Tod am Limes - Libor Schaffer - E-Book

Tod am Limes E-Book

Libor Schaffer

0,0

Beschreibung

Tobias Bloch ermittelt wieder! Zusammen mit seiner Assistentin Susanne Kramer ist der Privatdetektiv aus Heubach einem Antikenliebhaber auf der Spur, der bei seiner Gier auf römische Relikte über Leichen geht. Tatort: Der im englischen Stil gehaltene Eulbacher Park oberhalb von Michelstadt. Die Recherchen führen das sympathische Duo quer durch den Odenwald und seine Umgebung. Dabei stoßen sie auf dubiose Adlige, mysteriöse Tropfsteinhöhlen und rachsüchtige Antiquitätenhändler – keine leichte Aufgabe für die beiden, die auch privat ihre Spannungen zu meistern haben. Doch Bloch, der beim Verzehr seiner Michelstädter Nierenspieße am besten grübeln kann, hat nicht viel Zeit, denn schon bald fordern der römische Odenwald einen weiteren Toten… Libor Schaffer ist wieder ein absolut authentischer Krimi gelungen. Mit viel Witz, Biss und taktischem Kalkül ermittelt sein Detektiv Bloch auch dieses Mal rund um den Odenwald, führt an bekannte und unbekannte Orte – und zu vielen altbekannten Personen. Eine gelungene Mischung aus Spannung und Lokalkolorit, die beweist, dass der Odenwald keineswegs ein sicheres Pflaster ist!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 385

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Libor Schaffer
TOD AM LIMES
Ein Odenwald-Krimi
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2009 Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH
Schutzumschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt
Satz: Nicole Proba, Societäts-Verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-134-2
Für Sabine, Lisa und Muzel

Inhalt

Die erste Meldung
Doppelpack
Alt und gebrechlich
Landadel
Dreckige Hure
Venusgrotte
Die junge Frau
Ein dreister Kerl
Schmerzensgeld
Michi
Liebe Kollegen
Viergötterstein
Die klassische Variante
Umzugspläne
Sechs Personen
Der Jaguar
Toilette
Das Szenario
Kein Sterbenswörtchen
Der zweite Mann
Der Obelisk
Teufelsmauer
Fischfutter
Verschwörungstheorie
Karin
Nur flüchtig
Ortswechsel
Diskretion
Spielernatur
Schönheitsfehler
Spuren
Zurück zu den Wurzeln
Sächsisch
Nicht mein Stil
Ruhe in Frieden
Denkbar ist fast alles
Dunkelgrün
Ausgesetzt
Nicht frech werden
Drei Versionen
Schachtelsätze
Sauerei
Unverzeihlich
So gefallen Sie mir
Schon wieder Melzig
Anne
Den können Sie vergessen
Rotlicht

Kapitel 1Die erste Meldung

Der moderige Geruch in dem unterirdischen Raum erinnerte ihn an die vielen einsamen Stunden, die er bei klassischer Musik in der Venusgrotte in der weitläufigen Parkanlage verbracht hatte, welche sein Herrenhaus im Brombachtal umgab. Dies hier war aber keine künstliche Tropfsteinhöhle mit See und Wasserfall, die je nach Wunsch ihres Besitzers mit elektrischen Scheinwerfern entweder in blauem oder rotem Licht festlich erstrahlte.
Sofern ihn sein Tastsinn nicht trog, befand er sich in einem einfachen Kellerraum mit nacktem Betonfußboden, der unangenehm kühl war. Wie in einem mittelalterlichen Verlies waren seine Arme und Beine an schwere, an der Wand befestigte Eisenringe gekettet. Seine Augen waren mit einem groben Tuch verbunden, das bei jeder Bewegung des Kopfes an den Jochbeinen scheuerte. Sein Mund war mit einem festen Klebeband verbunden.
Das Unangenehmste aber war das eingeschaltete Radio, das sich seinem Eindruck nach einige Meter entfernt direkt vor ihm befinden musste. Dem Klang nach zu urteilen stand es nicht auf dem kahlen Boden, sondern etwa einen halben Meter hoch auf einem Stuhl oder Hocker. Es war auf einen Privatsender eingestellt, in einer Lautstärke, die es unmöglich machte, die Werbung, die Musik, die Moderation oder die Nachrichten zu überhören, die andererseits aber so leise war, dass es höchster Konzentration bedurfte, um alles Gesprochene genau zu verstehen. Rasch erfasste er, dass die Lautstärke innerhalb des Programms variierte. Die Werbung wurde deutlich lauter übertragen, die Nachrichten waren deutlich leiser.
Die Nachricht von seinem plötzlichen und völlig unerklärlichen Verschwinden hatte er bereits elfmal gehört. War es in den ersten vier Stunden jeweils die erste Meldung gewesen, so rangierte die Nachricht jetzt nur noch auf Platz drei. Zudem war sie im Laufe der Zeit immer kürzer geworden und bestand jetzt nur noch aus wenigen mageren Hauptsätzen. Nicht lange, und sie würde ganz verschwinden.
Es sei denn, es wäre etwas Spektakuläres passiert. Dann würde es womöglich sogar eine Liveschaltung zum Ort des Geschehens geben. Die würde er dann allerdings nicht mehr hören…
Er ließ den Kopf langsam auf die Brust sinken, wobei ihn das grobe Tuch am Nasenrücken kitzelte. Er versuchte es ebenso wie das Gedudel des Radios zu ignorieren. Beides gelang ihm nicht.

Kapitel 2Doppelpack

„So läuft das nicht“, sagte Tobias Bloch seelenruhig und schlug die Beine übereinander. Er saß in seinem bequemen dunkelbraunen Ledersessel im Wohnzimmer seines Hauses. Links neben ihm auf der breiten Armlehne des Sessels aus Büffelleder lag seine dreifarbige Katze Muzel und schnurrte wie eine Weltmeisterin.
Da seine Gesprächspartnerin am anderen Ende der Leitung hartnäckig schwieg, fuhr der Privatdetektiv aus Heubach ungerührt fort: „Uns gibt es nur im Doppelpack, Frau von Wartenberg. Das muss Ihnen doch klar gewesen sein, als Sie sich dazu entschlossen haben, Kontakt mit mir aufzunehmen.“
„Es gibt Ausnahmen von der Regel, Herr Bloch. Und um eine solche ersuche ich Sie gerade. Ist das denn so schwer zu verstehen?“
„Keine Chance. Sie vergeuden nur Ihre und meine Zeit. Im Klartext: Wir – meine Assistentin Susanne Kramer und ich – nehmen Ihren Auftrag sehr gern an. Ich allein tue das aber nicht. Amen.“
Sophia von Wartenberg seufzte. „Mir erschließt sich nicht, warum ausgerechnet eine freiberufliche Grafikerin bei den Ermittlungen in diesem Fall hilfreich sein sollte. Zugegeben, ich kenne Frau Kramer nicht persönlich…“
„Sehen Sie?“, unterbrach Bloch seine Gesprächspartnerin. „Sie wissen also überhaupt nicht, wovon beziehungsweise von wem Sie eigentlich sprechen.“
„Und Sie nehmen offensichtlich kein Blatt vor den Mund.“
Der Privatdetektiv lächelte. „Akzeptieren Sie einen Vorschlag zur Güte?“, fragte er.
„Na ja. Wenn Sie meinen.“
„Susanne und ich übernehmen den Fall. Wenn Sie mit unserer Ermittlungsarbeit nicht zufrieden sind oder partout nicht mit meiner Assistentin klarkommen, beenden wir unsere Zusammenarbeit auf der Stelle. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass eine solche Situation nicht eintreten wird.“
Sophia von Wartenberg zögerte.
Du darfst ruhig dein Gesicht wahren, dachte Bloch. Lass dir Zeit mit einer Antwort. Aber bitte nicht ewig.
Obwohl diese Frage völlig unsinnig war, stellte der Privatdetektiv aus Heubach sie trotzdem. „Sind Sie noch dran?“
Die Ehefrau des Verschwundenen schnaufte hörbar. „Also gut. Einverstanden. Schließlich muss ich etwas unternehmen, schon um mich selbst zu schützen. Und um mich zu entlasten. Denn ich werde von der Kriminalpolizei ja wie eine Verdächtige behandelt.“
Kann ich mir lebhaft vorstellen, dachte Bloch.
„Über finanzielle Dinge brauchen wir, glaube ich, nicht lange zu sprechen. Ich akzeptiere Ihre Bedingungen. Ich verlange allerdings, dass Sie sich voll und ganz auf diese Angelegenheit konzentrieren. Ist das uneingeschränkt möglich?“
„Ja“, antwortete der Privatdetektiv. „Wir sind momentan mit keiner anderen Ermittlung befasst.“ Er nannte ihren Tagessatz und forderte einen Vorschuss für eine Woche. Für eine Siebentagewoche. „Wenn wir den Fall früher lösen sollten oder wenn vorher etwas Unvorhergesehenes geschieht, bekommen Sie das zu viel gezahlte Geld selbstverständlich zurück.“
„Nein“, sagte Sophia von Wartenberg in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. „Sie behalten das komplette Honorar in jedem Fall. Und wenn Sie und Ihre Assistentin meinen Mann finden, zahle ich Ihnen noch einmal das Doppelte. Wäre das geklärt?“
„Ja.“
„Kann ich Sie beide morgen Vormittag, sagen wir gegen zehn Uhr, erwarten?“
Der Privatdetektiv aus Heubach bejahte erneut.
„Sie wissen, wo unser Anwesen im Brombachtal liegt, Herr Bloch?“
„Selbstverständlich. Wenn Sie mir die Bemerkung erlauben: Ihr bescheidenes Heim mit dem ebenso bescheidenen Park ist ja wirklich nur schwer zu übersehen.“
Zum ersten Mal während ihres Telefongesprächs lachte Sophia von Wartenberg kurz auf.
„Benutzen Sie bitte das östliche Seitentor zur Parkanlage, nicht das weiter vorn liegende Haupttor.“
„Wir wollen ja schließlich kein Aufsehen erregen, richtig?“, sagte der Privatdetektiv.
„So ist es. Unser Gärtner erwartet Sie dort.“

