»Und wir verrosten im Hafen« - Nicolas Wolz - E-Book

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Nicolas Wolz

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Beschreibung

Das Fiasko der deutschen Flotte »Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser«, verkündete Wilhelm II. 1898. Unter der Ägide des Admirals Alfred von Tirpitz wurde eine Flotte aufgebaut, die der Stolz des Kaiserreiches war. Durch sie sollte aus der Kontinentalmacht Deutschland eine See- und Weltmacht werden. Im Ersten Weltkrieg wurde diese Hoffnung zerstört. Wegen der britischen Blockade-Strategie kamen die gigantischen Großkampfschiffe kaum zum Einsatz. Vor allem die Offiziere waren tief enttäuscht darüber. Zur Rettung der vermeintlich verlorenen Ehre entstand 1918 der Plan einer letzten großen Entscheidungsschlacht gegen die Royal Navy. Die Befehlsverweigerung der Mannschaften markierte den Beginn der Revolution in Deutschland. Die Flotte wurde im englischen Kriegshafen Scapa Flow interniert. Dort hat sie sich im Juni 1919 selbst versenkt. 

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Nicolas Wolz

»UND WIR VERROSTEN IM HAFEN«

Deutschland, Großbritannien und der Krieg zur See 1914–1918

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2013

© 2013 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41993-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28025-9

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Websitewww.dtv.de/ebooks

Die gedruckte Ausgabe dieses Titels (dtv 28025) enhält einen Bildteil mit 43 historischen Fotos.

Für Kristina und Mia

Vorwort

Einmal im Jahr, kurz vor Weihnachten, versammeln sich die wenigen noch lebenden Besatzungsmitglieder des Panzerschiffs Admiral Graf Spee auf dem deutschen Friedhof in Buenos Aires am Grab ihres ehemaligen Kommandanten, Kapitän z.S. Hans Langsdorff. Gemeinsam lassen sie noch einmal Revue passieren, was sich vor mehr als siebzig Jahren, am 17.Dezember 1939, vor der Küste Uruguays abgespielt hat. An diesem Tag hatte Langsdorff seinen Männern den Befehl gegeben, ihr Schiff, das nach einem Gefecht mit drei britischen Kreuzern schwer beschädigt im neutralen Hafen von Montevideo lag, von eigener Hand zu versenken. Der Kommandant wollte keinen Kampf gegen eine feindliche Übermacht führen, der für die Graf Spee den Untergang und für den Großteil ihrer mehr als eintausend Offiziere und Mannschaften den sicheren Tod bedeutet hätte. Weil er mit dem Entschluss, sein Schiff kampflos aufzugeben, gegen den Ehrenkodex der Marine verstoßen hatte, der einen »Heldentod« verlangte, erschoss Langsdorff sich zwei Tage später in einem Hotelzimmer in Buenos Aires.

Aus Argentinien, wo die deutschen Seeleute nach der Selbstversenkung der Graf Spee Zuflucht gesucht hatten, gelangten einige der Offiziere in den folgenden Monaten auf teils abenteuerlichen Wegen zurück nach Deutschland. Einer von ihnen war Korvettenkapitän Paul Ascher, der Erste Artillerieoffizier der Graf Spee. Im Mai 1941 lief Ascher, inzwischen Admiralstabsoffizier beim Flottenstab, an Bord des Schlachtschiffs Bismarck zur Operation »Rheinübung« aus. Was als Angriff auf feindliche Geleitzüge im Nordatlantik geplant war, endete mit einer Tragödie. Zusammengeschossen von einem überlegenen britischen Verband, sank die Bismarck am 27.Mai 1941 mit mehr als 2200 Mann Besatzung. Ihr Kommandant, Kapitän z.S. Ernst Lindemann, hatte sich bis zum Schluss geweigert, die Flagge zu streichen und so das grausame Gemetzel zu beenden. Nur 115 deutsche Seeleute überlebten. Paul Ascher gehörte nicht zu ihnen.

Der Untergang der Bismarck und die Selbstversenkung der Admiral Graf Spee zählen zu den bekanntesten Kapiteln der deutschen Marinegeschichte und der Seekriegführung während des Zweiten Weltkriegs. Die Bedingungen jedoch, unter denen diese beiden Ereignisse überhaupt erst möglich wurden, schuf ein anderer Krieg. Langsdorff und Lindemann hatten beide ihre Offizierlaufbahn in der Kaiserlichen Marine begonnen, und ihre jeweiligen Entscheidungen – die Kapitulation des einen ebenso wie die Kapitulationsverweigerung des anderen – waren das Resultat der Erfahrungen, die sie als kaiserliche Seeoffiziere im Ersten Weltkrieg gemacht hatten.

Das war alles andere als selbstverständlich. Noch zu Beginn des 20.Jahrhunderts besaß die Landmacht Deutschland keine nennenswerten Seestreitkräfte. Erst der Anspruch, eine gleichberechtigte Rolle im Kreis der Welt- und Kolonialmächte zu spielen, führte in Verbindung mit der Marineleidenschaft des deutschen Kaisers Wilhelm II. und dem Organisationsgeschick des Admirals Alfred von Tirpitz dazu, dass innerhalb weniger Jahre eine Flotte mächtiger Schlachtschiffe gebaut wurde, mit deren Hilfe man sich den weltpolitischen Hauptkonkurrenten Großbritannien gefügig machen wollte. Doch dieses Kalkül ging nicht auf. Statt zu willfährigen Bündnispartnern wurden die Briten zu erbitterten Gegnern Deutschlands, als im August 1914 der Krieg ausbrach.

Und auch eine andere Hoffnung erfüllte sich nicht: Statt der deutschen Flotte die Gelegenheit zu geben, der Nation in einer großen Seeschlacht zu beweisen, wozu man sie gebaut hatte, verfolgte die britische Royal Navy eine zurückhaltende Strategie und beschränkte sich auf eine Fernblockade der Nordsee. Die dagegen weitgehend machtlose Kaiserliche Marine wartete ab, plante, übte und exerzierte, dann und wann unternahm sie Vorstöße in die feindlichen Gewässer und hoffte darauf, dass es eines Tages doch noch zu der ersehnten Bewährungsprobe käme. Dabei zeigte sie nicht nur eine bedingungslose Treue gegenüber ihrem Obersten Kriegsherrn Wilhelm II., sondern auch einen geradezu todesverachtenden Einsatzwillen. Beide Eigenschaften machte sich später Adolf Hitler zunutze, der von seinen Schiffen einen Kampf »bis zur letzten Granate« verlangte – ein Anspruch, den nicht nur die Bismarck bereitwillig einlöste. Nichts fürchtete die Marine zwischen 1939 und 1945 mehr als eine Wiederholung ihres unrühmlichen Statistendaseins während des Ersten Weltkriegs.

Aber auch Langsdorffs Weigerung, seine Männer einen sinnlosen Tod sterben zu lassen – übrigens der einzige Fall dieser Art in beiden Kriegen – ist nicht denkbar ohne den Hintergrund des Ersten Weltkriegs. Am 8.Dezember 1914 traf Vizeadmiral Maximilian Graf von Spee in einer Situation, die der Langsdorffs auf fatale Weise ähnelte, die genau entgegengesetzte Entscheidung. Der Admiral, der später Langsdorffs Schiff den Namen gab, nahm den Kampf gegen eine britische Übermacht auf, obwohl er wusste, dass es für ihn keine Aussicht auf Erfolg gab. Damit begründete Spee gewissermaßen die Tradition des Untergangs mit wehender Flagge in der deutschen Marine, die Langsdorff fünfundzwanzig Jahre später nicht fortsetzen wollte, der er sich aber auch nicht entziehen konnte, wie sein Selbstmord beweist.

Wenn Langsdorffs Schicksal und das der Bismarck heute populärer sind als das des Grafen Spee und der Kaiserlichen Marine, liegt das zum einen daran, dass der Zweite Weltkrieg uns buchstäblich näher ist als der Erste. Hitler, der Holocaust und fast sechzig Millionen Tote versperren uns den Blick zurück auf jene »Ur-Katastrophe« des 20.Jahrhunderts, in die die Staaten Europas nach einem Wort des Historikers Christopher Clark wie »Schlafwandler« hineingetaumelt waren. Der andere Grund ist, dass die Jahre 1914 bis 1918 vor allem als Land- und Stellungskrieg in die kollektive Erinnerung eingegangen sind. Bis heute verbinden wir mit dem Ersten Weltkrieg in allererster Linie Bilder einer Schützengraben- und Stacheldrahtwüste. Er steht für unzählige hoffnungslose Sturmangriffe auf uneinnehmbare gegnerische Stellungen ebenso wie für Verdun und für die Somme, für menschenverachtende Materialschlachten, in denen für den Preis von ein paar Metern schlammigen Ackerbodens Hunderttausende einen schrecklichen Tod starben.

Die wenigen »echten« Kampfhandlungen zur See, allen voran die Schlacht vor dem Skagerrak am 31.Mai 1916, haben sich demgegenüber weniger stark ins Bewusstsein der nachfolgenden Generationen eingeprägt. Auch in der mittlerweile fast unüberschaubaren Literatur zum Ersten Weltkrieg spielt der Seekrieg für gewöhnlich eine untergeordnete Rolle, in manchen Darstellungen taucht er überhaupt nicht auf. Wenn er thematisiert wird, stehen meist strategische und technische Aspekte im Vordergrund; auf britischer Seite beschäftigt sich eine Vielzahl von Monographien ausschließlich mit der Skagerrakschlacht. Eine Gesamtdarstellung des Seekriegs der Kaiserlichen Marine gegen die Royal Navy, die neben den militärischen und politischen auch sozial-, alltags- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte einbezieht, gibt es bislang nicht.

