goldglitzernden Minikleid und den hohen Schuhen von Sabia sah ich irgendwie fremd aus, aber auch sehr verführerisch. Meine langen braunen Haare waren zu Locken eingedreht und das glänzende Stirnband samt Feder verlieh meinem Look einen glamourösen Zwanziger-Jahre-Touch.

Sabia hatte versucht, Theo eine goldene Fliege anzudrehen, weil sie fand, dass er das Motto wenigstens ein bisschen würdigen sollte. Aber der hatte sich geweigert und sich für ein schlichtes schwarzes Hemd und eine passende Hose entschieden.

»Unser Rapunzel aus dem Dachzimmer geht als seine Lieblingsstimmung«, hatte Colin gewitzelt, als wir uns auf den Weg gemacht hatten. »Oder als sein Sinn für Humor.«

Theo hatte daraufhin nur die Augen verdreht.

»Alles okay?«, flüsterte er mir jetzt zu. Ich nickte und zuppelte mein Kleid nach unten.

»Hey, lass das«, ermahnte Sabia mich sofort. »Du bist superheiß, genau richtig für diesen Abend. Vertrau mir.« Sie umfasste mein Handgelenk und bevor ich mich’s versah, wurde ich von ihr mitgezogen, weg von Theo und weiter den Flur entlang, bis wir den größten der Gemeinschaftsräume betraten.

»Nicht sein Ernst«, entfuhr es Theo hinter mir. Auch ich blieb erst einmal stehen, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen. Der Wohnbereich war in ein echtes Zirkuszelt verwandelt worden, samt Plane, Bühnenvorhang und runder Manege, auf der sich bereits einige Havertons mit Cocktailgläsern in den Händen im Takt der Musik bewegten. Aber das war noch nicht alles: Zwischen den Sofas und Sesseln, die überall am Rand verteilt standen, entdeckte ich mehrere gigantische Vogelkäfige mit Tänzern darin und von der Decke baumelte ein Ring, in dem ein Mädchen mit funkelndem Body und aufreizendem Augenaufschlag ihre Akrobatikkünste zur Schau stellte.

»Jetzt hat Eden völlig den Verstand verloren«, sprach Theo meine Gedanken aus.

»Nein, Eden ist genial«, verbesserte Sabia ihn und drehte begeistert den Kopf zu allen Seiten. »Nur bei einer Sache muss ich dir recht geben.« Sie blickte von Theo zu Avery in seinem T-Rex-Kostüm und knuffte ihn freundschaftlich in die Seite. »Wir haben das Thema voll verfehlt.«

»So ein Blödsinn!«, rief Colin sofort und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Außerdem interessiert mich eh nicht, was andere von mir denken. Los, kommt, suchen wir erst mal das Büfett.«

Und damit rollte er los, verfolgt von einem riesigen T-Rex und Sabia, die uns zuzwinkerte. Jasper hingegen rührte sich nicht, offenbar war er immer noch genauso perplex wie ich. »Mit dieser Party wird Eden endgültig in die Geschichte der Academy eingehen«, stellte er fest und blickte sich um. Ja, dem konnte ich nur zustimmen. Das hier war … der Wahnsinn! Obwohl die Party gerade erst begonnen hatte, war der Raum bereits gut gefüllt und hinter uns drängten unaufhörlich weitere Gäste herein. Aus den Boxen an den Wänden erklang die Stimme von Olivia Rodrigo, die immer wieder von Ausrufen der Begeisterung übertönt wurde. Überall wurden Selfies gemacht und auf einem der Sofas am Rand erkannte ich drei Leute aus meiner Klasse. Auch Nat und Flora standen zusammen mit mehreren Belmont-Mädchen am Rand der Tanzfläche, ebenso wie Ekatarina, ihre Vorsitzende, heute in einem kurzen schwarzen Kleid mit langem durchscheinendem Rock. Die Haare hatte sie wie fast immer zu einem strengen Knoten gebunden.

