Unendlichkeit - Gabriel Josipovici - E-Book

Unendlichkeit E-Book

Gabriel Josipovici

4,8

Beschreibung

Dies ist ein ebenso komisches wie in Wahrheit tiefernstes Buch über einen großen Komponisten des letzten Jahrhunderts.Gabriel Josipovici hat ein überaus komisches Buch geschrieben, das das Leben durchschaut, um ins Herz aller Kunst zu zielen. Und zu treffen.»Ich hatte Glück, Massimo, sagte er zu mir, dass das einzige, wofür ich mich wirklich interessiert habe, die Frauen und die Musik waren. Indem die Frauen dich verletzen, bereichern sie dein Leben. Selbst meine Frau hat mein Leben bereichert.« Jener Massimo, der hier erzählt, von gelegentlichen Fragen unterbrochen oder ermuntert, war der Butler seines verstorbenen Herrn. Und dieser Herr, Tancredo Pavone, wird uns als einer der großen italienischen Komponisten des 20. Jahrhunderts vorgestellt (und der Kenner wird sein zusätzliches Vergnügen daran haben, hinter diesem Namen einen anderen zu ahnen). Ungewöhnlich in seinen Auffassungen, nicht zuletzt von Musik, war er so ungewöhnlich, wie einer sein muss, der in sich Unerhörtes hört und das zum Klingen bringen will.Der Butler, der seinem Herrn so nah wie fern war, hat nicht vergessen, was er gesehen und gehört hat, und so kann er von der großartigen Arroganz, der Eigensinnigkeit und Lebensneugier Pavones berichten, die aus diesem Nachkommen eines sizilianischen Adelsgeschlechts einen großen Klangerfinder gemacht haben.

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Unendlichkeit

© 2012 Gabriel Josipovici© der deutschsprachigen Ausgabe2012 Jung und Jung, Salzburg und WienDie Originalausgabe erscheint 2012 unter dem Titel»Infinity: The Story of a Moment«bei Carcanet Press Ltd. ManchesterAlle Rechte vorbehaltenDruck: CPI Moravia Books, PohoreliceISBN 978-3-99027-028-8

GABRIEL JOSIPOVICI

Unendlichkeit

Die Geschichte eines Augenblicks

Aus dem Englischen vonMarkus Hinterhäuser

Als erstes fragte ich ihn, wie es dazu gekommen war, dass er für Mr. Pavone arbeitete.

Ich habe erfahren, dass er jemanden suchte, sagte er.

Wie haben Sie das erfahren?

So etwas erfährt man eben.

Standen Sie vorher schon einmal in Diensten?

Ehrlich gesagt, mein Herr, hatte ich keine Arbeit. Ich war eine Zeitlang für meinen Schwager tätig, dann aber nicht mehr. Ich stellte –

Und warum nicht mehr?

So etwas kommt vor, mein Herr.

Natürlich. Was machten Sie für Ihren Schwager?

Sie baten mich, über Mr. Pavone zu sprechen.

Natürlich. Bitte fahren Sie fort.

Ich stellte mich Mr. Pavone vor, aber er sagte mir, dass die Stelle bereits vergeben sei. Er notierte sich dennoch meine Telefonnummer, und einige Tage später rief er an und bat mich, zu ihm kommen.

Und da bot er Ihnen die Stelle an?

Ja, mein Herr.

Welchen Eindruck machte Mr. Pavone auf Sie?

In welcher Hinsicht?

Wie wirkte er auf Sie?

Auf mich wirken?

Als Sie ihn zum ersten Mal trafen, ja.

Wissen Sie, mein Herr, Mr. Pavone gehörte zu einer ganz anderen Kategorie als die Herren, die Ihnen vielleicht geläufig sind. In erster Linie war er Sizilianer, verstehen Sie? Und sizilianische Signori, sizilianische Adlige, Mr. Pavone war nämlich ein Adliger, wissen Sie, mein Herr, der Abkömmling einer sehr adligen Familie, sizilianische Adlige sind ein ganz eigener Menschenschlag. Und darüber hinaus war er Künstler. Sie wissen, dass Künstler von Gott berufen sind, und dass sie, wenn ich so sagen darf, genauso seine Diener sind wie der Papst höchstpersönlich. Aber vor allem war er er selbst.

Was meinen Sie damit, er war er selbst?

Er war er selbst. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.

Aber ist nicht jeder von uns er selbst?

