The Way We Love - Ella Adams - E-Book

The Way We Love E-Book

Ella Adams

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Beschreibung

Er hat ihr Herz gebrochen. Doch sie kann ihn nicht vergessen.

Bonnie ist am Boden zerstört. Nicht nur dass Henry, Duke of Winterset, ihr Herz gebrochen hat, nun erfährt sie auch noch, dass sie die uneheliche Tochter des Earl of Huntington ist. Kopfüber stürzt Bonnie sich in ihre Arbeit als Pferdeausbilderin – und das ausgerechnet auf dem Gestüt ihres Ex Henry. Neben der anstrengenden Arbeit und dem quälenden Kummer hat Bonnie zudem neue Verpflichtungen: Denn als Tochter des Earls muss sie die Partys und Empfänge besuchen, auf denen sie früher nur als Kellnerin gearbeitet hat – für Bonnie absolutes Neuland. Als dann auf einmal das Gestüt, das sie so liebt, vor dem Aus steht, verliert Bonnie endgültig den Boden unter den Füßen …

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Buch

Bonnie ist am Boden zerstört. Nicht nur dass Henry, Duke of Winterset, ihr Herz gebrochen hat, nun erfährt sie auch noch, dass sie die uneheliche Tochter des Earl of Huntington ist. Kopfüber stürzt Bonnie sich in ihre Arbeit als Pferdeausbilderin – und das ausgerechnet auf dem Gestüt ihres Ex Henry. Neben der anstrengenden Arbeit und dem quälenden Kummer hat Bonnie zudem neue Verpflichtungen: Denn als Tochter des Earls muss sie die Partys und Empfänge besuchen, auf denen sie früher nur als Kellnerin gearbeitet hat – für Bonnie absolutes Neuland. Als dann auf einmal das Gestüt, das sie so liebt, vor dem Aus steht, verliert Bonnie endgültig den Boden unter den Füßen …

Mehr Informationen zu Ella Adams sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Ella Adams

The Way We Love

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe Februar 2024

Copyright © by Ella Adams 2024

Copyright © dieser Ausgabe by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln

Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München

Covermotiv: FinePic®, München

LK · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-28453-4V002

www.goldmann-verlag.de

Prolog

Meine komplette Welt brach in sich zusammen. Ich konnte nicht mehr atmen, in meiner Brust wurde es eng. Wieso war es hier drin nur so heiß?

»Bonnie?« Die Stimme meines Dads drang wie durch Watte an meine Ohren. Mein verschwommener Blick wanderte durch unsere schöne Landhausküche mit den urigen, massiven Holzmöbeln, der Eckküchenzeile und den karierten Vorhängen vor dem Sprossenfenster. Vor der Frühstückstheke mit den beiden hohen Holzstühlen standen Dad und Lady Kerry zusammen und starrten mich aus ihren blassen Gesichtern mit vor Schreck geweiteten Augen an.

Ich war zu Hause, und doch fühlte ich mich hier gerade wie ein Fremdkörper, ein Eindringling. Tausende Erinnerungen rasten durch meinen Kopf: wie ich frühmorgens mit Dad zusammen Blaubeermuffins frühstückte, wie wir über Pferde redeten, wie er mich zur Schule gebracht hatte, wie wir gemeinsam Fish & Chips futterten. Doch das hatte jetzt vermutlich ein Ende. Denn Daniel Harper, der Stallmeister des herrschaftlichen Gestüts, der große kräftige Mann, der mir das Reiten beigebracht hatte, war gar nicht mein Vater.

Sie sollte die Gelegenheit haben, ihn noch einmal zu sehen … Sie ist doch immerhin seine Tochter!

Es waren diese Worte von Lady Kerry über ihren Bruder, Lord Huntington, die mein Leben völlig aus der Bahn warfen.

Gerade erst war Lord Huntington, der Besitzer des erfolgreichen Gestüts Red Oak, auf dem ich aufgewachsen war, beim Empfang meines neuen Arbeitgebers zusammengebrochen und mit dem Verdacht auf Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert worden. Und er sollte plötzlich mein Vater sein?

Das konnte nicht wahr sein!

Das durfte es nicht!

Meine Beine wurden schwach, und ich hatte Angst, in den ungewohnt hohen Schuhen das Gleichgewicht zu verlieren. Verzweifelt klammerte ich mich an den Türrahmen.

»Bonnie …« Dad streckte die große schwielige Hand nach mir aus, eine Hand, die mich festgehalten hatte, als ich zum ersten Mal auf einem Fahrrad saß, mit der er mir die Tränen von der Wange gestrichen hatte, nachdem ich zum ersten Mal vom Pferd gefallen war. Dann ließ er sie aber in der Luft hängen, als wüsste er, dass ich eine Berührung von ihm jetzt nicht aushalten konnte. Er sah so verletzt aus, so ratlos, dabei war er es doch, der für alle Probleme immer eine Lösung fand.

Auch Lady Kerry sagte kein Wort mehr. Sie sollte meine Tante sein? Das war alles zu viel.

»Das ist ein Missverständnis, oder?«, brachte ich rau heraus und schluckte, als könnte ich dadurch den Kloß in meinem Hals wegbekommen und die Tränen aufhalten, die in meine Augen stiegen. »Das ist nicht wahr.« Ich sah nur Dad an, bemerkte, wie sein kantiges Kinn mit den dunklen Bartstoppeln zitterte.

»Ich wollte nicht, dass du es so erfährst.«

Ein kleiner piepsiger Laut entfuhr mir, ein leises Wimmern. Es stimmte. Er war nicht mein Vater!

Mit klammen Fingern drehte ich den goldenen Armreif an meinem Handgelenk hin und her. Dad hatte ihn mir heute für die Geburtstagsfeier meines Chefs Sam gegeben, bei dem ich seit einiger Zeit als Pferdetrainerin arbeitete. Ich trug immer noch das kobaltblaue Kleid mit dem Glitzerband, mit dem ich bei der Feier einen guten Eindruck hatte machen wollen. Die Feier, auf der Lord Huntington zusammengebrochen war. Die Feier, auf der ich zu der bitteren Einsicht gelangt war, dass mein Freund Henry unsere Beziehung nicht so ernst nahm wie ich. Und zurück zu Hause bei meinem Vater auf Red Oak, hatte ich dann erfahren müssen, dass mein Vater gar nicht mein leiblicher Vater war. Mein ganzes bisheriges Leben war eine einzige Lüge.

Alles lag in Trümmern.

Kapitel 1

Es hätte einer der schönsten Abende meines bisherigen Lebens werden sollen. Mein Cinderella-Moment. Zum ersten Mal als Gast zu einer der noblen Veranstaltungen gehen, nicht nur als Teil des Catering-Teams. Alles hätte perfekt sein können, aber diese Vorstellung war wohl mehr als naiv. Was war schon perfekt?

Diesen Sommer war ich endlich mit der Schule fertig gewesen und hatte mich auf meinen Traumjob als Pferdetrainerin gefreut, auf Red Oak, dem Gestüt, auf dem ich aufgewachsen war. Aber dann hatte Lord Huntington sich für jemand anderen entschieden und mir dafür eine Stelle bei Sam Beaumont vermittelt. Sam mochte ich vom ersten Moment an. Man merkte ihm kaum an, dass er aus einer adligen Familie stammte. Er war cool, unkompliziert, packte immer mit an und liebte es, in seinem Pub Gäste zu bewirten. Außerdem war er im Begriff, ein neues erfolgreiches Gestüt aufzubauen, und obwohl ich Red Oak vermisste, war ich dort mit der Arbeit als Pferdetrainerin sehr glücklich. Nur Sams Neffe, Henry Beaumont, der Duke of Winterset, hatte mir den Job nicht zugetraut und mir das Leben ziemlich schwergemacht … ja, bis wir uns ineinander verliebt hatten.