Ob Jeremy schon hier war? Ich versuchte, ihn in der Menge auszumachen, entdeckte jedoch nur seinen Kotzbrocken von Bruder. Cedric, groß, sportlich und mit kantigen Gesichtszügen, lehnte an einem der übergroßen Vogelkäfige und unterhielt sich mit Atlas, Celestine und Grayson, die ebenso wie er Teil des Schwimmteams waren. Grayson erinnerte mich mit seinen hellen Augen und den platinblonden Haaren immer ein wenig an einen gut aussehenden Vampir – fehlte nur noch der Glitzer auf der Haut. Ich hatte nichts gegen ihn – anders als bei Cedric … Allein die Art, wie er die Frau hinter den Gitterstäben gerade betrachtete, sagte einfach alles über ihn. Widerlicher Typ!

Noch immer hatte ich bildlich vor Augen, wie er Jeremy in der Schwimmhalle unter Wasser gedrückt hatte, bis ich ins Becken gesprungen war, um dem Ganzen ein Ende zu setzen. Keine Ahnung, wie lange er sein krankes Machtgehabe sonst noch …

Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken, als ich merkte, dass Atlas zu uns herübersah und mich musterte. Am liebsten hätte ich sofort den Blick abgewandt. Gerade noch so konnte ich mich davon abhalten – diese Genugtuung würde ich ihm ganz sicher nicht verschaffen. Und so erwiderte ich seinen Blick, richtete mich noch etwas weiter auf und hoffte, dass man mir nicht anmerkte, wie viele Emotionen in diesem Moment wild in mir durcheinanderwirbelten und wie unangenehm es mir war, wenn er mich so anschaute. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass er zu Beginn des Schuljahres allen Ernstes versucht hatte, seine ehemals beste Freundin, in die er verliebt gewesen war, durch mich zu ersetzen. Einfach nur, weil ich ihr ähnlich sah. Wer kam denn auf so etwas?

Zum Glück hatte Atlas mich seit der Party des Masters in Ruhe gelassen. Trotzdem versetzte mich allein die Tatsache, dass wir uns in einem Raum befanden, in Alarmbereitschaft.

»Vanderton? Du hier?«, rief da jemand so laut, dass es trotz der Musik gut zu hören war. Erst jetzt fiel mir auf, dass Grayson seine Freunde stehen gelassen hatte und sich zu uns durchkämpfte. Er klopfte Theo auf die Schulter und lachte. »Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst. Genial! Dann sind die Haverton Five ja heute endlich mal wieder vereint, genau wie in alten Zeiten.« Bevor Theo etwas erwidern konnte, umarmte Grayson ihn und winkte Bellamy herbei. »Trengove, schau mal, wer uns heute beehrt!«

Bellamy, der gerade mit einem Glas in der Hand und Holly Sage im Arm den Raum betrat, blieb erstaunt stehen. Seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln.

»Hey, Mann, cool, dass du da bist.« Er schlug mit Theo ein und hielt auch Jasper und mir zur Begrüßung die Hand zum Abklatschen hin.

»Schön, dass du mal wieder vorbeischaust.« Holly Sage hauchte Theo einen Kuss auf die Wange und umarmte mich, als wären wir die besten Freudinnen. »Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, Theo zu überzeugen mitzukommen. Aber ich bin mir sicher, du hättest Eden kein größeres Geschenk machen können. Seine legendären Five alle wieder zusammen auf seiner Party. Er wird begeistert sein.«

Die Haverton Five. Oder wie Coraline, eine Freundin der Jungs, sie nannte: die Haverton Hot Five – die heißesten Jungs aus Haverton House. Auch wenn Theo den Titel meiner Meinung nach mehr als verdient hatte, fiel es mir nach wie vor schwer zu glauben, dass er tatsächlich einmal ein Teil dieser Clique gewesen war. Und noch weniger konnte ich mir vorstellen, dass er sich damals mit Atlas verstanden hatte …

Unwillkürlich sah ich noch einmal zu der Voliere hinüber und spürte ein Ziehen im Bauch, als meine Augen seine direkt fanden. Atlas hatte den Blick nicht abgewandt. Er beobachtete mich noch immer und ein kleines zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen, so als wüsste er genau, wie sehr er mich verunsicherte. Doch dann veränderte sich sein Ausdruck, fast so, als wäre ich ihm auf einmal zu langweilig geworden. Beinahe großmütig nickte er mir noch einmal zu, dann drehte er sich um und verschwand in der Menge.