Nein, mein Herr, wenn ich so sagen darf, mein Herr. Nicht auf diese Weise.

Auf welche Weise?

Er war einzigartig.

In welcher Weise war er einzigartig?

In jeder Weise.

Können Sie mir ein Beispiel geben?

Er war es in jeder Weise. Ich habe niemals, in meinem ganzen Leben habe ich niemals einen Herrn wie ihn getroffen, und, wie Sie sehen, bin ich nicht mehr jung.

War es seine Erscheinung, die ungewöhnlich war, oder war es etwas anderes?

Nicht ungewöhnlich, mein Herr. Nein. Nicht ungewöhnlich.

Aber Sie sagten einzigartig.

Einzigartig, aber nicht ungewöhnlich.

Erklären Sie mir, was Sie damit meinen.

Sie hätten ihn kennen müssen, mein Herr, um es zu verstehen.

Aber ich habe ihn nicht gekannt. Deshalb frage ich Sie.

Ja, mein Herr.

Fahren Sie fort.

Wie möchten Sie, dass ich fortfahre?

Fahren Sie einfach fort. Beschreiben Sie ihn.

Er war sehr großgewachsen und dünn, zumindest machte er den Eindruck, sehr großgewachsen zu sein, obwohl er, ehrlich gesagt, nicht mehr als mittelgroß war, vielleicht sogar ein wenig kleiner, mit einer Adlernase und, zu jener Zeit, als ich anfing, bei ihm zu arbeiten, schwarzem Haar, so schwarz, dass es fast blau war, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ein Schwarz, das in gewissem Licht auch blau sein konnte.

Fahren Sie fort. Hören Sie nicht auf. Fahren Sie fort.

Wir Italiener haben alle schwarzes Haar, natürlich mit Ausnahme derer, die blond sind, aber Sizilianer haben schwärzeres Haar als die meisten, wenn Sie wissen, was ich meine.

Ja, ich verstehe. Also, fahren Sie fort.

Ja, mein Herr. Er kleidete sich immer sehr erlesen. Er hatte über hundert Anzüge in seinen Schränken. Es war meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie vor Motten geschützt waren und dass sie sauber und frisch blieben, weil er zu jeder Tages- und Nachtzeit – manchmal arbeitete er nämlich die Nacht hindurch, und manchmal brachte er die Nacht damit zu, durch die Straßen Roms zu spazieren – beschließen konnte, einen von ihnen anzuziehen. Es war meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er sie jederzeit anziehen konnte, ich musste darauf achten, dass der Anzug, hatte er ihn einmal getragen, gereinigt und gebügelt war, bevor er in den Schrank zurückgehängt wurde, für den Fall, dass er ihn bald wieder herausnehmen wollte. Und mit seinen Hemden war es das gleiche. Er erzählte mir, dass er, als er in den dreißiger Jahren in Wien lebte und Komposition bei Scheler studierte, seine Anzüge zum Reinigen immer nach London schickte, und auch seine Hemden, um sie waschen und bügeln zu lassen. Nur London, sagte er, bietet die für das Reinigen und Bügeln erforderlichen Standards, nur die englische Oberklasse weiß, was es bedeutet, einen fachgerecht gebügelten Anzug zu haben. Natürlich, sagte er, ist das nicht mehr der Fall. Heutzutage sind die Mitglieder der englischen Oberklasse auf der Flucht, sagte er, sie werden einer nach dem anderen davongejagt. In England wurde die Jagd auf wildlebende Tiere nach und nach abgeschafft, sagte er, aber die Jagd auf die englische Aristokratie wird mit immer größerer Grausamkeit betrieben. Die Engländer waren einmal das zivilisierteste Volk der Welt, sagte er, aber jetzt sind sie eines der barbarischsten. Die Franzosen sind das einzig verbliebene zivilisierte Volk, sagte er. Sie widerstehen der Barbarei Amerikas, der Barbarei der Neuen Welt, aber sie werden nicht ewig widerstehen können. Bald schon wird niemand mehr wissen, was das Wort Zivilisation bedeutet. Wir müssen uns von der Welt abwenden, wie die weisen Hindus das schon immer wussten, sagte er, weil die Welt niemals unserer Vorstellung davon, wie die Welt sein sollte, entsprechen wird. Wir müssen jeden Tag üben, sagte er, jeden Tag, Massimo, um unser Verlangen, die Welt zu einem besseren und zivilisierteren Ort zu machen, zu eliminieren, wir müssen lernen zu akzeptieren, dass sie immer nur ein schlechterer und ein unzivilisierterer Ort sein wird. Bald schon, sagte er, wird sogar die Erinnerung an vergangene Zivilisationen verschwunden sein, nicht in deinem Leben, Massimo, sagte er, und bestimmt nicht in meinem, aber sehr bald, sehr bald. Wir haben das Ende der neolithischen Periode erreicht, Massimo, sagte er. Erst jetzt haben wir das Ende des Neolithikums erreicht. Deine Kinder, Massimo, sagte er, werden nicht mehr wissen, dass die Milch von Kühen produziert wird, sie werden nicht einmal mehr wissen, was eine Kuh ist. Sie werden nur noch wissen, was ein Supermarkt ist, weil das der Ort ist, wo sie die Milch kaufen können. Wir treten also in eine neue Ära ein, sagte er. Nach dem Ende des Neolithikums haben wir die Ära des Synthetischen erreicht. Niemand wird mehr wissen, was ein Stein ist, niemand wird wissen, was ein Baum ist, niemand wird wissen, was eine Blume ist, niemand wird wissen, was die mathematische Formel für die Unendlichkeit ist. Aber warum sollten wir uns darüber Gedanken machen? Meine Aufgabe ist es, zu komponieren, und deine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass meine Hemden und meine Anzüge den höchsten noch geltenden Standards gemäß gereinigt und gebügelt werden. Ich sage nicht den höchsten Standards gemäß, sagte er, sondern den höchsten noch geltenden Standards gemäß. Verstehst du den Unterschied, Massimo? fragte er mich. Wenn du den Unterschied nämlich nicht verstehst, hat es gar keinen Sinn, dass ich dich anstelle.