Kapitel 3Alt und gebrechlich

Die 54-jährige Hillary Bush aus dem südenglischen Dorf Quedlinbrough hatte eine ungewöhnliche Begegnung mit wild gewordenen Kühen. Als sie heute mit ihrem Kleinwagen zur Arbeit fuhr, stürmten aus einem Garten sieben Kühe und trampelten über ihr Auto hinweg. „Einige sprangen auf die Kühlerhaube meines Wagens, andere marschierten geradewegs über das Dach“, berichtete die noch unter Schock stehende Frau. Sie konnte sich unverletzt aus dem Wrack ihres Autos befreien.
Jede Sekunde passierte irgendwo auf der Welt etwas sehr Eigenartiges. Und es konnte jeden treffen. Wer zum Beispiel hätte sich bis zu dem fraglichen Zeitpunkt vorstellen können, dass man ihn entführen würde? Ausgerechnet ihn. Keiner. Außer dem Entführer. Der, das wurde ihm immer klarer, verkleidet gewesen sein musste. Ein so alt und gebrechlich wirkender Mann hätte ihn niemals überwältigen können. Geschweige denn abtransportieren. Es sei denn, er hatte Helfer gehabt.
Er versuchte, den nun folgenden Wetterbericht des Privatsenders zu ignorieren, und rutschte auf dem kalten Betonfußboden wenige Zentimeter nach vorn. Als er seinen schmerzenden Rücken nach vorn beugte, um ihn zu entlasten, rasselten die an seinen Handgelenken und Fußknöcheln mit Eisenringen befestigten Ketten dumpf. Trotz der niedrigen Temperatur in dem unterirdischen Raum stand Schweiß auf seiner Stirn. Eindeutig eine Störung seines vegetativen Nervensystems. Das grobe Tuch, mit dem seine Augen verbunden waren, fing die langsam nach unten rinnenden Schweißperlen auf.
Wie lange war er schon hier unten angekettet? Er wusste es nicht. Er wusste dank des eingeschalteten Radios zwar, wie viel Uhr es jetzt war, aber zwischen seiner Entführung und dem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit bestand eine zeitliche Lücke. Sie konnte ein, zwei Stunden oder einen halben Tag und mehr betragen haben. Er wusste es nicht. Und er wusste auch nicht, wann das Radio eingeschaltet worden war und wann genau er es zum ersten Mal bewusst gehört hatte.
Die letzte bewusste Erinnerung vor seinem Erwachen in diesem Kellerverlies bezog sich auf seine Fahrt von seinem Herrenhaus im Brombachtal zu Michael Stoll nach Ober-Kainsbach. Er war rechtzeitig losgefahren, sogar ein bisschen zu früh, hätte also mehr als pünktlich bei dem Antikensammler eintreffen müssen. Er kannte die über einsame Landstraßen führende Strecke genau, denn er hatte sich bereits mehrmals mit Stoll, diesem eitlen Gecken, in dessen umgebautem Bauernhaus in dem kleinen Ort getroffen. Was nicht immer die reine Freude gewesen war.
Dann war etwas Unvorhergesehenes dazwischengekommen. Jede Sekunde passierte irgendwo auf der Welt etwas Unvorhergesehenes. Und dieses Mal hatte es ihn getroffen. Keine wild gewordenen Kühe, die es auf seinen silbergrauen Jaguar abgesehen hatten. Nein, es war viel banaler gewesen, praktisch alltäglich.
Er hatte bereits mehr als die Hälfte der zu bewältigenden Strecke hinter sich gebracht, als ihn hinter einer lang gezogenen Kurve, die ihn zu einer niedrigeren Fahrgeschwindigkeit veranlasste, ein auf seiner Spur liegen gebliebener Wagen zum Abbremsen zwang.
Er hätte danach einfach weiterfahren können. Das stehende Auto überholen und weiterfahren. Schließlich gab es Pannendienste. Schließlich konnte schon bald ein hilfsbereiter Fahrer anhalten. Aber als er langsam an dem dunkelgrünen Wagen vorbeifuhr, sah er den alt und gebrechlich wirkenden Mann, der sich über die geöffnete Motorhaube beugte. Er wirkte verletzlich und schien mit dieser Situation völlig überfordert zu sein. Wirres Haar, blasses Gesicht, das er allerdings im Vorbeifahren nicht deutlich erkennen konnte. Jedenfalls war es ein ihm völlig unbekannter Mann. Mit einem Auto, das er ebenfalls noch nie hier in der Gegend gesehen hatte.
Also fuhr er an dem offensichtlich fahruntüchtigen Wagen vorbei, hielt wenige Meter vor ihm an, stellte den Motor seines Jaguars ab und schaltete die Warnblinkanlage ein. Was der alte Mann in seiner Verwirrung und Aufregung bei seinem liegen gebliebenen Auto vergessen hatte.
Er stieg aus, schlug die Fahrertür schwungvoll zu und rief, während er auf den anderen Wagen zuging: „Schalten Sie die Warnblinkanlage ein!“ Sein nächster Gedanke war, dass er als Erstes ein Warndreieck vor der lang gezogenen Kurve aufstellen sollte. Wenn in dem defekten Auto keines war, würde er seines nehmen müssen. Das war zunächst das Wichtigste.
Merkwürdigerweise reagierte der alte Mann überhaupt nicht auf seinen Ruf. Er stand wie angewurzelt mit gebeugtem Rücken vor der geöffneten Motorhaube. Schien einfach tatenlos auf die vor ihm liegenden Autoteile zu starren. Als er ihn kurz darauf erreichte, trat der alte Mann wortlos zur Seite, als wollte er ihm bereitwillig den Vortritt lassen. Sah ihn nicht einmal an. Sagte kein Wort.
Dann ging alles ganz schnell. Entgegen seiner Absicht, die Warnblinkanlage einzuschalten und anschließend das Warndreieck aufzustellen, beugte er sich nun seinerseits erst einmal über die Motorhaube. Weil dort irgendetwas Ungewöhnliches zu sehen sein musste, das den alten Mann sprachlos gemacht hatte. Kaum hatte er dies getan, spürte er einen dumpfen Schlag an seiner rechten Schläfe und verlor augenblicklich das Bewusstsein. Was danach bis zu seinem Aufwachen hier in dem unterirdischen Raum geschehen war, wusste er nicht.
Eine Frage stellte sich ihm jetzt hier unten in dem Kellerverlies in aller Dringlichkeit.
Wer alles hatte von seiner beabsichtigten Fahrt zu Michael Stoll gewusst? Nicht nur von der schlichten Tatsache, dass er den überaus erfolgreichen Sammler von Antiken besuchen und mit ihm sprechen wollte – es wäre sicherlich kein angenehmes Gespräch geworden –, sondern auch von dem exakten Zeitpunkt des Treffens und von der Route, die er nehmen würde.
Daran schloss sich eine weitere interessante Frage an: Wem hatte eigentlich Stoll von ihrem geplanten Treffen und von dem Zeitpunkt, zu dem es in Ober-Kainsbach stattfinden sollte, erzählt?

