Time Shifters - Davide Morosinotto - E-Book

Time Shifters E-Book

Davide Morosinotto

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Beschreibung

Brillant erzählter, actionreicher Science Fiction für Jugendliche ab 14 Jahren von Bestseller-Autor Davide Morosinotto

Bologna, 19. Mai, 11.56: Eine Bombe explodiert in einer Schule. Ein Amoklauf von unvorstellbarem Ausmaß.

Was wäre, wenn sich diese Katastrophe nie ereignet hätte? Wenn sich die Zeit um 24 Stunden zurückdrehen ließe? Wenn es in Prag Agenten gäbe, die auf solche Aufgaben spezialisiert wären? Agenten wie die Time Shifters.

Michaela ist eine von ihnen. Ihr bleiben 24 Stunden Zeit, um die Tat zu verhindern. Doch schon bald muss sie feststellen, dass sich die Vergangenheit nicht ohne Weiteres ändern lässt ...

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Das Buch

Bologna, 19. Mai, 11.56: Eine Bombe explodiert in einer Schule. Ein Amoklauf von unvorstellbarem Ausmaß.

Was wäre, wenn sich diese Katastrophe nie ereignet hätte? Wenn sich die Zeit um 24 Stunden zurückdrehen ließe? Wenn es in Prag Agenten gäbe, die auf solche Aufgaben spezialisiert wären? Agenten wie die Time Shifters.

Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo per la traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.

Die Übersetzung dieses Buches kam dank einer Förderung des Italienischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und Internationale Zusammenarbeit zustande.

Der Autor

© Tamara Casula

Davide Morosinotto wurde 1980 in Norditalien geboren. Bereits mit 17 Jahren schrieb er seine erste Kurzgeschichte. Seitdem hat er über 30 Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht. Sein Kinderbuch „Die Mississippi-Bande“ wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Für sein Jugendbuch „Shi Yu“ wurde er mit dem „Premio Strega“, dem wichtigsten Literaturpreis Italiens ausgezeichnet. Davide Morosinotto lebt als Autor, Journalist und Übersetzer in Bologna.

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

01

Freitag, 19. Mai, 11:56Stunde null

Zuerst bricht das Gewitter aus, dann explodiert die Bombe.

Schon am Morgen hatte sich die Wolkendecke über Bologna verdichtet und wer aus dem Haus ging, nahm vorsichtshalber einen Schirm mit oder einen von diesen durchsichtigen Regenmänteln, in denen man aussieht wie ein Müllsack auf Beinen. Viele ließen den Motorroller zu Hause und nahmen lieber das Auto.

Deshalb stehen jetzt in der Mittagszeit auch alle im Stau.

Als die Ampel auf der Höhe der Porta San Mamolo auf Grün springt, sprinten die Autos, die in westlicher Richtung unterwegs sind, mit aufheulendem Motor los, nur um wegen des Blitzers hundert Meter weiter abzubremsen. Gleich dahinter geht es wieder aufs Gas. Die ersten Regentropfen fallen. Die Scheibenwischer werden eingeschaltet, sie gleiten rauf und runter, rauf und runter, aber dennoch rasen alle an der nächsten Ampel vorbei.

Irgendwo hinter den Hügeln geht ein Blitz nieder. Der Himmel leuchtet auf, Donner knallt wie ein Schuss, unmittelbar darauf gießt es in Strömen, alles verschwindet hinter einem Vorhang aus dicken lauwarmen Tropfen.

Ein paar Autofahrer bremsen daraufhin ab, doch die anderen hupen und überholen rechts und links, um auf der grünen Welle noch schnell die folgenden Ampeln zu passieren.

Die Autoschlange rast an der Porta Saragozza vorbei und nimmt die scharfe Kurve in genau dem Augenblick, in dem das Gebäude des Gymnasiums D’Arturo-Horn in die Luft fliegt.

Die Marmortafel mit dem Namen der Schule löst sich aus ihrer Aufhängung über dem Eingang, saust wie ein Frisbee quer über die Straße und landet vor dem Lieferwagen einer Eisenwarenhandlung. Der Fahrer versucht noch zu bremsen, kracht dann aber dagegen.

Ziegelsteine und Glasscherben fliegen wie Projektile auf die Pkws zu, auf die Lastwagen, auf die ehemalige Kinderklinik in der Via Ortis und auf die abgestellten Mofas.

Ein Dröhnen, lauter als der Donner zuvor, hundert Mal lauter als der Donner, und das Gymnasium fällt in sich zusammen. Ein Anblick, der großartig und schrecklich zugleich ist. Ein dichter roter Nebel aus Ziegelstaub steigt auf und breitet sich gedankenschnell aus.

Die Stadt versinkt im Chaos.

Es hört nicht auf zu regnen.

02

Freitag, 19. Mai, 12:1418 Minuten nach Stunde null

Das Kommando- und Kontrollzentrum der 26. Luftbrigade liegt 36 Kilometer nordöstlich von Prag, in der Nähe von Stará Boleslav, einem kleinen Dorf.

Micaela Falco erreicht es, nachdem sie eine lange Serie von roten Ampeln und Blitzern ignoriert hat. Deswegen muss sie sich keine Sorgen machen, denn das Kennzeichen von Micaelas Motorrad steht auf einer besonderen Liste und wie durch Zauberei wird sie keinen einzigen Strafzettel bekommen. Micaela findet diesen Gedanken immer noch aufregend – so, als wäre sie jemand ganz Besonderes, trotz ihrer knapp zwanzig Jahre.

Micaelas Honda CB 650 R ist rot, rot wie ein schlagendes Herz. Sie beugt sich über den Lenker und verlässt mit über achtzig Sachen die Autobahn, richtet sich auf und fädelt sich in die breite Straße ein.

Die Basis befindet sich am Ende dieser Straße. Eine alte MiG 21, die auf ein Podest montiert wurde, markiert den Eingang zum Gelände und erinnert an die alten Zeiten des Eisernen Vorhangs. Jedes Mal, wenn Micaela das Kampfflugzeug sieht, überlegt sie, wie es wohl gewesen sein mochte, damit zu fliegen, bei einem Einsatz. Auch ihr Vater war Militärpilot und vor zwanzig Jahren flog er für die italienische Luftwaffe Tornados. Wenn sie das nächste Mal mit ihm telefoniert, will sie ihn fragen, ob ihm jemals eine MiG 21 begegnet ist.

Weil sie seinem Vorbild folgen wollte, hatte Micaela damals mit siebzehn Jahren ihr Studium an der Militärakademie begonnen, als Jüngste unter den Erstsemestern. Sie träumte davon, Flügel zu bekommen. Doch das Schicksal entschied anders und jetzt steht sie hier, vor der Eingangsschranke der Basis.