Und, haben Sie den Unterschied verstanden?

Ich sagte ihm, dass ich, obwohl ich den Unterschied nicht verstanden hätte, sicher sei, dass es mir mit der Zeit gelingen würde.

Und, war er mit Ihrer Antwort zufrieden?

Das ist alles, was ich erwarten kann, sagte er. Das ist alles, was ich erwarten kann. Sie müssen wissen, mein Herr, dass Mr. Pavone, obwohl er heftig und herrisch erscheinen konnte, ein warmherziger Mensch war. Mir war das sofort klar. Und das ist der Grund, warum ich ihm so geantwortet habe. Ich verstehe nicht wirklich den Unterschied, sagte ich, aber ich bin sicher, dass ich mit der Zeit den Unterschied herausfinden werde, wenn ich bei Ihnen angestellt bleibe. Das ist alles, was ich als Antwort von dir erwarten kann, sagte er, und er zeigte mir die Schränke mit seinen Anzügen und mit seinen Schuhen und mit seinen Krawatten, er hatte tausende von Krawatten, zehntausende vielleicht. Annamaria wird dir sagen, wohin du sie zum Reinigen bringen sollst, sagte er. Früher einmal schickte ich sie zum Reinigen nach England, aber was sollte das heutzutage für einen Sinn haben? Sie würden dort so schlecht wie überall sonst gereinigt werden, es lohnt sich daher gar nicht, sie ins Ausland zu schicken. Genauso gut kann man sie hier in Rom außer Haus geben, sagte er, wo man sie im Auge behalten und sicherstellen kann, dass sie so gereinigt werden, wie man es sich erwartet. Was die Schuhe betrifft, sagte er, waren wir Italiener immer die Besten. Die Schuhmacher in Florenz sind im Design und der Herstellung von Schuhen unerreicht. Schon seit Generationen haben sie für die Wohlhabenden und die Anspruchsvollen Schuhe hergestellt, sagte er. Das ist eine Tatsache. Niemand stellt das in Abrede. Er hatte viele hundert Paar Schuhe, er zeigte sie mir alle. Du bist für meine Schuhe verantwortlich, Massimo, genauso wie für meine restliche Kleidung. Du musst dafür sorgen, dass sie stets sauber sind und dass die Sohlen erneuert werden, sobald sie auch nur das geringste Zeichen von Abnutzung zeigen. Niemand kann in schmutziger Kleidung arbeiten, sagte er, oder mit Schuhen, die voller Löcher sind, oder mit Absätzen, die bei dem einen Schuh abgenutzter sind als bei dem anderen. Denk nur, was das für die Arbeit bedeuten würde, sagte er. Wenn du aufstehst, um einen Schluck Wasser zu trinken oder um einem menschlichen Bedürfnis nachzugehen, und ein Absatz wäre niedriger als der andere, was zur Folge haben würde, dass du humpelst, wenn du das Zimmer durchquerst, denk nur, was das für die Musik bedeuten würde. Denk nur, wie dieses Humpeln, wenn du zu deinem Schreibtisch zurückkehrst, sich in deinem Körper eingenistet hätte und in der Musik, die du gerade schreibst, wieder auftauchen würde. Wir wollen keine Musik, die humpelt, sagte er. Wir wollen Musik, die mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Wir wollen Musik, die tanzt, nicht Musik, die sich mal zu der einen und mal zu der anderen Seite neigt, Musik, die kriecht, und Musik, die humpelt. Wir hatten schon genug von dieser Art Musik, von Wagner und von Mahler und von all diesen anderen humpelnden Deutschen mit ihrer Besessenheit von Bergen und Seen. Weißt du, warum sie so besessen von Bergen und Seen waren, Massimo? sagte er. Weil ihre Seelen tuberkulös waren. Sogar wenn ihre Beine intakt waren, waren ihre Seelen kontaminiert, sagte er. Diejenigen von uns, die nicht von der deutschen Krankheit befallen sind, sagte er, finden es vollkommen zulässig, ja sogar mehr als zulässig, inmitten einer Stadt wie Rom zu leben und das ganze Jahr hindurch keinen Berg und keinen See zu sehen. Nur diejenigen, deren Seelen tuberkulös sind, müssen sich etwas beweisen und ihre Zeit in den Bergen verbringen, müssen über Blumen und Bächlein und all das schreiben, bis alle Blumen und Bächlein und Berge der Welt sich erheben und laut ausrufen: Genug! Lass uns in Frieden! Deutsche Komponisten waren so damit beschäftigt, ihre Seelen auszulüften, sagte er, dass sie vergaßen, ihre Kleidung auszulüften. Ich rede nicht von der Kleidung eines Beethoven, sagte er, die er eine ganze Woche lang nicht wechselte und in der er oft schlief, ich denke auch nicht an die Kleidung armer Verrückter wie Schumann und Wolf, die sich auf ihre Kleidung erbrochen und in ihre Hosen gemacht haben, ich rede von der übelriechenden Kleidung ehrbarer Bürger wie Brahms und Strauss, Unterhemden und Hemden und Westen und Jacken und Mäntel und Krawatten und Schals und Handschuhe und Hüte, alles muffig, alles modrig, mit dem muffigen und modrigen Geruch der deutschen Mittelklasse, dem Geruch von Schweiß und Parfüm und Tabak und Rechtschaffenheit und Trübsal. Eine Regel in der Kunst, Massimo, sagte er, ist, dass die Kleidung sauber sein muss, wenn die Arbeit sauber werden soll. Das war das Problem mit meiner Frau, sagte er. Sie war eine schöne Frau, aber sie war eine Schlampe. Sie wusch ihren Körper, und sie kaufte teure Kleider, aber in Wahrheit kümmerte sie sich nicht um ihre Kleider. Waren sie schmutzig, kaufte sie neue, es war ein Vorwand, um sich neue zu kaufen. Sie rieb ihren Körper mit allen möglichen Cremes ein, und sie wusch sich mit Milch, als es Mode war, aber in Wahrheit war sie schmutzig. Kennst du den Unterschied, Massimo, zwischen dem wirklich Wesentlichen und dem Unwesentlichen? Wenn nicht, hat es gar keinen Sinn, dass du für mich arbeitest.