Genau wie Holly Sage es prophezeit hatte, bekam Eden sich gar nicht mehr ein, als er Theo entdeckte. Wenn man ihn nicht kannte und wusste, dass er immer etwas exzentrisch war, konnte man glauben, Theo wäre monatelang verschollen gewesen oder von einer Expedition am südlichen Polarkreis heimgekehrt. Eine Hand auf seine Schulter gelegt, führte Eden ihn herum wie einen preisgekrönten Pudel. Dass er dabei einen paillettenbesetzten roten Frack und einen goldenen Zylinder auf dem Kopf trug, machte die ganze Sache noch absurder.

Theo ließ das Ganze über sich ergehen, ohne sich anmerken zu lassen, was er darüber dachte. Während er jedoch mit Eden und den anderen für Fotos posierte, kam es mir so vor, als würde er in eine Rolle schlüpfen. Eine Version von ihm, die sich mühelos in ihr Umfeld einfügte, in jeder Situation die richtigen Worte fand und deren Selbstbewusstsein den kompletten Saal einnahm. Ganz so, als wäre er bei einem Business-Event, bei dem es darum ging, einen wichtigen Deal abzuschließen.

»Erinnert ihr euch an den Abend im Ferienhaus von Atlas’ Eltern? St. Moritz, das war legendär. Ich meine … wie lange haben wir da durchgefeiert? Eine Woche?« Eden hob sein Glas, stieß damit gegen Theos und grinste. »Und Deverell war so dicht, dass er fast im Jacuzzi ersoffen wäre. Der verdankt dir sein Leben, Mann!«

Grayson verzog das Gesicht. »So besoffen war ich auch wieder nicht.«

Theos Augenbraue zuckte. »Du hast der Wohnzimmerpflanze einen Namen gegeben, ihre Blätter gestreichelt und ihr die halbe Nacht lang deine Lebensgeschichte erzählt. Inklusive Dingen, die niemand von uns jemals wieder aus dem Kopf bekommen wird.«

»Ja, genau!«, rief Eden. »Wie hat er das Teil noch mal genannt?«

»Fred«, erinnerte sich Theo und Eden prustete los.

Auch ich konnte mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Gleichzeitig fühlte es sich merkwürdig an, Theo so mit seiner alten Haverton-Clique zu erleben. Bisher hatte er mir immer das Gefühl gegeben, dass er Partys hasste und seine Zeit lieber allein als in großen Gruppen verbrachte. Er machte gerne Musik, las Bücher und stand morgens zu absolut gottlosen Zeiten auf, nur um unbeobachtet mit seinen Pferden trainieren zu können. Gespräche mit Menschen, die ihm nicht nahestanden, führte er nur, wenn sie sich nicht vermeiden ließen, und lieber sagte er gar nichts, bevor er Gefahr lief, in Small Talk verwickelt zu werden.

Dass ausgerechnet Theo mehrere Nächte am Stück durchgemacht haben sollte und mit Eden in exklusiven Londoner Underground Clubs gefeiert hatte, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

»Oh, ich vermisse die alten Zeiten.« Grayson nahm einen Schluck aus seinem Glas. »Ich werde zum Beispiel nie vergessen, wie wir einmal spontan mit dem Eurostar nach Paris gefahren sind, um auf dem Eiffelturm anzustoßen.«

Bei dieser Erinnerung verhärtete sich Theos Gesicht. Es war nur eine winzige Regung, aber mir entging nicht, wie er plötzlich die Kiefer zusammenpresste und seine Mundwinkel herabsanken.

»Annies Geburtstag«, ergänzte Bellamy und ich horchte auf. Annie. Atlas’ ehemalige beste Freundin. Das Mädchen, das mir aus irgendeinem verrückten Grund so ähnlich sah und das sich, genau wie ich, in Theo verliebt hatte. Sie war wie ein Phantom, ein Schatten, der mich verfolgte, obwohl sie nicht einmal mehr an der Highclare studierte.