Ein Soldat kommt aus dem Wachhaus, schaut Micaela an, dann das Motorrad. »Gar nicht so übel. Wie schnell fährt es?«

Micaela hat keine Zeit für Small Talk. »Ich bin einbestellt worden. Code siebentausendfünf.«

Aus der Innentasche der Lederjacke holt sie ihre Brieftasche heraus und zeigt dem Soldaten den Dienstausweis. Auf der Plastikkarte ist ihr Foto zu sehen, darunter stehen ihr vollständiger Name (Micaela Greta Falco) und ihr Nato-Dienstrangcode (OF-1b: Leutnant). Dann sind da noch der Strichcode und der Hinweis Budova č. 42. Gebäude Nummer 42.

Kaum hat der Soldat alles überflogen, als er auch schon die Schranke hochfahren lässt, damit Micaela weiterfahren kann.

Auf dem Gelände der Basis gilt eine Geschwindigkeitsbeschränkung von dreißig Stundenkilometern. Micaela ist autorisiert, sie zu ignorieren, doch sie weiß, dass die Kommandantin Wert darauf legt, jegliches Aufsehen zu vermeiden. Deshalb fährt Micaela langsam weiter, zwischen den großen Hallen hindurch. Gebäude Nummer 42 steht ganz hinten. Es ist ein Tunnelhangar mit Metallwänden, der von außen wie eine gewöhnliche Lagerhalle aussieht und von einem Stacheldrahtzaun umgeben ist. An dessen Tor steht ein weiteres Wachhaus.

Micaela holt wieder ihren Dienstausweis heraus und der Soldat dort scannt den Strichcode mit einem Lesegerät ein und bittet sie, den Helm abzunehmen, damit er kontrollieren kann, ob ihr Aussehen mit dem Foto übereinstimmt. Erst als er damit fertig ist, darf Micaela an ihm vorbeifahren und ihr Motorrad zwischen dem Stacheldrahtzaun und dem Gebäude abstellen. Sie hat den Seitenständer noch nicht ausgeklappt, als schon ein Elektrokart aus dem Gebäude kommt und auf sie zufährt.

Am Steuer sitzt eine junge Frau, ein paar Jahre älter als Micaela und mit den Rangabzeichen eines Oberleutnants.

»Micaela!«

Der Kart beschreibt eine enge Kurve und bleibt neben ihr stehen. Die Frau bedeutet ihr, einzusteigen.

»Diana!«, begrüßt Micaela sie. »Bist du etwa mein Chauffeur?«

»Ich habe mich freiwillig gemeldet, als ich erfahren habe, dass du heute herkommst, an deinem freien Tag.«

Micaela und Diana sind in Gebäude Nummer 42 die beiden einzigen Italienerinnen, und wenn sie zusammen sind, unterhalten sie sich in ihrer Muttersprache.

»Ich habe lange geschlafen und war gerade beim Frühstück, als die Nachricht kam«, erklärt Micaela. »Ich habe eine furchtbare Unordnung hinterlassen. Tut mir leid. Ich hatte keine Zeit mehr aufzuräumen und bin einfach losgefahren.«

Diana zuckt mit den Schultern. »Ich räume nachher auf, wenn ich Dienstschluss habe, während ich auf dich warte. Weißt du schon, wann du fertig bist?«

Jetzt ist es Micaela, die mit den Schultern zuckt. Keine Ahnung. »Es ist ein Code siebentausendfünf«, erklärt sie. Sie würde gerne mehr darüber sagen, aber dazu ist sie nicht autorisiert.

Diana wechselt deshalb schnell das Thema. »Pass bloß auf, heute ist der neue Zweite Kommandant von deinem Team gekommen.«

»Der Nachfolger von Carla?«

»Genau der. Direkt aus Washington. Major Harry Coleman.«

»Und wie ist der so?«

»Einer von der harten Sorte. Er war im Stab von General Robertson und hat dafür gesorgt, dass alles wie ein Uhrwerk lief.«

Micaela hat schon von Robertson gehört. In Gebäude 42 ist er so etwas wie ein Mythos.

»Dann kann er was.«

»Ja … Ich glaube schon.«

Während sie sich unterhalten, fährt Diana mit hoher Geschwindigkeit in das Gebäude hinein. Innen sieht es wie in allen europäischen Militärhangars aus: ein geordnetes Labyrinth aus identischen Kisten, zwischen denen Gabelstapler und Elektrokarts hin und her rollen. Diana würde sich hier auch mit verbundenen Augen zurechtfinden, und anstatt den auf den Boden aufgemalten farbigen Linien der vorgeschriebenen Routen zu folgen, nimmt sie eine Abkürzung nach der anderen.

Vorm Eingang eines Fertigbaus, in dem mehrere Büros untergebracht sind, stellt Diana den Kart ab. Die beiden Frauen steigen aus und jede gibt in einen Nummernblock eine sechzehnstellige Geheimzahl ein.

»Wenn du nicht lange brauchst«, sagt Diana, »könnten wir heute Abend dieses neue kleine Restaurant ausprobieren, du weißt schon, das hinter dem Supermarkt …«

»Hoffentlich«, sagt Micaela.

Sie weiß nicht, ob sie zur Abendessenszeit wieder zu Hause sein wird, und ist in Gedanken schon bei dem Auftrag, der auf sie wartet. Diana ist nur noch eine Stimme im Hintergrund und sie hat ein schlechtes Gewissen deshalb. Zwar arbeiten sie beide in Gebäude Nummer 42, doch Diana ist nur in der Verwaltung tätig. Und dieses »nur« spielt eine große Rolle. Es ist wie eine Mauer, die Micaela nicht überwinden kann.

Denn Diana muss immer auf der anderen Seite bleiben.

Sie weiß es nicht.

Mit schnellen Schritten gehen die beiden einen von Neonröhren beleuchteten Gang entlang, biegen erst rechts und dann links ab und bleiben schließlich vor einer mit einem Nummernblock versehenen Tür stehen.

Micaela kennt den Zugangscode. Diana nicht.

»Da wären wir«, sagt Diana. »Ich kehre jetzt mal an meinen Schreibtisch zurück. Wieder ganz viele aufregende E-Mails, die ich heute noch abschicken muss.«

Sie grinst und auch Micaela bemüht sich zu grinsen.

»Hals- und Beinbruch!«, sagt Diana.

»Toi, toi, toi!«, erwidert Michaela.

Diana macht eine kleine Bewegung auf Micaela zu, als wolle sie sie küssen, hält sich dann aber zurück. Der Gang ist kameraüberwacht und sie hat keine Lust, sich hier zur Schau zu stellen. Deshalb dreht sie sich schnell um und eilt durch den Gang zurück, während Micaela den Code eingibt und durch die Stahltür tritt.

