Über Kriege und wie man sie beendet - Jörn Leonhard - E-Book

Über Kriege und wie man sie beendet E-Book

Jörn Leonhard

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Beschreibung

Frieden schaffen – aber wie? Kaum eine Frage ist gegenwärtig so drängend und gleichzeitig so umstritten. Wann beginnt überhaupt der Weg aus einem Krieg? Und wie kann er gelingen: mit Waffen oder ohne, durch Verhandlungen oder den Sieg einer Seite? Ab wann weiß man, ob es sich um einen belastbaren Frieden handelt, oder bloß um eine taktische Atempause? Jörn Leonhard blickt zurück auf Kriege der Vergangenheit, die alle irgendwann zu Ende gingen, und macht historisches Wissen fruchtbar für das Verständnis unserer Gegenwart. Geschichte wiederholt sich nicht, und sie liefert keine Blaupausen für die Probleme der Gegenwart. Aber sie bietet ein unerschöpfliches Reservoir an konkreten Konflikten und Konstellationen. Sie erlaubt durch den Blick auf das Entfernte, jenen Abstand zu gewinnen, der uns klarer sehen und mehr erkennen lässt. Das gilt auch für die Frage, wie der Krieg in der Ukraine enden könnte. Was veranlasste Akteure dazu, Kriege fortzusetzen? Warum war häufig gerade die Endphase von Kriegen besonders blutig? Und wann öffneten sich Fenster für die Diplomatie? Die meisten Übergänge vom Krieg in den Frieden waren verschlungen, konnten immer wieder verzögert und unterbrochen werden. Je länger ein Krieg dauerte und je mehr Opfer er anhäufte, desto komplizierter und widersprüchlicher gestaltete sich der Ausgang. Und auch das zeigt die Geschichte: Die eigentliche Arbeit am Frieden beginnt erst, wenn der Friedensvertrag unterschrieben ist.

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Jörn Leonhard

Über Kriege und wie man sie beendet

Zehn Thesen

C.H.Beck

Zum Buch

Frieden schaffen – aber wie? Kaum eine Frage ist gegenwärtig so drängend und gleichzeitig so umstritten. Wann beginnt überhaupt der Weg aus einem Krieg? Und wie kann er gelingen: mit Waffen oder ohne, durch Verhandlungen oder den Sieg einer Seite? Ab wann weiß man, ob es sich um einen belastbaren Frieden handelt, oder bloß um eine taktische Atempause? Jörn Leonhard blickt zurück auf Kriege der Vergangenheit, die alle irgendwann zu Ende gingen, und macht historisches Wissen fruchtbar für das Verständnis unserer Gegenwart.

Geschichte wiederholt sich nicht, und sie liefert keine Blaupausen für die Probleme der Gegenwart. Aber sie bietet ein unerschöpfliches Reservoir an konkreten Konflikten und Konstellationen. Sie erlaubt durch den Blick auf das Entfernte jenen Abstand zu gewinnen, der uns klarer sehen und mehr erkennen lässt. Das gilt auch für die Frage, wie der Krieg in der Ukraine enden könnte. Was veranlasste Akteure dazu, Kriege fortzusetzen? Warum war häufig gerade die Endphase von Kriegen besonders blutig? Und wann öffneten sich Fenster für die Diplomatie? Die meisten Übergänge vom Krieg in den Frieden waren verschlungen, konnten immer wieder verzögert und unterbrochen werden. Je länger ein Krieg dauerte und je mehr Opfer er anhäufte, desto komplizierter und widersprüchlicher gestaltete sich der Ausgang. Und auch das zeigt die Geschichte: Die eigentliche Arbeit am Frieden beginnt erst, wenn der Friedensvertrag unterschrieben ist.

Über den Autor

Jörn Leonhard ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs (62020), Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–​1923 (22019) und (zus. mit Ulrike von Hirschhausen) Empires. Eine globale Geschichte 1780–​1920 (2023).

Inhalt

Einleitung

I. Krieg und Frieden

Die Natur des Krieges bestimmt sein Ende.

II. Kontingente Dynamik

Echte Entscheidungsschlachten sind selten, und je länger ein Krieg dauert, desto schwieriger wird seine Kontrolle.

III. Die Suche nach dem richtigen Ausgang

Ein «fauler Frieden» kann den Krieg verlängern.

IV. Das lange Ende

Wer noch Chancen auf dem Schlachtfeld sieht, wird den Kampf fortsetzen, solange es geht.

V. Planung und Prognose

Verfügbare Ressourcen bestimmen den Kippmoment von Kriegen, aber nicht unbedingt die Einsicht der Akteure.

VI. Verlängerte Waffenstillstände

Nicht jeder Krieg endet mit einem formalen Frieden.

VII. Die Ambivalenz der Zeichen

Es gibt keinen Frieden ohne Kommunikation, und wer die Besiegten demütigt, macht den Frieden zum Waffenstillstand.