Kapitel 4Landadel

„Alexander von Wartenberg?“, fragte die Assistentin des Heubacher Privatdetektivs mäßig interessiert. „Muss man den Mann kennen?“
„Nein. Nicht unbedingt. Aber sein Anwesen sollte man schon mal gesehen haben. Imposantes Herrenhaus im klassizistischen Stil umgeben von einer weitläufigen Parkanlage.“
„Seit wann stehst du auf so etwas?“
Tobias Bloch betätigte den Blinker und bog von der B 45 auf eine ins Brombachtal führende Nebenstraße ab.
Ohne auf ihre wohl sowieso nur rhetorisch gemeinte Frage einzugehen, sagte der Privatdetektiv: „Kleine Vorwarnung. Sophia von Wartenberg scheint nicht besonders begeistert von deiner Mitwirkung zu sein.“
„Wie darf ich das denn verstehen?“
„Ich möchte dich nur darum bitten, höflich, zurückhaltend und diskret aufzutreten“, sagte Bloch. „Gib dir einfach ein bisschen Mühe.“
„Du hast meine Frage nicht beantwortet“, stellte Susanne Kramer nüchtern fest.
„Weil ich mir nicht sicher bin, ob du die ganze Wahrheit hören willst, und weil ich nicht weiß, wie du darauf reagieren wirst.“
„Tobias!“
„Schon gut. Frau von Wartenbergs ursprüngliche Absicht bestand darin, nur mich mit den Ermittlungen in diesem Fall zu beauftragen. Darauf hat sie zunächst ausdrücklich gepocht.“
Susanne schwieg.
Bringen wir es hinter uns, dachte Bloch. Besser jetzt als später.
„Diese Bedingung habe ich natürlich rundheraus abgelehnt. Ich habe ihr in aller Deutlichkeit klargemacht, dass wir nur zu zweit arbeiten. Davon wollte sie aber überhaupt nichts wissen. Kurz und gut: Es bedurfte meiner ganzen Überzeugungskraft, um unsere Position durchzusetzen. Allerdings habe ich eingeräumt, dass wir unsere Ermittlungsarbeit sofort einstellen, wenn ihr beide nicht miteinander klarkommt. Also halte dich einfach ein bisschen zurück. Wir agieren in ihrem Revier und tun zumindest so, als würden wir ihre herausgehobene Stellung anerkennen. Diplomatie ist das Stichwort, Susanne.“
Seine Assistentin schüttelte den Kopf. „Nicht mit mir.“
Bloch seufzte. „Das kann ja heiter werden.“
Der Privatdetektiv aus Heubach sah rechtzeitig die schmale, asphaltierte Abzweigung, auf der er mit seinem schwarzen Renault nach mehreren hundert Metern zu einer leicht geschwungenen Holzbrücke gelangte. Das an ihren beiden Seiten angebrachte Metallgeländer wirkte nicht sehr stabil. Bloch bremste vor der Brücke ab und rumpelte im zweiten Gang über die breiten Holzplanken.
„Sehr repräsentativ“, spottete Susanne Kramer.
„Das ist der östliche Zugang zu der Parkanlage. Das eigentliche Haupttor liegt weiter vorn. Sophia von Wartenberg legt offensichtlich Wert auf Diskretion.“
Nach wenigen Metern hielt er vor einem hohen schmiedeeisernen Tor, dessen spitz zulaufende Gitterstäbe an ihren Enden in goldener Farbe gestrichen waren.
Aus dem Schatten des rechten Torpfostens tauchte die Gestalt eines großen, kräftigen Mannes in einer dunkelgrünen Latzhose auf. Auf dem Kopf trug er eine Baskenmütze. Der Gärtner öffnete mit kurzen, abgehackten Bewegungen beide Flügel des Tores und ließ sie zurückschwingen. Dann winkte er Bloch herein. Nachdem er das östliche Tor wieder geschlossen hatte, klopfte er an die Scheibe auf der Fahrerseite des im Leerlauf wartenden Wagens. Bloch nickte ihm aufmunternd zu. Daraufhin öffnete der Gärtner die Tür.
„Guten Tag. Sie müssen der Privatdetektiv sein.“
„So ist es. Ich heiße Tobias Bloch. Und das ist meine Assistentin Susanne Kramer. Steigen Sie doch ruhig hinten ein.“
„Franz Rilke“, stellte sich der Gärtner vor, während er auf der Rückbank Platz nahm. Seine Kleidung roch nach frisch gemähtem Gras. Er deutete nach vorn. „Wir folgen dem Verlauf der Allee etwa dreihundert Meter. Dann biegen wir nach links ab und fahren direkt auf die Nordseite des Herrenhauses zu. Dort erwartet Sie Frau von Wartenberg.“
Bloch nickte und fuhr auf dem mit hellen Kieselsteinen bestreuten Weg los. Links und rechts von ihnen bildeten hohe Pappeln scheinbar undurchdringliche Wände aus Stämmen, Ästen und hellgrünem Laub.
„Schlimme Sache“, sagte Rilke, um die unangenehme Stille im Wagen zu unterbrechen.
„Haben Sie eine Vermutung, was passiert sein könnte?“
Der Gärtner hustete. „Ich habe ein ungutes Gefühl. Herr von Wartenberg hat sich nicht so mir nichts, dir nichts aus dem Staub gemacht.“
„Könnte er vor etwas geflohen sein?“, fragte Susanne Kramer.
Rilke schüttelte den Kopf. „Kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich glaube, er ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen.“ Er machte eine Pause. „Vielleicht ist er schon tot.“
Der Privatdetektiv aus Heubach bog vor einer Anhöhe nach links ab. „Haben Sie diese Vermutung auch gegenüber der Kriminalpolizei geäußert?“, fragte er.
„Nein. Ich habe nur das gesagt, was ich weiß und was zweifelsfrei feststeht.“
Sie steuerten auf die hellgraue Nordseite des Herrenhauses zu. Ein romantischer Anblick, der so gar nicht zu ihrer bevorstehenden Ermittlungsarbeit passte. Wenige Meter vor dem imposanten Gebäude deutete Rilke nach rechts. „Dort können Sie den Wagen abstellen. Den Rest gehen Sie dann zu Fuß.“
Die Kieselsteine knirschten unter den Reifen, als Bloch neben mehreren großen Limousinen parkte. Im Vergleich zu ihnen wirkte sein Wagen geradezu mickrig. Sie stiegen fast gleichzeitig aus.