Dahinter befindet sich ein kleiner leerer quadratischer Raum, in dem ein mit Maschinengewehr bewaffneter Soldat eine Aufzugstür bewacht.

»Micaela. Hast du heute nicht frei?«

»Hallo, Nick … Tja. Anscheinend brauchen sie mich trotzdem.«

Sie reicht dem Soldaten ihren Dienstausweis und er scannt ihn mit seinem Lesegerät ein. Das Gerät leuchtet rot auf und gibt einen krächzenden Laut von sich.

Nick versucht es ein zweites Mal. Jetzt trillert das Gerät, es klingt zufrieden. Die Aufzugstür öffnet sich.

»Ich fürchte, dein Ausweis ist beschädigt. Du solltest ihn nicht in der Brieftasche aufbewahren. Lass das mal von jemandem in der Verwaltung in Ordnung bringen, sonst kommst du das nächste Mal nicht mehr hier rein.«

Micaela verspricht, sich darum zu kümmern, verabschiedet sich und betritt alleine den Fahrstuhl. Sie legt erst beide Handflächen auf die glatte Wand, dann die Stirn. Die Augen hat sie weit geöffnet, damit die Sensoren ihre Netzhaut erkennen können.

»Leutnant Micaela Falco«, sagt sie. »Agentin.«

Eine Computerstimme antwortet: »Zutritt autorisiert.« Dann bewegt sich der Fahrstuhl abwärts.

Als er anhält, befindet sich Micaela vier Stockwerke tief unter der Erde. Die Tür öffnet sich auf einen fensterlosen Gang mit blendenden Neonröhren.

Eine Frau erwartet sie. Um die fünfzig Jahre alt, mit dunklem, zu einem festen Knoten geschlungenem Haar und einem strengen Gesichtsausdruck. Sie hat einen dunklen Camouflage-Overall ohne Dienstgradabzeichen an und hat sich ein Tablet unter den Arm geklemmt.

Es ist Brigadegeneralin Émilie Gillet, die Kommandantin des Teams. Sie trägt keine Dienstgradabzeichen, weil im Dienst das Team immer Vorrang hat, vor allem anderen.

»Du bist spät dran«, begrüßt sie Michaela auf Englisch, mit leichtem französischen Akzent. »Der Zweite Kommandant wollte dich schon suchen lassen.«

Micaela erinnert sich an das, was ihr Diana vorhin gesagt hat. »Ich hab gehört, dass er für Robertson gearbeitet hat. Sind ihm die Vorschriften denn so wichtig?«

»Vor allem ist er ziemlich steif.«

»Stimmt es, dass er gemeinsam mit uns die Kapsel betritt?«, fragt Micaela.

»Na ja, er ist der neue Zweite Kommandant und es scheint sich um eine sehr ernste Angelegenheit zu handeln.«

Micaela beunruhigt das nicht. In Gebäude Nummer 42 geht es ausschließlich um sehr ernste Angelegenheiten.

Während sie den Gang entlanglaufen, reicht die Kommandantin ihr das Tablet, damit sie einen Blick auf den Bericht werfen kann.

»Eine Bombe? In einer italienischen Schule?«

»Vielleicht ein terroristischer Anschlag … Wir wissen kaum etwas, es ist vor weniger als einer halben Stunde passiert. Auf jeden Fall aber ist ein Gymnasium in die Luft geflogen. In Bologna. Das Gymnasium D’Arturo-Horn. Hast du diesen Namen schon mal gehört?«

Micaela verneint.

»Die Bombe ist um 11 Uhr 56 hochgegangen«, fährt die Kommandantin fort. »Das Schulgebäude ist eingestürzt und die Explosion hat in der halben Stadt eine Kettenreaktion ausgelöst, eine ganze Serie von Unfällen … Wir empfangen noch die Daten.«

Micaela gibt ihr das Tablet zurück. »Wann trete ich in Aktion?«

»Sehr bald. Data und der Analyst haben bereits einen Eintrittspunkt gefunden. Zieh dich schnell um und komm dann zum Briefing. In fünf Minuten betreten wir die Kapsel.«

Micaela schaut auf ihre Smartwatch: Ihr Handy ist deaktiviert worden, als sie Nummer 42 betreten hat, und ihre Uhr hat sich automatisch mit dem Missionsserver verbunden. Jetzt zeigt die Uhr anstelle des Ziffernblatts eine laufende Stoppuhr an.

Zeit, denkt Micaela. Es geht immer um Zeit.

Sie wird dafür sorgen müssen, dass ihr die Zeit reicht. Wie immer.

Sie kommen zu einer lilafarbenen Stahltür. Die Kommandantin legt ihre Hand auf das Schloss und die Tür öffnet sich. Sie treten ein.

Mit einem metallischen Klicken schließt die Tür sich hinter ihnen.

03

Donnerstag, 18. Mai, 13:2422 Stunden und 32 Minuten vor Stunde null

Nach dem Ende der sechsten Stunde ändert sich das Leben von Ron Senai für immer. Als es passiert, liegt er auf dem Rücken auf einer Schulbank, mit den Füßen auf dem Boden und einem Messer an der Kehle. Das Messer ist ein gewöhnliches Klappmesser. Derjenige, der die Schneide gegen Rons Kehle drückt – so, dass sie die Haut berührt, ohne sie zu verletzen, eben gerade so, dass Ron es spürt –, ist ein Klassenkamerad von ihm. Enrico Neri.

Enrico ist sechzehn Jahre alt, also genauso alt wie Ron, doch abgesehen davon, dass die beiden in dieselbe Klasse gehen, könnten sie verschiedener nicht sein. Ron ist sehr groß, über eins neunzig, und auffallend dünn, er hat einen etwas dunkleren Teint und lockige Haare. Enrico dagegen ist nicht besonders groß, aber kräftig und dank Sport und Krafttraining sehr muskulös, mit langen blonden Haaren und dem Gesicht eines Engels.

Während Ron aus einer ganz normalen Familie kommt, die sicherlich nicht arm, aber auch nicht reich ist, ist Enrico der Sohn eines Millionärs und lebt ein dementsprechend luxuriöses Leben mit Urlauben und Sprachaufenthalten im Ausland, Segelkursen und Reitstunden. Auch aus diesem Grund hat Enrico Ron immer ein bisschen genervt. Und ihn an diesem Tag so provoziert, dass er jetzt auf der Schulbank liegt, mit einem Messer unter dem Kinn.

Wie habe ich es bloß geschafft, mich in diese Lage zu bringen?, denkt Ron und gibt sich selbst die Antwort: Es hat sich nach und nach so entwickelt. Eine Reihe von Ereignissen, die zuerst klein und unbedeutend waren und schließlich dazu geführt haben, dass es jetzt so ist, wie es ist.