Nach der Party des Masters hatte ich mit Theo ausgiebig über sie gesprochen und ihm all meine Fragen gestellt. Was für ein Mensch sie gewesen war – zurückhaltend, manchmal traurig, dann ganz plötzlich wieder aufgedreht und nicht zu bremsen. Ob er wirklich nichts für sie empfunden hatte – nein, sie war nie mehr als eine gute Freundin für ihn gewesen. Und zu guter Letzt: Was genau am Abend des jährlichen Gründerballs geschehen war, bevor sie als vermisst gemeldet wurde, und ob wirklich niemand wusste, wo sie sich jetzt aufhielt.

Diese Frage hatte Theo mir nicht beantworten können. Zum einen, weil ihm irgendwer in jener Nacht heimlich Drogen verabreicht hatte und Theo sich an kaum etwas erinnern konnte. Zum anderen, weil Annies Verschwinden komplett vertuscht worden war. Theos Erzählungen zufolge hatte es zwar eine Suchaktion der Polizei gegeben, aber diese war auf Wunsch ihrer Familie nach kurzer Zeit eingestellt worden. Natürlich hatten ihre Freunde und auch er nicht so schnell aufgegeben, aber die privaten Nachforschungen waren im Sand verlaufen. Und so konnte heute niemand sicher sagen, was mit Annie geschehen war – ob sie überhaupt noch lebte oder vielleicht sogar tot war. Für Eden jedenfalls schien Ersteres außer Frage zu stehen. Er redete immer so über sie, als wäre sie nur kurz im Urlaub.

»Annie war so dicht. Ich weiß noch genau, wie sie von der Brücke in die Seine gekotzt hat.«

Alle lachten, nur ich runzelte die Stirn und versuchte, Theos Blick aufzufangen. Der schaute jedoch bloß flüchtig zu mir herüber, wandte sich dann wieder ab und blieb mir die Antwort auf meine stille Frage schuldig, was Annies Erwähnung in ihm ausgelöst hatte.

Unweigerlich fragte ich mich wieder, was für ein Mensch er vor einem Jahr gewesen war. Ob ich mich damals schon in ihn verliebt hätte und was dazu geführt hatte, dass er all dem hier – seinen ehemaligen Freunden, seinem Haus, ja … anscheinend seiner gesamten früheren Identität – den Rücken gekehrt hatte.

Unterdessen fuhr Eden ohne Atempause damit fort, von den alten Zeiten zu schwärmen. Erst als er fand, dass es nun Zeit für seine ganz persönliche Überraschung für uns war, verabschiedete er sich, sprang auf die aufgebaute Bühne und schnappte sich ein Mikrofon. »So, Freunde, nachdem wir uns nun alle warmgetrunken … ähm -getanzt haben, wollte ich natürlich sagen …« Er lachte und ein Großteil seiner Gäste fiel mit ein. »… habe ich noch eine Überraschung für euch. Denn was wäre eine Party unter dem Motto Dark Circus ohne entsprechende Showhighlights?«

Energisch winkte er alle von der Tanzfläche. Gleich darauf betrat eine Artistengruppe die Manege. Ihre hautengen Bodys bedeckten nur das Nötigste und erweckten den Eindruck, als würden bei jeder Bewegung schwarze Schlangen um ihre Körper gleiten. Doch nicht nur die Outfits, auch ihre Nummer war wirklich beeindruckend – eine Mischung aus Tanz, Akrobatik und künstlerischen Lichtinstallationen. Die Körper wanden sich in- und umeinander, verknoteten sich in den groteskesten Verrenkungen, sodass man kaum noch richtig erkennen konnte, welches Körperteil zu welchem Menschen gehörte.