Nachdem der Gärtner sich von ihnen verabschiedet hatte, näherten sich der Privatdetektiv und seine Assistentin dem nördlichen Eingang des Herrenhauses. In der geöffneten Tür erkannten sie die Gestalt einer mittelgroßen Frau. Bloch stieg die dreizehn Stufen der breiten Marmortreppe hinauf. Dann ging er auf Sophia von Wartenberg zu und reichte ihr die Hand.
Ihr Händedruck war angenehm kühl und dauerte eine Spur zu lang.
„Herr Bloch, ich freue mich, Sie kennenzulernen.“
Die Frau des Vermissten war etwa drei, vier Jahre älter als der Privatdetektiv, also Mitte vierzig. Ihr brünettes Haar reichte bis zu den Schultern. Sie trug ein eng anliegendes dunkelblaues Seidenkostüm, das ihre Figur betonte. Darunter strahlte eine makellos weiße Bluse hervor, deren obersten drei Knöpfe geöffnet waren.
„Freut mich ebenfalls“, antwortete Bloch. „Darf ich Ihnen meine Assistentin vorstellen?“
Die Begrüßung der beiden Frauen fiel nicht ganz so herzlich aus.
„Wenn Sie nichts dagegen haben, können wir uns in der Bibliothek unterhalten“, sagte Sophia von Wartenberg. „Sie wollen doch zuerst mit mir sprechen?“
Komische Frage, dachte Bloch.
„Ja“, antwortete er.
„Darf ich vorausgehen?“
„Bitte.“
Sie folgten ihr im Abstand von drei Stufen auf der rechten Seite der geschwungenen, mit einem dicken Orientläufer bedeckten Treppe, die in den ersten Stock des Herrenhauses führte.
Kein schlechter Hüftschwung, dachte Bloch. Was Susanne von diesem Auftritt hielt, wollte er lieber nicht wissen.
Die Bibliothek wurde von unzähligen Büchern in bis zur Stuckdecke reichenden Regalen aus Mahagoniholz dominiert. Sophia von Wartenberg deutete auf drei hohe schwarze Ledersessel, die im Halbkreis vor dem Kamin standen.
„Möchten Sie etwas trinken?“, fragte die Gattin des Vermissten. „Tee, Kaffee, Orangensaft?“
„Wasser wäre nicht schlecht“, antwortete der Privatdetektiv aus Heubach.
„Für mich bitte auch“, sagte seine Assistentin.
„Selbstverständlich.“ Sophia von Wartenberg ging zu dem wuchtigen Schreibtisch an der Fensterseite des Raumes und drückte den Knopf einer schwarzen Sprechanlage. „Frau Lentz? Bringen Sie uns bitte drei Fläschchen Mineralwasser. Danke, das wäre vorläufig alles.“
Nachdem ihre Gastgeberin in dem mittleren Ledersessel Platz genommen hatte, fragte der Privatdetektiv direkt: „Seit wann genau wird Ihr Mann vermisst, Frau von Wartenberg?“
„Seit vorgestern Abend. Er hatte am Montag eine Verabredung mit einem Antikensammler in dessen Haus. Dort ist er aber nie angekommen.“
„Behauptet der Sammler“, sagte Blochs Assistentin.
Sophia von Wartenberg nickte leicht indigniert. „Ich habe vollstes Vertrauen zu Michael Stoll. Und die Kriminalpolizei scheint seiner Aussage auch zu glauben. Nachdem mich Herr Stoll gegen halb neun am Abend angerufen hatte, um zu fragen, wo Alexander bliebe, spürte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Ich bat ihn eindringlich, mich sofort zu informieren, wenn mein Mann bei ihm eingetroffen wäre.“
„Für welche Zeit hatten sich die beiden miteinander verabredet?“, fragte Tobias Bloch.
„Alexander wollte Michael Stoll um halb acht besuchen.“
Es klopfte an die Tür der Bibliothek.
„Kommen Sie nur herein, Frau Lentz“, sagte Sophia von Wartenberg.
Die Tür wurde von einer zierlichen und schlanken Frau mit kurzen grauen Haaren geöffnet. Bloch schätzte sie auf Anfang sechzig. Aber sicher war er sich nicht. Sie trug einen schlichten schwarzen Rock und darüber eine hochgeschlossene weinrote Bluse, die gut zu ihrer Haarfarbe passte. Sie nickte den Gästen höflich zu.
„Darf ich vorstellen?“, sagte die Hausherrin. „Irene Lentz, unsere Wirtschafterin. Und das ist Tobias Bloch, der Privatdetektiv, der wegen des Verschwindens meines Mannes Ermittlungen anstellt.“
„Und mein Name ist Susanne Kramer“, ergänzte Susanne. „Ich bin die Assistentin von Herrn Bloch.“
Der Heubacher Privatdetektiv lächelte unschuldig.
Die Wirtschafterin des Herrenhauses stellte die Getränke auf dem Beistelltisch zwischen den Ledersesseln ab. Dann deutete sie eine leichte Verbeugung an und wandte sich zur Tür.
„Herr Bloch wird sicherlich später mit Ihnen sprechen wollen.“ Sophia von Wartenberg warf ihm einen Blick zu. „Noch heute Vormittag?“, fragte sie.
Der Privatdetektiv zuckte die Achseln. „Das hängt von dem Verlauf unseres Gesprächs ab.“
„Gut“, sagte die Gastgeberin. „Danke, Frau Lentz. Das war es vorläufig.“
Nachdem die Wirtschafterin die Bibliothek verlassen hatte, nahm Bloch den Faden wieder auf. „Ihr Mann wollte sich also vorgestern Abend um halb acht mit Michael Stoll in dessen Haus treffen. Wo wohnt Herr Stoll?“
„In Ober-Kainsbach, einem kleinen Dorf hier in der Nähe. Mit dem Auto hätte Alexander allerhöchstens eine Viertelstunde gebraucht.“
„Wissen Sie, wann Ihr Mann von hier losgefahren ist?“, fragte die Assistentin des Privatdetektivs.
Sophia von Wartenberg nickte. „Er hat sich um kurz nach sieben von mir verabschiedet. Denn er wollte, wie eigentlich immer, pünktlich sein. In dieser Hinsicht kann man sich auf ihn verlassen. Vom Fenster meines Arbeitszimmers aus habe ich ihn wegfahren sehen.“
„Mit welchem Wagen?“
„Einem silbergrauen Jaguar.“
„Saß Ihr Mann am Steuer?“, fragte Bloch. „Haben Sie ihn erkannt?“
„Ja.“
„Wurde der Jaguar inzwischen gefunden?“
„Nein. Er ist spurlos verschwunden. Wie mein Mann.“
Susanne Kramer trank einen Schluck Wasser. „Haben Sie nach dem Anruf von Michael Stoll gegen halb neun später noch einmal Kontakt zu ihm aufgenommen?“
„Ja“, sagte Frau von Wartenberg. „Mehrere Male. Ich habe ihn bis ungefähr ein Uhr nachts bestimmt jede Stunde einmal angerufen.“