Dabei ist gerade die Frage, wie die beteiligten Offiziere und Mannschaften »ihren« Krieg erlebten – und zwar nicht nur während der wenigen Stunden, in denen sich ihre Schiffe im Gefecht befanden, sondern auch in den langen Monaten des Wartens auf den nächsten Einsatz – eine äußerst spannende. Auf beiden Seiten der Nordsee nämlich stand die unscheinbare Rolle der Flotten im Krieg in grellstem Gegensatz zu der politischen, militärischen und auch gesellschaftlichen Bedeutung, die ihnen vor dem Krieg beigemessen worden war. Vor allem die mit so großen Hoffnungen erbaute deutsche Flotte vermochte die in sie gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen. Kaltgestellt durch die britische Fernblockade, lag sie praktisch nutzlos in Wilhelmshaven und Kiel vor Anker, ihre wenigen Kampfeinsätze konnten, so heldenhaft sie aus Sicht der Zeitgenossen auch durchgeführt worden sein mochten, daran nicht das Geringste ändern. Am Ende des Krieges war sie dann auch noch einer der Brandherde der Revolution, die in aller Deutlichkeit offenbarte, wie sehr sich die auch und gerade von der Marine repräsentierte alte Ordnung des Kaiserreichs überlebt hatte. »Selten«, so das Urteil des Historikers Michael Salewski, »ist eine Organisation von so stolzer Höhe so tief gefallen ...«1

Doch auch die am Ende siegreiche Royal Navy war in einer schwierigen Lage. Ganz Großbritannien hatte erwartet, dass die englische Flotte, die seit Nelsons großem Sieg über die französisch-spanische Armada bei Trafalgar 1805 unangefochten die Meere beherrschte, ihre deutschen Herausforderer binnen kürzester Zeit zum Kampf stellen und vernichten würde. Stattdessen hielt sie sie lediglich aus sicherer Entfernung in Schach – eine zwar effektive, der eigenen ruhmreichen Tradition jedoch scheinbar völlig unangemessene Vorgehensweise. Für die britischen Seeleute, die sich ebenso wie ihre deutschen Kontrahenten damit zufriedengeben mussten, beinahe wie im Frieden ihren Dienst zu tun und statt auf gegnerische Schiffe auf alte Tonnen zu schießen, war es eine mehr als bittere Erfahrung, nur Nebendarsteller in einem Krieg zu sein, der für die Royal Navy mit einem zweiten Trafalgar hätte enden sollen.

Wie gingen die Seeleute auf beiden Seiten mit der passiven Rolle der Flotten um? Welchen Sinn konnten sie diesem Krieg ohne Gegner abgewinnen? Wie beurteilten sie ihre eigene Leistung im Vergleich zu dem, was die Armeesoldaten auf den Schlachtfeldern des Kontinents durchmachten? Wie vereinbarte sich die Untätigkeit der Schlachtschiffe mit dem elitären Selbstverständnis ihrer Offiziere? Woher kam ihr Wunsch, unbedingt kämpfen zu wollen? Und wenn es zum Kampf kam: Warum opferten viele lieber ihr Leben für eine schon verlorene Sache, als sich einfach zu ergeben? Und schließlich: Was trieb ein Seemann eigentlich den ganzen Tag, wenn sein Schiff im Hafen lag?

Die Antworten auf diese Fragen lassen sich nur zum Teil in den amtlichen Unterlagen, in Akten, Dienstkorrespondenzen und Denkschriften finden. Weitaus ergiebiger sind die Aufzeichnungen der Akteure selbst, ihre Tagebücher und Briefe, die sie während des Krieges verfasst haben. Sie geben einen unmittelbaren Eindruck von den damaligen Ereignissen und Zusammenhängen und ermöglichen uns einen faszinierenden Einblick in die Erlebnis- und Gedankenwelt der Soldaten. Wir sehen, was sie sahen, erfahren, was sie fühlten und dachten, können beobachten, wie sie den Krieg erlebten, deuteten und verarbeiteten.

Bislang sind solche »Ego-Dokumente« für die maritime Historiographie des Ersten Weltkriegs nicht oder doch nur in sehr geringem Umfang herangezogen worden. Verglichen mit den 13 Millionen Soldaten, die insgesamt zwischen 1914 und 1918 für das deutsche Heer rekrutiert wurden, war die Kaiserliche Marine mit einer Personalstärke von rund 80000 Mann eine kleine Streitkraft. Entsprechend gering war auch die Zahl der potentiellen Brief- und Tagebuchschreiber in ihren Reihen. Doch es gab sie dort ebenso wie in der Royal Navy, und ihre Aufzeichnungen liegen über ganz Deutschland und Großbritannien verstreut in Archiven und Museen, bei Vereinen und Verbänden, bei Marinekameradschaften und in privaten Memorabilia-Sammlungen. Erstmals zusammengetragen und ausgewertet habe ich sie für meine Dissertation am Fachbereich Geschichte der Universität Tübingen.2 Nun bilden sie die Grundlage dieses Buches, das sich an einen breiteren Leserkreis richtet und das weder die wissenschaftliche Debatte in all ihren Verästelungen nachzeichnen möchte noch die strategischen und operativen Details der damaligen Seekriegführung erschöpfend erfassen will. Sein vorrangiges Ziel ist es, dem Leser eine persönliche Sicht auf die Vergangenheit zu ermöglichen, indem es die Betroffenen selbst ausführlich zu Wort kommen lässt. Auf Fußnoten wurde deshalb dort, wo es nicht um wörtliche Wiedergaben aus den Quellen geht, weitgehend verzichtet. Englische Zitate wurden ins Deutsche übertragen, ebenso die englischen Rangbezeichnungen. Die Originaltexte werden in den Anmerkungen wiedergegeben.

Die weitaus meisten erhaltenen Aufzeichnungen stammen von Offizieren. Die Sicht der Mannschaften schildert vor allem das Ende der 1920er-Jahre veröffentlichte Tagebuch des Matrosen Richard Stumpf. Umfang und Stil der Tagebücher und Briefe variieren: Einige Schreiber zogen es vor, ihre Erlebnisse und Gedanken in relativ knapper, nüchterner Form zu erfassen, während andere an so gut wie jedem der etwa 1500 Tage des Krieges zu Papier und Feder gegriffen haben. Besonders bemerkenswerte Beispiele solcher Schreibwut sind auf deutscher Seite die Tagebücher von Kapitänleutnant Bogislav von Selchow, auf englischer die von Leutnant Oswald Frewen. Beide haben nicht nur die Kriegsjahre, sondern praktisch ihr gesamtes Leben in mit Zeichnungen, Fotos, Zeitungsausschnitten und Gedichten reich verzierten Bänden festgehalten. Die Frewen-Diaries, nach dem Krieg in dickes Schweinsleder gebunden, füllen heute einen guten Teil der Bibliothek im Landhaus der Frewens in Sussex, wo sie Oswald Frewens Großneffe Jonathan hütet wie einen Schatz. Unter den Briefeschreibern sticht Konteradmiral Adolf von Trotha hervor, der während des Krieges mit rund vierhundert verschiedenen Korrespondenzpartnern in Kontakt stand. Für unsere Zwecke am interessantesten freilich sind die Briefe, die er an seine Frau schrieb – darin äußerte er sich ähnlich wie die Tagebuchschreiber frei und ohne Hintergedanken politischer oder dienstlicher Natur.

Trothas Nachlass befindet sich heute im Niedersächsischen Staatsarchiv in Bückeburg. Den Mitarbeitern dort möchte ich für ihre Hilfsbereitschaft und tatkräftige Unterstützung ebenso danken wie jenen des Bundesarchiv-Militärarchivs in Freiburg, des Wehrgeschichtlichen Ausbildungszentrums an der Marineschule Mürwik in Flensburg, der Marine-Offizier-Vereinigung in Bonn und des Wissenschaftlichen Instituts für Schiffahrts- und Marinegeschichte in Hamburg. Auf britischer Seite gilt mein Dank den Archivaren des Royal Naval Museum in Portsmouth, des National Maritime Museum in Greenwich, des Imperial War Museum und des Public Record Office in London, des Churchill Archives Centre in Cambridge und der Liddle Collection an der Universität Leeds. Die Deutsche Marine hat mir wertvolle Einblicke in das Alltagsleben heutiger Seestreitkräfte ermöglicht, sei es an der Marineschule Mürwik, an Bord einer Fregatte, eines Minensuchers, eines U-Bootes oder auch des Schulschiffes Gorch Fock, mit dem ich zwei Wochen lang den Nordatlantik befahren durfte. Dem Deutschen Taschenbuch Verlag und seiner Cheflektorin Dr. Andrea Wörle danke ich für die überaus fruchtbare und angenehme Zusammenarbeit. Für ihren Rat und ihre Unterstützung schulde ich den Historikern Dieter Langewiesche (Tübingen), Michael Epkenhans (Potsdam), Nicholas Rodger (Oxford) und Michael Salewski (Kiel, †2010) besonderen Dank. Der größte Dank aber gebührt meiner Familie, ohne die dieses Buch vermutlich nie geschrieben worden wäre.

Prolog: Wettlauf im Mittelmeer

Es ist einer jener unvergleichlich schönen Tage, an denen dieser Sommer so reich war. Die Sonne brennt von einem wolkenlosen Himmel über der strahlend blauen Adria, als in Pola, dem Hauptstützpunkt der österreichisch-ungarischen Marine an der Südspitze Istriens, die Nachricht eintrifft, Österreich habe Serbien den Krieg erklärt. Man schreibt Dienstag, den 28.Juli 1914. Genau einen Monat zuvor haben serbische Nationalisten den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz-Ferdinand und dessen Frau in Sarajewo erschossen und Europa in die schwerste politische Krise des noch jungen Jahrhunderts gestürzt.

Im Hafen von Pola liegt, inmitten befreundeter österreichischer Kriegsschiffe, auch der deutsche Schlachtkreuzer SMS Goeben. Mit seinen zehn 28-cm-Geschützen, einer Wasserverdrängung von mehr als 25000 Tonnen und rund 1100 Mann Besatzung ist er eines der größten und modernsten Kriegsschiffe der damaligen Zeit. Und eines der schnellsten: Vierundzwanzig mit Kohle beheizte Dampfkessel tief im Innern des Rumpfes erzeugen genug Druck, um zwei gewaltige Parsons-Turbinen anzutreiben, die dem Stahlkoloss eine Höchstgeschwindigkeit von 28 Knoten ermöglichen. Zusammen mit dem Kleinen Kreuzer Breslau bildet die Goeben die Mittelmeerdivision der Kaiserlichen Marine. Es sind die einzigen deutschen Kriegsschiffe im gesamten Mittelmeerraum.