Nach unserer ersten Verabredung hatte sich sofort die Presse auf uns gestürzt. Aber das hatte ich versucht zu verdrängen. Irgendwie würde ich das schon hinbekommen, war ich mir sicher gewesen. Doch dann hatte ich auf der Feier Henrys Gespräch mit seiner Mutter belauscht, in dem er ihr anvertraut hatte, dass ich nicht mehr als eine nette Ablenkung sei. Dann war Lord Huntington zusammengebrochen, und zu guter Letzt hatte ich noch dieses Gespräch zwischen Dad und Lady Kerry belauscht. Im Moment zählte nichts anderes. Ich wollte Antworten, ich brauchte Antworten, aber ich schaffte es nicht, eine einzige von den Fragen, die mir durch den Kopf schwirrten, in Worte zu fassen.

»Soll ich euch allein lassen?«, fragte Lady Kerry und sah zwischen Dad und mir hin und her, die Hände vor ihrer eleganten Reitjacke gefaltet.

Dad schüttelte kaum merklich den Kopf und strich sich ein paar der schulterlangen Haarsträhnen zurück, die sich aus dem Band in seinem Nacken gelöst hatten.

»Also gut, dann setze ich erst mal Tee auf. Ich schätze, das ist der richtige Moment für Tee.« Lady Kerry schloss die Küchentür hinter mir und ging dann an der Frühstückstheke vorbei zu der kleinen Eckküche mit den rustikalen Holzschränken.

Dad wies zu den Stühlen am Esstisch. »Bonnie, komm, setz dich. Wir werden dir alles erklären.«

Aber ich wollte mich nicht setzen. Am liebsten wäre ich auf und ab gelaufen, in mir tobte ein Sturm. Andererseits fühlte ich mich so schwach und erschlagen von dieser Neuigkeit, dass ich doch lieber auf die Eckbank rutschte, auf meinen Platz unter dem Fenster, wo ich so oft mit Dad Brettspiele gespielt hatte. Lady Kerry füllte den Wasserkocher, dann ließ sie sich schräg neben mir auf einen der Holzstühle sinken, während Dad sich einen Hocker von der Frühstückstheke heranzog.

»Du bist meine Tochter«, sagte er dann ernst, lehnte sich etwas vor und sah mir tief in die Augen. »Die bist du vom ersten Tag an gewesen. Und das wird immer so bleiben.«

»Du hast mich angelogen.« Mein Blick wanderte zu Lady Kerry. »Ihr alle habt mich angelogen. Wer weiß noch darüber Bescheid? Vanessa?« Doch das konnte ich mir nicht vorstellen. Sie hätte bestimmt etwas gesagt. Gleichzeitig hielt ich nach einem Tag wie heute aber auch nichts mehr für unmöglich.

Lady Kerry schüttelte den Kopf. »Vanessa weiß nichts davon. Nur George, Clementine, dein Dad und ich.«

»Clementine.« Lord Huntingtons Frau und Vanessas Mutter. Die Lady des Gestüts, die mich nie hatte leiden können. Jetzt wusste ich endlich, warum. Ich war das schmutzige Geheimnis ihres Ehemanns, eine wandelnde Erinnerung an eine andere Frau.

Ein bitteres Lachen stieg in mir hoch. Kein Wunder, dass sie nicht wollte, dass ich so viel Zeit mit Vanessa verbrachte. Ich fühlte mich einfach nur schrecklich. Mit einem Mal war ich auf mich allein gestellt. Ich gehörte zu niemandem mehr. Meine Mutter war gestorben, als ich noch ein Baby gewesen war, und jetzt verlor ich auch noch meinen Dad. Alles war eine Lüge, mein ganzes Leben.

»Meine Mum …«, fing ich an und versuchte, ihr Bild vor meinem inneren Auge heraufzubeschwören, aber alles, was ich sah, war das Foto auf meiner Kommode. Eine blonde Frau mit denselben grünen Augen wie ich, die zaghaft lächelte. Erinnerungen hatte ich keine an sie. Wieso hatte ich mich nie gewundert, dass ich nicht mehr Fotos von ihr besaß? Dass es keine von ihr und Dad gab? Wir sprachen auch kaum über sie. Denn wenn ich meinen Dad nach ihr fragte, wich er aus. Ich hatte immer angenommen, es sei zu schmerzhaft für ihn, über sie zu reden. Jetzt wusste ich, dass es einen anderen Grund gab.

»Wie … wie ist das abgelaufen? Hat sie dich betrogen? Oder warst du nie mit ihr zusammen? Was …«

»Bonnie, Liebes, es ist kompliziert.« Lady Kerry streckte ihre Hand nach mir aus und legte sie auf meine auf dem Tisch. An ihrem Ringfinger verlief ein blasser Streifen, wo sie früher einen Ehering getragen hatte, heute war ihr einziger Schmuck ein zartes goldenes Armband.

»Ich will, dass du weißt, dass wir dich alle sehr lieb haben«, sagte sie sanft.

Ich zog meine Hand unter ihrer weg, und Lady Kerry nickte verständnisvoll. Schließlich stand sie auf und füllte das heiße Wasser in drei Tassen, die sie aus dem Oberschrank nahm.

Ich sah zu Dad auf, der mit zusammengepressten Lippen dasaß und meinen Blick erwiderte.

»Von Anfang an«, bat ich und drehte wieder an meinem Armreif. »Was ist passiert?«

Dads Kiefer zuckte unter seiner Anspannung, und er strich sich nervös mit den Händen über die Oberschenkel. Dann nickte er kurz und holte Luft. »Allison … deine Mum«, fing er an zu erzählen, und ich spürte, wie schwer es ihm fiel, über sie zu reden. »Sie und George, also Lord Huntington, waren zusammen. Die beiden trennten sich aber nach ungefähr einem Jahr. Sie waren zu … verschieden.«

»Deiner Mutter war ihre Freiheit sehr wichtig, sie wollte selbst bestimmen, wie sie ihr Leben führt, genauso wie du«, erklärte Lady Kerry, ein wehmütiges Lächeln um die Lippen, während sie mit dem Tee zurück an den Tisch kam. »Und George … nun, er war schon immer sehr pflichtbewusst, und als sein Vater … dein Großvater … starb, hatte er allein die Verantwortung für Red Oak. Das Gestüt steckte in finanziellen Schwierigkeiten, und er musste sich darauf konzentrieren, diese zu lösen. Red Oak war … ist«, sie schloss kurz die Augen, voller Schmerz, als erinnerte sie sich daran, dass er in einem kritischen Zustand im Krankenhaus lag. Ich konnte mir vorstellen, wie groß ihre Angst um ihren Bruder war. »Red Oak ist sein Ein und Alles«, fuhr sie schließlich gefasster fort. »Allison fühlte sich irgendwann nicht mehr wohl hier, manchmal kam es ihr so vor, als wäre sie eingesperrt. Sie wollte reisen, die Welt sehen. Sie hatte gehofft, irgendwann würde George all das auch wollen, sich eine Auszeit nehmen, aber er hatte nur das Gestüt und seine Verantwortung im Kopf. Die Empfänge, die Komitees, all diese Verpflichtungen – das war einfach nichts für sie. Die beiden haben sich immer öfter gestritten, und irgendwann ist Allison ausgezogen. George traf die Trennung sehr, aber er konzentrierte sich ganz auf das Gestüt. Er wollte es nicht verlieren und brauchte Geld. Er kannte Clementines Eltern gut, und ja …«