In der fünften Stunde hatten sie Latein, ein Fach, das Ron hasst, und außerdem hatte die Lehrerin an diesem Tag beschlossen, sie unangekündigt abzufragen. Während sie noch überlegte, wen sie drannehmen sollte, wurde die angespannte Stille im Klassenzimmer vom Trillern einer eingegangenen Nachricht zerrissen.

Studienrätin Santini, eine zierliche, aber angsteinflößende ältliche Frau, die immer in Grau gekleidet war und viel zu leise sprach, hob den Blick vom Klassenbuch und fragte: »Herr Senai, müssten Sie das Telefon im Unterricht nicht ausschalten?«

Ron versuchte, ihr zu erklären, dass es nicht sein Handy gewesen sein konnte, weil das im Flugmodus war, doch die Santini schenkte ihm ihr Reptilienlächeln und sagte: »In Ordnung. Aber weil wir uns gerade unterhalten, können Sie auch gleich nach vorne kommen und sich abfragen lassen.«

Es folgten fünfunddreißig Minuten Blut, Schweiß und Tränen, und das Ergebnis war ein »Ungenügend«.

Da sie am Ende des Schuljahrs angelangt waren, bedeutete das für Ron, dass er nun wie ein Verrückter lernen und sich in der kommenden Woche erneut abfragen lassen musste, um seine Note vor den Prüfungen zu verbessern. Eine Aussicht, die ihm ganz und gar nicht gefiel.

Also fragte sich Ron, sobald er wieder an seinem Platz war: Welcher Idiot hat sein Handy eingeschaltet gelassen und war zu feige, das zuzugeben?

Die Antwort flüsterte ihm sein Freund Gimbo ins Ohr: Der Verräter war Enrico Neri aus der letzten Bank. Enrico, der bis zum vorigen Schuljahr noch Klassenbester gewesen war, beinahe so eine Art Genie, inzwischen aber Gefährdeten-Status erreicht hatte. Ärger zu Hause, wusste Gimbo zu berichten, der Vater sei ein Bauunternehmer, der in halb Europa Brücken und Autobahnen baute, dann aber in einen Skandal verwickelt gewesen war, woraufhin es auch in der Familie nicht mehr so glattlief.

Das alles war Ron im Grunde egal, jeder hat so seine Probleme, aber an seiner Fünf heute in Latein war Enrico schuld, und wenn man aufs Gymnasium ging, musste man dafür sorgen, dass die anderen einen respektieren.

Also hat Ron nach dem Klingeln am Ende der Stunde Enrico abgepasst und »Arschloch« zu ihm gesagt, und der andere hat nichts erwidert, hat ihn eiskalt stehen lassen, so als existiere Ron gar nicht. Das hat wiederum Ron wütend gemacht, denn abgesehen davon, dass er abgefragt worden war, ertrug er es nicht, auf diese Weise ignoriert zu werden, so als ob Enrico viel zu vornehm wäre, um ihn zur Kenntnis zu nehmen.

Also hat Ron Enrico gepackt, ihn geschüttelt und gegen die Wand gestoßen, nur um ihm zu zeigen, wer hier das Sagen hat. Enrico hat sich daraufhin nicht verteidigt, hat überhaupt nichts unternommen, bis ihm irgendwann das Messer und ein Handy aus der Tasche fielen. Das Handy war ein iPhone, das neueste, teuerste Modell. Es fiel auf die Seite, und weil es keine Schutzhülle hatte, ging es kaputt, mit einem Geräusch wie ein brechender Knochen.

Enrico hob es auf und in dem Moment drehte er durch. Wie von null auf hundert. Er griff Ron mit gesenktem Kopf an, warf ihn auf die Bank und drückte ihm das Messer an die Kehle.

Und jetzt, überlegt Ron, was mache ich jetzt?

»Ich weide dich aus, wie ein Osterlamm.«

Der ruhige Ton, in dem Enrico das sagt, jagt Ron einen eisigen Schauer über den Rücken. Er senkt den Blick, um das Messer anzuschauen, die superscharfe Klinge, mit der man Holz schnitzen oder Ähnliches machen kann, die aber eigentlich nicht dazu gedacht ist, einem sechzehnjährigen Schüler die Kehle durchzuschneiden, einem Jungen, der schon von den Ferien träumt.

Er möchte etwas sagen, weiß aber nicht, was, und der andere starrt ihn an, als wäre er schon tot. Ron hat solche Angst, dass er sich beinahe in die Hose macht. Er weiß es, er spürt es.

Hilfe, Hilfe!, denkt er. Hilfe, Hilfe, Hilfe!

»Hey, Leute, ist das hier die 12d?«

Die Frage ist derartig absurd, derartig unangebracht, dass Ron sich einen Augenblick lang nicht einmal sicher ist, ob er sie wirklich gehört hat.

Er dreht den Kopf, um zu sehen, wer da gesprochen hat, und erblickt ein Mädchen, das auf der Schwelle zum Klassenzimmer steht. Etwas älter als er, vielleicht ein paar Jahre. Er hat sie in der Schule noch nie gesehen, sonst würde er sich sicherlich an sie erinnern. Sie sieht sehr sportlich aus, unter dem Saum des kurzen T-Shirts blitzt ein Sixpack hervor, die Arme sind muskulös, an den Schultern spannt der Stoff.

Ihre Brüste sind klein, aber rund, die kurz geschnittenen Haare betonen ihre perfekte Kopfform, die Augen sind groß und klar und sehen aus wie aus Glas. Ihre Lippen sind voll. Diese Lippen ziehen Rons Blick magnetisch an.

Dieser Wirbel, der ihn erfasst hat, lenkt ihn so stark ab, dass er zuerst gar nicht merkt, dass Enrico ihn losgelassen und sein Messer hinter dem Rücken versteckt hat.

Ich bin frei, denkt Ron, atmet auf und setzt sich auf die Schulbank, auf der er bis gerade eben noch lag. Er fährt sich mit den Händen über die Kehle, betrachtet dann seine Handflächen. Kein Blut, er lebt noch. Er sieht wieder das Mädchen an. Sie wirkt nicht erstaunt, sie hat begriffen, was da geschehen ist, wahrscheinlich hat sie das Messer entdeckt. Sie bleibt einfach in der Tür stehen.

»Du suchst … die 12d?«, fragt Ron.

Sie nickt.

»Die ist nicht hier. Die ist … eine Etage tiefer. Wenn du willst, bringe ich dich hin.«

Das Mädchen antwortet nicht, es schaut ihn einfach nur an. Aber diese Stille kommt Ron wie eine Antwort vor, jedenfalls ist dies seine Chance, von hier zu verschwinden, von Enrico und dessen Messer wegzukommen. Deshalb hebt er seinen Rucksack auf, der in dem Durcheinander auf den Boden gefallen ist, und schultert ihn. Er wirft Enrico einen flüchtigen Blick zu, der mindestens ebenso verblüfft wie Ron aussieht, erreicht mit zwei großen Schritten die Tür und lächelt das Mädchen an, das ihm gerade höchstwahrscheinlich das Leben gerettet hat. Sachte streift er ihren Arm, um sie aufzufordern, das Klassenzimmer zu verlassen.