Kommandiert wird der kleine, aber prestigeträchtige Verband von Wilhelm Souchon, damals Konteradmiral. Rein äußerlich ist er eher unscheinbar – nach Auffassung eines amerikanischen Diplomaten ähnelt er mehr einem Pfarrer als einem Admiral1 –, doch der 1864 in Leipzig geborene Souchon hat im Laufe seiner mehr als dreißig Berufsjahre in der Marine schon einige brenzlige Situationen überstanden und gilt als äußerst erfahrener und kompetenter Offizier.

Nach dem Attentat von Sarajewo ist er mit der Goeben nach Pola gelaufen, um dort die weiteren Entwicklungen abzuwarten und währenddessen die Maschinenanlagen seines Schiffes überholen zu lassen. Doch nun, da die Österreicher offensiv auf Vergeltung gegen Serbien dringen und die zum Zerreißen gespannte Atmosphäre auf dem Kontinent sich immer weiter auflädt, muss er eine wichtige Entscheidung treffen.

Souchon weiß, dass er in der Adria in der Falle sitzt, sollte es zu einem großen Krieg in Europa kommen. Auch mit Unterstützung der Österreicher besteht für Goeben und Breslau nicht die geringste Aussicht, etwas gegen die erdrückende Übermacht der britischen und französischen Flotte in diesem Seegebiet auszurichten. Mit etwas Glück könnte man aber vielleicht einige der Transportschiffe versenken, die im Falle eines Krieges die Soldaten der französischen Kolonialarmee von Algerien nach Frankreich bringen sollen. Souchon beschließt deshalb, mit seinen Kreuzern so schnell wie möglich die Adria zu verlassen, Sizilien zu umrunden und sich vor der nordafrikanischen Küste auf die Lauer zu legen.

Am 29.Juli 1914 lichtet die Goeben Anker, verlässt Pola und nimmt zunächst Kurs auf Brindisi. Von dort dampft sie weiter nach Sizilien, wo sie von der Breslau erwartet wird. Unterwegs erfährt Souchon über Funk vom Admiralstab in Berlin, was für eine Kettenreaktion von Kriegserklärungen und Mobilmachungsbefehlen die österreichische Kampfansage an Serbien inzwischen ausgelöst hat. Die Bündnisse, die die europäischen Großmächte in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten miteinander geschlossen haben, kommen zum Tragen und teilen den Kontinent in Verbündete und Gegner. Seit 1879 gibt es zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn einen zunächst geheimen, später öffentlichen Defensivvertrag, den Zweibund. Das Deutsche Reich stellt sich nun bedingungslos hinter seinen Zweibund-Partner Österreich-Ungarn und erklärt am 1.August Russland den Krieg, das wiederum seine Armee mobilisiert hat, um Serbien beizuspringen. An der Seite der Russen rüsten sich Frankreich und Großbritannien, die Mitglieder des dem Zweibund seit 1907 gegenüberstehenden Militärbündnisses der Triple Entente, zum Krieg. Doch noch sind die letzten Entscheidungen nicht gefallen.

Italien, das eigentlich über den Dreibund mit Deutschland und Österreich verbunden ist, erklärt sich just an dem Tag für neutral, als die Goeben Sizilien erreicht und im Hafen von Messina an der Seite der Breslau vor Anker geht. Es ist Sonntag, der 2.August 1914, und die italienischen Behörden weigern sich, die kaiserlichen Kreuzer mit Kohle zu versorgen. Souchon kann seine Fahrt nur fortsetzen, weil im Hafen einige deutsche Handelsschiffe liegen, deren Brennstoffvorräte er kurzerhand beschlagnahmt. Seiner Frau schreibt er am Abend dieses Tages in einem Brief: »Ich bin guten Muts und freue mich, das stärkste und schnellste Schiff unter den Füßen zu haben.«2

Am nächsten Tag, der deutsche Verband hat Sizilien verlassen und steuert die Küste Nordafrikas an, erfährt der Admiral, dass Berlin nun auch Paris den Krieg erklärt hat. Seine Schiffe, denkt er, sind also auf dem richtigen Weg.

Doch als er sein Ziel beinahe erreicht hat, erhält Souchon plötzlich aus der Heimat den Befehl: »Goeben und Breslau sofort nach Konstantinopel gehen.« Der Grund: Deutschland und das Osmanische Reich haben gerade ein gegen Russland gerichtetes Bündnis geschlossen, allerdings rein defensiver Natur. Um die Türken dazu zu bewegen, sich aktiv auf deutscher Seite am Krieg zu beteiligen, will Berlin militärische Präsenz am Bosporus zeigen. Souchon, der erst zu Ende bringen möchte, was er begonnen hat, ignoriert die Order und setzt seine Fahrt fort.

An der algerischen Küste angekommen, beschießen Goeben und Breslau die Hafenstädte Philippeville und Bône, von denen aus die französischen Truppen nach Europa verschifft werden sollen. Auch wenn die deutschen Granaten keinen nennenswerten Schaden anrichten, ist Souchon zufrieden. Seine erste Mission ist erfüllt. Wie viel Schaden er wirklich angerichtet hat, weiß er zunächst nicht, für ihn zählt vor allem, seine Geschütze abfeuern zu können – das zeigt: Die Deutschen sind da, und sie sind gefährlich. Nun kann er zurück nach Messina, um für den 2000Kilometer langen Marsch nach Konstantinopel frische Kohlen zu fassen. Die beiden Kreuzer drehen ab und gehen auf östlichen Kurs.

Sie haben noch nicht viele Seemeilen zurückgelegt, da tauchen querab am Horizont plötzlich die Silhouetten zweier britischer Kriegsschiffe auf. Es sind HMS Indomitable und HMS Indefatigable, zwei der modernsten Schlachtkreuzer der Royal Navy, ähnlich gebaut wie die Goeben, aber beide ausgestattet mit je acht 30,5-cm-Kanonen. Wenn es jetzt zum Gefecht käme, hätte der deutsche Verband so gut wie keine Chance gegen ihre überlegene Feuerkraft. In voller Kampfbereitschaft, mit geladenen Geschützen gleiten die vier Schiffe aneinander vorbei, der Abstand beträgt nur wenige tausend Meter. Doch es fällt kein Schuss. Es ist der Vormittag des 4.August 1914, und Deutschland und Großbritannien sind noch nicht im Krieg miteinander.

Das Zusammentreffen auf hoher See ist reiner Zufall. Seit Souchons kleiner Verband unbemerkt die Adria verlassen hat, rätseln der britische Oberkommandierende im Mittelmeer, Admiral Sir Archibald Berkeley Milne, und sein Stellvertreter, Konteradmiral Ernest Troubridge, welchen Plan die Deutschen wohl verfolgen. Von dem Abkommen mit der Türkei wissen sie nichts. Noch dazu treffen aus London ständig neue, zum Teil widersprüchliche Meldungen und Befehle im Hauptquartier der Mittelmeerflotte auf Malta ein. Erster Lord der Admiralität und damit politischer Oberbefehlshaber der britischen Kriegsmarine ist seit 1911 Winston Churchill. Churchill besteht darauf, dass Milne und Troubridge die deutschen Schiffe unter allen Umständen aufspüren. Was dann geschehen soll, bleibt zunächst offen. Indomitable und Indefatigable erhalten den Auftrag, die Straße von Gibraltar zu überwachen für den Fall, dass die Deutschen versuchen sollten, in den Atlantik zu entkommen. Nun haben sie die Gesuchten direkt vor sich.

Kaum haben die britischen Schlachtkreuzer den deutschen Verband passiert, wenden sie und heften sich an Souchons Fersen. Der Admiral, der nicht sicher sein kann, ob mittlerweile nicht doch der Krieg zwischen Deutschland und England erklärt worden ist, fürchtet, dass die Briten jeden Augenblick das Feuer auf ihn eröffnen könnten. Er befiehlt, die Verfolger abzuschütteln. Tief unten in den Maschinenräumen der Goeben und der Breslau schaufeln die Heizer buchstäblich bis zum Umfallen Kohle in die glühend heißen Kessel, um die Schiffe auf maximale Fahrt zu bringen. Langsam wird der Abstand größer. Doch noch immer sind die Deutschen in Reichweite der britischen Geschütze. Die aber schweigen.

Was Souchon nicht weiß: Das Kabinett in London hat der deutschen Regierung soeben ein Ultimatum gestellt, das noch bis Mitternacht läuft. Vorher darf, wie Churchill über Funk anordnet, kein Schuss abgegeben werden. In ihrem Ultimatum verlangen die Briten eine Garantie der belgischen Neutralität. Die aber können und wollen die Deutschen nicht geben, da die gesamte Strategie des kaiserlichen Generalstabs für einen Krieg mit Frankreich – der berühmt-berüchtigte »Schlieffen-Plan«, benannt nach dem Generalfeldmarschall Alfred von Schlieffen – darauf aufbaut, die starken französischen Befestigungen im Norden des Landes zu umgehen und stattdessen durch Belgien und Luxemburg nach Paris vorzustoßen.

Die Stunden verrinnen, und allmählich geraten die deutschen Schiffe außer Sichtweite der Engländer; auf britischer Seite kann allein der mittlerweile hinzugekommene Leichte Kreuzer Dublin das hohe Tempo mithalten. Mit dem Hereinbrechen der Dunkelheit verliert dann aber auch er den Sichtkontakt. Gegen 22 Uhr erhält die Dublin den Befehl, die Verfolgung abzubrechen. Zwei Stunden später läuft das englische Ultimatum aus. Es ist Mitternacht am 5.August 1914, und Großbritannien befindet sich nun offiziell im Krieg mit Deutschland.