Als einer der Männer eine Frau schließlich auf einer Hand balancierte und sie grazil ein Bein in die Luft reckte, wurde der Applaus extralaut. Der Gruppe folgten Burlesque-Tänzerinnen, die Eden wie selbstverständlich in ihre Show miteinbanden, was ihm sichtlich gut gefiel. Den Abschluss bildete ein Zauberkünstler, der seine Fähigkeiten als Mentalist unter Beweis stellte und anschließend Holly Sage zu sich auf die Bühne rief. In ihrem glitzernden hautengen Body, der an einigen Stellen durchsichtig und nur von kleinen Steinchen besetzt war, sah sie selbst aus, als wäre sie Teil der Vorstellung. Jasper neben mir stand der Mund ein bisschen offen und ich hätte schwören können, dass er das Atmen kurzfristig eingestellt hatte. Keine Ahnung, ob mich das zum Lachen bringen oder ob ich ihn lieber schütteln sollte. Ja, Holly Sage war umwerfend hübsch, mit langen eichenholzfarbenen Haaren und feinen Sommersprossen auf und um die zierliche Nase. Kurz: Sie war die Verkörperung einer Disneyprinzessin. Wahrscheinlich konnte sie auch singen, tanzen und mit Tieren sprechen. Dennoch war das meiner Meinung nach wirklich kein Grund, auf lebenswichtige Maßnahmen zu verzichten.

»Hey!« Ich beugte mich zu ihm, während der Zauberer zu Musik und Konfettiregen mehrfach hintereinander Holly Sages Outfit änderte und in tosendem Applaus badete. »Schnapp dir schon einmal deine Gitarre, du bist gleich dran!«

Das riss ihn aus seiner Starre und tatsächlich dauerte es keine fünf Minuten mehr, bis EdenJasper zu sich nach vorne rief. Die Manege wurde wieder als Tanzfläche freigegeben und ich drängte zusammen mit meinen Freunden aus Sir Archer Remington nach ganz vorne zur Bühne. Theo verlor ich dabei aus den Augen, dafür fand ich Jeremy, den Sabia offenbar überredet hatte, beim Sir-Archer-Gruppenkostüm mitzumachen. Statt seines üblichen Hemds und dem ordentlichen Pullover darüber trug er heute Chris-Pratt-Style: schwarzes Shirt, hochgekrempelte Ärmel und eine braune Weste. Dazu hatte er sich einen Hut aufgesetzt, der dem von Sabia ähnelte.

»Steht dir!«, rief ich und tippte an die Krempe.

»Ja, mal was ganz anderes als sonst. Ich habe heute einen rebellischen Tag.« Er grinste mich an und mir wurde ganz warm, so gut tat es, ihn endlich wieder einmal so fröhlich zu sehen. Die letzten Wochen waren hart für Jeremy gewesen und auch wenn er nur wenig darüber erzählt hatte, konnte ich mir gut vorstellen, was bei ihm zu Hause los gewesen war, nachdem er mit seinen Eltern und seinem Bruder über die Beziehung zu Alaric Crawley gesprochen hatte. Die traurigen Augen und das ausdruckslose Gesicht meines Freundes in den Tagen danach hatten Bände gesprochen.

»Geht es dir gut?«, fragte ich und er schüttelte er den Kopf.

»Nicht wirklich.« Jeremys Gesicht verdüsterte sich. »Nur noch zwei Tage bis zum Termin mit Rektor Lowell … Ich bin schon ziemlich nervös.«

Ich nickte und legte ihm eine Hand auf den Arm. Die Neuigkeit, dass Jeremy und mein Klassenlehrer ein Paar waren, hatte nach der Party des Masters am Campus für viel Wirbel gesorgt. Zwar sahen die meisten meiner Mitschüler und -studenten absolut kein Problem darin, aber einige Eltern hatten sich beschwert und Konsequenzen gefordert. Alaric hatte sich deswegen erst einmal freistellen lassen. Und übermorgen gab es einen Termin, bei dem Jeremy und er nacheinander mit Rektor Lowell sprechen sollten.

»Wenn du möchtest, können wir uns vorher noch mal treffen und alles durchgehen, was du denen sagen willst«, schlug ich vor.