»Er hat sie wegen des Geldes geheiratet?«

»Zweckehen waren damals, besonders in unseren Kreisen, gar nicht so selten, Bonnie. Ich weiß, das kannst du dir nur schwer vorstellen. Aber wir hatten damals wirklich ernste Probleme, und niemand sah einen Grund, warum George und Clementine nicht glücklich miteinander werden sollten. Er brauchte das Geld, und für sie war ein Earl ein guter Fang. Von Allison hörten wir eine ganze Zeit lang nichts. Aber dann war sie plötzlich wieder da. Und sie war schwanger.«

Gänsehaut kribbelte über meine Haut. Das also war meine Geschichte. Meine Mum und Lord Huntington. Sie hatten eine richtige Beziehung gehabt, ein Jahr lang, es war nicht nur eine Affäre oder ein One-Night-Stand gewesen. Meine Mutter hatte dort drüben gelebt, im Herrenhaus, bevor Lady Huntington da gewesen war, bevor es Vanessa und mich überhaupt gegeben hatte. Es war eine völlig andere, unvorstellbare Welt, von der Lady Kerry da sprach.

»George und Clementine hatten sich gerade verlobt, und Allison wollte ihn auch nicht zurück. Sie dachte nur, er hätte ein Recht darauf zu erfahren, dass er Vater wird.«

»Allison und ich waren Freunde«, fuhr Dad fort, die Hände zwischen die Knie gepresst. »Als es zwischen ihr und George aus war, trafen wir uns ab und zu, und ich half ihr beim Umzug. Sie nahm sich eine kleine Wohnung. Für dich und sie. Sie brauchte Hilfe, und irgendwann … funkte es zwischen uns. Wir hatten eine schöne Zeit miteinander. Und dann kamst du auf die Welt.«

»Und sie starb«, flüsterte ich. Obwohl ich bereits mein ganzes Leben lang mit ihrem Tod hatte umgehen müssen, brach es mir erneut das Herz. Wieso nur hatte sie so früh von uns gehen müssen? Wieso konnte sie jetzt nicht hier sein und mir alles erklären, mich trösten?

Meine Hand schloss sich automatisch um den Mondanhänger meiner Kette. Er passte vermutlich gar nicht wirklich zu dem glamourösen Abendkleid, aber ich nahm die Kette nie ab. Sie war meine ständige Erinnerung daran, dass ich auch eine Mutter gehabt hatte. Eine liebende Mutter, der ich wichtig gewesen war, das wusste ich von Dad. So oft in meinem bisherigen Leben hätte ich sie gebraucht. Auch jetzt. Es war so komisch, ihren Namen zu hören. Allison. Für mich war sie immer nur meine Mutter gewesen. Eine Frau, die kurz nach meiner Geburt an einer Thrombose verstorben war. Wir hatten nur wenige Tage miteinander gehabt. Aber sie war so viel mehr als das gewesen, sie hatte Träume und Wünsche gehabt, Sorgen und Komplikationen in ihrem Leben. Plötzlich war sie ein wenig greifbarer.

Wie würde mein Leben aussehen, wenn sie noch da wäre? Würden wir alle zusammen im Cottage leben? Hätte ich schon früher erfahren, dass Dad gar nicht mein richtiger Vater war?

»Du bist bei mir geblieben«, sagte ich dann und schloss meine Hände um die heiße Teetasse, um sie zu wärmen. Erst jetzt bemerkte ich, wie kalt mir war und dass ich zitterte. »Du warst nicht einmal lange mit Mum zusammen, aber du bist trotzdem bei mir geblieben.«

»Weil ich es wollte«, sagte Dad mit Nachdruck. »Ich habe mich so auf dich gefreut, du warst schon während der Schwangerschaft mein Kind. Und du wirst es immer bleiben.«

Ganz im Gegensatz zu Lord Huntington. Er hatte mich nicht haben wollen. Obwohl ich doch sein leibliches Kind war, hatte er mich einfach weggegeben. Wie hatte er mir jeden Tag auf seinem Hof begegnen können, ohne je auch nur ein Wort zu sagen? Er war immer freundlich zu mir gewesen, hatte sich für meine Ausbildung interessiert, aber herzlich war er nicht. Nicht wie ein Vater. Nur wie ein freundlicher Arbeitgeber.

»Es fiel ihm nicht leicht«, drang Lady Kerrys Stimme in meine Gedanken, als wüsste sie genau, was ich dachte. »Er hat dich sehr lieb, aber er war auch frisch verheiratet, Clementine erwartete bald ein Kind und … es war für alle das Beste.«

Ich nickte nur, auch wenn ich nicht verstehen konnte, wie man mir so hatte wehtun können. Ich fühlte mich unerwünscht. Ich liebte unser Cottage, meine Arbeit mit den Pferden. Da war nur ein kleiner kindlicher Teil in mir, der sich fragte, warum ich die Tochter zweiter Klasse war. Und darunter mischte sich die Angst, Lord Huntington nie danach fragen zu können. Er lag nach seinem Zusammenbruch im Krankenhaus. Was, wenn er starb? Wenn mein richtiger Vater ging, bevor ich ihm als seine Tochter gegenübertreten konnte?

»Bonnie, was kann ich tun?« Dad rutschte vom Hocker und kam auf mich zu, aber da stand ich schon auf und deutete zur Tür.

»Ich brauche frische Luft.«

Er nickte verständnisvoll und tauschte einen besorgten Blick mit Lady Kerry.

»Wir sind hier, wenn du uns brauchst«, sagte sie noch, aber ich war schon auf dem Weg nach draußen, zurück in die Nacht.

War es vorhin auch schon so kalt gewesen? Ich schlang die Arme um meinen Körper und schaute hinüber zum Herrenhaus. Ein paar Lichter brannten, eines in Vanessas Zimmer. Als Kinder hatten wir uns mit unseren Taschenlampen verständigt, wenn wir längst hätten schlafen sollen. Am liebsten würde ich ihr jetzt eine Nachricht schicken. Ich könnte zu ihr hinübergehen oder sie anrufen. Aber dann müsste ich ihr sagen, dass wir Schwestern waren. Doch dafür fühlte ich mich noch nicht bereit. Ich verstand das alles ja selbst nicht einmal! Wie sollte ich etwas erklären, das in meinem Kopf nur Chaos verursachte? Aber anlügen konnte ich sie auch nicht.

Es war alles so kompliziert! Ich konnte nicht mehr und wollte mich nur irgendwo verkriechen, am liebsten für immer.

*

Ich hasste den Geruch in Krankenhäusern. Er machte mich müde und benebelt. Vielleicht lag das aber auch an der schlaflosen Nacht. Nach einem kurzen Spaziergang war ich gleich ins Bett gegangen, hatte aber nicht einschlafen können, sondern nur gegrübelt und geweint. All die Ereignisse des Tages hatten sich in meinem Kopf wie ein Kaleidoskop gedreht. Da waren Henry und seine Mutter, die Erniedrigung, die Enttäuschung, die Vorwürfe an mich selbst. Wie hatte ich nur so naiv sein können? Gleichzeitig vermisste ich Henry aber auch schrecklich und sehnte mich danach, in seinen Armen liegen zu können und getröstet zu werden. Immer wieder sah ich Lord Huntington vor mir, leichenblass auf dem Boden, und dann waren da noch die wirr durcheinandergeratenen Stimmen von Dad und Lady Kerry in ihren Erklärungsversuchen. Ich konnte mich kaum an klare Worte erinnern, nur an ein lautes Tosen.