Bloch nickte. „Und die Polizei? Wann haben Sie die verständigt?“
„Gegen elf Uhr abends.“ Die Frau des Vermissten seufzte. „Dort hat man meine Besorgnis allerdings nicht sonderlich ernst genommen. Was aus Sicht der Polizei ja durchaus verständlich war. Ein erwachsener Mann wurde von seiner Frau nach wenigen Stunden vermisst! Das klang doch lächerlich.“
„Wollte Ihr Mann direkt vom Herrenhaus aus zu Herrn Stoll fahren? Oder hatte er vorher noch etwas anderes zu erledigen? Post einwerfen, tanken, etwas in der Art?“
Sophia von Wartenberg schüttelte den Kopf. „Nicht dass ich wüsste.“
„Ab wann hat sich die Polizei dann tatsächlich um das Verschwinden Ihres Mannes gekümmert?“, fragte Blochs Assistentin.
„Ich habe die ganze Nacht auf Alexander gewartet. Als er auch am nächsten Morgen noch nicht wieder aufgetaucht war, habe ich die Polizei erneut verständigt. Soweit ich verstanden habe, haben sie die üblichen Maßnahmen eingeleitet. Bei den umliegenden Krankenhäusern angerufen, im Computer nachgesehen, ob ein silbergrauer Jaguar in der fraglichen Nacht in einen Unfall verwickelt war. Alles ohne Ergebnis.“ Sie trank einen Schluck. Ihr Gesicht war blass, ihre graugrünen, mandelförmigen Augen blickten die beiden Besucher müde an.
Du willst unser Mitgefühl, dachte Bloch. Wir sollen sehen, wie du leidest.
„Nachdem Ihr Mann nicht bei Michael Stoll eingetroffen ist, haben Sie sicherlich bei Freunden und Bekannten angerufen, um zu erfahren, ob er es sich vielleicht anders überlegt hatte“, sagte der Privatdetektiv aus Heubach.
„Ich habe Hinz und Kunz angerufen. Manch einer wird mich sicherlich für hysterisch gehalten haben. Ich habe es trotzdem gemacht. Aber es war vergeblich.“
„Wie alt ist Ihr Mann genau, Frau von Wartenberg?“, fragte Susanne Kramer.
Die Hausherrin lächelte bitter. „Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Der große Altersunterschied. Das übliche Muster.“
„Nein, das wissen Sie nicht“, widersprach Blochs Assistentin.
Sophia von Wartenberg hob erstaunt die Augenbrauen. „Alexander ist im letzten Jahr einundsechzig geworden. Er ist siebzehn Jahre älter als ich.“
Dann habe ich dein Alter ja ganz gut geschätzt, dachte Bloch.
„War Ihr Mann ernsthaft krank?“, fragte er. „Physisch oder psychisch?“
„Worauf wollen Sie hinaus?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ging in Verteidigungsstellung.
„Auf gar nichts. Ich will es einfach nur wissen.“
„Organisch war meines Wissens alles in Ordnung…“
„Aber Sie wissen es nicht genau“, unterbrach Susanne sie.
„Nein, ich habe nicht mit seinem Arzt gesprochen“, gestand Sophia von Wartenberg ein.
„Die Polizei aber sicher.“
„Sie wollten alle möglichen Namen und Adressen von mir. Darunter auch den seines Anwalts und seines Arztes.“
Der Privatdetektiv nickte. „Sie waren noch nicht fertig.“
„Alexander war manchmal ein wenig niedergeschlagen, fast könnte man sagen depressiv. Das musste gar keinen bestimmten Grund haben. Es war einfach ein plötzlicher, für mich unerklärlicher Stimmungsumschwung.“
„Wie war seine Gemütsverfassung an dem fraglichen Tag?“
„Normal, würde ich sagen.“
„Könnte er Ihnen etwas vorgespielt haben?“, fragte Susanne Kramer. „Konnten Sie seine jeweilige Stimmung gut einschätzen?“
Sophia von Wartenberg zögerte einen Moment mit der Antwort. „Ich glaube schon“, sagte sie dann.
Der Heubacher Privatdetektiv leerte sein Glas. „Wir können Ihnen nur behilflich sein, wenn Sie ehrlich zu uns sind, Frau von Wartenberg.“
Sie nickte.
„Schließen Sie Selbstmord definitiv aus?“
„Ja.“ Sie antwortete ohne zu zögern.
„Könnte Ihr Mann vor jemandem geflohen sein?“
Die Hausherrin kniff ihre graugrünen Augen zusammen, was ihr gut geschnittenes Gesicht nicht attraktiver machte. „Wie bitte? Alexander soll auf der Flucht sein?“
Bloch lehnte sich zurück. „Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Auch wenn sich der eine oder andere Aspekt zunächst völlig unwahrscheinlich anhört. Wenn wir bestimmte Gesichtspunkte von vornherein ausschließen, landen wir früher oder später in einer Sackgasse. Und das kann nun wirklich nicht in Ihrem Interesse liegen.“
Zum ersten Mal war Sophia von Wartenberg nahe daran, die Fassung zu verlieren. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, die ihre Kostümjacke ein Stück weit öffnete. Der Privatdetektiv ließ sich davon nicht ablenken.
„Ich lasse mich ungern belehren, Herr Bloch. Ich habe mir von der Kriminalpolizei schon genug indiskrete und zum Teil beleidigende Fragen anhören müssen. Von den darin enthaltenen Unterstellungen ganz zu schweigen.“
Sie beugte sich vor und sah ihn eindringlich an. Er hielt ihrem Blick stand und sah nicht in ihren Ausschnitt.
„Ich möchte, dass Sie auf meiner Seite sind.“ Nun klang sie wieder versöhnlicher. „Ich möchte, dass Sie mir helfen. Mit der Polizei habe ich bisher keine guten Erfahrungen gemacht. Im Gegenteil. Bei unserem Telefongespräch sagte ich Ihnen bereits, dass man mich zu den Verdächtigen zählt. Ich glaube, dass ich ziemlich weit oben auf der Liste stehe.“
„Das ist nur natürlich“, stellte Susanne Kramer ungerührt fest. „In den meisten Fällen sind die nächsten Angehörigen…“
Die Frau des Vermissten schüttelte den Kopf. Dann trank sie einen Schluck Wasser. „Ich will die Wahrheit erfahren“, sagte sie. „Ich will wissen, was wirklich mit Alexander passiert ist. Wo er jetzt ist.“ Sie machte eine Kunstpause. „Und ob er noch lebt.“