VIII. Fallhöhe und Desillusionierung

Den Frieden mit Erwartungen zu überfordern, kann die Schatten eines Krieges verlängern.

IX. «Doing peace»

Wenn die Verträge unterschrieben sind, beginnt die Arbeit am Frieden.

X. Paradoxe Enden

Nicht jeder Sieg ist ein Gewinn, und manche Niederlage wird zur Chance.

Anmerkungen

Einleitung

I. Krieg und Frieden

II. Kontingente Dynamik

III. Die Suche nach dem richtigen Ausgang

IV. Das lange Ende

V. Planung und Prognose

VI. Verlängerte Waffenstillstände

VII. Die Ambivalenz der Zeichen

VIII. Fallhöhe und Desillusionierung

IX. «Doing peace»

X. Paradoxe Enden

Einleitung

Für Onoda Hirō endete der Zweite Weltkrieg erst im März 1974, 28 Jahre und sechs Monate nach der bedingungslosen Kapitulation Japans, die Vertreter der Kaiserlichen Regierung am Vormittag des 2. September 1945 auf dem Deck des amerikanischen Kriegsschiffs USS Missouri in der Sagami-Bucht bei Tokio vollzogen hatten. Geboren 1922, hatte Onoda als Leutnant in den japanischen Streitkräften gedient und war 1945 auf der philippinischen Insel Lubang stationiert gewesen. Bei der Eroberung der Insel durch amerikanische Truppen im Februar 1945 starb der Großteil der japanischen Soldaten bei den Kämpfen oder wurde gefangen genommen. Onoda und drei seiner Kameraden jedoch gelang die Flucht in den Dschungel. Dort entdeckten sie in den kommenden Monaten zwar Flugblätter, auf denen japanische Kommandeure über die Kapitulation Japans berichteten und die verbliebenen Soldaten in ihren Verstecken aufforderten, sich zu ergeben. Doch Onoda und seine Kameraden hielten die Flugblätter für amerikanische Propaganda, um den Durchhaltewillen der japanischen Soldaten zu brechen. Als sich einer der vier Soldaten von der Gruppe entfernte und ergab, drangen zum ersten Mal Nachrichten über das Schicksal der versteckten Soldaten in die japanische Öffentlichkeit.[1]

In den folgenden Jahren warf man über ihrem vermuteten Aufenthaltsgebiet immer wieder Flugblätter, persönliche Nachrichten und Bilder ihrer Angehörigen ab, die ihre Verwandten aufforderten, sich den Amerikanern zu ergeben. 1954 erschoss ein Suchtrupp bei einem Gefecht einen der drei verbliebenen Soldaten. Ein weiterer kam 1972 ums Leben, als er zusammen mit Onoda in einer Guerillaaktion die Reisvorräte lokaler Bauern verbrannte. Nunmehr völlig auf sich allein gestellt, gab sich Onoda im Februar 1974 dem japanischen Studenten Suzuki Norio zu erkennen, der vom Schicksal des letzten japanischen Soldaten gehört hatte und daraufhin nach Lubang aufgebrochen war, um ihn zu suchen. Doch selbst jetzt schien es für Onoda unvorstellbar, sich ohne den Befehl eines Vorgesetzten zu ergeben. Nachdem Suzuki mit Beweisfotos nach Japan zurückgereist war und die Behörden informiert hatte, gelang es, Onodas ehemaligen vorgesetzten Offizier ausfindig zu machen. Erst als Major Taniguchi schließlich nach Lubang reiste, um seinem ehemaligen Untergebenen persönlich die Kapitulation Japans zu bestätigen, ergab sich Onoda im März 1974. Zu diesem Zeitpunkt verfügte er noch immer über sein Gewehr, rund 500 Schuss Munition und mehrere Handgranaten. Und noch immer trug er Teile seiner ursprünglichen Uniform, zu der auch das Gunto-Schwert gehörte. Es galt als wichtigstes Symbol seines Status als kaiserlicher Offizier und lehnte sich an die Kantana-Schwerter japanischer Samurai an. Ganz bewusst hatte die japanische Militärführung während des Zweiten Weltkrieges mit diesem Symbol den Bezug zum Ehrenkodex der Samurai und den Prinzipien des «Bushido» hergestellt.[2]