Am nächsten Morgen erreicht Souchon mit seinen Schiffen unbeschadet Messina, wo ihm die Italiener erlauben, ein letztes Mal Kohlen zu fassen. Viel Zeit zum Ausruhen bleibt den erschöpften deutschen Seeleuten nicht. Maximal 24 Stunden darf laut Haager Konvention der Aufenthalt der Schiffe von Kombattanten in einem neutralen Hafen dauern, sonst droht die Internierung. Souchon rechnet nun, da der Krieg erklärt ist, fest damit, dass die Engländer ihn kein zweites Mal entkommen lassen. Auslaufen will er aber trotzdem, auch wenn das möglicherweise den Untergang seiner Schiffe bedeutet. Deshalb hat ihm der Admiralstab die Entscheidung ausdrücklich freigestellt. Seiner Frau schreibt er später: »Aber in neutralen Häfen desarmieren, das gibt es Gott sei Dank für einen deutschen Seeoffizier nicht, und wird es hoffentlich nie geben.«3 Bevor Goeben und Breslau am Nachmittag des 6.August wieder die Anker lichten, verfasst Souchon noch schnell sein Testament und lässt es an Land bringen.

Doch als sie die italienischen Hoheitsgewässer in südöstlicher Richtung verlassen, die Geschütze klar zum Gefecht, werden die Deutschen lediglich von einem einzelnen Leichten Kreuzer der Briten verfolgt. Diesmal ist es die Gloucester. Erst später wird Souchon erfahren, dass ein schwerer taktischer Fehler seinen Verband gerettet hat: Weil Admiral Milne glaubt, Souchon werde einen weiteren Versuch unternehmen, die französischen Truppentransporter anzugreifen, hat der britische Oberbefehlshaber alle seine Schiffe bis auf die kleine Gloucester westlich von Sizilien positioniert, weit entfernt von der tatsächlichen deutschen Route. Als den Briten schließlich dämmert, dass Souchon ein ganz anderes Ziel verfolgt, ist der Abstand für Milne schon zu groß.

Allein Konteradmiral Troubridge, der mit vier älteren Panzerkreuzern südlich von Korfu Wache hält, um Souchon den Rückweg nach Pola zu versperren, kann die Deutschen jetzt noch einholen. Seine Schiffe sind zwar jedes für sich genommen schwächer als die Goeben, doch zusammen verfügen sie über eine beachtliche Feuerkraft. Um diesen Vorteil nutzen zu können, muss Troubridge, dessen Geschütze die geringere Reichweite haben, allerdings erst einmal nah genug an die deutschen Kreuzer herankommen. Er entschließt sich zunächst, den Versuch zu wagen, und nimmt die Verfolgung auf.

Dann aber, im Verlauf einer unruhigen Nacht, kommen Troubridge Bedenken. Zu groß erscheint ihm nun nach Rücksprache mit seinen Offizieren das Risiko, von den Deutschen aus der Distanz zum Wrack geschossen zu werden. Außerdem hat er Befehl, seine Schiffe nicht im Kampf gegen einen überlegenen Gegner aufs Spiel zu setzen. An der Frage, ob Goeben und Breslau an diesem Tag für Troubridges Verband ein solcher überlegener Gegner sind oder nicht, werden sich später noch lange die Geister scheiden.

Für Troubridge ist die Sache klar. Schweren Herzens und, wie es heißt, unter Tränen gibt der Admiral, dessen Urgroßvater 1797 in der berühmten Seeschlacht bei Kap St. Vincent an der Seite des legendären Admirals Horatio Nelson die fast doppelt so starke spanische Flotte besiegt hat, den Befehl, die Verfolgung abzubrechen. Nur die kleine Gloucester hält weiter Kurs.

Souchon, der von all dem nichts ahnt und annimmt, die gesamte britische Mittelmeerflotte sei hinter ihm her, verlangt seiner Mannschaft noch einmal das Letzte ab, um die vermeintlichen Verfolger loszuwerden. Diesmal lässt er so lange Dampf aufmachen, bis buchstäblich die Kessel platzen. Mehrere Heizer der Goeben werden mit kochendem Wasser übergossen und erleiden tödliche Verbrühungen. Der Admiral ordnet außerdem an, alles für eine Sprengung der Schiffe vorzubereiten, um sie nach einem Gefecht, »wenn sie ganz zusammengeschossen sein würden, zu versenken, damit unter keinen Umständen eins in die Hand des Feindes falle«.4

Doch so weit kommt es nicht. Am Abend des 7.August 1914 erreichen Goeben und Breslau ungefährdet die Ägäis und nehmen Kurs auf die Dardanellen. Jetzt dreht auch die Gloucester ab und überlässt das Feld der gemächlich herandampfenden Mittelmeerflotte. Admiral Milne, der Souchons Absichten schon einmal falsch eingeschätzt hat, ist fest davon überzeugt, dass die Deutschen in der Ägäis in der Falle sitzen. Ohne jede Eile macht er sich auf die Suche nach seinem Gegner, um ihn zum entscheidenden Gefecht zu stellen. Erst als Milne endlich am späten Nachmittag des 10.August vor der kleinasiatischen Küste eintrifft und dort weit und breit keine Spur des deutschen Verbands zu entdecken ist, begreift der britische Admiral, dass Souchon ihm zum zweiten Mal entwischt ist.

Tatsächlich haben Goeben und Breslau nur wenige Stunden zuvor von den Türken die Erlaubnis erhalten, in die Dardanellen einzulaufen. Sie haben die rund 65Kilometer lange, von mächtigen Festungen gesäumte Meerenge passiert, die das Ägäische Meer mit dem Marmarameer verbindet. Vor ihnen erheben sich am Ufer die Kuppeln, Türme und Minarette der Stadt Konstantinopel. Nun lassen die beiden deutschen Kreuzer die Anker fallen. Sie haben ihr Ziel erreicht.

Wenig später erwarb die Türkei die Schiffe offiziell von ihrem neuen Bündnispartner Deutschland und integrierte sie unter den Namen Sultan Yawuz Selim und Midilli in die türkische Flotte. An den Masten der ehemals kaiserlichen Kreuzer wehte nun die Flagge des Osmanischen Reiches, die deutschen Matrosen trugen den Fes. Konteradmiral Souchon wurde zum türkischen Flottenchef ernannt und provozierte Ende Oktober 1914 durch die Beschießung russischer Schwarzmeerhäfen die Kriegserklärungen der Entente-Mächte Russland, Frankreich und Großbritannien an Konstantinopel. So trug er dazu bei, die zunächst zögerlichen Türken zum Kriegseintritt auf Seiten der sogenannten Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn zu bewegen. Während der folgenden drei Jahre widmete Souchon sich erfolgreich der Aufgabe, die türkischen Meerengen und damit die Seeverbindung nach Russland zu sperren.*Alle Versuche der Entente, die Dardanellen und den Bosporus von See aus zu erobern, scheiterten, ebenso eine große Offensive unter britischer Führung auf der Halbinsel Gallipoli im Sommer 1915.

Für seine spektakuläre Flucht in die türkischen Gewässer wurde Konteradmiral Souchon von Kaiser Wilhelm II. mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse ausgezeichnet. Die glücklosen britischen Befehlshaber Milne und Troubridge dagegen mussten sich vor einer Untersuchungskommission dafür verantworten, dass sie die deutschen Schiffe hatten entkommen lassen. Während Milnes Verhalten für einwandfrei erklärt wurde, stellte man den armen Troubridge vor ein Kriegsgericht. Er habe, so lautete der Vorwurf, als einziger britischer Offizier eine echte Chance gehabt, Souchon zum Gefecht zu stellen, und sie nicht genutzt. Der Admiral verteidigte sich damit, er habe lediglich den Befehl befolgt, seine Schiffe nicht gegen einen überlegenen Gegner einzusetzen. Am Ende erkannte das Gericht diese Argumentation an und sprach Troubridge frei. Doch sein Ruf innerhalb der Royal Navy war ruiniert. Troubridge durfte nie wieder ein Schiff kommandieren.

Seit der Seeschlacht von Trafalgar 1805 galt in der britischen Marine nämlich das eherne Diktum Nelsons: »Kein Kommandant kann etwas falsch machen, der sein Schiff längsseits an das des Feindes bringt.«5 Auch wenn er dabei untergeht. Dieses ungeschriebene Gesetz, das keinen überlegenen Gegner kennt, hatte Troubridge verletzt, auch wenn er formal richtig gehandelt hatte. Statt froh darüber zu sein, dass durch die Zurückhaltung des Admirals Schiffe und Menschenleben verschont geblieben waren, die sonst mit großer Wahrscheinlichkeit sinnlos geopfert worden wären, litt die Royal Navy noch viele Jahre lang unter diesem »beklagenswerten Schlag gegen das britische See-Prestige«.6

Als besonders schmerzvoll empfanden die Briten diesen Schlag aber vor allem deshalb, weil er der stolzen Royal Navy, der stärksten Kriegsmarine der Welt, die auf eine jahrhundertealte, ruhmreiche Vergangenheit zurückblicken konnte, von einer Nation zugefügt wurde, die wenige Jahre zuvor nicht einmal eine eigene Flotte besessen hatte. Erst unter dem neuen, jungen Kaiser Wilhelm II. hatten die deutschen »Landratten« angefangen, Schiffe zu bauen und von der Seemacht zu träumen. Schickten sie sich nun etwa an, diesen Traum wahr werden zu lassen?

Kapitel I

»Bitter not ist uns eine starke Flotte!«Der deutsche Traum von der Seemacht

Am frühen Morgen des 23.Juni 1914 schälten sich vor der nebelverhangenen Kieler Förde die Umrisse von vier gewaltigen Kriegsschiffen aus dem grauen Dunst. Am Heck der stählernen Giganten flatterten große weiße Fahnen mit einem roten Georgskreuz und dem Union Jack oben links in der Ecke. Es war das berühmte White Ensign, die Kriegsflagge der britischen Marine. Unter den neugierigen Blicken zahlreicher Schaulustiger liefen die vier Schiffe – sie hießen King George V., Ajax, Audacious und Centurion – nacheinander in den Kieler Hafen ein. Sie bildeten unter dem Kommando von Vizeadmiral Sir George Warrender das 2. Schlachtschiffgeschwader der Royal Navy. Begleitet wurden sie von den drei Leichten Kreuzern Southampton, Birmingham und Nottingham unter dem Kommando von Kommodore William E. Goodenough. In Kiel hatte man die Repräsentanten der stärksten Seemacht der Welt schon erwartet. Die Stadt stand ganz im Zeichen der Kieler Woche, und der Besuch des britischen Geschwaders sollte den Festlichkeiten einen besonderen Glanz verleihen.