Es ist alles eine Frage der Kultiviertheit, sagte er. Das Wesensmerkmal der sizilianischen Aristokratie ist ihre Kultiviertheit, sagte er, der Großteil der europäischen Aristokratie aber kam nie über seine ungehobelte Herkunft hinaus. Meine Frau konnte ihre Familie bis zu Richard Löwenherz zurückverfolgen, sagte er, aber es war eine Familie, die ihre Wurzeln in den Schweineställen Zentraleuropas hatte und die weder die Qualitäten der Bourgeoisie noch die der wirklichen Aristokratie geerbt hatte. Nur im Orient, sagte er, sind die Menschen auf ganz selbstverständliche Weise schön, auf ganz selbstverständliche Weise anmutig, auf ganz selbstverständliche Weise sauber. Im Orient, sagte er, wird jemand den Reis mit der Hand aus seiner Schüssel essen, und diese Hand wird sauberer sein, als wenn er mit Messer und Gabel gegessen und seine Hände mit einer Serviette aus feinstem Linnen abgewischt hätte. Jemand wird sich in einer Ecke eines öffentlichen Platzes hinhocken und seinen Darm entleeren, sagte er, und seinen Hintern mit der Hand abwischen, und diese Hand wird sauberer sein, als wenn er zu Hause auf seiner Toilette gesessen hätte – mit verschlossener Tür und auf einem Bord ein hübsches Bouquet, damit die Toilette voll ist vom Duft der Blumen – und er seinen Hintern mit weichem Toilettenpapier abgewischt und danach seine Hände mit warmem Wasser und duftender Seife gewaschen hätte. Sauberkeit ist eine Gepflogenheit des Geistes, Massimo, sagte er zu mir, sie ist das Resultat einer Lebensweise. Man kann sie sich nicht nur häppchenweise zu eigen machen, so wie es im Westen geschieht, wo wir uns alles nur häppchenweise zu eigen machen. Wir haben heißes und kaltes Wasser, um uns damit zu waschen, und Gas- und Elektroherde, um damit zu kochen, und Banken, um unser Geld aufzubewahren, und Rechtsanwälte für unsere juristischen Angelegenheiten und Buchhalter für unsere steuerlichen Angelegenheiten, und wir haben Läden jeglicher Art, um jede erdenkliche Laune und jedes erdenkliche Verlangen zu befriedigen, aber wir haben kein Zentrum und keine Mitte, alles bleibt voneinander getrennt, und wenn wir ein ganzes Leben damit zugebracht haben, diese und jene Laune, dieses und jenes Verlangen zu befriedigen und dieses und jenes und was auch immer zu kaufen, sterben wir so leer und dumm wie am Tag unserer Geburt, wenn nicht sogar noch leerer und dümmer, aber das Verlangen lebt weiter, als hätte es ein Eigenleben, und die Outlets, mit denen man dieses Verlangen zu befriedigen oder zumindest teilweise zu befriedigen versucht und die man zu diesem Zweck im Westen errichtet hat, machen sich das natürlich zunutze, schnüren ihm aber vollkommen die Luft ab.