Obwohl Onoda und seine Kameraden zwischen 1945 und 1974 in ihren Guerillaaktionen und in Gefechten mit lokalen Bauern und Fischern über 30 Menschen getötet oder verletzt hatten, begnadigte ihn der philippinische Präsident Ferdinand Marcos. Nach Japan zurückgekehrt und bald als Kriegsheld verehrt, verfasste Onoda eine vielbeachtete Autobiographie, in der er versuchte zu erklären, was ihn angetrieben hatte.[3] Er verwies vor allem auf die jahrelange Propaganda des japanischen Kriegsstaates, die eine Kapitulation von Offizieren unmöglich gemacht habe: «Als ich 1944 auf den Philippinen ankam, lief der Krieg für Japan schlecht, und zu Hause war das Wort ‹Hundert Millionen Seelen sterben für die Ehre› auf jedermanns Lippen. Dieses Wort bedeutete, dass die japanische Bevölkerung wie ein Mann sterben würde, statt zu kapitulieren. Ich nahm das wörtlich und glaubte, dass viele junge Japaner meines Alters es ebenfalls wörtlich nahmen. Ich glaubte wirklich daran, dass Japan nicht aufgeben würde, solange noch ein Japaner am Leben war.»[4] Das erklärte auch Onodas Reaktion auf die japanisch sprechenden Suchkommandos, die er und seine Kameraden für eine bewusste Täuschung des amerikanischen Gegners hielten. Denn hätte Japan den Krieg tatsächlich verloren, könnten – so die Vorstellung der geflohenen Soldaten – überhaupt keine Japaner mehr am Leben sein. Es war ein Denken, das die Kapitulation praktisch ausschloss.[5]

Onodas Schicksal mochte ein extremer Sonderfall sein, aber es verweist auf ein Grundproblem der Geschichte: Wie beendet man einen Krieg? Alle Kriege enden irgendwann, aber jeder Krieg hat sein ganz eigenes Ende – für Staaten und Gesellschaften, für Politiker, Diplomaten und Militärs, für den einzelnen Soldaten. Auf den ersten Blick scheint es viel leichter, den Beginn gewaltsamer Konflikte zu definieren als ihr Ende. Menschen assoziieren mit Kriegsanfängen fast immer dramatische, jedenfalls suggestive Anlässe, die historische Orientierung zu geben scheinen: den Prager Fenstersturz im Mai 1618 als Beginn des Dreißigjährigen Krieges, den ohne Kriegserklärung erfolgten Einfall preußischer Truppen in Sachsen 1756, der den Siebenjährigen Krieg einläutete, den Beschuss von Fort Sumter durch Truppen der amerikanischen Südstaaten zu Beginn des Amerikanischen Bürgerkrieges im April 1861, das Attentat von Sarajewo im Juni 1914, den Beschuss der Westerplatte in Danzig durch ein deutsches Schlachtschiff im September 1939 – oder den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022. Doch diese scheinbar eindeutigen Ereignisse sagen wenig aus über die langfristigen Ursachen, über Vorgeschichten, Eskalationsstufen und «points of no return». Nicht selten entfalten Kriegsanfänge auch erst aus dem Rückblick ihre mythische Qualität für Gesellschaften: Die Vorstellung einer euphorisierenden Kriegsbegeisterung, die im August 1914 partei- und klassenübergreifend ganze Gesellschaften erfasst habe, war in dieser Zuspitzung zweifellos ein Zerrbild, denn in vielen Teilen Europas demonstrierten Industriearbeiter und Gewerkschaften noch bis kurz vor Beginn der Kämpfe gegen den Krieg. Doch dieses nach 1918 im Gefühlshaushalt gerade vieler Deutscher fest verankerte «Augusterlebnis» markierte für viele Zeitgenossen ein kollektives Initialerlebnis, das umso heller leuchtete, je dunkler die Gegenwart seit 1918 erschien.[6]

Wenn schon dieser Blick auf Anfänge und Anlässe zeigt, wie leicht sich scheinbare Eindeutigkeiten in der historischen Betrachtung auflösen, dann gilt das noch viel mehr für das Ende von Kriegen. Die meisten historischen Wege in den Frieden waren verschlungen, sie wurden immer wieder verzögert und unterbrochen. Je länger ein Krieg dauerte, je mehr Opfer er über Monate und Jahre anhäufte, desto unübersichtlicher und widersprüchlicher verliefen sie. Wann und wie ein Krieg endet, dieser Prozess lässt sich jedenfalls nicht auf den Moment beschränken, in dem Sieger und Besiegte einen Waffenstillstand oder einen Friedensvertrag unterzeichnen. Dahinter stehen vielmehr meist komplizierte Verläufe: von einer ersten Waffenruhe über einen stabilen Waffenstillstand, einen Vorfrieden bis zu einer internationalen Friedenskonferenz und einem schließlich ratifizierten Friedensvertrag. Aber endet ein Krieg damit? Oder kündigt sich das Ende mit der aus Verlusten und Opfern gewonnenen Einsicht in die gegenseitige Erschöpfung von Ressourcen an, aus der schließlich eine rationale Einsicht in die Notwendigkeit des Friedens folgt und sich ein Fenster für die Diplomatie öffnet? Entsteht Frieden nicht erst mit einem vielleicht erst nach Jahren und Jahrzehnten wieder belastbaren Vertrauen und einer verlässlichen Kommunikation zwischen ehemaligen Gegnern? Gibt es stabilen Frieden ohne die Aussöhnung zwischen Individuen, Familien, Gemeinschaften, die Anerkennung von Opfern und Verbrechen, von Schuld und Schulden zwischen ganzen Gesellschaften? Ab wann weiß man verlässlich, ob ein Vertrag mit Unterschriften wirklich Frieden schafft, oder ob es sich lediglich um einen temporären Waffenstillstand handelt, eine taktische Atempause, um neue Ressourcen zu mobilisieren und den Krieg dann umso entschiedener fortzuführen?[7]