Am Morgen war Lady Kerry dann wieder vorbeigekommen, um uns zu erzählen, dass Lady Huntington angerufen hatte. Lord Huntingtons Zustand war stabil, er hatte einen Herzkatheter bekommen, alles Weitere würden die nächsten Tage zeigen.

Meine Gedanken rasten, während ich hinter Lady Kerry und meinem Dad über den grauen Linoleumboden des Krankenhauses lief. Würde ich Lord Huntington sehen? Meinen richtigen Vater? Und noch viel wichtiger: Wollte ich das überhaupt? Ich war völlig durcheinander. Auf der einen Seite wollte ich sichergehen, dass es ihm besser ging, auf der anderen Seite war ich noch viel zu aufgewühlt von allem, was ich gestern erfahren hatte.

»Wie geht es ihm?«

Lady Kerrys Stimme holte mich zurück in die Realität, und ich blickte auf. Am Ende des Korridors standen ein paar Plastikstühle an der Wand, und dort saßen Lady Huntington und Vanessa.

Vanessa sah in meine Richtung, dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, um die noch Reste vom Make-up des Vorabends zu erkennen waren. Ihre Haare hatte sie zu einem Dutt hochgebunden und in der Jogginghose und dem übergroßen Sweater verschwand sie fast. Es war ein ungewohnter Anblick, sie war sonst immer perfekt gestylt. Jetzt wirkte sie, als wäre ihr alles egal. Meine Schwester.

»Er ist wach«, hörte ich Lady Huntington wie aus weiter Ferne, ihre Stimme klang monoton, als lese sie aus einem Lehrbuch. »Er hatte eine Herzkatheteruntersuchung, und das betroffene Gefäß wurde wieder geweitet. So wie es jetzt aussieht, kann er medikamentös weiterbehandelt werden und braucht keinen Stent. Aber natürlich muss er noch gut beobachtet werden, und auch seine Ernährung wird er umstellen müssen.« Sie sah nicht besser aus als Vanessa, eher noch schlimmer in der zerknitterten Abendgarderobe. War sie wirklich die ganze Nacht über hiergeblieben? Das hätte ich ihr ehrlich gesagt gar nicht zugetraut. Liebevoll und fürsorglich hatte ich sie nie erlebt, aber was wusste ich schon? Gerade jetzt, da ich mehr über die Vergangenheit meiner Eltern erfahren hatte, begann ich Lady Huntington zu verstehen.

Ihr Blick fiel an Lady Kerry vorbei zu mir, und ich erwartete, die übliche Missbilligung in ihren Augen zu sehen, die Frage, was ich hier zu suchen hätte. Aber ihre Miene blieb starr. Sie wirkte weiterhin einfach nur unfassbar erschöpft.

Ich nickte ihr zu, versuchte ihr stumm mein Mitgefühl auszudrücken, denn Worte brachte ich nicht heraus. Jedes Wort käme mir wie eine Lüge vor, solange sie und Vanessa nicht wussten, dass ich die Wahrheit kannte.

»Er hat nach dir gefragt«, sagte Lady Huntington dann und wandte sich an ihre Schwägerin, Lady Kerry. »Er wartet auf dich.« Sie deutete zur Zimmertür an der gegenüberliegenden Wand.

Lady Kerry berührte kurz Dads Arm, dann öffnete sie vorsichtig die Tür und ging hinein. Ich ließ mich neben Vanessa auf einen Stuhl sinken. Ihre Augen schimmerten nass, als kämpfte sie mit den Tränen, und ich legte ihr den Arm um die Schultern. Mit der freien Hand ergriff ich ihre, und so hielten wir uns fest, wir brauchten keine Worte.

Dad räusperte sich. »Kann ich Ihnen etwas bringen, Mylady?«, wandte er sich an Lady Huntington. »Einen Kaffee? Etwas zu essen?«

Sie schüttelte den Kopf und warf immer wieder bange Blicke zur Tür. Dad schob die Hände in die Jackentaschen und stand unschlüssig da. Dann sah er fragend zu Vanessa hinunter. »Was ist mit dir?«

»Ich brauche nichts, danke«, sagte sie leise, ihre Stimme klang rau. »Mrs Darborough hat mich zu Hause gezwungen zu frühstücken.«

Dad lächelte sanft, dann setzte er sich neben mich, die Hände auf den Oberschenkeln abgestützt, die Beine angewinkelt wie auf dem Sprung.

Lady Huntington ging unruhig vor uns auf und ab, als wartete sie immer noch auf Nachrichten zum Zustand ihres Ehemanns. Dabei wusste sie doch, dass er stabil war. Es ging ihm doch den Umständen entsprechend gut, er konnte sogar Besuch empfangen. Aber sie knetete die Hände, behielt die Tür im Blick und sah durch und durch beunruhigt aus.

Als plötzlich unvermittelt Lady Kerry aus dem Zimmer trat, zuckte sie zusammen und fuhr zu ihr herum. »Was hat er gesagt?«

Doch statt zu antworten, sah Lady Kerry an ihrer Schwägerin vorbei zu mir. »Er möchte Bonnie sehen.«

Alle Blicke richteten sich auf mich, während mir das Herz plötzlich bis zum Hals schlug.

»Er möchte mich sehen?«

Verstand ich das richtig? Hatte Lady Kerry ihm etwa erzählt, dass ich Bescheid wusste? War das nicht zu viel Aufregung für ihn gerade?

Vanessa ließ mich los und stand auf. »Er will Bonnie sehen?« Sie klang vollkommen überrascht, nicht böse, weil ihr Vater nicht nach ihr gefragt hatte, sondern einfach nur verblüfft.

Lady Huntington eilte an Lady Kerrys Seite und umschloss ihren Arm. »Warum?«, zischte sie leise, obwohl wir sie sowieso alle hören konnten. Und plötzlich verstand ich, wovor sie so große Angst hatte. Das Geheimnis kam ans Licht. Sie ahnte bereits, worüber Lord Huntington mit mir reden wollte.

Lady Kerry warf ihr nur einen Blick zu, und Lady Huntington wurde noch weißer, wenn das überhaupt möglich war. Dann schaute sie auf mich hinunter, die Falten um ihren Mund traten stärker hervor, so sehr spannte sie die Kieferpartie an. Sie sagte aber nichts, sondern trat zur Seite und machte mir Platz. Mit den Händen strich sie sich übers Gesicht, ich hörte sie schwer ausatmen. Ich war nicht die Einzige, für die alles zusammenbrach. Uns allen hier ging es so.

Mit bleiernen Beinen stand ich auf. Ich sollte da jetzt reingehen. Zu meinem leiblichen Vater.

»Willst du, dass ich mitkomme?« Dad legte mir die Hand auf die Schulter, die Sorge war ihm anzusehen, die Unsicherheit, die ich ebenso spürte wie er. Was erwartete mich da drin?

Ich schüttelte den Kopf, da musste ich jetzt allein durch. »Schon gut. Danke.« Ich lächelte gezwungen und ging auf die Zimmertür zu. Sachte klopfte ich, dann drückte ich die Klinke hinunter und gelangte in eine Art kleinen Vorraum mit Garderobenhaken, von dem auch ein Badezimmer abging. Ich schloss die Tür hinter mir und lief die paar Schritte weiter ins Zimmer.

»Bonnie.« Eine schwache Stimme vom Bett. Ich ging näher heran und sah den Earl inmitten der weißen Kissen, durch die er noch blasser wirkte. Seine Lippen waren aufgesprungen, die Augen eingesunken in dunkle Höhlen. Graue Bartstoppeln bedeckten seine Wangen. Er streckte mir seine Hand entgegen, und ich ergriff sie ganz automatisch. Ohne loszulassen, setzte ich mich auf den Stuhl an seinem Bett.