Weißt du, was ein Roller ist, Massimo, fragte er mich. Ein Roller ist jemand, der auf eine Pilgerreise geht, oftmals über viele tausend Meilen, durch Morast und Wüste, durch Städte und über Berge, und er läuft nicht, er geht auch nicht, er wälzt sich. Ich habe viele solcher Roller angetroffen, als ich in Indien und Nepal war, sagte er. Es hatte keine Bedeutung für sie, wie lange sie brauchten, um ihr Ziel zu erreichen. Es hatte keine Bedeutung für sie, ob sie dafür ein Jahr brauchten oder fünf Jahre oder ein ganzes Leben. Sie nahmen das Tuch von ihren Schultern und hielten es, während sie sich vorwärts wälzten, mit den Händen über ihre Köpfe gespannt, um zu vermeiden, in einem Graben zu landen. Es hielt sie in der Balance. Balance, Massimo, sagte er, ist die Grundvoraussetzung für jeden, der sich vorwärts wälzt. Ohne Balance landet man im Graben, und man kommt überhaupt nicht voran. Aber hat man einmal die Balance gefunden, sagte er, kann man sich jeden Tag viele Meilen vorwärts wälzen. Probier es aus, Massimo, sagte er. Probier es aus in deiner freien Zeit. Du wirst feststellen, dass es nahezu unmöglich ist, sich in einer geraden Linie vorwärts zu wälzen. Das ist der Grund für das Tuch, Massimo, sagte er, wenn du ein Tuch zwischen beiden Händen über deinem Kopf gespannt hältst, wird es dir gelingen, dich in einer geraden oder nahezu geraden Linie vorwärts zu wälzen, allerdings muss man die Prellungen an deinen Ellenbogen und Oberarmen gesehen haben, um es glauben zu können. Manchmal sind die Prellungen und die Schnittwunden an Armen und Beinen sowie am ganzen Körper derart schlimm und die Wunden derart entzündet, dass sie aufhören müssen, um zu genesen, manchmal monatelang. Aber sie machen immer weiter, Massimo, sagte er, sie machen immer weiter. In der Regel, sagte er, geht ihnen jemand voraus, dessen Aufgabe es ist, den Boden vor ihnen zu fegen, um die spitzesten Steine zu entfernen und auch um Ameisen und Würmer und andere Insekten zu entfernen, damit sie, während sie sich vorwärts wälzen, in gar keinem Fall eine Ameise oder einen Wurm zertreten. Eine Ameise oder ein Wurm, sagte er, sind es genauso wert, am Leben zu sein, wie jedes menschliche Wesen. Das Grundlegende, was es zu verstehen gilt, ist, dass das, was dem Leben seine besondere Qualität gibt, ohne die man nichts ist, die Erkenntnis dessen ist, dass man so viel oder so wenig wert ist wie jede Ameise oder jeder Wurm. Hat man das einmal begriffen, Massimo, sagte er, ergibt sich alles andere von selbst. Sich tausende Meilen vorwärts zu wälzen, durch Morast und Wüste, durch Städte und über Berge und auf seinem Weg Spinnen und Ameisen und Käfer und Mücken zu zertreten und zu zerquetschen, ist verwerflicher als überhaupt nicht auf eine Pilgerreise zu gehen, und das ist der Grund, warum ihnen jemand voraus geht, ganz gleich, ob im Morast oder in der Wüste, in der Stadt oder im Gebirge, jemand, der den Boden fegt und ihn von jeglichen Lebewesen befreit, und sie wälzen sich vorwärts, ihm nach, Minute um Minute und Stunde um Stunde und Tag um Tag und Monat um Monat und Jahr um Jahr, und schließlich erreichen sie ihr Ziel, sie erreichen das Ziel ihrer Pilgerreise, den Schrein des Heiligen. Ich habe während meines kurzen Aufenthalts in Indien und Nepal viele dieser Roller angetroffen, sagte er, und ich muss sagen, dass sie einen lebhaften Eindruck auf mich machten.