Kapitel 5Dreckige Hure

„Haben Sie oder Ihr Mann Kinder?“, fragte Tobias Bloch.
Inzwischen hatte ihnen die Wirtschafterin auf Anweisung ihrer Chefin neue Getränke gebracht. Die freundliche Frage von Irene Lentz, ob sie auch etwas zu essen wünschten, hatten alle drei verneint.
„Nein“, sagte Sophia von Wartenberg.
„Sind Sie sicher?“, hakte die Assistentin des Privatdetektivs nach.
Die Hausherrin runzelte die Stirn. „Ich verstehe Ihre Frage nicht.“
„Dass Sie beide in Ihrer jetzigen Ehe keine Kinder haben – oder wenn es denn eines gegeben haben sollte, dieses inzwischen gestorben ist –, ist mir schon klar.“
„Warum?“
„Sie hätten das Kind oder die Kinder garantiert erwähnt, als Sie von den vielen Anrufen gesprochen haben, die Sie an dem Abend und in der Nacht geführt haben, als Ihr Mann verschwunden war. Sie haben von allen möglichen Leuten gesprochen, von Freunden und Bekannten – aber nicht von einem oder mehreren Kindern. Von Schwestern oder Brüdern, die Sie oder Ihr Mann haben, übrigens auch nicht.“
„Sie passen auf.“
Susanne Kramer zuckte die Achseln.
„Alexander und ich sind Einzelkinder. Es gibt also auf beiden Seiten keine Geschwister.“
„Das vereinfacht die Sache“, stellte Bloch nüchtern fest.
„Wieso?“
„Sie wissen schon, die Geschichte mit den nächsten Angehörigen, die in solchen Fällen sehr, sehr oft als Täter in Frage kommen. Also, noch mal zu den Kindern. Meine Frage bezog sich darauf, ob es Nachkommen aus früheren Beziehungen gibt, von denen Sie sich inzwischen möglicherweise entfremdet haben. Oder ob Sie beispielsweise ein uneheliches Kind haben, von dem Ihr Mann gar nichts wusste. Das aber dennoch eine entscheidende Rolle spielen könnte.“ Der Heubacher Privatdetektiv trank einen Schluck Wasser. „Wir müssen so viel wie möglich über Ihre familiären Umstände erfahren, verstehen Sie?“
Sophia von Wartenberg nickte. „Ich habe keine Kinder. Ob mir Alexander in dieser Hinsicht etwas verschwiegen hat, weiß ich nicht. Aber ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen.“
„Leben Ihre Eltern noch?“, fragte Susanne Kramer.
„Was sollen die denn damit zu tun haben?“, ereiferte sich die Ehefrau des Vermissten. „Ich habe seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen. Aber sie leben sicher noch, denn ich als einziges Kind wäre von ihrem Tod bestimmt informiert worden.“
„Warum haben Sie keinen Kontakt mehr zu Ihren Eltern?“
„Sie sind vor mehr als acht Jahren nach Australien ausgewandert.“
„Das muss für sich genommen noch kein triftiger Grund sein.“
„Doch, in unserem Fall schon“, sagte Sophia von Wartenberg. „Unsere Beziehung war vorher schon, vorsichtig ausgedrückt, nicht die beste. Und durch die große räumliche Entfernung haben wir uns noch stärker auseinandergelebt. Sie rufen nicht an – und ich tue es auch nicht. So einfach ist das.“ Mit einer anmutigen Handbewegung strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Meine Eltern haben mit Alexanders Verschwinden garantiert nichts zu tun. Das ist völlig ausgeschlossen.“
„Wir haben im Laufe unserer Ermittlungen inzwischen mehrfach erfahren müssen, dass man nie etwas völlig ausschließen sollte“, sagte Tobias Bloch. „Ein Beispiel: Sie wissen offenkundig doch gar nicht, wo sich Ihre Eltern in genau diesem Augenblick aufhalten. Leben sie noch in Australien? Sind sie vielleicht inzwischen nach Deutschland zurückgekehrt oder in ein anderes Land gezogen?“ Der Privatdetektiv kratzte sich kurz am Kinn. „Und außerdem: Man kann so etwas auch von Australien aus organisieren. Mühelos. Wenn man über die entsprechenden Mittel verfügt.“
„Sie kennen meine Eltern nicht.“
„Das stimmt.“
„Denen ist das, was ich und Alexander machen, völlig gleichgültig. Sie waren nicht einmal bei unserer Hochzeit.“
„Die wie lange zurückliegt?“, fragte Susanne Kramer.
„Fast dreizehn Jahre.“
„Waren Sie zuvor schon ein Paar?“
Sophia von Wartenberg schenkte sich Wasser nach. „Stört es Sie, wenn ich rauche?“, fragte sie dann.
Wieso ausgerechnet jetzt diese Unterbrechung?, dachte Bloch.
Ihre Gäste schüttelten den Kopf, verzichteten aber ihrerseits instinktiv darauf, ihre Zigaretten hervorzuholen.
Die Hausherrin erhob sich und ging quer durch den Raum zu einer Kommode aus Mahagoniholz. Der obersten Schublade entnahm sie ein Päckchen Zigarillos, ein silbernes Feuerzeug und einen gläsernen Aschenbecher.
Als sie sich wieder setzte, schlug sie die Beine übereinander, so dass der Rock ihres dunkelblauen Seidenkostüms ein Stückchen nach oben rutschte.
Tobias Bloch lächelte.
Seine Assistentin warf einen gelangweilten Blick auf die hohe Stuckdecke der Bibliothek.
Sophia von Wartenberg nahm ein Zigarillo aus der Packung, zündete es an, inhalierte tief und blies den Rauch dann nach oben. „Alexander und ich waren vor unserer Hochzeit schon sechs Jahre zusammen“, knüpfte sie an Susannes Frage vor dieser inszeniert wirkenden Unterbrechung an. „Im ersten Jahr war es eher eine lockere Beziehung. Dann sind wir zusammengezogen.“
„Hier ins Herrenhaus?“, fragte der Privatdetektiv.
„Nein, damals lebten Alexanders Eltern ja noch. Sie hätten zwar nichts dagegen gehabt, aber wir wollten nicht.“ Sie streifte die Asche ihres Zigarillos an dem Aschenbecher ab. „Inzwischen hat sich das natürlich grundsätzlich geändert.“
„Weil die Eltern Ihres Mannes tot sind und Sie beide jetzt hier das uneingeschränkte Sagen haben?“
„Alexanders Mutter ist bereits vor einigen Jahren gestorben“, sagte Sophia von Wartenberg. „Sie kam bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben. Aber der Vater meines Mannes lebt noch. August von Wartenberg ist 89 Jahre alt. Sie werden ihn bestimmt bald kennenlernen. Ich bin mir sicher, dass Sie ihn in bleibender Erinnerung behalten werden.“
„In guter oder in schlechter?“, fragte Susanne Kramer.
Die Hausherrin zog an ihrem Zigarillo. „Lassen Sie sich überraschen.“
„Wie versteht sich Ihr Mann mit seinem Vater?“
Die Frau des Vermissten legte ihr Zigarillo im Aschenbecher ab, bevor sie antwortete. „Er begegnet den Launen des alten Herrn mit bewundernswerter Gelassenheit. Mir will das nicht immer gelingen. Nur in einem Punkt ist Alexander knallhart und duldet keinen Widerspruch. Wenn es um die Verwaltung des Anwesens geht. Da hat der liebe August überhaupt nichts mehr zu melden.“
„Weil er es bereits seinem Sohn überschrieben hat?“, fragte Bloch.
Die Hausherrin nickte. „Vor etwa zwei Jahren. Als es wirklich nicht mehr anders ging. Der alte Wartenberg hatte ein paar fatale Entscheidungen getroffen und verlor mehr und mehr den Überblick.“
„Denken Sie, dass das Verschwinden Ihres Mannes in direktem Zusammenhang mit den jetzigen Besitzverhältnissen steht?“
„Alexander war auch vorher nicht gerade arm. Und als Eigentümer dieses Anwesens hat sich seine finanzielle Lage natürlich nicht verschlechtert. Für einen potenziellen Täter dürfte allein die Tatsache, dass mein Mann reich ist, ein ausreichendes Motiv sein.“
„Wenn Geld wirklich der Grund für das Verschwinden Ihres Mannes ist, warum hat sich dann noch niemand mit einer entsprechenden Forderung an Sie gewandt?“, fragte Susanne Kramer.