Als seine Hand ihre Haut berührt, erbebt sie, wie bei einem elektrischen Schlag, den auch Ron spürt. So etwas ist ihm noch nie passiert, er hat nur davon gehört, in Romanen davon gelesen, es in Filmen gesehen. Es ist eine ganz besondere Anspannung, die er wahrnimmt, die ihm den Gedanken aufdrängt: Ich muss sie kennenlernen. Ich muss alles über sie erfahren.

Gemeinsam gehen sie auf dem Flur in Richtung Treppe und Ron würde sie so gerne fragen, wie sie heißt, ob sie hier neu ist, ob sie erst vor Kurzem in die Stadt gezogen ist und das Gymnasium besuchen wird, doch leider bekommt er keinen Ton heraus.

Erst als sie vor dem Klassenzimmer der 12d stehen, das um diese Zeit natürlich leer ist, zeigt Ron auf die Tür und sagt: »Hier sind wir. Wie heißt du?«

Das Mädchen schenkt ihm ein Lächeln. Ein Lächeln, das klein ist, aber so warm wie ein glühender Stern.

Dann geht sie in das Klassenzimmer, ohne geantwortet zu haben.

04

Freitag, 19. Mai, 13:361 Stunde und 40 Minuten nach Stunde null

Micaelas Smartwatch zeigt an, dass eine Stunde und vierzig Minuten vergangen sind seit Stunde null. Hundert Minuten. Sechstausend Sekunden.

»Se… sechs…tausend Se…kunden«, flüstert sie. »Sechs…tausend …«

Ihre Zähne klappern und sie kann nichts dagegen tun. Ihre Stimme ist so heiser, dass sie kaum zu hören ist. Das Wasser, das aus dem Brausekopf kommt, ist kochend heiß, und das ist gut so, es wäscht das Blut weg. Die rote Flüssigkeit rinnt ihr am Hals herunter, über Brüste und Rücken, zwischen den Beinen hindurch und bildet um ihre Füße herum eine rote Pfütze, bevor sie durch den Abfluss rauscht.

So viel Blut, denkt Micaela.

Was Diana wohl sagen würde, wenn sie es sehen könnte, wenn sie wüsste, was Micaela tatsächlich macht, wenn sie mit dem Hochsicherheitsaufzug ins Untergeschoss fährt.

Micaela stellt sich vor, dass die Verwaltungsleute dort oben, in den Büros von Nummer 42, oft über die Teams reden und sich fragen, worin deren Mission besteht. Sicherlich ahnen sie nicht, dass danach so viel Blut fließt. Und dass jede Reise mit starken Schmerzen verbunden ist.

Manchmal, wenn Micaela abends in die Wohnung zurückkehrt, die sie beide gemietet haben, merkt sie, dass Diana sie beobachtet. Sie gründlich betrachtet. Weil sie es vielleicht wissen will. Aber Micaela darf ihr nichts erzählen. Genauso wenig wie ihrem Vater in Italien, der so stolz darauf ist, dass sein kleines Mädchen für eine Top-Secret-Position ausgewählt wurde.

Hier ist sie ganz allein. Allein mit ihrem Blut und ihrem Geheimnis. Micaela schwankt auf den Duschgelspender zu und seift sich das Gesicht ein, während von der Badezimmertür her ein Alarmsignal ertönt, wie das Piepsen eines rückwärts fahrenden Lastwagens. Dann gleitet die Tür zur Seite.

Micaela dreht sich schnell um und sieht, wie die Erste und die Zweite Wache das Badezimmer betreten. Sie sind beide um die dreißig, haben einen glatt rasierten Schädel und tragen dunkle Overalls ohne Rangabzeichen. Jeder hat ein Tablet unter dem Arm. Sie starren sie durch die Glaswand der Duschkabine hindurch an und Micaela zwingt sich, ihren Körper nicht mit ihren Händen zu bedecken, sondern einfach zurückzustarren.

»Das ist …« Sie hat immer noch kaum Stimme. »Das ist meine Erholungszeit.«

»Das wissen wir«, sagt die Erste Wache. »Es tut uns leid.«

»Die Kommandantin schickt uns«, sagt der andere. »Sie will, dass sich die gesamte Kapsel versammelt. Wir treffen uns um 14 Uhr 35.«

»Bis dahin ist es noch eine Stunde und ich habe soeben eine Mission abgeschlossen. Ist es wirklich nötig, dass ihr ins Bad kommt, während ich dusche?«

Die beiden Männer wechseln einen nervösen Blick.

»Und?«, drängt Micaela.

»Der Nebel ist sehr dicht«, sagt die Erste Wache. »Data und der Analyst arbeiten noch daran, aber es gibt starke Oszillationen.«

»Was sagen sie denn?«

Wieder wechseln die beiden einen Blick, dann zuckt die Zweite Wache mit den Schultern. Es scheint ihm tatsächlich leidzutun.

»Die Mission ist gescheitert«, sagt er. »Es ist bedauerlich, Leutnant, aber wir stehen wieder am Anfang.«

05

Donnerstag, 18. Mai, 13:4122 Stunden und 15 Minuten vor Stunde null

Enrico Neri kommt die Außentreppe hinunter, schaut sein Gymnasium an und fragt sich, wie es wohl wäre, es in die Luft gehen zu sehen.

In letzter Zeit denkt er das oft und jedes Mal fängt sein Herz dann an, schneller zu schlagen, er kann schärfer sehen, seine Ohren nehmen mehr Geräusche wahr.

Das D’Arturo-Horn ist ein dreistöckiges Gebäude, sehr massiv, aus genau jenen Ziegelsteinen erbaut, denen Bologna den Spitznamen »die Rote« verdankt. Sicherlich würde die Mehrzahl dieser Ziegelsteine von der Explosion zertrümmert werden, zu einem feinen rötlichen Regen werden, während einige wenige davonschießen würden wie Projektile. Enrico stellt sich Flugbahnen vor, zeichnet sie mit den Augen nach.

Das Gymnasium steht an der Ecke einer stark befahrenen sechsspurigen Hauptverkehrsstraße und einer schmaleren Straße, die Via Jacopo Ortis. Das einzige andere Gebäude an dieser Straße ist ein altes Kinderkrankenhaus, in dem mittlerweile nur noch Büros untergebracht sind.