Ein erstes Zeichen zur Friedensbereitschaft auszusenden, erwies sich oft als besonders schwierig. Denn Friedenssondierungen unterliegen einer komplexen Psychologie. Die Erschöpfung der eigenen Ressourcen mochte ein Ende des Krieges nahelegen, aber der Gegner konnte in einem solchen Schritt genau jene Schwäche erkennen, die aus seiner Sicht für eine Fortsetzung des Krieges sprach. Jedes Signal in Richtung einer größeren Konzessionsbereitschaft ließ sich auch so interpretieren, dass der Gegner noch schwächer war als man selbst. Die eingestandene Friedensbereitschaft einer Seite konnte so die Hoffnung der anderen bestärken, die eigenen Ziele doch noch militärisch zu erreichen. In diesem Falle führte der erste Schritt in Richtung Frieden zur Fortsetzung des Krieges.

Viele Wege aus dem Krieg in den Frieden waren langwierig. So bestand der Westfälische Frieden von 1648, mit dem der Dreißigjährige Krieg endete, aus einer Reihe von Verträgen, die in Münster und Osnabrück unterzeichnet wurden. Vorausgegangen waren über fünf Jahre dauernde Verhandlungen. Auch nach diesen diplomatischen Anstrengungen hätte der Krieg noch lange nach seinem formalen Ende jederzeit wieder neu aufflammen können. Ähnlich prekär waren die Friedensschlüsse in den zwischen 1792 und 1815 fast ununterbrochen andauernden Kriegen der Französischen Revolution und Napoleons. Die Kriege rund um die Gründung des italienischen (1859/61) und des deutschen Nationalstaats (1864, 1866 und 1870/71) dauerten demgegenüber deutlich weniger lang. Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck setzte auf schnelle militärische Siege und kurze politische Wege in den Frieden. Aber dieses Ideal wurde schon in den 1860er Jahren brüchig, als das Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges die Probleme der Friedenssuche in der Neuzeit wie unter einem Brennglas bündelte: in der traumatischen Erfahrung entgrenzter Gewalt über vier Jahre, die sich immer mehr auch gegen die Zivilbevölkerung an der Heimatfront gewandt hatte, im erstmals formulierten Konzept des «unconditional surrender», also der bedingungslosen Kapitulation der unterlegenen Seite, und im Beharren der ehemaligen Südstaaten auf der eigenen moralischen Überlegenheit sowie ihrem Kult um den «lost cause».[8]

Was das Ende eines langen Krieges bedeutete, den man sich als kurzen Krieg vorgestellt hatte, zeigte sich im Ersten Weltkrieg. Deutsche und Franzosen schlossen jedenfalls am 11. November 1918, dem Tag des Waffenstillstandes, oder am 28. Juni 1919 bei der Unterzeichnung des Versailler Vertrages keinen wirklichen Frieden miteinander. Beide Daten markierten mit dem Ende akuter Kampfhandlungen an der Westfront Europas oder dem Abschluss der Pariser Friedenskonferenz für das Deutsche Reich allenfalls formale Momente. Tatsächlich provozierten die Ergebnisse des mit Erwartungen überforderten Friedens von 1919 neue Verletzungen: durch territoriale Bestimmungen, Reparationen und die Betonung einer «Kriegsschuld», die zum Ausgangspunkt vielfältiger Revisionsobsessionen wurde, die nicht allein die deutsche Gesellschaft der 1920er und 1930er Jahre prägten. So sagt der Abschluss eines Friedensvertrages wenig über kollektive Haltungen aus, über mentale Verletzungen und langfristige Einstellungen. Auf den Friedensschluss von Versailles folgte eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, die in der französischen Ruhrbesetzung 1923 von einem kalten in einen heißen Konflikt überzugehen drohte. Auch die von Gustav Stresemann und Aristide Briand in den Locarno-Verträgen von 1925 erreichte Garantie der Grenzen in Westeuropa änderte nichts daran, dass der Krieg in den Köpfen vieler Menschen präsent blieb. Als deutsche Truppen im Juni 1940 Frankreich innerhalb weniger Wochen besiegten, schien es vielen Deutschen, dass erst jetzt der Erste Weltkrieg ende: mit einem deutschen Sieg, der die unverstandene Niederlage von 1918 vergessen machte. So reichte der Schatten des Kriegsendes von 1918 sehr weit, und die von vielen Deutschen letztlich nicht akzeptierte Niederlage am Ende des Ersten Weltkrieges erwies sich als eine entscheidende Voraussetzung für den Erfolg der Erlösungsversprechen Adolf Hitlers.[9]