„Darüber habe ich lange nachgedacht. Es gibt da, wenn man es sich genauer überlegt, eine ganze Reihe von Möglichkeiten. Eine könnte zum Beispiel sein, dass man mich quälen will“, sagte Sophia von Wartenberg. „Oder meinen Mann. Oder uns beide. Derjenige, der meinen Mann in Händen hat, könnte auch einfach nur ein bisschen länger warten, um sich dann mit einer sehr hohen Forderung an mich zu wenden. Auf die ich dann vielleicht eher eingehen würde als unmittelbar nach seinem Verschwinden. Denkbar ist vieles.“
Der Privatdetektiv nickte. „Bei diesen Überlegungen gehen wir immer davon aus, dass der Täter ein elementares Interesse daran haben muss, dass Ihr Mann am Leben bleibt. Das muss aber keineswegs so sein. Rache kann ein sehr starkes Motiv sein. Oder die Situation ist eskaliert, es hat unvorhergesehene Komplikationen gegeben. Vielleicht hat sich Ihr Mann energisch zur Wehr gesetzt. Zu energisch. Mit anderen Worten: Es könnte etwas schiefgegangen sein.“
Sophia von Wartenberg seufzte. Sie war gerade im Begriff, sich nachzuschenken, als die Tür der Bibliothek mit einem lauten Schlag aufgestoßen wurde. Sie hörten den dumpfen, hohlen Klang von Metall auf Holz. In die zuvor ruhige Atmosphäre der Bibliothek brauste ein alter Mann mit seinem Rollstuhl. Sein dunkelrotes Gesicht bebte vor Zorn. Die wenigen verbliebenen Haare standen ihm zu Berge.
„Du dreckige Hure!“, schrie er voller Wut mit sich überschlagender Stimme. „Was heckst du hier mit diesen Leuten aus? Verteilt ihr schon seinen Besitz?“
Jetzt lernen wir August von Wartenberg kennen, dachte Bloch.
Beim verzweifelten Aufschrei des alten Herrn war seine Schwiegertochter mitten in der Bewegung erstarrt. Wasser schwappte über ihr Glas und bildete auf dem Beistelltisch eine kleine Pfütze. Der Privatdetektiv nahm ihr die Flasche aus der Hand, um größeren Schaden zu vermeiden, und stellte sie auf dem Tisch ab.
Wie in Zeitlupe erwachte Sophia von Wartenberg wieder zum Leben. Sie drehte sich um und starrte ihren Schwiegervater an. Im Profil sah man ihre grimmige Entschlossenheit.
August von Wartenberg rollte in die Mitte des Raumes und schlug mit seinem Stock wütend auf den Boden.
„Elende Schlampe!“, kreischte er. „Welches miese Spiel wird hier gespielt?“
„Herr von Wartenberg“, versuchte Bloch zu intervenieren.
„Du hältst das Maul!“, schrie der Alte und zeigte mit seinem Stock auf den Privatdetektiv. „Um dich kümmere ich mich später.“ Er warf einen lüsternen Blick auf Susanne. „Und du kommst auch noch dran!“
„Darauf freue ich mich jetzt schon, du alter Sack“, sagte die Assistentin des Heubacher Privatdetektivs kalt lächelnd. „Ich kann es kaum erwarten.“
Das Gesicht von Sophia von Wartenberg war kreidebleich geworden. Ihre volle Oberlippe zitterte leicht. Sie richtete sich drohend auf.
„Schwiegervater“, sagte sie mit eisiger Stimme.
„Nein!“, schrie er. „Ich bin nicht länger dein Schwiegervater. Das war einmal. Das ist jetzt aus und vorbei. Kaum ist mein Sohn verschwunden, da triffst du dich auch schon mit deinen dreckigen Komplizen. Packst die günstige Gelegenheit sofort beim Schopf. Dir kann es gar nicht schnell genug gehen!“
Bloch beobachtete aufmerksam, wie Sophia von Wartenberg mit sich rang.
Wie du jetzt auf die beleidigenden Bemerkungen des Alten reagierst, wird uns sehr viel über deinen Charakter sagen, dachte er.
Die Ehefrau des Vermissten ließ ihren Schwiegervater nicht aus den Augen. Sie ging zwei Schritte zur Seite und deutete demonstrativ auf ihre beiden Besucher.
„Das ist Tobias Bloch.“
„Mir doch scheißegal!“, kreischte August von Wartenberg.
„Er ist Privatdetektiv.“ Sie zeigte auf Susanne. „Und das ist seine Assistentin Susanne Kramer. Sie sollen herausfinden, was mit Alexander geschehen ist“, sagte Sophia von Wartenberg. „Sie sollen herausfinden, weshalb er vorgestern Abend spurlos verschwunden ist. Und ihn nach Möglichkeit finden. Das ist ihre Aufgabe. Und sonst gar nichts.“
Ihr Schwiegervater schüttelte den Kopf. „Ich habe euch bei euren miesen Machenschaften gestört. Das ist doch offensichtlich.“
Tobias Bloch erhob sich langsam und ging auf den Alten zu.
„Komm mir nicht zu nahe, du Dreckskerl!“
Der Privatdetektiv blieb stehen und ging in die Hocke, um auf gleicher Augenhöhe mit dem im Rollstuhl sitzenden Alten zu sein.
„Herr von Wartenberg, ich verstehe Ihre Aufregung.“
„Du hast doch überhaupt keine Ahnung!“
„Doch“, sagte Bloch. „Ich habe bereits in der Vergangenheit verzweifelte Angehörige erlebt, die mir am liebsten an den Kragen gegangen wären, als ich ihnen schlechte Nachrichten zu überbringen hatte. Sie kennen die Geschichte mit dem Boten, den man für das verantwortlich macht, was er zu berichten hat.“ Er machte eine Kunstpause. „Sie befinden sich in einer äußerst angespannten Situation. Deshalb verlieren Sie schnell die Nerven. Wofür ich Verständnis habe.“ Es schien, als habe er jetzt die volle Aufmerksamkeit des Alten.
„Herr von Wartenberg“, fuhr der Privatdetektiv fort. „Sie haben die Situation hier in der Bibliothek völlig missverstanden. Weil Sie unter ungeheurem Druck stehen. Dafür haben Sie ein Ventil gebraucht. Und in uns ein, wie ich zugeben muss, sehr geeignetes Ziel gefunden. Auf den ersten Blick, wohlgemerkt. Aber die Dinge sind nicht so, wie Sie sie gedeutet haben. Überhaupt nicht. Glauben Sie mir das bitte.“ Bloch erhob sich langsam und ging zurück zu seinem Ledersessel. Er setzte sich und schlug die Beine übereinander.
„Noch etwas, Herr von Wartenberg“, sagte er. „Frau Kramer und ich haben diesen Fall übernommen. Wir wollen mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, Ihren vermissten Sohn zu finden. Dafür brauchen wir Informationen. Von allen Beteiligten. Von den nächsten Angehörigen, von allen Angestellten des Anwesens. Und von dem einen oder anderen Außenstehenden wie beispielsweise Michael Stoll. Damit wir Anhaltspunkte für unsere Suche finden können. Über eines sollten Sie sich immer im Klaren sein, Herr von Wartenberg. Wir lassen uns von nichts und niemandem von unserer Arbeit abhalten. Auch von Ihnen nicht.“
Der Alte starrte ihn gebannt an.
Jetzt kommt die Pointe, August, dachte Bloch.
„Eines möchte ich zum Schluss noch betonen“, sagte er. „Ich lasse mich von Ihnen nicht noch einmal unflätig beschimpfen, Sie alter Lustmolch!“
Der Alte lachte schallend. Er hustete rasselnd, würgte und lachte dann weiter. Aus seinem Mundwinkel rann ein feiner Speichelfaden langsam auf sein Kinn.
„Ich weiß, wo Männer gern hingucken, Herr von Wartenberg. Und ich habe Sie bei Ihrem, wie ich zugeben muss, furiosen Auftritt sehr genau beobachtet. Ich habe gesehen, wohin Sie geschaut haben. Sie sind zweifellos ein alter Lustmolch mit einer gehörigen Portion Fantasie. Bei einem 89-Jährigen nenne ich das ein sehr mutiges Verhalten.“
Susanne Kramer und Sophia von Wartenberg sahen ihn erstaunt an.
Keine schlechte Rede, dachte Bloch. Jetzt wäre einiges geklärt.
Aber da täuschte er sich gewaltig.
August von Wartenberg hatte sich inzwischen wieder beruhigt. „Sie sprachen vorhin von Informationen, die Sie bei der Suche nach meinem Sohn brauchen. Ich hätte da einen Tipp für Sie, Herr…?“
„Bloch. Tobias Bloch.“
Ohne seine Schwiegertochter anzusehen, sagte er ruhig: „Sie hat ein Verhältnis mit Michael Stoll. Schon länger. Darüber sollten Sie sich mal mit ihr in ungezwungener Atmosphäre unterhalten. Wen wollte Alexander denn an dem fraglichen Abend aufsuchen? An dem Abend, an dem er spurlos verschwunden ist.“ August von Wartenberg lächelte zufrieden. „Raten Sie mal, worüber mein Sohn mit diesem Schwein reden wollte.“