Wäre auch das Krankenhaus betroffen? Und die sechsspurige Straße? Und wenn ja: Wie viele Opfer würde es dann geben, wie viele Tote, wie viele Verletzte, wie viel Blut?

Immer schneller rasen diese Gedanken durch seinen Kopf und beißen sich in seinem Gehirn fest, in seinem Kopf, in seiner Seele, und irgendwann werden sie übermächtig und Enrico bekommt Lust zu schreien, sich diese Bilder aus den Augen zu reißen. Er steckt die Hand in die Tasche und zieht das Klappmesser heraus, dasselbe, mit dem er knapp zwanzig Minuten zuvor seinen Klassenkameraden bedroht hat.

Enrico ist eigentlich nicht gewalttätig, aber man weiß ja, wie das so läuft, denn Ron hat das Messer gesehen und die Leute werden reden. »Weißt du, dass der Neri ein Messer einstecken hat?«, und so weiter, und wenn der Direktor es wüsste, wäre ein Rauswurf die Folge, sie würden ihn vom Unterricht suspendieren, weil diese Schule ein sicherer Ort sein und bleiben muss, und so weiter. Sie können ja nicht wissen, wozu er das Messer in Wahrheit braucht, denn es ist nicht für die anderen gedacht, sondern für ihn selbst. Enrico legt den Finger auf die Schneide und drückt, stärker, stärker, bis er sich schneidet, bis er spürt, dass Blut herausrinnt, bis endlich der Schmerz kommt.

Mit dem Schmerz geht es ihm immer ein bisschen besser. Nach und nach löscht er alles aus, die Bilder der Zerstörung verschwimmen, verblassen.

Enrico zieht die Hand aus der Tasche, steckt den Finger in den Mund und saugt daran. Was ist nur mit ihm los, ist er dabei, verrückt zu werden? Dabei ist da ein Mädchen, das zusammen mit ihrer Freundin auf dem Bürgersteig vor der Schule auf ihn wartet, sie trägt schwarze Shorts von Adidas und ein ärmelloses weißes T-Shirt. Plötzlich bemerkt sie ihn, sie dreht sich um und läuft ihm entgegen, rennt die Treppe hinauf und umarmt ihn.

Enrico versucht, sie abzuwehren, doch sie lässt sich nicht stören, stellt sich auf die Zehenspitzen und steckt ihm ohne Vorwarnung ihre Zunge in den Hals, mit so viel Schwung, dass sie ihm beinahe die Mandeln abreißt.

Sie löst sich von ihm und schaut ihn provozierend an. »Weißt du, was ich vorhin im Unterricht gedacht habe? Dass du echt scharf bist. Und weißt du, was ich gerne mit dir gemacht hätte?«

Sie flüstert es ihm ins Ohr, ihr warmer Atem dringt in sein Ohr, dann weicht sie zurück, um ihn besser zu sehen, doch Enrico erwidert nur: »Uh.«

Ihr Lächeln verschwindet. »Was soll das heißen: Uh? Ich knutsch dich ab, ich sage dir, dass ich mit dir Sex haben will, und du machst so ein Gesicht?«

»Sorry«, stammelt Enrico und schaut zu den Säulen an der Schulfassade hinüber. Er fragt sich, ob die Explosion auch sie erreichen würde und ob sie ganz umfallen oder aber wie Raketen zum Himmel hinaufschießen würden. »Tut mir leid … War ein schlechter Tag heute.«

»Etwa wegen der Nachricht, die du in der Lateinstunde bekommen hast? Dabei hat die Santini doch nichts gemerkt, sie hat Ron beschuldigt, also wirklich …«

Tatsächlich hat die Nachricht sehr viel damit zu tun. Sie kam von seiner Mutter, sie hatte geschrieben: Wo bist du, muss mit dir reden. Dass sie ihm so etwas schreibt, während er in der Schule ist, bedeutet, dass sie bereits sturzbetrunken sein muss. Doch das ist es nicht, was Enrico Sorgen bereitet. Muss mit dir reden, das ist das eigentliche Problem. Seine Mutter und er reden schon seit Wochen nicht mehr miteinander, und wenn sie ihm jetzt etwas sagen will, dann ist es sicherlich nichts Gutes.

»Du bist heute komisch«, stellt Camilla fest. »Fühlst du dich nicht gut?«

Oh ja, denkt er, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlecht ich mich fühle, aber wie könnte ich dir nur alles erklären?

Es wäre unmöglich. Eindeutig unmöglich.

»Vielleicht bin ich einfach nur müde … Hör mal, hast du Lust, mit zu mir nach Hause zu kommen? Es ist niemand da, wir könnten zusammen etwas essen.«

Camilla grinst ihn an. »Du sagst, dass du müde bist, dabei hast auch du Lust …«

»Kommst du mit?«, drängt Enrico. Er ist sich nicht einmal sicher, ob er Camilla wirklich den ganzen Nachmittag um sich haben möchte, allein sein will er aber auch nicht.

Er weiß nicht, was er noch anstellen soll. Ihm ist, als würde dieses Messer in der Tasche nach ihm rufen, ständig nach ihm rufen, doch er will nicht antworten, auf keinen Fall.

Camilla zieht die Nase kraus. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gerne ich das machen würde, Enri, aber ich habe Giulia versprochen, mit ihr zu lernen, sie hat Stress mit ihrem Typen und braucht mich. Sie ruft schon nach mir, siehst du?«

Sie streckt einen Arm aus und winkt dem Mädchen zu, das vorhin bei ihr auf dem Bürgersteig stand und das ihr jetzt aus einem Mercedes heraus Zeichen macht zu kommen.

Camilla lächelt Enrico an, gibt ihm einen Kuss, läuft dann schnell die Treppe hinunter und steigt in den Mercedes ein.

Enrico seufzt. Wenigstens hat ihm dieser Wirbelwind von einem Mädchen etwas Nebel aus dem Kopf vertrieben. Er geht in die Via Ortis weiter, in der Hunderte von Mofas parken, angefangen von uralten Piaggio Zip, die vierzig Jahre alt sein müssen, bis hin zu den Honda SH in allen Farben des Regenbogens. Enrico selbst besitzt kein Mofa, sondern ein echtes Auto, eine XEV Yoyo, ein winziges Elektromobil, Zweisitzer, mitternachtsblau.

Sein Vater hat es ihm geschenkt, bevor … bevor alles losging. Und deshalb hat Enrico schon oft daran gedacht, es loszuwerden. In Wahrheit ist das Mikroauto allerdings sehr bequem, es läuft wie geschmiert und Camilla liebt es.

Und ich kann mir nicht erlauben, Cami zu verlieren.