In den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts wurde die Gewalt gegen Soldaten und Zivilisten bis hin zu Genoziden und Bürgerkriegen entgrenzt. Dennoch unterschieden sich die Endphasen der beiden Weltkriege ab 1917/18 und 1942/43 auch voneinander. Während die meisten Deutschen bis in den Sommer 1918 noch auf einen möglichen Siegfrieden hofften, der alle bisherigen Opfer rechtfertigen werde, konnte von einem solchen Siegesvertrauen nach der Niederlage von Stalingrad 1942/43 keine Rede mehr sein. Und dennoch setzten sich Krieg und Holocaust weiter fort und steigerten sich. Dem Ersten Weltkrieg folgte ein Friedensvertrag, der den deutschen Nationalstaat von 1871 überleben ließ und nach 1919 Chancen auf eine friedliche Revision eröffnete. Der Zweite Weltkrieg endete in einer bedingungslosen Kapitulation, ohne formalen Friedensvertrag und mit dem Ende Deutschlands als klassischer Nationalstaat.[10]

Der Blick in die Vergangenheit lässt Kriege erkennen, die wie im 17. Jahrhundert erst nach langen Gewaltphasen langsam ausbrennen und der Diplomatie nicht eher eine Chance geben. Historisch setzte erfolgreiche Diplomatie in vielen Fällen eine Einsicht der Akteure in die Erschöpfung der eigenen Ressourcen und Handlungsoptionen voraus. Erst wenn der Glaube an die Möglichkeit eines eigenen Sieges erodierte, wuchsen die Chancen auf eine Friedenssondierung. Doch davor verlängerten sich Kriege immer wieder durch sich selbst: Denn in vielen Kriegsgesellschaften wirkte angesichts der vielen Opfer und Lasten jede scheinbar vorzeitige Konzession, jede Friedensbereitschaft wie Defätismus und Verrat. So boten gerade die Endphasen vieler Kriege im 20. Jahrhundert, in denen Politiker und Militärs begannen, die Begrenztheit ihrer Ressourcen zu verstehen und die Fragilität der eigenen Kriegsgesellschaft realistisch einzuschätzen, häufig Anlässe, die Gewalt noch einmal zu intensivieren. In den letzten Monaten des Ersten Weltkrieges kam es zu einer regelrechten zweiten Mobilisierung und besonders hohen Verlusten.

Das galt im Zweiten Weltkrieg auch für die Phase ab 1943/44 in Europa und im Pazifik und reichte bis zum bislang einzigen Einsatz von Atomwaffen in einem militärischen Konflikt. Auch im Algerienkrieg Frankreichs kam es in der Endphase der 1950er und frühen 1960er Jahre zu einer Gewaltintensivierung. Auf dem langen Weg der USA aus dem Vietnamkrieg spielte die Ausweitung der Gewalt gerade nach der Einsicht in das sich abzeichnende Ende des Konflikts eine wesentliche Rolle. Es ging darum, für absehbare Friedensverhandlungen eine möglichst gute Ausgangsposition zu erlangen und dem Gegner die eigene Handlungsfreiheit vorzuführen. Zum Weg in den Frieden gehört also nicht allein die schmerzvolle Einsicht in die gegenseitige Erschöpfung, sondern immer auch die Bereitschaft zum taktischen Einsatz von Gewalt.

Kriege können auf unterschiedliche Weisen enden, zwischen denen in der Realität vielfältige Übergänge bestehen: durch den militärischen Sieg einer Seite, durch ein militärisches Patt, durch einen auf einem Kompromiss beruhenden Friedensschluss, durch die Intervention Dritter oder durch die Überführung eines Krieges in einen Konflikt mit niedrigerer Gewaltintensität.[11] Die Kapitulation eines Staates konnte an Bedingungen geknüpft sein oder bedingungslos erfolgen, sie konnte erzwungen sein wie im Falle Deutschlands und Japans im Mai und September 1945, oder sie konnte freiwillig erfolgen, wie bei Hunderttausenden von Soldaten, die in den Endphasen von Kriegen das Vertrauen in die Fortsetzung des eigenen Kampfes verloren und freiwillig in die Gefangenschaft gingen. Onodas Schicksal schließlich verweist auf die Kluft zwischen der politischen Kapitulation eines Staates und dem individuellen Akt eines Soldaten, sich zu ergeben.