Die deutschen Gastgeber waren eifrig darum bemüht, den englischen Offizieren und Mannschaften den Aufenthalt an der Ostsee so angenehm wie möglich zu machen. Sie organisierten Bälle, Feste und Sportveranstaltungen, für verheiratete britische Offiziere gab es Einladungen in die Privathäuser verheirateter deutscher Offiziere. Vizeadmiral Warrender verkehrte in den höchsten Kreisen. Er traf nicht nur Prinz Heinrich von Preußen, den jüngeren Bruder des Kaisers und seit 1909 Generalinspekteur der Marine, sondern auch den deutschen Flottenchef Admiral Friedrich von Ingenohl, den Staatssekretär des Reichsmarineamtes und Baumeister der deutschen Flotte, Großadmiral Alfred von Tirpitz, und schließlich an Bord der kaiserlichen Yacht Hohenzollern auch Kaiser Wilhelm II. persönlich. In Gesprächen, Reden und Trinksprüchen wurden immer wieder die lange Verbundenheit und die gute Kameradschaft zwischen der britischen und der deutschen Marine beschworen.

Auch als am 28.Juni die Nachricht von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo einen dunklen Schatten auf die Kieler Festwoche warf, blieb die Stimmung unter den Seeleuten freundschaftlich. Zwei Tage später lichtete das englische Geschwader die Anker und trat die Heimreise an. Auf den deutschen Schiffen wehte zum Abschied das Signal »Glückliche Reise«. Die Briten antworteten mit dem Funkspruch: »Friends in past and friends for ever!«1

Fünf Wochen später begann der Erste Weltkrieg.

Das eigentlich Erstaunliche an der Kieler Begegnung war aber nicht die Tatsache, dass sich dort Angehörige zweier Nationen ewige Freundschaft versprachen, die nur einen Wimpernschlag später zu Todfeinden wurden.

Nehmen wir an, einer der Besucher der damaligen Kieler Woche hätte die zwanzig Jahre zuvor so verbracht wie jener 76 Jahre alte Mann in Süddeutschland, der sich im Oktober 1914 bei den Behörden danach erkundigte, ob es denn stimme, was man sagen höre: dass ein großer Krieg ausgebrochen sei? Da er tief zurückgezogen im Wald lebte, ohne Post und Zeitung, hatte er von den umstürzenden Ereignissen in Europa erst erfahren, als ihm ein Tourist zufällig davon erzählte.2

Einem solchen Beobachter musste es geradezu unglaublich erscheinen, dass das Kaiserreich 1914 überhaupt eine Flotte besaß, die mit der britischen Flotte mithalten konnte. Denn während Großbritannien, die größte und stärkste Seemacht der Welt, seit Nelsons legendärem Sieg bei Trafalgar vor mehr als einem Jahrhundert unangefochten die Meere beherrschte, hatte Deutschland lange Zeit kaum einen Gedanken an seine Seestreitkräfte verschwendet. Eine Ausnahme war die im Revolutionsjahr 1848 von der Frankfurter Nationalversammlung ins Leben gerufene »Reichsflotte«. Mit dem Scheitern der Revolution war allerdings auch ihr Schicksal besiegelt, und die Schiffe, die als Symbol der deutschen Einheit gedacht gewesen waren, endeten schmählich unter dem Hammer eines Auktionators.

Für die maritime Zurückhaltung der Deutschen gab es gute Gründe. Das 1871 gegründete Deutsche Reich war, wie zuvor Preußen, eine klassische Kontinentalmacht; es verfügte über eine Tausende von Kilometern sich erstreckende Landgrenze, die es im Westen gegen Frankreich, im Osten gegen Russland zu schützen galt. Die Küstenlinie dagegen war vergleichsweise kurz und auch ohne starke Flotte leicht zu verteidigen. Über viele Jahre hinweg kam deshalb nahezu der gesamte Militäretat der Armee zugute, denn die Armee war es, die in drei Kriegen (gegen Dänemark, Österreich-Ungarn und Frankreich) die Einigung des Reiches erkämpft hatte. Die Marine war in keinem dieser Kriege sonderlich in Erscheinung getreten; den Seeleuten, die am Feldzug gegen Frankreich teilgenommen hatten, wurde diese Zeit nicht einmal als Kriegsdienst anerkannt. Nichts illustriert besser die geringe Bedeutung der Seestreitkräfte als die Tatsache, dass bis 1888 der Oberbefehl über die Kaiserliche Marine, wie seit 1871 ihre offizielle Bezeichnung lautete, in den Händen von Armeeoffizieren lag, nämlich der Generale Albrecht von Stosch und Leo von Caprivi.

Immerhin, eine kleine Flotte gab es, von Preußen mit ins Reich gebracht. Aufgebaut hatte sie der preußische Prinz Adalbert, ein Neffe des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. Ihm war es in erster Linie darum zu tun gewesen, Küste und Handel zu schützen. Weitergehende Absichten, gar eine Herausforderung der maritimen Vormachtstellung Englands, verfolgte er nicht. Im Gegenteil: Ganz bewusst suchte Adalbert Inspiration und praktische Unterstützung bei der von ihm bewunderten führenden Seemacht. Über mehrere Jahrzehnte hinweg leisteten die Briten so der deutschen Marine Entwicklungshilfe. Englische Firmen lieferten nicht nur Schiffe, Maschinen und Geschütze nach Deutschland, sondern auch Seekarten und nautische Instrumente. »Wir rankten uns sozusagen an der britischen Marine empor«, schrieb Admiral Tirpitz später über diese Zeit. »Man beschaffte lieber in England. Wenn eine Maschine sicher und ohne Störung arbeitete, ein Tau oder eine Kette nicht riß, dann war es bestimmt kein heimisches Werkstück, sondern ein Fabrikat aus englischen Werkstätten, ein Tau mit dem berühmten roten Faden der britischen Marine.«3

Die Royal Navy bildete bis 1865 auch eine ganze Reihe deutscher Offiziere aus. Viele von ihnen wirkten später an einflussreicher Stelle in der Kaiserlichen Marine. Schließlich gewährten die Briten der kleinen deutschen Flotte, die über keine eigenen Stützpunkte in Übersee verfügte, auch logistische Unterstützung und ermöglichten so erst den Einsatz deutscher Schiffe außerhalb von Nord- und Ostsee. Kurzum: England war und blieb »über ein halbes Jahrhundert der Meister, der mit wohlwollender Unterstützung seinem deutschen Lehrling den Weg über die Meere ebnete«.4

Diese Großzügigkeit konnten die Briten sich erlauben, weil die deutschen Schiffe aus strategischer Sicht lange Zeit eine zu vernachlässigende Größe für sie waren, kaum mehr als die harmlose Spielerei eines reichen, technikbegeisterten Landes. Wahre Gefahr drohte der britischen Seemacht zu jener Zeit eher von Russland und Frankreich, die beide seit den 1880er-Jahren konsequent ihre Kriegsflotten modernisierten. Gegen diese beiden Länder richtete sich deshalb auch der im Naval Defence Act von 1889 festgelegte »Two-Power-Standard«. Der besagte, dass die Royal Navy stets so stark sein müsse wie die beiden nächststärksten Flotten zusammen. England war bereit, gewaltige Anstrengungen zu unternehmen, um diesen Abstand zu wahren. Denn nur so würde es, wie man glaubte, von Bündnispartnern unabhängig bleiben, seine außenpolitische Optionsfreiheit behalten und für ein Gleichgewicht der Kräfte in Europa sorgen können. Das war die berühmte Politik der »Splendid isolation«, und sie sollte bald zu Ende sein.

Maßgeblichen Anteil daran hatten zwei Männer: der deutsche Kaiser Wilhelm II. und der von ihm zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes ernannte Konteradmiral Alfred Tirpitz. Der junge Monarch, der nach dem plötzlichen Tod seines Vaters, Kaiser Friedrichs III., 1888 im Alter von 29 Jahren den Thron bestiegen hatte, wollte eine neue Ära begründen und Deutschland in den Rang einer Weltmacht erheben. Lange genug hatte sich nach seiner und nach der Ansicht vieler Zeitgenossen das Reich in Zurückhaltung geübt und unter Otto von Bismarcks Führung eine eher kontinental ausgerichtete Politik verfolgt. Unterdessen hatten die anderen Großmächte die Welt unter sich aufgeteilt und eine Kolonie nach der anderen erworben. Damit sollte und musste nun Schluss sein, wenn Deutschland seinen Status im Konzert der Großmächte bewahren wollte. Der im Oktober 1897 von Wilhelm II. zum Staatssekretär des Auswärtigen Amtes ernannte Bernhard von Bülow formulierte den mit der neuen »Weltpolitik« verbundenen Anspruch so: »Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.«5

Es stand außer Frage, dass ein solcher Richtungswechsel der deutschen Außenpolitik sich auch und vor allem gegen Großbritannien richten musste, die Welt- und Kolonialmacht schlechthin. Dabei war es aber weniger die Tatsache an sich, »daß Deutschland nunmehr ungestüm und fordernd in die Reihe der imperialistischen Staaten zu drängen versuchte«, die das Reich in den kommenden Jahren zum erbitterten Kontrahenten Englands werden ließ.6 Viel bedrohlicher als die auftrumpfende Rhetorik deutscher Politiker musste aus englischer Sicht das militärische Mittel erscheinen, mit dem der Kaiser den Aufstieg Deutschlands zur Weltmacht erreichen wollte: der Bau einer mächtigen Schlachtflotte. Das und nichts anderes war die »Lizenz zum großen Spiel«.7

Der marinebegeisterte Monarch, der an der Seite seiner Großmutter, der britischen Königin Victoria, schon als kleiner Junge voller Bewunderung an den alljährlichen Paraden der Royal Navy teilgenommen hatte und als Kaiser mit Vorliebe Admiralsuniform trug, hatte zunächst an eine Flotte aus schnellen Kreuzern gedacht. Schiffe dieses Typs waren zwar im Vergleich zu herkömmlichen Schlachtschiffen schwächer gepanzert und bewaffnet, konnten aber dank ihrer Geschwindigkeit und ihrer großen Reichweite überall auf der Welt eingesetzt werden und noch vor den entlegensten Winkeln Afrikas und Asiens die deutsche Flagge zeigen.