Es war eher dunkel im Zimmer, kaum Tageslicht drang durch das Fenster, gegen das der Regen prasselte.

»Sie haben es dir gesagt.« Er versuchte sich aufzurichten, verzog aber sofort schmerzhaft das Gesicht und stöhnte.

»Das ist jetzt nicht wichtig, Mylord«, sagte ich schnell und drückte ihn sanft an der Schulter zurück. »Sie müssen jetzt nur ganz schnell wieder gesund werden.«

Lord Huntington schloss die Augen. »So förmlich.«

Ich presste die Lippen aufeinander. Wie sollte ich denn sonst mit ihm reden? Die ganze Situation kam mir immer noch unwirklich vor. Er war der Earl of Huntington, ich sprach ihn mit Mylord an, so war es schon immer gewesen, und er hatte nie dagegen protestiert.

»Ich wollte es dir schon längst erzählen«, sagte er dann und sah mich wieder an. »Aber ich … Ich habe es vor mir hergeschoben. Jetzt weiß ich, das war falsch. Ich wäre fast … fast wäre ich gestorben und hätte dir nicht sagen können, wie stolz ich auf dich bin. Wie stolz ich bin, dass du meine Tochter bist.«

Meine Kehle schnürte sich zu. Schon wieder. Ich hasste das. Aber mir war gar nicht klar gewesen, wie sehr ich es mir gewünscht hatte, diese Worte von ihm zu hören. Seit ich die Wahrheit kannte, fühlte ich mich zurückgewiesen. Nein, eigentlich fühlte ich mich bereits mein ganzes Leben lang so. Ich war nie gut genug gewesen, Vanessa war die Prinzessin des Gestüts und ich das Stallmädchen. So sah meine Realität aus. Und gestört hatte es mich nie.

»Wir müssen jetzt nicht darüber sprechen, Dad hat mir alles erklärt«, flüsterte ich, verstummte aber im gleichen Augenblick. Dad war ja eigentlich gar nicht mein Vater. Mein leiblicher Vater lag in diesem Moment vor mir in einem Krankenbett. Und doch, wenn ich »Dad« sagte, meinte ich nicht ihn, sondern den Mann, der mich großgezogen hatte. Und ein großer Teil in mir wollte, dass jemand die Zeit zurückdrehte. Die letzten Tage waren so wunderschön gewesen. Ich hatte bei Beaumont Horses meinen Traumjob als Pferdetrainerin ergattert, war glücklich in Henry verliebt gewesen, und es hatte keine Familien-Dramen gegeben. Aber jetzt war alles anders.

»Doch, das müssen wir.« Er drückte meine Hand. »Du musst es verstehen.«

Das wollte ich auch, ich wollte gern seine Sicht der Dinge hören, aber nicht jetzt, solange er in einem Krankenhausbett lag und schwach war. »Es ist wirklich nicht nötig. Ich verstehe schon. Sie sollten sich ausruhen und gesund werden, das ist jetzt das Wichtigste.«

»Nein, Bonnie. Du bist meine Tochter, das ist jetzt das Wichtigste. Keine Lügen mehr. Du bist meine Tochter.«

Ich zog meine Hand zurück und senkte den Blick, damit er nicht merkte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Ich war Lord Huntingtons Tochter! Und er war stolz auf mich! Aber war das nicht ein Verrat an Dad? Ich fühlte mich zerrissen und war so schrecklich durcheinander. Am liebsten wäre ich aus dem Zimmer gerannt, weg von allen, um allein zu sein und meine Gedanken zu sortieren.

»Es ist okay, wirklich.« Ich wollte aufstehen, aber in dem Moment ging die Tür auf und Vanessa kam herein, Tränen in den Augen, ihr Blick starr aufs Krankenbett gerichtet.

Mein Herz machte einen kleinen Satz.

»Tante Eleanor hat gesagt, ich soll zu euch kommen.«

Lord Huntington nickte und wies zu dem Stuhl an der Wand. »Setz dich zu uns. Sie hat es dir erzählt?«

Vanessa antwortete nicht, sah mich an, dann wieder ihren Vater, schließlich wieder mich. Ihre Unterlippe zitterte, und ein paar Tränen befreiten sich, die auf ihren Wangen glänzten. Ihr Anblick zerbrach mir das Herz. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen, aber dann würde ich mich selbst auch nicht mehr zusammenreißen können, und zwei weinende Töchter war sicher das Letzte, was Lord Huntington in seinem Zustand gebrauchen konnte.

Lady Kerry musste Vanessa bereits alles erzählt haben. Mir kam das viel zu schnell vor, fast schon zwischen Tür und Angel, aber Lord Huntington wollte offensichtlich keine Zeit verlieren.

»Es tut mir leid, Vanessa. Ich hielt es für besser, wenn die anderen es dir erklären. Deine Tante … Ich habe gerade nicht die Kraft dazu.« Lord Huntingtons Augen schimmerten feucht, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Eigentlich sollte ich gar nicht hier sein. Dieser Moment zwischen Lord Huntington und Vanessa war sehr intim. Ich hatte hier nichts verloren.

Vanessa verschränkte die Arme vor der Brust, schwieg aber weiterhin. Lady Kerry hatte ihr die Wahrheit gesagt, und ich hatte keine Ahnung, wie sie darüber dachte, wie viel sie wusste. Hasste sie mich jetzt? Vielleicht übertrug sie den Verrat unserer Eltern auf mich und war mir böse. Vielleicht wollte sie gar keine Schwester.

»Sag doch etwas. Ich bitte dich«, bat Lord Huntington.

Vanessa atmete hörbar ein. »Du hättest es nicht verheimlichen dürfen«, flüsterte sie dann schließlich. »Ich hatte eine Schwester. Die ganze Zeit über.«

»Es tut mir leid.«

»Hör auf, dich zu entschuldigen!« Sie schloss die Augen, wie um sich zu beruhigen. »Warum hast du mir denn nichts gesagt?«, fragte sie dann mit tränenerstickter Stimme.

Es tat weh, Vanessa so zu sehen, vor allem verstand ich viel zu gut, wie verraten sie sich gerade fühlte. Langsam ging ich zu ihr. Ich musste ihr beistehen, auch wenn ich Angst hatte, dass Vanessa das nicht wollte.

Aber sie griff nach meiner Hand und hielt sie fest. Ein Stein fiel mir vom Herzen.

Lord Huntington lächelte bei unserem Anblick, wurde aber schnell wieder ernst. »Ich weiß, ich hätte es euch nicht verschweigen dürfen. Wir hielten es damals für das Beste. Wir einigten uns alle darauf – unter anderem aus Respekt deiner Mutter gegenüber, Vanessa. Sie kommt aus dieser konservativen Familie, aus gutem Haus, wir kannten uns bis auf ein paar kurze, beaufsichtigte Momente in einem Salon kaum. Ich machte ihr ganz altmodisch den Hof und bat sie schließlich um ihre Hand. Niemand sprach es wirklich offen aus, aber natürlich wusste Clementine, warum ich ihr den Antrag machte. Es ging um … nun, du weißt es vermutlich längst.«

»Es ging um Geld«, erwiderte Vanessa tonlos, und obwohl ich die Geschichte bereits kannte, konnte ich sie immer noch nicht fassen. Als stammte sie aus einer anderen Zeit. Und das war tatsächlich so. Unsere Eltern kamen noch aus einer völlig anderen Generation, und im Adel drehten sich die Uhren noch einmal sehr viel langsamer. Selbst heute galten noch andere Regeln, es ging um das Bild nach außen, Skandale mussten um jeden Preis vermieden werden. In gewisser Weise war es ein Luxus, ein gewöhnlicher Bürger zu sein. Wenn es niemanden interessierte, mit wem man zusammen war und welche Kinder man gezeugt hatte. Ich verstand, warum Lord Huntington geschwiegen hatte. Trotzdem hätte er zumindest Vanessa und mich einweihen müssen.