Kapitel 6Venusgrotte

„Raus!“, schrie Sophia von Wartenberg. „Verschwinde auf der Stelle, du elender Dreckskerl!“ Sie funkelte ihren Schwiegervater wütend an. „Wenn du doch endlich tot wärst!“
Der Alte hat ins Schwarze getroffen, dachte Bloch. Scheint ihren wunden Punkt erwischt zu haben. Zumindest einen von ihnen.
August von Wartenberg lächelte amüsiert. Er fuhr mit seinem Rollstuhl zum Beistelltisch, schnappte sich ihr Glas, hielt es hoch und warf einen Blick auf den Boden aus Marmor, der teilweise von einem dicken, sehr teuer aussehenden Orientteppich bedeckt war. Der Alte entdeckte eine geeignete Stelle, holte schwungvoll aus und knallte es auf den Marmorboden. Das schwere Glas zersplitterte mit einem hellen, harten Klirren in unzählige Teile.
Der Alte sah den Privatdetektiv eindringlich an. „Haben Sie gehört, was diese geile Schlampe eben gesagt hat?“
Bloch nickte. „War nicht zu überhören.“
„Werden Sie sich das merken?“, fragte August von Wartenberg.
Der Heubacher Privatdetektiv zuckte die Achseln. „Ich merke mir alles“, sagte er gelassen. „Das hat noch nie geschadet.“
Der Alte wendete seinen Rollstuhl und steuerte damit auf die offene Tür zu. Erst jetzt wurde Bloch bewusst, dass es heimliche Lauscher ihres lautstarken Gesprächs gegeben haben konnte. Was nicht unbedingt von Vorteil sein musste.
Lässt sich nicht mehr ändern, dachte der Privatdetektiv.
„Gute Unterhaltung, Herr Bloch“, sagte August von Wartenberg. Sein Blick wanderte zu Susanne Kramer. Er zögerte einen Moment, schwieg dann aber.
„Wünschen wir Ihnen auch, Herr von Wartenberg“, antwortete der Privatdetektiv. „Was immer Sie sich jetzt auch ansehen werden. Wir wünschen Ihnen dabei viel Vergnügen.“
Der Alte kicherte. Dann fuhr er aus der Bibliothek. Als er um die Ecke bog, quietschten die Reifen seines Rollstuhles auf dem Marmorboden. Bloch stand auf, ging zur Tür, sah dem davonfahrenden Alten eine Weile nachdenklich nach, dann trat er wieder in die Bibliothek und schloss die Tür hinter sich.
Sophia von Wartenberg hatte sich erhoben und war zu dem wuchtigen Schreibtisch an der Fensterseite der Bibliothek gegangen. Sie drückte den Knopf der schwarzen Sprechanlage.
„Frau Lentz?“, sagte sie. „Es ist hier ein kleines Malheur passiert. Wären Sie bitte so freundlich? Der Beistelltisch müsste abgewischt werden. Und auf dem Boden ist ein Glas zersplittert. Einen Moment noch, bitte.“ Sie sah ihre beiden Besucher an. „Möchten Sie noch etwas?“
„Ein kaltes Pils wäre jetzt nicht schlecht“, sagte Susanne Kramer.
„Für mich bitte auch“, sagte ihr Chef.
Die Hausherrin gab die Bestellung weiter. „Das wäre vorläufig alles, Frau Lentz. Danke.“
Sophia von Wartenberg entfernte sich vom Schreibtisch, ging durch den Raum und setzte sich seufzend in den hohen schwarzen Ledersessel.
Hast dich auch schon mal eleganter bewegt, dachte Bloch. Aber bitte nicht als Kritik werten, unter den gegebenen Umständen.
Zerstreut versuchte die Ehefrau des Vermissten gerade, ihr ein wenig durcheinandergeratenes Haar notdürftig zu ordnen, als es an der Tür zur Bibliothek klopfte. „Kommen Sie nur herein, Frau Lentz“, sagte sie.
Die Wirtschafterin betrat den Raum, nickte ihnen höflich zu und stellte ein Tablett mit den Getränken zunächst auf den Schreibtisch. Nachdem sie den Beistelltisch abgewischt hatte, brachte sie das Bier und die Gläser zu ihnen.
Als sie Susanne einschenken wollte, schüttelte diese den Kopf. „Vielen Dank, aber das können wir schon selbst machen.“
„Wie Sie wünschen.“ Dann begann Irene Lentz zielstrebig, die vielen Splitter des Glases mit einem kleinen Besen zusammenzukehren und auf eine Schaufel zu schieben. „Soll ich wegen der Tür Herrn Rilke Bescheid sagen?“, fragte sie so beiläufig wie möglich.
Was hast du alles gehört?, fragte sich Bloch.
„Ja, bitte“, antwortete Sophia von Wartenberg. „Er soll sich später darum kümmern.“ Sie räusperte sich. „Ist es denn sehr schlimm?“, fragte sie, ebenfalls um Beiläufigkeit bemüht.
Irene Lentz zuckte die Achseln. „Man sieht es“, antwortete sie diskret. „Aber Herrn Rilke wird bestimmt etwas einfallen.“
„Danke, das wäre vorläufig alles“, sagte die Hausherrin.
Die Wirtschafterin verabschiedete sich wortlos mit einem angedeuteten Nicken und verließ die Bibliothek.
„Wollen Sie immer noch für mich arbeiten?“, fragte Sophia von Wartenberg. Ihrem Tonfall war nicht zu entnehmen, wie ernst sie diese Frage meinte. „Nach allem, was eben passiert ist. Sie müssen uns ja für verrückt halten. So wie wir uns hier aufführen.“
„Die leichten Fälle haben uns noch nie interessiert“, antwortete die Assistentin des Privatdetektivs.
Bloch nickte lächelnd. Er bot Susanne eine Zigarette an und bediente sich dann selbst. „Wünschen Sie dem alten Lustmolch wirklich den Tod? Oder ist Ihnen das nur so im Eifer des Gefechts herausgerutscht?“
Ich zeige dir einen sehr gut ausgeschilderten und sehr gut beleuchteten Notausgang, dachte Bloch.
„Nein. Ganz bestimmt nicht. Ich sehne den Tag herbei, an dem das alte Schandmaul endlich tot umfällt. Für mich wird das ein Feiertag sein.“
„Umfällt?“, fragte Susanne Kramer. „Wie soll das denn gehen, wenn er im Rollstuhl sitzt?“
„Wenn er will oder wenn er muss, kann er auch noch selbst gehen. Allerdings nur sehr langsam und ziemlich unsicher“, antwortete die Hausherrin. „Sie haben seinen Stock gesehen? Den braucht er natürlich zum Gehen. Deshalb hat er ihn meistens dabei.“
„Warum ist er bei dieser netten kleinen Szene nicht aufgestanden? Das hätte seine Wut doch noch anschaulicher gemacht.“
„Ich schätze, dass er sich vor Ihnen keine Blöße geben wollte.“
Der Privatdetektiv und seine Assistentin rauchten schweigend ihre Zigaretten.
Bloch trank einen Schluck des herrlich kalten Biers, dann fragte er direkt: „Frau von Wartenberg, stimmt das, was Ihr Schwiegervater über Sie und Michael Stoll gesagt hat?“
Sie zögerte. Schien angestrengt nachzudenken. Oder wollte zumindest diesen Anschein erwecken.
Dann antwortete sie: „Darüber möchte ich nicht sprechen. Glauben Sie mir, es hat nichts mit Alexanders Verschwinden zu tun. Ganz bestimmt nicht.“
„Was Frau Kramer und ich glauben oder nicht glauben, ist völlig uninteressant“, sagte der Privatdetektiv ruhig. „Für uns ist allein von Bedeutung, was wir wissen. Oder – um es einzuschränken – was wir zu wissen meinen. Und wir wollen wissen, ob Sie ein Verhältnis mit Michael Stoll haben.“
„Und wenn ich mich weigere, Ihre Frage zu beantworten? Was geschieht dann?“
„Frau von Wartenberg, Sie wollen doch, dass wir Ihnen helfen? Sie meinen es doch ernst mit Ihrem Auftrag?“ Er sah sie prüfend an. Sie hielt seinem durchdringenden Blick erstaunlich gut stand und zuckte nicht mit der Wimper.
„Ich verachte Michael Stoll“, zischte sie.
„Das beantwortet meine Frage zwar nicht“, sagte Bloch. „Aber ich kann Ihnen gern auf die Sprünge helfen. Bitte sehr. Sie hatten ein Verhältnis mit ihm. Aber er hat Schluss gemacht. Weil er Ihrer überdrüssig geworden ist? Weil er eine andere gefunden hat? Eine schönere, eine jüngere, eine reichere, eine berühmtere Frau als Sie? Weil Sie das nicht zugeben wollen, versuchen Sie, die Beantwortung dieser Frage hartnäckig zu vermeiden. Weil dieser Mann Sie gedemütigt hat. Das hat niemand gern. Aber ich vermute, dass das gerade für Sie eine sehr ungewöhnliche Erfahrung war. Ich schätze, Sie haben bisher so ziemlich alles bekommen, was Sie wollten. Aber ich kann mich natürlich täuschen und mit diesen Vermutungen völlig danebenliegen.“
Der Heubacher Privatdetektiv warf seiner Assistentin einen kurzen Seitenblick zu und trank dann einen Schluck.
Susanne Kramer verstand das Signal. „Seit wann bestand Ihre Beziehung mit Herrn Stoll?“, fragte sie.
„Wir sind uns beim Empfang zum 57. Geburtstag meines Mannes nähergekommen.“
„Von wem ist die Initiative ausgegangen?“
„Von beiden, denke ich.“
„Wer hat den ersten Schritt getan?“
„Ich. Ich wollte ihn.“