Enrico steigt in den Yoyo ein und drückt auf den Knopf, der den Elektromotor einschaltet. Er wirft einen letzten Blick auf das Gymnasium … Ob die Fensterscheiben wohl schmelzen oder einfach so herausfallen würden …

Nein. Nein. Enrico versucht, nicht mehr daran zu denken, er stellt den Schalthebel auf Drive, geht aufs Gas und fährt los.

Zu schnell.

Er war zu schnell und hat vergessen, in den Rückspiegel zu schauen, deshalb hat er den Jeep nicht bemerkt, der plötzlich aus der Hauptverkehrsstraße in die Via Ortis eingebogen ist und jetzt direkt auf ihn zuhält.

Der Fahrer des Jeeps lässt das Fernlicht aufleuchten und drückt auf die Hupe. Enrico erschrickt, klammert sich ans Lenkrad und der Yoyo gerät ins Schleudern. Enrico lenkt gegen und sein Mikroauto weicht dem Jeep aus, knallt dafür aber seitlich gegen einen alten Volvo, der am linken Straßenrand parkt. Der Yoyo streift am Volvo vorbei, rasiert ihm an der ganzen Seite den Lack ab, von der Motorhaube bis zum Kofferraum, und reißt ihm auch noch den Seitenspiegel ab, der auf die Straße fällt. Enrico tritt mit Kraft auf die Bremse. Der Sicherheitsgurt presst ihn gegen die Sitzlehne, sein Herz rast.

Hupend fährt der Jeep an ihm vorbei und ist so schnell verschwunden, dass Enrico das Nummernschild nicht lesen kann.

Scheiße.

Enrico selbst ist nichts geschehen, er ist unverletzt, aber vor Schreck hat sein Herz einen Sprung gemacht. Er zittert, es war mehr als knapp und plötzlich hört er jemanden schreien: »Neri!«, und erkennt die Stimme des Direktors. Im Rückspiegel sieht er den kleinen, eingetrockneten, beinahe ganz kahlen Mann im billigen Hemd, der gestikulierend auf ihn zurennt.

Er glaubt, der Direktor wolle ihm helfen, und löst den Sicherheitsgurt, klettert auf der Beifahrerseite heraus, stammelt, dass es ihm gut geht, dass alles in Ordnung ist, dass es nur ein kleiner Unfall gewesen ist.

»Es ist ja nicht so schlimm …«

Der Direktor packt ihn an den Schultern.

»Neri!«

»Ich … ich … Es ist nicht schlimm, mir ist nichts passiert.«

»Nicht schlimm? Was? Das da ist mein Auto, du Idiot, mein Auto, und du hast es zerlegt …«

Enrico schaut zu dem zerbeulten Volvo hinüber, zu dem abgerissenen Seitenspiegel, in das vor Wut rot angelaufene Gesicht des Direktors.

»Dieses Mal kommst du nicht einfach so davon, Neri, darauf kannst du dich verlassen. Dieses Mal bist du wirklich zu weit gegangen. Du wirst mir die Reparaturen bezahlen, und wenn mir danach ist, zeige ich dich auch an. Auf jeden Fall aber werfe ich dich von der Schule, das verspreche ich dir …«

06

Freitag, 19. Mai, 14:352 Stunden und 39 Minuten nach Stunde null

Der ovale Besprechungsraum von Nummer 42 ist im Sektor Lila des vierten Untergeschosses untergebracht. Der Teppichboden und der Schallschutz an den Wänden absorbieren Schall- und elektromagnetische Wellen und der Raum ist, zumindest theoretisch, auch abhörsicher.

Was eigentlich gar nicht so wichtig ist, denn als die Kommandantin offiziell die Kapsel angekündigt hat (um 12 Uhr 46, also vor genau einer Stunde und fünfundvierzig Minuten), wurde der gesamte Lila-Sektor evakuiert. Nur die dreizehn Mitglieder des Teams befinden sich noch in diesem Raum. Es könnte sie also ohnehin niemand beobachten, doch ihre Aufgabe ist so wichtig, dass sie kein Risiko eingehen dürfen.

Mitten im Raum stehen ein großer ovaler Tisch und elf Stühle. Micaela nimmt auf dem letzten freien Stuhl Platz und merkt, dass sie sich inmitten all dieser Leute, die wesentlich älter und erfahrener sind als sie, immer noch unsicher fühlt.

Links von ihr sitzt die Kommandantin, daneben Majorin Liz Weber, ihre Adjutantin. Ebenso wie alle anderen trägt auch sie einen Overall ohne Dienstgradabzeichen. Als Nächstes kommt Jerry, der Analyst, ein zweiunddreißigjähriger Oberleutnant mit einem auffällligen orangefarbenen Kopfhörer, ein jungenhafter Typ, der Micaela sehr sympathisch ist. Jerrys Sitznachbar ist der andere Nerd der Basis: Jan, genannt »Data«, ein Feldwebel, dessen Aufgabe darin besteht, von außen eingehende Daten zu sammeln. Die nächsten Stühle sind vom Techniker und der Systemadministratorin besetzt, sowie vom Medizinerteam: Oberst Natalia Adamovich, »Doc« genannt, ist die Ärztin, Leutnant Martin Bartos ist der Assistenzarzt, Tina die Krankenschwester.

Auf dem letzten Platz, dem Platz rechts von Micaela, sitzt Major Coleman, der neue Chief Operating Officer oder COO, der Zweite Kommandant. Ein großer, kräftiger Mann mit Bürstenhaarschnitt. Der Overall sitzt bei ihm so eng, als würde er gleich reißen. Seine Körperhaltung ist sehr steif, die Haut so blass, dass sie im Neonlicht grünlich schimmert.

»Ich sehe, dass wir alle da sind«, sagt die Kommandantin. Sie gibt der Ersten und Zweiten Wache ein Zeichen – die einzigen Personen im Raum, die stehen geblieben sind – und die beiden gehen hinaus, um die Tür von außen zu bewachen. Zwar ist dort draußen niemand, aber es ist eben so Vorschrift.

»Jerry, fängst du an?«

Der Analyst tippt konzentriert auf eine drahtlose Tastatur ein, die endlose Datenkolonnen an die an den Wänden hängenden Bildschirme sendet. Er scheint die Kommandantin nicht gehört zu haben.

Als sie auf die Tischplatte klopft, nimmt er den Kopfhörer ab und schaut verwirrt auf. »Oh, ja, Entschuldigung. Ihr wisst ja, dass ich irre viel zu tun habe.«

»Das Briefing, Jerry«, erinnert die Kommandantin ihn. »Du musst uns erzählen, was passiert ist.«

»Oder was nicht passiert ist oder was passiert sein könnte, ohne dass wir etwas darüber wissen«, scherzt der Analyst kichernd. »Dieses Mal ist es ein ziemliches Chaos … Schaut euch erst mal das hier an, das ist die grafische Darstellung des Nebels, die MARIE gerade errechnet hat.«

MARIE ist die künstliche Intelligenz der Basis, der Supercomputer, dem sie alle stärker vertrauen als ihren eigenen Augen und Ohren und ihrem Herzen.