»Ich hätte damals fast alles verloren«, erklärte Lord Huntington eindringlich, als wollte er unbedingt, dass wir ihn verstanden. »Wir hatten ein paar schlechte Jahre in der Zucht, Stürme, die große Schäden an den Ställen und am Haus verursachten, Fehl- und Totgeburten bei den Stuten. Ich konnte das Gestüt nicht mehr erhalten. Deine Mutter war eine reiche Erbin. Wunderschön und gut situiert.«

»Die perfekte Wahl.« Vanessa klang bitter. Hatte sie Mitgefühl für ihre Mutter? Ganz bestimmt, denn sogar mir tat sie leid, obwohl ich sie nie gemocht hatte.

»Clementine kannte nicht nur den Grund für meinen Antrag, sondern auch die Gerüchte um Bonnies Mutter. Sie willigte trotzdem ein. Ihr haben wir es zu verdanken, dass Red Oak gerettet werden konnte. Ich konnte ihr also wohl kaum das Kind einer anderen Frau vor die Nase setzen, es in unserem Zuhause aufwachsen lassen. Das hätte sie zutiefst gekränkt.« Sein Blick fiel zu mir. »Es war keine leichte Entscheidung, Bonnie, wirklich nicht.«

Das konnte ich mir vorstellen. Es war ganz logisch, die Erklärungen einleuchtend. Und trotzdem sah ich immer wieder vor mir, wie ich im Pferdemist geschuftet hatte, wie ich von Lord Huntington wie eine Angestellte behandelt worden war. Das hatte mir nie etwas ausgemacht, ich war glücklich. Rückwirkend betrachtet, mit dem Wissen, das ich jetzt hatte, warf es aber ein ganz anderes Licht auf meine Kindheit. Und dann hatte er mich auch noch nach meinem Abschluss aus Red Oak rausgeschmissen, meinem Zuhause, obwohl er mir einen Job versprochen hatte. Wer schickte seine Tochter einfach weg? Lady Huntington hatte das von ihm verlangt, das war mir klar. Aber alle Erklärungen und Entschuldigungen konnten gegen den Stich in meinem Herzen nichts ausrichten.

Lord Huntington sah mich abwartend an, als erwartete er sich irgendetwas von mir. Vielleicht die Versicherung, dass ich ihm nicht böse war. Aber ich war ihm böse, dagegen konnte ich gerade nichts tun. Meine Gefühle ließen sich schließlich nicht so einfach abschalten. Sagen wollte ich ihm das allerdings nicht. Lord Huntington wartete noch kurz, dann griff er zur Seite, nahm einen Schluck von seinem Wasser und fuhr dann fort, wieder an Vanessa gerichtet.

»Ich hoffte … nach Allisons Tod hoffte ich auf eine harmonische Ehe mit deiner Mutter. Wir heirateten aus Vernunft, aber ich sah keinen Grund, weshalb nicht mehr daraus werden sollte. Ich wollte, dass es funktionierte. Daher hielt ich es damals für das Beste, nicht mehr darüber zu reden.«

»Es totzuschweigen.«

»Ja, Vanessa. Glaube nicht, dass ich nicht oft daran gezweifelt habe. Besonders, als ihr beide … ihr seid wie Schwestern zueinander, schon immer. Oft habe ich mit dem Gedanken gespielt, euch die Wahrheit zu sagen, aber … ich hatte das Recht darauf verspielt. Bonnie war jetzt Daniels Tochter, und je mehr Zeit vergangen ist, umso schwieriger wurde es, überhaupt noch an die Wahrheit zu denken. Niemand wollte euch verletzen. Ich weiß, das sind jetzt kaum mehr als leere Worte. Aber wir haben es damals getan, weil wir es für das Richtige hielten. Der Blick in die Zukunft, an den Tag, an dem ihr erwachsen vor uns steht, ist uns so weit weg vorgekommen. Und jetzt … jetzt ist es fast so, als hätte ich nur einmal geblinzelt.«

Vanessa senkte den Blick und nickte. »Ich bin dir nicht böse«, sagte sie dann, ließ mich los und ging zu ihm. Sie sank auf den Stuhl, auf dem ich vorher gesessen hatte, und legte ihre Hand auf seine Brust über der Decke. »Es ist einfach … ich wünschte, es wäre anders gewesen. Das ist alles. Ich versuche zu verstehen, warum du dich damals so entschieden hast, aber jetzt kenne ich die Wahrheit, und ich will nicht zurück.« Sie wandte sich an mich, ihre blauen Augen funkelten im Licht der kleinen Lampe über dem Bett. »Du bist meine Schwester, Bonnie, und ich will nicht so tun, als wärst du es nicht. Ich weiß, meine Mutter wird toben, aber irgendwann hat sie sich bestimmt beruhigt, sie wird sich daran gewöhnen.« Ihr Ausdruck bekam etwas Flehentliches, damit wandte sie sich wieder an ihren Vater. »Du kannst nicht länger so tun, als wäre sie nicht deine Tochter. Bonnie ist Teil unserer Familie. Sie sollte bei uns sein, sie sollte in unserem Haus ihr Zimmer haben, sie …«

»Was!« Ich hob die Hand, um Vanessa zu unterbrechen, mein Herz raste. »Warte mal. Wovon redest du?«

»Ich weiß, du hast dein Zuhause, und du liebst deinen Dad. Aber du bist die Tochter des Earl of Huntington. Du gehörst zu uns, und deswegen solltest du auch bei uns leben, als Teil der Familie. Die Welt muss erfahren, was passiert ist, du hast ein Anrecht auf das Vermögen, Privilegien, du solltest …«

Ein tiefes Stöhnen unterbrach sie. Lord Huntington fasste sich an die Schläfe, als hätte er schlimme Kopfschmerzen.

»Langsam, Vanessa«, sagte er, das Sprechen schien ihn immer mehr anzustrengen. »Wir werden das alles regeln, wenn ich aus dem Krankenhaus entlassen werde.«

Ich sah ihm an, dass ihm alles zu viel wurde. Mir ging es ja genauso. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und das Gefühl, hier drinnen zu ersticken. Natürlich freute ich mich, dass Vanessa für mich kämpfen wollte, dass sie mir so beistand und mich wirklich als Schwester sah. Aber gerade war es noch zu viel.

»Lass uns ein anderes Mal darüber sprechen«, bat ich und schloss meine Hand um Vanessas Arm, um sie mit mir zu ziehen. »Wir brauchen alle erst ein wenig Zeit, um das zu verdauen. Wir müssen nichts überstürzen. Und Sie sollten sich jetzt darauf konzentrieren, gesund zu werden«, wandte ich mich an Lord Huntington, der nur mit zusammengepressten Lippen nickte.

Vanessa regte sich nicht, ihr ganzer Körper war angespannt, ihre Finger hatte sie in die Oberschenkel gekrallt, so fest, dass es schon wehtun musste. Als müsste sie all den inneren Druck loswerden, indem sie sich körperliche Schmerzen zufügte. Sie hatte noch viel zu sagen, ich merkte es ihr an und erwartete, dass sie im nächsten Moment explodierte. Ich konnte verstehen, dass sie alles am liebsten sofort klären, Antworten und einen Plan für die Zukunft finden wollte. Aber jetzt war wirklich nicht der passende Moment.