Doch der Mann, den Wilhelm dazu ausersehen hatte, diese Flotte für ihn zu bauen, hatte andere Pläne. Konteradmiral Alfred Tirpitz war achtundvierzig Jahre alt, als er im Juni 1897 an die Spitze des Reichsmarineamtes berufen wurde. Zweiunddreißig davon hatte er in der Marine verbracht, zuletzt als Kommandant der kaiserlichen Kreuzerdivision in Ostasien. Im Laufe dieser langen Karriere hatte der Mann mit dem runden Schädel und dem grimmigen grauen Gabelbart seine eigenen Vorstellungen von einer deutschen Seemacht entwickelt. Und ganz offenkundig auch die Autorität, sie durchzusetzen. Es gelang ihm, den Kaiser davon zu überzeugen, dass die neue deutsche Flotte nicht aus Kreuzern, sondern aus schweren, »seemächtigen« Schlacht- oder Linienschiffen mit dicker Panzerung und großkalibrigen Geschützen bestehen müsse – ganz so, wie es der amerikanische Marinetheoretiker Alfred Thayer Mahan in seinem damals ungemein einflussreichen Buch ›The Influence of Sea Power upon History‹ postuliert hatte. Schon bald sollte auch der von Tirpitz bekehrte Wilhelm II. öffentlich verkünden: »Bitter not ist uns eine starke deutsche Flotte!«8

Die geringere Reichweite und Geschwindigkeit dieser Schiffe waren zu vernachlässigen, denn nach Tirpitz’ Auffassung war für Deutschland »der gefährlichste Gegner zur See England. Es ist auch der Gegner, gegen den wir am dringendsten ein gewisses Maß an Flottenmacht als politischer Machtfaktor haben müssen. ... Unsere Flotte muß demnach so eingerichtet werden, daß sie ihre höchste Kriegsleistung zwischen Helgoland und der Themse entfalten kann.« Er kam zu dem Schluss: »Die militärische Situation gegen England erfordert Linienschiffe in so hoher Zahl wie möglich.«9

Wenn Deutschland eine Flotte hatte, so Tirpitz’ Kalkül, mit der es England militärisch bedrohen konnte, dann müsste es auch politisch möglich sein, den deutschen Weltmachtanspruch einzulösen. Denn nur eine respekteinflößende Marine würde die Landmacht Deutschland in die Lage versetzen, für die Seemacht Großbritannien so gefährlich zu werden, dass man die Briten bewegen konnte, sich mit dem Reich zu arrangieren und ihm politische Konzessionen zu machen. Annäherung durch Abschreckung – das war der Grundgedanke dieses als »Tirpitz-Plan« in die Geschichte eingegangenen Konzepts.

Eine weitergehende offensive militärische Absicht, die darauf zielte, die britische Seeherrschaft und damit die britische Position im europäischen Gleichgewicht in Frage zu stellen, verfolgte der »Tirpitz-Plan« allem Anschein nach nicht, auch wenn dies immer wieder vermutet wurde und Tirpitz selbst noch 1894 in der strategischen Offensive »die natürliche Bestimmung einer Flotte« gesehen hatte.10 Im Zentrum des Flottenbaus stand vielmehr seine Funktion als politischer Hebel. Die »Stärkung unserer politischen Macht und Bedeutung gegen England« sei, so Tirpitz im Jahr 1897, die »Grundlage des Flottenplans«.11 Die konkreten militärischen Aufgaben der Flotte blieben dagegen relativ unklar; sie sollten ganz allgemein im Schutz der deutschen Küsten vor einem englischen Angriff liegen.

Wie groß musste die deutsche Flotte sein, um tatsächlich eine bedrohliche Wirkung auf die Briten zu entfalten? Als Antwort auf diese Frage entwickelte Tirpitz seine berühmte »Risikotheorie«. Sie besagte, die Flotte müsse mindestens so stark sein, dass das Risiko sie anzugreifen für »den seemächtigsten Gegner [gemeint war England] mit derartigen Gefahren verbunden ist, daß seine eigene Machtstellung in Frage gestellt wird«.12 Um diesem Anspruch zu genügen, durfte nach Tirpitz’ Rechnung die deutsche Flotte der englischen nicht schwächer gegenüberstehen als im Verhältnis 2:3.

Seine Planung sah vor, über einen Zeitraum von zwanzig Jahren jährlich durchschnittlich drei Schlachtschiffe (Linienschiffe oder Große Kreuzer) zu bauen, insgesamt also eine Flotte von sechzig großen Schiffen nebst den erforderlichen kleineren Einheiten (Kleine Kreuzer, Torpedoboote, später auch U-Boote) zu schaffen. Das war die Zahl, von der Tirpitz annahm – wissen konnte er es nicht –, dass die Briten sie keinesfalls um mehr als die Hälfte übertreffen könnten. Nach zwanzig Jahren im Dienst sollte außerdem jedes Schiff automatisch durch einen Neubau ersetzt werden, so dass die Flotte sich praktisch immer wieder und auf unbeschränkte Zeit von selbst erneuerte. »Äternat« nannten das die Zeitgenossen.

Eine solche Theorie aufzustellen war das eine. Sie Wirklichkeit werden zu lassen, etwas ganz anderes. Der »Tirpitz-Plan«, das wusste auch sein Schöpfer, würde Unsummen an Geld verschlingen, und ohne die Zustimmung des Reichstags, bei dem im deutschen System der parlamentarischen Monarchie das Haushaltsrecht lag, würde kein einziges Schiff vom Stapel laufen. Doch warum sollten die konservativen preußischen Agrarier, die durch die »gräßliche Flotte«13 ihre traditionelle Vorrangstellung bedroht sahen, oder die vor allem an sozialen Reformen interessierten Abgeordneten der SPD, die Ende des 19.Jahrhunderts schon über knapp ein Drittel der Sitze im Reichstag verfügten, Geld für eine »seemächtige« Flotte bewilligen? Zumal der von Tirpitz angestrebte Äternat den Parlamentariern langfristig diese Zuteilungskompetenz aus den Händen nehmen würde.** Tirpitz löste das Problem, indem er gar nicht erst versuchte, sein Ziel in einem einzigen Anlauf zu erreichen. Stattdessen ging er in mehreren Schritten vor, was seine Pläne schwerer zu durchschauen machte. Das erste Flottengesetz, das Tirpitz nur wenige Monate nach seinem Amtsantritt Ende 1897 im Reichstag präsentierte, war vergleichsweise moderat gehalten. Es setzte die Stärke der künftigen deutschen Schlachtflotte auf 19 Linienschiffe (Ersatzfrist: 25 Jahre), 12 Große Kreuzer (Ersatzfrist: 20 Jahre) und 30 Kleine Kreuzer fest.

Wichtiger als die absolute Zahl an Schiffen waren für Tirpitz zu diesem Zeitpunkt der nun sozusagen offiziell vollzogene Übergang zum Schlachtflottenbau und die langfristige Festlegung. Die Vorlage, vom Kaiser zur »nationalen Sache« erklärt, wurde am 28.März 1898 mit den Stimmen der bürgerlichen und konservativen Parteien angenommen; die Agrarier erhielten als Kompensation Schutzzölle für die Landwirtschaft. Die SPD und einige Liberale waren dagegen.

Zwei Jahre später war es dann vorbei mit der Bescheidenheit. Das zweite Flottengesetz, verabschiedet am 12.Juni 1900, erhöhte den zu erreichenden Bestand an Linienschiffen auf das Doppelte, also 38 Einheiten. Obwohl das Parlament statt der außerdem geforderten acht nur zwei weitere Große Kreuzer sowie acht Kleine Kreuzer bewilligt hatte, war die Annahme der Vorlage ein Triumph für Tirpitz und, nach Ansicht seines Biographen Patrick Kelly, der »Höhepunkt seiner Karriere«.14 Noch am selben Tag erhob ihn der überglückliche Kaiser in den Adelsstand. Erstmals erhielt von nun an die Marine bei der Zuteilung finanzieller Mittel Vorrang vor der Armee. Um sein Ziel vollständig zu erreichen und die Flotte technisch auf dem neuesten Stand zu halten, ergänzte Tirpitz die beiden Flottengesetze in den kommenden Jahren durch insgesamt drei Novellen: 1906, 1908 und 1912.

In diesem Zeitraum prägte der Chef des Reichsmarineamtes die deutsche Politik in einem Maße, das bei vielen Erinnerungen an Bismarck weckte, und nicht immer waren es gute. Möglich wurde das zum einen durch die fortwährende Unterstützung des Kaisers, der sich selbst nur zu gern als den Urheber von Tirpitz’ Erfolgen sah und diesem eine Machtstellung einräumte, die es Tirpitz immer wieder gestattete, seine Vorstellungen gegen den wachsenden Widerstand der politischen Reichsleitung durchzusetzen.

Zum anderen ließ Tirpitz nichts unversucht, um auch die Öffentlichkeit, deren Bedeutung als politische Größe er schon früh erkannt hatte, für die Flotte zu gewinnen. Dazu startete er eine breit angelegte, äußerst professionell gemanagte PR-Kampagne. »Überall in Deutschland wurden Massenveranstaltungen zugunsten des Flottenbaus organisiert, führende Männer aus Politik und Wirtschaft erhielten Einladungen zu Flottenparaden, Offiziere bemühten sich um das Wohlwollen von Reichstagsabgeordneten, populäre Zeitschriften und Bücher verherrlichten die Marinegeschichte, Marine-Uniformen kamen in Mode, besonders für Kinder, vor allem aber unterstützten Universitätsprofessoren in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit das Flottenprogramm.«15 Parallel dazu wurde 1898 auf Tirpitz’ Betreiben außerdem der Deutsche Flottenverein gegründet. Nur zwei Jahre später zählte der Verein bereits fast 250000 Mitglieder, 1914 waren es 1,1 Millionen.