Auf den Bildschirmen erscheint eine einfache Grafik. Die waagerechte Achse zeigt die mit dem Missionschronometer synchronisierte Zeit an: »2 Stunden 39 Minuten«. An der senkrechten Achse ausgerichtet sind unterschiedlich hohe Säulen, von denen einige bis zum oberen Rand der Darstellung reichen.

»Wie ihr sehen könnt, ist die Undefinierbarkeit dieses Mal höher als gewöhnlich … Wir könnten sie als einen sehr dichten Nebel bezeichnen, der bewirkt, dass MARIE uns das, was da draußen geschehen ist, nur mit einer hohen Fehlerquote darstellen kann. Im Augenblick beläuft sie sich um die fünfzig Prozent.«

»Neunundvierzig«, verbessert Data ihn.

»Pfff«, erwidert der Analyst. »Das macht kaum einen Unterschied. Jedenfalls bedeutet es, dass alle Informationen, die wir haben, richtig oder auch falsch sein könnten. Es ist, als würde man eine Münze werfen: Die Zukunft ist eine Wolke aus Wahrscheinlichkeiten, doch sobald wir in Aktion treten, wird auch die Vergangenheit zu einer solchen Wolke. Die Geschichte wird ungenau, sie fluktuiert und wir können nur …«

»Jerry!«, ruft ihn die Kommandantin zur Ordnung.

»Ja, ja, tut mir leid. Ich habe das nur gesagt, um euch einen Eindruck davon zu vermitteln, mit was für einer Art von Daten wir hier arbeiten.«

Liz hebt eine Hand und Micaela muss beinahe lachen. Es ist fast so, als wäre sie in der Schule, allerdings mit Klassenkameraden, die zu alt dafür sind, noch die Schulbank zu drücken.

»Ja?«, spricht Jerry Liz an.

»Welche Informationen haben denn ein akzeptables Maß an Wahrscheinlichkeit … So um die achtzig Prozent etwa?«

Der Analyst gibt Data ein Zeichen und dieser nimmt sich eine Tastatur und tippt auf sie ein. Wieder gleiten Datenkolonnen über die Bildschirme.

»Mit einer Wahrscheinlichkeit von achtundneunzig Prozent ist heute um 11 Uhr 56 MEZ in der italienischen Stadt Bologna eine Bombe explodiert.« Der Analyst schnippt mit den Fingern, und die Ziffern auf den Bildschirmen ändern sich. »Mit einer Wahrscheinlichkeit von einundneunzig Prozent befand sich die Bombe im Inneren oder in der unmittelbaren Umgebung einer Schule, dem Gymnasium D’Arturo-Horn, doch hat die Explosion, mit einer Wahrscheinlichkeit von sechsundachtzig Prozent, auch einige umliegende Bürogebäude beschädigt und darüber hinaus, mit einer Wahrscheinlichkeit von zweiundachtzig Prozent, zahlreiche Verkehrsunfälle verursacht.«

»Scheiße«, sagt Micaela leise.

Die Kommandantin seufzt. »Zahl der Opfer?«

Der Analyst zuckt die Schultern. »Keine Ahnung. Dazu habe ich Angaben mit einer Wahrscheinlichkeit von einundfünfzig Prozent, von dreiundfünfzig Prozent …«

»Oder auch von sechsundfünfzig Prozent«, schaltet sich Data ein.

Der Analyst verzieht das Gesicht. »Jedenfalls ist das zu wenig. Alles ist im Nebel versunken. Ich kann diese Frage nicht beantworten.«

»Du musst uns doch irgendetwas sagen können, Jerry«, drängt die Kommandantin.

»Möglicherweise … In den wahrscheinlichsten Szenarien geht es um ein paar Hundert Opfer. Aber es könnten auch sehr viel mehr sein. Die Stadt steht unter Schock: Bologna hat bereits ein Mal einen Terroranschlag erlebt. Das war am 2. August 1980, ist also schon einige Zeit her. Eine von Neofaschisten am Bahnhof abgelegte Bombe kostete fünfundachtzig Menschen das Leben. Für Italien ist das auch heute noch eine offene Wunde.«

»Aber dieses Mal können wir etwas tun«, sagt die Kommandantin mit fester Stimme und legt beide Hände flach auf den Tisch.

Ja, das stimmt, denkt Micaela. Wir können die Katastrophe verhindern.

Doch gleich darauf fällt ihr ein, dass sie vor ein paar Stunden gescheitert sind, dass ihr heutiger Einsatz erfolglos war, und sie hat nicht die leiseste Ahnung, warum.

Es ist, als könne die Kommandantin ihre Gedanken lesen. »Jerry, hast du herausfinden können, warum Micaelas Mission ins Leere gelaufen ist?«

Der Analyst lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. »Leider nicht. Als wir in Aktion getreten sind, hatte MARIE eine Erfolgswahrscheinlichkeit von achtundneunzig Prozent errechnet. Sah eigentlich wie eine leichte Mission aus.«

»Und, war sie es?«, fragt der Zweite Kommandant, direkt an Micaela gewandt.

Alle schauen von ihren Notizblöcken auf und Micaela an, und wieder kommt sie sich wie in der Schule vor, als würde sie gerade abgefragt. Sie zwingt sich, daran zu denken, dass sie keine Gymnasiastin mehr ist und auch nicht mehr mitten in der Pilotenausbildung steckt. Sie ist jetzt eine Agentin. Und sie muss souverän sein.

Bemüht, mit fester Stimme zu sprechen, erklärt sie: »Das Operationsfeld entsprach genau den erhaltenen Instruktionen. Und ich habe meine Aufgabe präzise ausgeführt.«

»Tatsächlich?«, hakt der Zweite Kommandant nach. »Vielleicht ist etwas passiert, das du gar nicht bemerkt hast.«

»Das glaube ich nicht«, antwortet Micaela.

»Glaubst du es nur oder bist du dir sicher?« Der Major verzieht den Mund zu einem verkrampften Lächeln. »Meiner Ansicht nach ist das ein ziemlicher Unterschied.«

Die Kommandantin hebt die Hand. »Das Vorgehen von Leutnant Falco können wir später noch analysieren. Jetzt aber dürfen wir nicht vergessen, dass sie die Agentin ist mit der Verantwortung für alle Aktionen im Einsatzfeld.«

Der Major lässt nicht so leicht locker. »Die Vorschriften …«

»Später, habe ich gesagt.« Die Kommandantin wendet sich wieder Jerry zu. »Was wissen wir über den Urheber des Anschlags? Mit anderen Worten: Wer hat die Bombe gelegt?«