Beruhigend strich ich ihr über die Schulter. »Komm«, sagte ich sanft, was ein paar lange Sekunden keine Reaktion bei ihr hervorrief, dann aber entkrampfte Vanessa ihre Hände und richtete sich auf.

»In Ordnung.« Sie strich sich mit beiden Händen übers Gesicht und atmete hörbar ein und aus. Schließlich sah sie zu ihrem Vater im Krankenbett, und ein trauriger Ausdruck trat auf ihr Gesicht. »Es tut mir leid.« Sie stand auf, lehnte sich vor und küsste ihren Vater auf die Wange. »Werde wieder gesund, ja? Komm bald nach Hause.«

Lord Huntington streichelte kurz ihren Rücken, dann wandte Vanessa sich ab, und wir verließen sein Zimmer. Zusammen, was für mich der allergrößte Trost war.

*

Ich lehnte meinen Kopf ans Autofenster, während Dad der Landstraße Richtung Beaumont Horses folgte. Der Regen ließ nach, einzelne Sonnenstrahlen griffen als goldene Lichtstreifen zum Boden und tunkten die Wolken in ihren Schein. Die Landschaft zog an mir vorüber, und ich versuchte mich damit abzulenken, den Verkehrsschildern, Bäumen und Häusern zu folgen. Alles, um nicht an Lord Huntington, meine Mutter, Vanessa oder Henry denken zu müssen. Denn die Arbeit mit den Pferden würde mich meine Sorgen zwar kurzzeitig vergessen lassen, doch ich lief dort auch Gefahr, Henry über den Weg zu laufen. Ich konnte mir bereits vorstellen, welche fadenscheinigen Begründungen er sich überlegen würde, und wusste, ich könnte keine davon ertragen. Nicht heute.

»Vielleicht … sollten wir reden«, brach Dad unvermittelt das Schweigen. Er hatte die ganze Autofahrt über nichts gesagt, genauso wenig wie ich. Wir waren wohl beide ausgelaugt von der schlaflosen Nacht und dem Besuch im Krankenhaus, aber jetzt warf er mir einen bangen Blick zu.

Reden. Er wollte reden. Aber wie sollte ich jetzt Worte finden? Auch nur versuchen, das Durcheinander in meinem Kopf zu erklären? Es fühlte sich an, als bestünde mein ganzer Körper nur noch aus Schmerz. Meine Kehle war eng und tat weh, ständig musste ich den Drang zu weinen unterdrücken. Ich war vollkommen allein. Natürlich hatte ich eigentlich niemanden verloren. Da waren immer noch Dad, Vanessa, Lord Huntington, Lady Kerry. Eigentlich war ich sogar um eine Familie reicher geworden. Aber so fühlte es sich nun mal nicht an. Alle Erinnerungen an meine Kindheit, jeder liebevolle Moment war nun überschattet von dieser gewaltigen Lüge.

»Irgendwann«, sagte ich und richtete mich mühevoll auf meinem Sitz auf. Dabei fuhr mir ein stechender Schmerz durch den Kopf, und mir wurde ein wenig schwindelig. Ich sollte echt mal etwas trinken. »Aber nicht jetzt, okay? Es ist einfach alles noch zu frisch. Ich muss erst nachdenken.«

»Natürlich.« Dad lächelte mir zu, aber die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben. Und die konnte ich ihm leider nicht nehmen, egal, wie sehr ich es wollte. Erst einmal musste ich die Nachricht irgendwie verarbeiten.

Mein einziger Lichtblick war die Arbeit. Schuften, bis die Muskeln wehtaten, den Kopf freibekommen.

Ich war sowieso schon spät dran. Es war Vormittag, aber Sam hatte natürlich Verständnis dafür, dass ich noch ins Krankenhaus fuhr und später kam. Für den Nachmittag hatten wir Mitarbeiter vorgehabt, Sam mit einer kleinen Feier zu überraschen. Nur ob jetzt noch irgendjemand in der Stimmung dazu war, bezweifelte ich. Ich wollte eigentlich nur zu den Pferden und mich dann im Bett verkriechen.

Dad bog ab, und das Auto ratterte die Schotterzufahrt hoch zum Anwesen. Die Bäume wichen zurück, und zu meiner Rechten tat sich die große Weide mit den Rentnerpferden auf, dahinter befand sich der Pub, der von hier aber nicht zu sehen war. Das Wohnhaus aus rotem Backstein mit den weißen Sprossenfenstern lag ruhig da, das nasse Glas des Wintergartens auf der Südseite schimmerte in der Sonne. Nichts erinnerte mehr an die schrecklichen Ereignisse des vergangenen Abends.

Wir passierten die Stallungen, und schließlich blieb Dad vor den Mitarbeiterunterkünften stehen, einem langgezogenen Holzhaus mit durchgehender Veranda.

Er blickte geradeaus durch die Windschutzscheibe, seine Hände schlossen sich immer noch fest ums Lenkrad. Schließlich atmete er tief durch, ließ die Hände sinken und wandte sich mir zu.

»Wir reden noch, ja?«

Er klang so verunsichert und fast schon flehend, es brach mir das Herz. Er war doch der starke Fels in der Brandung, mein Rettungsanker. Egal, was passierte, er fand immer eine Lösung. Nichts brachte ihn aus der Ruhe. Bis jetzt.

Ich versuchte mich an einem aufmunternden Lächeln, spürte aber sofort, dass es kläglich misslang. »Natürlich.« Ich überlegte, was ich noch sagen oder tun könnte, wie ich irgendwie aus dieser angespannten Situation entkam, aber ich saß nur da und sah ihn an, rieb meine Finger aneinander. Dann hielt ich es nicht länger aus, ich wandte mich ab und öffnete die Autotür. »Komm gut nach Hause.« Ich stieg aus und warf die Tür zu, dieses enge Gefühl in meiner Brust machte mir das Atmen schwer.

Ohne zurückzublicken, ging ich zur Veranda hoch. Es dauerte ein paar lange Sekunden, bis ich den Wagen hinter mir wegfahren hörte. Erst dann hatte ich das Gefühl, wieder besser Luft zu bekommen.

Ein Geräusch erklang aus dem Zimmer neben meinem, ein leises Poltern. Maya, die auf dem Gestüt als Pflegerin arbeitete und mit der ich mich in den letzten Wochen angefreundet hatte, war also da. Ich überlegte kurz, bei ihr anzuklopfen, um sie zu fragen, ob Sams Feier heute Nachmittag stattfinden würde. Aber ich sah mich nicht in der Lage, jetzt unter Menschen zu gehen, und hoffte einfach, dass die Feier abgesagt worden war.

Ich ging in mein Zimmer, warf die Tür hinter mir zu, lehnte mich schwach dagegen und sah mich in dem kleinen Raum um. Neben dem Bett lagen meine Reitsachen auf dem Boden, ich hatte sie gestern schnell dorthin geworfen, bevor ich mich für Sams Feier zurechtgemacht hatte. Es waren nur eine Reithose und ein Sweater, aber trotzdem konnte ich nicht wegsehen. Sams Feier. Die ganze Vorfreude und Aufregung. Lag das wirklich nicht einmal vierundzwanzig Stunden zurück? Es kam mir so vor, als wäre ich seither um Jahre gealtert und ein völlig anderer Mensch geworden. Nur was diesen Menschen ausmachte, wer ich wirklich war, das wusste ich noch nicht.