Was heißt das alles für unsere unübersichtliche Gegenwart?[12] Der Krieg in der Ukraine hat die Hoffnung auf schnelle Siege genauso enttäuscht wie die auf baldige Auswege oder ein mögliches «Einfrieren» des Konflikts. Er ist längst in einen unabsehbar langen Abnutzungskrieg übergegangen, in ein Nebeneinander von Kämpfen um konkrete Territorien und geschichtspolitische Räume, um Werte und Ordnungsmodelle, um globale Energie- und Nahrungsressourcen sowie kritische Infrastrukturen, um Bilder und Meinungen. Zudem ist er verbunden mit Konflikten innerhalb der westlichen Gesellschaften: um den Widerstand gegen die russische Aggression, um ihre weltweiten Implikationen und eine gerechte Verteilung der spürbaren Kriegslasten. Praktisch alle Optionen, wie ein Krieg enden kann, werden derzeit kontrovers diskutiert: von der Hoffnung auf die kriegsentscheidende Wirkung einer Offensive oder neuer Waffensysteme, über die Erschließung neuer Ressourcen und Partner, bis zur Forderung nach Kompromissen und Konzessionen einer Seite oder zu dem Ziel, durchzuhalten, bis die andere Seite, wenn schon nicht kapituliert, so doch wenigstens den Rückzug antritt.

Wenn aus Erschöpfung die Einsicht in die Notwendigkeit ernsthafter Verhandlungen wird und die Diplomatie eine Chance erhält, wird das Ende eines Krieges erkennbar; aber es ist zugleich immer auch ein schwieriger Übergang. Angesichts der dokumentierten Fähigkeit der Ukraine, mithilfe westlicher Waffen Territorien zurückzuerobern, sind dort die Erwartungen gestiegen, den Krieg erfolgreich fortzusetzen. Dahinter wird derzeit keine politische Führung in Kiew zurücktreten können, ohne die eigene Legitimation zu beschädigen – auch wenn die Erfolge auf dem Schlachtfeld sich nicht so einstellen sollten wie erhofft. Demgegenüber spricht Wladimir Putins bewusste Entscheidung, mit der Mobilisierung den Krieg und seine Opfer mitten in die russische Gesellschaft hineinzutragen, für eine erhebliche Risikobereitschaft – nach innen und außen. Denn im Wissen darum, dass die Verluste im Kontext der sowjetischen Intervention in Afghanistan ab 1979 maßgeblich zur Erosion der Sowjetunion beitrugen, geht es für ihn auch um das eigene politische und sogar physische Überleben.

Praktisch keine Analyse dieses Krieges kommt ohne historische Referenzen aus. Dazu gehören die zahllosen Analogien und Vergleiche, die von «München 1938» und «Anschluss» über «appeasement» und «containment» bis zum «Blitzkrieg» reichen. Die Versuche, den Krieg zu verstehen, ihn auf den Punkt zu bringen und die Unübersichtlichkeit zu strukturieren, sind voller Anklänge an die Krisenvokabeln der späten 1930er Jahre, als der lange Nachkrieg schon wieder in einen Vorkrieg überzugehen drohte. Und nicht zufällig wirken viele Reden des ukrainischen Präsidenten auch deshalb so eindringlich, weil sie sehr bewusst an historische Momente erinnern und daran das Verhalten in der Gegenwart messen, etwa im Verweis auf die Rolle Winston Churchills im Zweiten Weltkrieg oder auf den Moment von Pearl Harbour 1941.[13]

Man kann die aktuellen Krisen nicht an die Geschichte delegieren. Geschichte wiederholt sich nicht, und sie liefert auch keine Blaupausen für Entscheidungen. Aber sie zeigt in einem großen Reservoir über Zeiten und Räume, welche Konstellationen warum zu welchen Ergebnissen führten. Sie offenbart Verlaufsmuster und Handlungslogiken genauso wie Ambivalenzen und paradoxe Situationen, und sie immunisiert gegen einfache Erklärungen, Analogien und Vergleiche. In diesem Sinne fordert Geschichte zur Auseinandersetzung heraus. Sie erlaubt durch den Blick auf das Entfernte jenen Abstand zu gewinnen, der uns klarer sehen und mehr erkennen lässt. Der Blick auf Kriege der Vergangenheit zeigt, warum es lohnt, sich auf diese Geschichte einzulassen, um in der Gegenwart besser zu verstehen, wie Kriege zu Ende gehen.

I. Krieg und Frieden

Die Natur des Krieges bestimmt sein Ende.

Auch im Dankgebet für den Frieden war die traumatische Kriegserfahrung noch unüberhörbar: «Wir danken Dir, dass Du uns wie ein[en] Brand aus dem Feuer gerissen hast, dass wir unser Leben als eine Beut davon gebracht […] Darum sollen wir täglich und stündlich um den lieben Frieden bitten, denn wo Frieden ist, da ist Glück und Segen. Wie ich beide Zeiten wohl erfahren hab, Krieg und Frieden, und hab allerlei gesehen und erlebt.» Dem Frieden traute Hans Heberle erst im August 1650, fast zwei Jahre nach der Unterzeichnung des Westfälischen Friedens in Münster und Osnabrück im Oktober 1648. Noch einen Monat nach dem Friedensschluss, im November 1648, hatte er zum 29. Mal vor französischen Truppen nach Ulm fliehen müssen, nachdem seine Frau und er in den Kriegsjahren zehn ihrer dreizehn Kinder verloren hatten.