»Das wäre super!«

»Und falls du heute spontan nach Hause willst, sag einfach Bescheid. Dann begleiten Theo und ich dich.«

»Nein, schon gut.« Jeremy winkte ab. »Ich glaube, diese Party ist genau das Richtige, um mich abzulenken. Und Jaspers Auftritt wird bestimmt klasse.«

Er nickte zur Bühne. Wie aufs Stichwort wurde das Licht gedimmt und ein Scheinwerfer auf den Zirkusvorhang gerichtet. Exakt auf die Stelle, an der Jasper nun mit seiner Gitarre Stellung bezog. »Lass uns einfach ein bisschen Spaß haben, okay?«

»Einverstanden«, sagte ich und als die ersten Zeilen von This Girl, Jaspers erster eigener Single, erklangen, gab es für uns beide, Sabia und die Jungs aus Sir Archer kein Halten mehr. Wir tanzten und sprangen auf der Stelle, was bei Avery besonders lustig aussah, da er immer noch das T-Rex-Kostüm trug. Ein Blick zur Seite verriet mir, dass auch die anderen im Raum Jaspers Auftritt feierten. Holly Sage tanzte ausgelassen mit Bellamy. Grayson hatte sich Ekatarina geschnappt und Theo, den ich neben Eden etwas abseits des Getümmels stehen sah, beobachtete unser wildes Gehüpfe mit einem amüsierten Schmunzeln auf den Lippen. Als sich unsere Blicke kreuzten, lächelte er mir zu und jeglicher Zweifel an ihm, der sich im Laufe des Abends in meine Gedanken geschlichen hatte, verschwand. Es war egal, wie Theo früher gewesen war, für mich zählte nur der Moment.

Viel zu schnell war das Lied vorbei. Aber Jasper hatte noch einige Coversongs vorbereitet und als er Taylor Swifts You belong with me anspielte, riss Colin begeistert den Arm nach oben und sang lautstark mit.

Am Ende forderten alle eine Zugabe und dieses Mal schien wirklich jeder den Text von This Girl draufzuhaben. Als Jasper die Bühne verließ und einem DJ Platz machte, wirkte er überglücklich.

»Also, wenn Holly dich jetzt nicht heiraten will, weiß ich auch nicht weiter!«, rief Colin und hielt sein Handy hoch, als Zeichen dafür, dass er Jaspers Auftritt aufgenommen hatte.

»Dann hat sie dich nicht verdient«, bestätigte auch Sabia. »Wenn sie jetzt immer noch nicht checkt, was für ein Traummann du bist, solltest du sie in die Wüste schicken.«

Jasper lachte. Er drehte sich um, wie um zu sehen, ob Holly zu ihm herüberschaute. Doch sie stand mit dem Rücken zu uns, einen Arm um Bellamy gelegt. Kurz huschte ein enttäuschter Ausdruck über Jaspers Gesicht. Doch nur so lange, bis er von einem gigantischen T-Rex in eine Umarmung gezogen und beglückwünscht wurde. »Bro, du warst super! Davon werde ich noch meinen Enkeln erzählen!«

»Das hoffe ich doch.« Jasper grinste und bevor er sich noch einmal nach Holly Sage umdrehen konnte, legte ich ihm die Hände auf die Schultern und schob ihn nachdrücklich auf die Tanzfläche, wo wir alle einen Kreis um ihn bildeten. Er gab sich geschlagen, aber nach dem dritten Song straffte Jasper auf einmal die Schultern. »Ich werde sie jetzt einfach fragen.«

»Holly?« Colin riss die Augen auf. »Du willst fragen, ob sie dich heiratet?«

»Nein, natürlich nicht.« Jasper verdrehte die Augen. »Ob sie mit mir tanzt.«

»Ja, mach das. Unbedingt!«, rief Avery und klopfte ihm auf den Rücken. »Wir sind direkt hinter dir und feuern dich an!«

»Wehe!«, lachte Jasper. Dann atmete er tief durch und bahnte sich einen Weg zum Rand der Manege, wo Holly Sage inzwischen auf einem der Sofas saß und sich mit Celestine und Coraline unterhielt.