Den Öffentlichkeitsarbeitern des Reichsmarineamtes kam zugute, dass man in kaum einer anderen europäischen Großmacht einen solchen Sinn für das Militärische hatte wie im Deutschen Kaiserreich. Das Offizierkorps der Armee galt als »erster Stand im Staate«, und in einer Welt, in der schon ein kleiner Leutnant »als junger Gott« auftreten mochte, trachteten viele Bürger danach, als Reserveoffiziere selbst an dem Prestige teilzuhaben, das »des Kaisers Rock« seinem Träger verlieh.16 In den allgegenwärtigen Kriegervereinen wurde nicht nur die Erinnerung an die Einigungskriege und die Reichsgründung wachgehalten, sondern auch »das militärische und nationalistische Denken an sich« gepflegt.17 Von dieser spezifischen gesellschaftlichen Grundhaltung profitierte auch die Marine.

Zudem wusste Tirpitz einflussreiche »nationale« Interessengruppen wie die Deutsche Kolonialgesellschaft und den Alldeutschen Verband auf seiner Seite, die schon lange von einem deutschen Weltreich träumten. Auch der mächtige Centralverband Deutscher Industrieller hatte nichts gegen den »Tirpitz-Plan« einzuwenden. Für die deutsche Schwerindustrie versprach er feste Aufträge auf Jahre hinaus.

Im Ergebnis führte all das dazu, dass zu Beginn des 20.Jahrhunderts Presse und Öffentlichkeit in Deutschland ein beinahe ebenso großes Interesse an der Marine zeigten, wie es auch in Großbritannien der Fall war, wo die Royal Navy als der für den Schutz und Zusammenhalt des British Empire zuständige Senior Service traditionell ein hohes Ansehen genoss. Stapelläufe und Schiffstaufen, die vor allem im Kaiserreich als »bedeutende imperiale Schauspiele« inszeniert wurden, lockten Hunderttausende von Zuschauern an. Millionen Briten gar sahen die große Flottenparade vor Spithead anlässlich des Diamantenen Thronjubiläums der Königin Victoria im Jahr 1897.18 Auf beiden Seiten der Nordsee waren die Menschen fasziniert von solchen Zurschaustellungen maritimer Macht; mit ihren mächtigen Rümpfen aus Panzerstahl und ihren gewaltigen Geschütztürmen versinnbildlichten die modernen Kriegsschiffe wie kaum etwas sonst den überragenden Stand von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik in den beiden führenden Industrienationen der Welt. Und mehr noch als für die Briten erfüllten sie für die Deutschen eine wichtige Funktion als Symbole einer über alle Landesgrenzen hinwegreichenden nationalen Identität.

Tirpitz’ größte Sorge nach der Verabschiedung der beiden Flottengesetze war es, dass England – wie hundert Jahre zuvor gegen die dänische Marine – einen Präventivschlag gegen die im Aufbau befindliche Flotte führen könnte. Es kam ihm daher darauf an, kein Aufsehen zu erregen, gegenüber Großbritannien eine zurückhaltende Politik zu verfolgen und die internationale Lage möglichst entspannt zu halten, bis die »Gefahrenzone« überwunden und man verteidigungsbereit war.

Bernhard von Bülow, im Oktober 1900 vom Staatssekretär des Auswärtigen Amtes zum Reichskanzler aufgestiegen, bemühte sich nach Kräften, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Doch auch er vermochte nicht zu verhindern, dass die Marine immer mehr ins Zentrum der britischen Aufmerksamkeit rückte und in der Folge die politischen Prämissen des »Tirpitz-Plans« schon bald ins Wanken gerieten.

Großbritannien, das durch den Bau der Flotte gezwungen werden sollte, Deutschland als gleichberechtigten Partner in der Welt anzuerkennen, reagierte nämlich ganz anders, als Wilhelm II. und Tirpitz angenommen hatten. Zum einen dachten die Briten gar nicht daran, sich enger an ihren Herausforderer zu binden. Als sich abzeichnete, dass die Ära der »Splendid isolation« ihrem Ende entgegenging, setzten die Briten sich nicht etwa mit dem Kaiserreich, sondern mit ihren alten Rivalen Frankreich und Russland an den Verhandlungstisch. 1904 schlossen London und Paris sich zur Entente Cordiale zusammen, drei Jahre später erweiterten sie das Bündnis zur Triple Entente mit dem Zarenreich. Den Deutschen, die diese Entwicklung als »Einkreisung« durch die anderen Großmächte wahrnahmen, blieb als einziger verlässlicher Verbündeter ihr alter Zweibund-Partner Österreich-Ungarn (über den Dreibund war das Reich zwar auch mit Italien verbunden, doch galten die Italiener als wankelmütig und erklärten sich, wie wir gesehen haben, ja auch für neutral, als der Krieg ausbrach).

Zum anderen, und das wog für Tirpitz fast noch schwerer, war die britische Regierung entschlossen, die Vormachtstellung der Royal Navy um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Der Mann, der mit dieser Aufgabe betraut wurde, war Admiral Sir John Fisher, der dreiundsechzig Jahre alte frühere Befehlshaber der britischen Mittelmeerflotte. Keine andere Persönlichkeit hat die britische Marine des 19. und 20.Jahrhunderts so intensiv geprägt wie John Fisher, den alle Welt nur »Jacky« nannte, und kein anderer hat sie so stark gespalten: Während die einen ihn als genialischen Reformer und Strategen verehrten, galten seine Vorstellungen und Ideen anderen als viel zu radikal.

1904 wurde Fisher zum Ersten Seelord der britischen Admiralität ernannt und war damit verantwortlich für die operative Leitung der Royal Navy. Über ihm stand nur noch der Erste Lord der Admiralität, ein Zivilist und Mitglied des Parlaments. Fisher leitete umgehend ein rigoroses Reformprogramm ein, das die Kriegsfähigkeit der Royal Navy in der Nordsee schlagartig erhöhte. Eine große Anzahl überalterter Kreuzer, Schaluppen und Kanonenboote ließ er einfach verschrotten. Außerdem sorgte er dafür, dass in Übersee stationierte britische Schlachtschiffe nach und nach in heimatliche Gewässer zurückverlegt wurden.

Die militärisch und historisch bedeutsamste Leistung Fishers aber bestand darin, dass er den internationalen Kriegsschiffbau gleichsam revolutionierte. Unter seinem maßgeblichen Einfluss wurde 1906 HMS Dreadnought fertiggestellt, ein Großkampfschiff neuen Typs, das mit einer Geschwindigkeit von 21 Knoten, einer Verdrängung von 17900 Tonnen, einem knapp 30cm starken Panzergürtel und zehn Geschützen (bisher waren vier üblich gewesen) des damals größten Kalibers 30,5cm jedem anderen Kriegsschiff auf der Welt an Kampfkraft weit überlegen war.

Damit waren auf einen Schlag große Teile der Flotten aller anderen Seemächte praktisch wertlos geworden. Zugleich hatte Fisher aber auch zahlreiche britische Schiffe in Alteisen verwandelt, wofür er von seinen Gegnern heftig kritisiert wurde. Zumal die technische Entwicklung in den nächsten Jahren so rasant voranschritt, dass bis zum Ausbruch des Krieges 1914 die Dreadnought selbst schon wieder veraltet war. Das im Oktober 1912 vom Stapel gelaufene Flaggschiff der britischen Flotte HMS Iron Duke etwa verdrängte bei einer Länge von 190 und einer Breite von 27Metern bereits 30000 Tonnen, lief 22 Knoten und trug zehn 34,3-cm-Geschütze.

Die Bezeichnung »Dreadnought«, wörtlich »Fürchtenichts«, wurde rasch zum Synonym für alle modernen Großkampfschiffe (ältere Modelle hießen fortan »Prä-Dreadnoughts«). Dazu zählten neben den Linienschiffen (englisch: Battleships) auch die Schlachtkreuzer (Battlecruisers). Sie lösten die bislang üblichen Großen Kreuzer oder Panzerkreuzer ab. Als erstes Schiff des neuen, wesentlich leistungsstärkeren Typs wurde 1908 die parallel zur Dreadnought entwickelte HMS Invincible in Dienst gestellt. Schlachtkreuzer waren noch einmal 20 bis 30Meter länger und einige Meter breiter als Linienschiffe. Ihre Panzerung war dünner und ihre Bewaffnung etwas schwächer, dafür erzielten sie deutlich höhere Geschwindigkeiten und hatten eine größere Reichweite. Komplettiert wurde das maritime Waffenarsenal durch die Kleinen Kreuzer (Light Cruisers), die ähnlich konzipiert waren wie die Schlachtkreuzer, nur wesentlich kleiner und schwächer bewaffnet; die Torpedoboote (Destroyer), kleine, wendige, schnelle Boote, die mit ihren unter der Wasserlinie verschossenen Torpedos eine beträchtliche Gefahr für die Großkampfschiffe darstellten; und schließlich durch die U-Boote (Submarines).

Angetrieben wurden die meisten Überwasser-Kriegsschiffe der damaligen Zeit mit Hilfe von Dampfturbinen. Der benötigte Wasserdampf entstand durch das Verbrennen von Kohle. Das bedeutete einen immensen Aufwand: Jedes Schiff musste ständig mehrere tausend Tonnen Kohle mit sich führen, und Hunderte von Heizern schufteten unter bisweilen kaum erträglichen Bedingungen in den dunklen, heißen und stickigen Kesselräumen. Vor allem die Briten setzten deshalb immer stärker auf Ölfeuerung, über die im Ersten Weltkrieg jedoch erst ein kleiner Teil der Schiffe verfügte.