Als schreibkundiger Landschuster aus einer protestantischen Familie in der Nähe von Ulm hatte er den Dreißigjährigen Krieg unmittelbar erlebt und die Ereignisse seit 1618 mit persönlichen Aufzeichnungen begleitet, die er ab 1634 ins Reine schrieb und als «Zeytregister» bis 1672 weiterführte. Im Sommer 1650 vermerkte er sorgfältig alle Garnisonsorte in Süddeutschland, in denen auch noch zwei Jahre nach der Unterzeichnung des Friedens Truppen des Kaisers und des schwedischen Königs stationiert waren. Für Heberle endete der Krieg erst, als man mit der Nürnberger Exekutionsverordnung vom Juli 1650 detailliert den Abzug und die finanzielle Abfindung dieser fremden Truppen geregelt hatte. Erst jetzt sprach er von einem «ganzen, völligen und Generalfrieden», der in der alten Reichsstadt Ulm am 24. August 1650 gefeiert wurde.[1]

Dem Dreißigjährigen Krieg fielen in den deutschen Gebieten insgesamt zwischen vier und zehn Millionen Menschen zum Opfer, was bis zu 45 Prozent der Bevölkerung entsprach. Allein die Einwohnerzahl Ulms sank als Folge des Krieges von 21.000 auf etwas über 13.000. Dabei hätte der Krieg schon 1636 beendet werden können. Musste ein Krieg, der schon seit 1618 Mitteleuropa verwüstete, zwangsläufig auch in einen sehr langen Friedensprozess münden?[2] 1634 hatte Papst Urban VIII. seine Dienste als Vermittler im Konflikt zwischen den katholischen Monarchen Frankreichs auf der einen und Spaniens und des Heiligen Römischen Reiches auf der anderen Seite angeboten. Die Protestanten sollten davon jedoch ausdrücklich ausgeschlossen bleiben. Ihren eigenen Diplomaten verbot die päpstliche Kurie jede Verhandlung mit den «Ketzern» und hielt am Ziel fest, die Protestanten in diesem Krieg entweder zu bekehren oder aber zu vernichten. Viele katholische Fürsten in Deutschland waren 1634 angesichts der Verwüstung ihrer Territorien bereit, auf das Angebot des Papstes einzugehen, und auch die spanische Krone signalisierte Konzessionsbereitschaft, weil die eigenen Ressourcen als Folge des jahrzehntelangen Krieges mit den Niederländern erschöpft waren. Doch Frankreich unter seinem katholischen Ersten Minister Kardinal Richelieu wandte sich gegen die möglichen Friedenssondierungen. Die eigenen protestantischen Verbündeten im Kampf gegen die mit Frankreich konkurrierenden Habsburger in Spanien und im Heiligen Römischen Reich, das Königreich Schweden und die Vereinigten Niederlande, hatte man mit Geldzahlungen unterstützt, aber noch keine eigenen Soldaten eingesetzt.[3]

In diesen Entwicklungen spiegelte sich der Charakter des Konflikts wider, der zugleich Religionskrieg war und Auseinandersetzung zwischen europäischen Mächten, deren Bruchlinien quer zu den Konfessionsgrenzen verliefen. Gegenüber dem Papst bestand Frankreich darauf, dass ein stabiler Frieden die Zustimmung seiner protestantischen Verbündeten voraussetzte. Wenn sich im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges konfessioneller Bürgerkrieg, europäischer Mächtekonflikt und die Auseinandersetzung um die Machtverteilung zwischen dem Kaiser und den Reichsständen überlagerten, dann bestimmten diese Konfliktlinien auch den Weg in den Frieden. Das begann bereits mit der Suche nach einem möglichen Ort für Friedensverhandlungen. Nachdem die Vermittlung des Papstes 1636 endgültig gescheitert war, die Position des Kaisers sich gegen die verbündeten Franzosen und Schweden permanent verschlechtert hatte und der Druck der deutschen Fürsten zunahm, endlich Verhandlungen aufzunehmen, stimmte Ferdinand III. 1641 schließlich der Einberufung eines Friedenskongresses zu. Dieser sollte, getrennt nach den Konfessionen der beteiligten Mächte, im katholischen Münster und protestantischen Osnabrück stattfinden, weil die päpstliche Kurie nur unter dieser Bedingung bereit war, als Vermittler zu fungieren.[4]