»Komm schon, Mann«, hörte ich Colin neben mir murmeln. Er hielt beide Hände vor sich, drückte die Daumen und sah aus wie meine beste Freundin Kami zu Hause, wenn die finale Entscheidung bei irgendeiner Talentshow fiel. Als er meinen Blick bemerkte, grinste er. »Falls sie ihm einen Korb gibt, wünschen wir uns einfach Flowers von Miley Cyrus.«

»Sie wird ihm keinen Korb geben«, entgegnete Sabia. »Und falls doch, reden wir nie wieder ein Wort mit ihr.«

Gebannt beobachteten wir, wie Jasper vor Holly Sage zum Stehen kam. Er sagte etwas, zumindest vermutete ich das, weil er ein wenig verlegen mit den Händen gestikulierte.

»Alter, halt jetzt bloß keine lange Rede«, murmelte Avery hinter mir und Colin rutschte nervös in seinem Rollstuhl hin und her. Ich konnte sehen, wie Holly Sage die Lippen bewegte.

»Wenn die ihm jetzt ernsthaft das Herz bricht …«, knurrte Sabia, aber genau in diesem Augenblick stand Holly Sage auf und reichte Jasper die Hand. Eine Sekunde lang waren wir alle wie eingefroren, doch dann folgte sie ihm tatsächlich auf die Tanzfläche. Wir rissen gleichzeitig unsere Arme nach oben und jubelten so laut, dass Jasper uns einen scharfen Blick zuwarf. Er sollte wohl böse wirken und so viel heißen, wie: Leute, reißt euch zusammen. Ihr seid so peinlich. Gleichzeitig konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen, das jedoch kurz schockgefrostet wurde, als das Lied völlig abrupt abbrach und in einen neuen Song überging. Langsamer, eindeutig viel romantischer und … Moment, war das etwa Perfect von Ed Sheeran?

Überrascht drehte ich mich zu dem DJ um und sah gerade noch, wie ein T-Rex hinter dem Pult entlanghüpfte.

»Genial, Ave!«, lobte Colin sofort. »Jas wird uns ewig dankbar sein.«

»Es gibt halt keine besseren Freunde als uns. Auch wenn er das gerade vielleicht noch etwas anders sieht.« Avery griff nach Sabias Hand und zog sie zu sich heran. »Los, tanz mit mir.«

Colin zückte abermals sein Handy und auch Jeremy und ich begannen langsam von einem Bein auf das andere zu wippen, während wir versuchten, Jasper unauffällig im Auge zu behalten. Er wirkte immer noch ein wenig überfordert mit der Situation, aber Holly Sage lächelte ihn an und in mir breitete sich ein leises Glücksgefühl aus.

Auch wenn ich vorhin noch anderer Meinung gewesen war, diesen Abend hatten wir wirklich gebraucht. Nach der Party des Masters hatte die Stimmung an der Academy einen Tiefpunkt erreicht. Alle waren tagelang schweigend über die Korridore gehuscht, die Köpfe gesenkt, so als könnte man sich selbst schon durch einen einzigen falschen Blick verdächtig machen. Doch nichts war passiert. Keine weiteren Bloßstellungen, keine neuen Briefe. Trotz der unmissverständlichen Drohung, die der Master uns allen gegenüber ausgesprochen hatte. Wahrscheinlich lag das daran, dass Rektor Lowell nach dem Vorfall das Sicherheitspersonal auf dem Campus erhöht hatte.

Außerdem hatte es in den vergangenen Wochen einige Schulabgänge gegeben, weil Schüler oder deren Eltern den guten Ruf der Academy gefährdet sahen. Wieder andere munkelten, dass der Master kalte Füße bekommen und seine Chance genutzt hatte, sich unerkannt abzuseilen. Wie auch immer – seither war alles ruhig geblieben und nach und nach atmeten alle auf. Und auch ich wagte es, mich etwas zu entspannen und die Party und die ausgelassene Stimmung zu genießen.

Suchend schaute ich mich nach Theo um. Zwar war ich mir sicher, dass er für Ed Sheeran wenig übrighatte, und das akzeptierte ich. Aber gerade wollte ich dennoch einfach nur meine Arme um ihn schlingen und den Moment mit ihm teilen. Meiner Meinung nach hatte Eden ihn jetzt wirklich genug beansprucht. Den Rest des Abends gehörte er mir.