Nein! Ich stieß mich von der Tür in meinem Rücken ab. Schluss mit Nachdenken und Trauern. In meinem Leben waren schon zuvor schlimme Dinge passiert, und ich war immer wieder aufgestanden. Das musste ich jetzt ebenfalls tun, egal, wie schwer es war. Es gab genug zu tun, und wenn ich hier drinnen sinnlos herumstand, ging es mir am Ende nicht besser. Ich wusste sehr wohl, wer ich war. Eine Pferdetrainerin. Und das würde ich jetzt auch tun. Pferde trainieren und alles andere von mir schieben.

Entschlossen schlüpfte ich aus der Jogginghose, die ich heute Morgen vor dem Besuch im Krankenhaus angezogen hatte, und zog meine Reitklamotten an. Aber als ich meine Hose hochzog und mich wieder aufrichtete, wurde mir plötzlich schwarz vor Augen.

»Verdammt«, murmelte ich und ging in die Hocke. Mit einem Stöhnen massierte ich meine Schläfen. Dass mein Körper auch noch schlappmachte, das konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Wie sollte ich mich sonst ablenken? Reiß dich zusammen!

Ganz langsam versuchte ich erneut aufzustehen, und dieses Mal wurde mir nicht mehr schwindelig. Geschafft. Zur Sicherheit nahm ich aber noch eine Wasserflasche aus dem Minikühlschrank und trank ein paar Schlucke. Ich konnte diesen Tag überstehen, mich auf meine Arbeit konzentrieren und vor allem: nicht nachdenken. Das war zu schaffen! Wenn ich mir das immer wieder vorsagte, wurde es vielleicht Wirklichkeit. Also zog ich noch eine Sweatjacke über, flocht mir die Haare zu einem Zopf und ging zurück hinaus.

Der Regen hatte mittlerweile ganz aufgehört, es roch nach nasser Erde und Wiese, die Luft war kühl und klar, und ich atmete tief durch. Von der Veranda aus konnte ich Sams Haus gut sehen, aber ich zögerte hinüberzugehen. Klar, sie brauchten sicher Hilfe beim Aufräumen, aber ich wollte gerade mit niemandem sprechen. Außerdem war ich mir ziemlich sicher, dass Henry dort war, und ihn wollte ich nach dieser Nacht als Allerletzten sehen. In meinem Kopf tauchte wieder diese Szene auf, die ich gestern mit angehört hatte. Henry, der seiner Mutter sagte, dass er »nur Spaß haben wollte« und mich aber keinesfalls als »angemessen« betrachtete.

Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, ich konnte nichts dagegen tun. Es hatte so wehgetan, das zu hören. Dabei war ich mir so sicher gewesen, dass er sich mir gegenüber ein Stück geöffnet hatte. Aber vermutlich hatte er mir das auch nur vorgespielt.

Wütend wischte ich mir mit der Hand über die Augen. Seit sich gestern die Ereignisse überschlagen hatten, hatte ich gar nicht wirklich die Gelegenheit gehabt, an Henry zu denken. Doch nun kamen Schmerz und Trauer mit doppelter Wucht zurück. Stopp! Kein Gedanke mehr an Henry! Ich musste mich dringend ablenken, damit ich unter diesen ganzen Gefühlen nicht zusammenbrach.

Entschlossen ging ich zu den Ställen, holte ein Halfter mit Strick, nahm zwei Möhren aus dem Futtereimer, steckte sie in die Tasche meiner Sweatjacke und ging zu den Weiden hinter dem Reitplatz.

»Joker!«, rief ich, und sofort hob der Wallach seinen Kopf, spitzte die Ohren und sah zu mir her. Es war ein wunderschöner Anblick, die Pferde im saftigen Grün stehen zu sehen, über ihnen der vom Regen noch bedeckte Himmel, durch den die Sonne sich energisch hervorschob und die Wolken um sie herum golden färbte. Darauf musste ich mich konzentrieren, auf das Schöne in meinem Leben.

Am liebsten hätte ich dieses Bild fotografiert, eingerahmt und auf meinen Nachttisch gestellt, um mich immer daran zu erinnern, was ich hatte. Ich liebte diesen Anblick. Ich liebte meinen Job hier auf dem Gestüt. Mein Leben war gerade das absolute Chaos, aber ich war mir sicher: Genau hier wollte ich sein.

»Na, komm her, ich habe etwas für dich.« Joker aber setzte sich nicht in Bewegung, erst als Everdream näher kam, schloss er sich an.

Ich musste lächeln, etwas, das ich an diesem Tag für unmöglich gehalten hatte. Aber diese magische Kraft hatten Pferde. »Ohne deine neue beste Freundin geht wohl gar nichts mehr, was?« Ich schob das Tor einen Spalt weit auf, schlüpfte hindurch und schloss es wieder. Dann gab ich Everdream und Joker je eine Möhre und streichelte die beiden ausgiebig.

»Was für eine Liebe du geworden bist«, murmelte ich und wuschelte Everdream durch die Mähne. »Wenn die auf Red Oak nur sehen könnten, wie wohl du dich hier mit deinem besten Freund fühlst.«

Ich dachte an die Auktion in zwei Wochen und daran, dass Joker, Everdream und Meteor dort neue Besitzer bekommen würden. Ein schrecklicher Gedanke. Ich wusste, dass ich in meinem Beruf mein Herz nicht derart an meine Schützlinge hängen durfte, aber das war leichter gesagt als getan. Je länger ich mit ihnen arbeitete, desto wichtiger wurden sie mir. Aber besonders bei Meteor schmerzte der Gedanke an den bevorstehenden Abschied. Er war mein Herzenspferd. Ich war bei seiner Geburt dabei gewesen, hatte ihn nach dem Tod seiner Mutter mit der Flasche aufgezogen und geholfen, ihn auszubilden. Da ich nicht mehr auf Red Oak lebte und arbeitete, konnte ich ohnehin kaum noch Zeit mit ihm verbringen. Es war bereits wie ein schleichender Abschied. Ich nahm mir fest vor, ihn am kommenden Wochenende zu besuchen. Das würde es zwar nicht leichter machen, aber ich spürte, dass ich ihn gerade jetzt besonders brauchte.

»Na, Joker, bist du bereit für dein Training?« Ich halfterte ihn auf und führte ihn aus dem Tor. Den Strick wedelte ich dabei nach hinten, damit Everdream uns nicht folgte. Wie erwartet, wieherte sie herzzerreißend, sobald sich das Tor schloss und sie allein auf der Koppel zurückblieb.

»Du hast ganz viele Nachbarn«, sagte ich und deutete zu den Pferden, die ihre Köpfe von der anderen Weide über den Zaun zu ihr streckten. »Sei einfach mal lieb zu den anderen, dann kannst du irgendwann zu ihnen auf die Koppel und bist nicht mehr allein.«

Everdream aber ging dazu über, am Zaun entlang neben mir und Joker herzulaufen. Ich seufzte. Hoffentlich kam sie nicht wieder auf die Idee, über den Koppelzaun zu springen, das hatte sie in Panik vor einem Sturm schon mal getan. In dem Sturm, in dem Henry und ich …

Sofort spürte ich wieder den Schmerz, der wie ein schwerer Stein in meinem Magen lag. Schon der Gedanke an ihn tat weh. Ich war mir so sicher gewesen, dass das zwischen uns etwas Besonderes war. Doch ganz offensichtlich hatte ich mich da getäuscht.

Nein, ich musste ihn vergessen. Letzte Nacht war so viel passiert, Henry war da nun das kleinste Problem.