Für Tirpitz war Fishers »Dreadnought-Sprung« eine Herausforderung, mit der er nicht gerechnet hatte. Doch blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sie anzunehmen. Denn nur wenn die Kaiserliche Marine ebenfalls Schiffe des neuen Typs baute, würde sie überhaupt eine Chance haben, mit der Royal Navy mitzuhalten. Das bedeutete aber auch, dass die ohnehin schon immensen Ausgaben für den Flottenbau in geradezu schwindelerregende Höhen getrieben wurden. Denn nicht nur die Baukosten für die Schiffe selbst stiegen jetzt um mehr als hundert Prozent (ein modernes Schlachtschiff des Dreadnought-Typs kostete rund 45 Millionen Mark), auch die Werft-, Hafen- und Dockanlagen sowie der Kaiser-Wilhelm-Kanal zwischen Nord- und Ostsee mussten für viel Geld erweitert werden, um die neuen Riesenschiffe überhaupt aufnehmen zu können. In den Jahren von 1905 bis 1914 verdoppelte sich so der Finanzbedarf der Marine und trug erheblich dazu bei, dass die Rüstungsausgaben des Kaiserreichs auf einen Anteil von nahezu neunzig Prozent des Gesamthaushaltes emporschnellten.19

Ein weiterer kritischer Punkt betraf das Personal. Je größer die Schiffe wurden, desto mehr Männer waren erforderlich, um die vielfältigen Aufgaben an Bord zu bewältigen. Auf einem Linienschiff taten rund 1100 Seeleute Dienst, auf einem Schlachtkreuzer sogar noch einige mehr. Während die Kaiserliche Marine zur Bemannung der Flotte auf Wehrpflichtige zurückgreifen konnte, die für jeweils drei Jahre eingezogen wurden, war die Royal Navy auf Freiwillige angewiesen, die sich für mindestens zwölf Jahre verpflichten mussten. Erst 1916, mitten im Krieg, wurde auch in Großbritannien die Wehrpflicht eingeführt.

Am deutlichsten zeigte sich das Personal-Problem bei der Rekrutierung des Offiziernachwuchses. Die Offiziere, genauer gesagt: die Seeoffiziere in den Rangstufen Leutnant bis Admiral, standen an der Spitze der maritimen Hierarchie. Ihnen war die Führung der Schiffe und die Verantwortung für Menschen und Material anvertraut, sie repräsentierten die Nation, wo auch immer auf der Welt sie mit ihren Schiffen in Erscheinung traten. Auf ihre sorgfältige Auswahl war deshalb sowohl in der deutschen wie in der britischen Marine stets besonderer Wert gelegt worden. In beiden Ländern konnte nur Seeoffizier werden, wer über die »richtige« Herkunft verfügte. Besonders gern genommen wurden Sprösslinge von Adligen und Offizieren, doch musste man wegen des stetig steigenden Bedarfs immer öfter auch auf Bewerber aus der höheren Beamtenschaft und dem Bürgertum zurückgreifen.

Als beispielsweise der spätere Großadmiral Karl Dönitz am 1.April 1910 in die Kaiserliche Marine eintrat, war er einer von 203 jungen Männern der Jahrgänge 1890 bis 1892, die nun die »Crew 1910« bildeten. Sie entstammten allesamt dem gehobenen Bürgertum; »ihre Väter waren Offiziere, Gymnasiallehrer, Ärzte oder Akademiker anderer Fachrichtungen, seltener Adelige, auf keinen Fall jedoch Angestellte in untergeordneter Stellung und schon gar nicht Arbeiter«.20

Ihre Ausbildung, deren Kosten das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Industriearbeiters um ein Vielfaches überstiegen, hatten die angehenden Offiziere, deutsche wie britische, aus eigener Tasche zu bezahlen. Auch auf diese Weise blieb sichergestellt, dass keine »unerwünschten Elemente« in den elitären Kreis der Seeoffiziere aufgenommen wurden. Andere Führungsgruppen, wie etwa die für die hoch komplexen Maschinenanlagen der modernen Großkampfschiffe zuständigen Marine-Ingenieure, waren den Seeoffizieren untergeordnet und galten in deren Augen meist auch als »Offiziere zweiter Klasse«.

Kaiserliche Marine

Royal Navy

Großadmiral

Admiral of the Fleet

Admiral

Admiral

Vizeadmiral

Vice-Admiral

Konteradmiral

Rear-Admiral

Kapitän zur See

Captain

Fregattenkapitän

Commander

Korvettenkapitän

Lieutenant-Commander

Kapitänleutnant

Lieutenant (senior)

Oberleutnant z.S. (zur See)

Lieutenant (junior)

Leutnant z.S.

Sub-Lieutenant

Seekadetten/Fähnriche z.S.

Naval Cadets/Midshipmen

Tabelle 1: Rangstufen der Seeoffiziere21

Für die deutschen Offiziere war der »Tirpitz-Plan« ein grandioses Geschenk. Durch ihn erfuhr die Marine, die so lange im Schatten der erfolgreichen Armee gestanden hatte, eine schier atemberaubende Aufwertung ihrer politischen und militärischen Bedeutung. Die Flotte war für die ganz »im Banne des Prestiges« (Klaus Hildebrand) stehenden Deutschen der Schlüssel zur »Weltpolitik«, und die Offiziere in den blauen Uniformen mit den goldenen Abzeichen und der Kaiserkrone auf den Ärmeln waren die von Wilhelm II. mit der Erfüllung dieser glanzvollen Aufgabe betrauten Männer. Dazu passte auch, dass alle Angehörigen der Marine dem Kaiser, der gemäß der Reichsverfassung von 1871 als »Oberster Kriegsherr« die Kommandogewalt über Heer und Marine besaß, einen persönlichen Treueid schwören mussten.

Wilhelm II. wiederum machte aus seiner Vorliebe für seine »blauen Jungs« keinen Hehl. Anlässlich der Eröffnung der neuen Marineschule in Flensburg-Mürwik im November 1910 sagte er: »Ich brauche nicht zu betonen, wie sehr Mir das Seeoffizierkorps, dessen Uniform Ich trage, ans Herz gewachsen ist. Ich kenne es von Meiner frühesten Jugend an. Ich habe es schätzen gelernt in seinen vortrefflichen Leistungen, in der Führung Meiner Schiffe im In- und Auslande und bei der ganzen Entwicklung der Marine. Ich liebe den Beruf, den Sie, Meine jungen Kameraden, sich gewählt, und Ich habe volles Empfinden für alles das Schöne und Stolze, was Ihnen dieser Beruf, namentlich in den frühzeitig erreichten selbständigen Stellungen bietet.«22

Mit vollem Recht hat der Historiker Holger Herwig die Seeoffiziere daher das »Elitekorps des Kaisers« genannt, das in der Gesellschaftsordnung des Kaiserreiches einen der Spitzenplätze einnahm, vergleichbar etwa dem Gardeoffizierkorps der preußischen Armee. Mit seiner Entscheidung, Marineoffizier zu werden, begab sich somit auch der junge Karl Dönitz auf den Weg »in höhere, wenn nicht höchste gesellschaftliche Kreise, die seinem Vater als Ingenieur nicht so selbstverständlich offen standen«.23

Die Offiziere dankten es »ihrem« Kaiser, indem sie einen dezidiert monarchisch-konservativen, anti-liberalen Habitus pflegten, der bei vielen in scharfem Kontrast zu ihrer bürgerlich-akademischen Herkunft stand. Sozialdemokratie wurde mit Revolution gleichgesetzt, die SPD stand im Ruf einer »vaterlandslosen«, systembedrohenden Partei, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen galt. »Schon der leiseste Verdacht sozialdemokratischer Neigungen konnte die Laufbahn eines Seeoffiziers beenden oder doch erheblich stören.«24

Anders als im autoritären System des deutschen Kaiserreichs, wo das Militär dem Einfluss des Reichstags weitgehend entzogen war, bestand in der parlamentarischen Demokratie Großbritanniens nicht der geringste Zweifel daran, dass die Royal Navy ungeachtet ihres königlichen Namens allein dem Parlament unterstand. Es fanden sogar »Inspektionen« der britischen Flotte durch die beiden Houses of Parliament statt, an denen der Monarch nicht teilnahm – im wilhelminischen Deutschland wäre so etwas völlig undenkbar gewesen. Das änderte aber nichts daran, dass die Offiziere der Royal Navy, von denen die meisten der konservativen Oberschicht entstammten und damit eo ipso zur Ruling class des britischen Weltreichs gehörten, politisch und sozial ähnlich elitär dachten wie ihre deutschen Berufskollegen. »Viele britische Seeoffiziere waren glänzende Seeleute, tapfere und einfallsreiche Anführer, aber in ihrer Gesamtheit waren sie eine kleine, reaktionäre, klassenbewusste und auf sich selbst bezogene soziale Gruppe.«25

Besonderes Kennzeichen der deutschen, aber auch der britischen Seeoffiziere war ein spezieller Ehrenkodex, in dessen Zentrum Begriffe standen wie Treue, Pflichterfüllung und Kampfesmut bis hin zur Bereitschaft, sein Leben für König und Vaterland zu opfern. »Die dem Kaiser eidlich gelobte Treue unverbrüchlich zu wahren und die Ehre der Flagge und Fahne rein und fleckenlos zu erhalten, ist die vornehmste Pflicht des Soldaten«, hieß es in den Kriegsartikeln der Kaiserlichen Marine, einer Art maritimem Gesetzbuch.26 Zu den Quellen, aus denen sich dieser archaisch anmutende Ehrbegriff speiste, gehörten antike Heldenepen ebenso wie mittelalterliche Rittersagen oder das Nibelungenlied. Für deutsche Offiziere war es bis ins 20.Jahrhundert hinein üblich, ihre Ehre im Duell zu verteidigen – soweit derjenige, der sie »verletzt« hatte, seinerseits ein Ehrenmann und damit »satisfaktionsfähig« war. Mit einem Arbeiter stritt man sich allenfalls vor Gericht. Während des Krieges bildete »Ehre« dann eines der wichtigsten Leitmotive für das Handeln und Verhalten der Seeoffiziere – mit zum Teil katastrophalen Folgen.