Nur … dass ich ihn nirgends mehr sehen konnte. Eden entdeckte ich zusammen mit Atlas an der Bar, ein Whiskeyglas in der Hand. Von Theo keine Spur.

Ich tippte Jeremy an den Arm. »Hast du Theo gesehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung? Vielleicht ist er rausgegangen, frische Luft schnappen.«

Ja, das konnte sein. Wieder schaute ich mich um – vergeblich – und in mir wuchs der Wunsch, meinen Kopf an seine Schulter zu lehnen oder einfach seine Hand zu halten.

»Okay. Ich gehe ihn mal suchen.«

Der Bass hämmerte so laut, dass Theos Kopf zu platzen drohte. Es war ihm ein Rätsel, wie er solche Partys jemals hatte gut finden können. Obwohl seine Zeit als Mitglied von Haverton House nur etwas mehr als ein Jahr zurücklag, kam es ihm vor wie eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit, die ihn völlig verändert und zu einem anderen Menschen gemacht hatte. Früher hätten ihn die ausgelassene Stimmung, die vielen Gäste und der exzessive Alkoholkonsum nicht gestört. Vermutlich hätte er sich selbst am nächsten Morgen eine Kopfschmerztablette einwerfen müssen. Jedoch mit dem Gefühl, einen großartigen Abend gehabt zu haben. Ohne einen Funken Reue.

Jetzt aber sorgte alles hier dafür, dass sich ein leichtes Gefühl von Panik in ihm ausbreitete und Erinnerungen hochholte, die er bewusst verdrängt hatte. Erinnerungen an Annie. Erinnerungen an jene Nacht, bevor sie verschwunden war. Sein Puls beschleunigte sich, plötzlich wollte er nur noch weg. Weg von der lauten Musik, weg von den Leuten, die ihm ins Ohr schrien und halb betrunken beteuerten, wie schön es war, ihn wieder dabeizuhaben. Ja, klar.

Er hatte nicht gedacht, dass es ihm so viel ausmachen würde – die Oberflächlichkeit und das bescheuerte Alphagehabe, mit dem einige versuchten, Eindruck zu schinden. Aber nun, nach über zwölf Monaten, die er außerhalb dieser Welt gelebt und unter Menschen verbracht hatte, die einander völlig normal behandelten, spürte er es deutlicher denn je: Er gehörte nicht länger dazu und er wollte es auch gar nicht.

Ganz automatisch suchten seine Augen nach Louisa. Als er sie zusammen mit Jeremy und Colin auf der Tanzfläche entdeckte und zusah, wie sie sich lachend zur Musik drehte, spürte er Wärme in sich aufsteigen. Er dachte daran, wie sie vorhin vor ihm gestanden und ihren Pullover abgestreift hatte. So selbstbewusst und verletzlich zugleich, ohne jeden Zweifel, dass sie ihm vertrauen konnte. Alles hatte sich so leicht angefühlt, so natürlich, so richtig. Und doch … durfte er nicht weitergehen. Unter keinen Umständen. Vorhin war er seiner Grenze gefährlich nah gekommen. Das durfte nicht noch einmal passieren, ganz egal, was Louisas Nähe mit ihm anstellte. Er wusste, dass er ihr nicht nah sein konnte. Nicht auf diese Weise. Der Gedanke daran schickte einen Stromstoß durch ihn hindurch. Er riss seinen Blick von ihr los und bahnte sich einen Weg ins Foyer. Dort ließ er sich seine Jacke geben und trat vor die Haustür. Sofort fuhr ihm ein kühler Wind durch die Haare und benetzte seine Haut mit feinen Regentropfen. Theo legte den Kopf in den Nacken und holte tief Luft. Noch einmal. Und noch einmal. Mit jedem Atemzug versuchte er die Bilder, die ihn überfielen, zurückzudrängen. Er wollte jetzt nicht an Annie denken, das wollte er nie, wenn er mit Louisa