Nachdem beide Städte von ihren formalen Pflichten gegenüber dem Reich und ihren Landesherren entbunden und durch den Abzug der jeweiligen Garnisonen faktisch neutral geworden waren, konnte der Kongress beginnen. Doch weil der Kaiser sich bis August 1645 weigerte, die Repräsentanten der 300 geistlichen und weltlichen deutschen Fürsten, Grafen und freien Reichsstädte einzuladen, verzögerte sich der Beginn noch einmal. Als Ferdinand III. ihre Anwesenheit akzeptierte, setzte sich zugleich ein neues Verständnis der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches durch. Denn ab jetzt repräsentierten Kaiser und Stände das Reich zusammen und mussten völkerrechtlichen Entscheidungen über Krieg und Frieden auch gemeinsam zustimmen.[5]

Mit der Versammlung aller Botschafter begann der Friedenskongress im Dezember 1645. Auch die nach langen Verhandlungen ausgearbeiteten Bestimmungen spiegelten Ursprung und Charakter des Krieges wider. In einem Vorvertrag vom Februar 1647 gelang zunächst ein Ausgleich zwischen dem Kaiser, Frankreich und Schweden. Den konfessionellen Bürgerkrieg und das Verhältnis zwischen Kaiser und Ständen regelten dann die Bestimmungen des Westfälischen Friedens. Dabei ging es im Oktober 1648 nicht allein um territoriale Regelungen, durch die Frankreich Gebiete im Elsass und in Lothringen und Schweden Vorpommern zugesprochen bekamen. Vor allem erhielten die Fürsten und Reichsstädte nunmehr das Recht zugestanden, untereinander Allianzen oder Bündnisse mit ausländischen Mächten abzuschließen. Konfessionspolitisch schrieb der Friedensvertrag die Verhältnisse des «Normaljahres» 1624 fest und erkannte die prinzipielle Gleichstellung der Konfessionen an. Aber die europäische Dimension des Krieges wies noch weit über den Moment von 1648 hinaus, denn die spanische und französische Krone sollten ihren Konflikt erst 1659 in einem eigenen Friedensvertrag beenden.[6]

Über das konkrete Ende eines Krieges, die Schwierigkeiten erster Sondierungen und die Erfolgsaussichten eines Friedensschlusses entscheiden also Ursachen, Verlauf und Charakter des vorangegangenen Konflikts. Umfassende, lang andauernde Kriege mit Beteiligung vieler unterschiedlicher Parteien mündeten in andere Friedenssondierungen und brachten andere Friedensverträge hervor als relativ kurze bilaterale Konflikte. In die erste Kategorie fielen die Auseinandersetzungen mit dem revolutionären und napoleonischen Frankreich zwischen 1792 und 1814 und die beiden Weltkriege des frühen 20. Jahrhunderts, in die zweite zum Beispiel die Kriege um die Bildung der neuen Nationalstaaten Italien und Deutschland zwischen 1859 und 1871.

Für den historischen Zusammenhang zwischen der Natur des Krieges und seinem Ende sind vor allem vier Aspekte besonders relevant. Erstens veränderte sich seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts der Charakter der Kriege durch die neue nationale Begründung von Kriegszielen, durch neuartige Massenarmeen und die Einführung der Wehrpflicht sowie durch die Möglichkeiten der Industrialisierung und Technisierung, wie Eisenbahnen, Dampfschiffe und Telegraphie exemplarisch zeigten.[7] All das hatte unmittelbare Konsequenzen für die unterschiedlichen Wege in den Frieden. Auf die Konfrontation mit den Erbschaften der Französischen Revolution und die Hegemonialbestrebungen Napoleons reagierten die Friedensmacher auf dem Wiener Kongress 1814/15 mit einem Programm der Revolutionsprophylaxe und einer umfassenden europäischen Sicherheitsarchitektur. In den «Nationalkriegen» des 19. Jahrhunderts begannen die Öffentlichkeit und Massenmedien eine größere Rolle zu spielen.

Der Erste Weltkrieg schließlich wurde mit Millionenheeren und einem bis dahin ungekannten Einsatz wirtschaftlicher und finanzieller Ressourcen geführt. Er war nicht länger auf Europa beschränkt und forderte durch die Einbeziehung der Kolonialgesellschaften in Asien und Afrika auch die überkommenen kolonialen Hierarchien heraus. Zugleich mündete er in eine neuartige Gewaltintensität, die sich nicht länger auf die militärische Front beschränkte, sondern auch die Heimatgesellschaften einbezog, wie etwa beim Armeniergenozid im Osmanischen Reich. Ab 1917 ging der Krieg schließlich von Russland ausgehend in Revolutionen über, aus denen wiederum Bürgerkriege entstanden, die wie in Russland weit über 1918 hinaus andauerten. Erosion und Zusammenbruch der multiethnischen Empires, des Zarenreiches, der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches, zwangen die Akteure auf der Pariser Friedenskonferenz nicht nur dazu, neue Grenzen festzulegen. Nach der Erfahrung des Weltkrieges als «war to end all wars» sollte mit dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung, dem Modell des souveränen Nationalstaates und dem Völkerbund eine ganz neue Basis für die Ausgestaltung internationaler Beziehungen geschaffen werden.