Er war still.

Nach einer Weile sagte ich: Fahren Sie fort.

Ja, mein Herr, sagte er. Wie möchten Sie, dass ich fortfahre?

Wie Sie wollen, sagte ich.

Ja, mein Herr, sagte er, aber er fuhr nicht fort.

Sprach er oft über seine Frau? fragte ich ihn schließlich.

Nicht oft, sagte er, aber manchmal. Als ich ihn besser kennenlernte, als er begann, mich ins Vertrauen zu ziehen.

Was sagte er?

Er sagte, dass sie die schönste Frau war, der er je begegnet ist. Schönheit sollte man nicht verachten, Massimo, sagte er. Sie ist zwar ein Geschenk wie jedes andere und kein Verdienst, aber dennoch ein Geschenk und sollte auch als solches gepriesen werden. Er ist vielen schönen Frauen begegnet, sagte er, und mit ziemlich vielen von ihnen hatte er eine Affäre. Es ist immer eine Katastrophe, sagte er, sollte aber niemals ein Grund zur Reue sein. Schönheit ist ein Geschenk, sagte er, sie ist aber auch ein Fluch. Sie ist ein Fluch für diejenige, die Nutznießerin dieses Geschenks ist, und sie ist ein Fluch für jeden, der mit ihr in Berührung kommt. Weil die Person, die schön ist, nicht weiß, wo das Geschenk herrührt, und es nicht mit sich in Verbindung bringen kann. Deshalb verliebt sie sich in sich, wenn sie sich im Spiegel sieht, aber sie weiß nicht, wer diese Person ist, in die sie sich verliebt hat, und sie bringt ein ganzes Leben damit zu, es herauszufinden. Sie hofft, dass die Männer, die in ihren Bann geraten, es ihr offenbaren können, doch wenn sie feststellt, dass sie genauso im Dunkeln tappen wie sie selbst, wird sie wütend und enttäuscht und sucht sich einen anderen Mann, damit er es ihr erklärt. Aber die Männer sind von ihrer Schönheit genau deshalb angezogen, weil sie eben unerklärlich und unvernünftig ist. Sie sind wie Motten um das Licht, und früher oder später fliegen sie zu nah heran, und dann erwischt sie die Flamme, und sie verschrumpeln und sterben. Das ist der Grund, warum schöne Frauen immer angespannt sind, sagte er, und warum sie immer kapriziös und launisch sind. Sie wissen nicht, was sie wollen, sagte er. Sie versuchen, mit dieser Schönheit zu leben, und können es nicht. Sie können nicht mit ihr leben, und sie können sie nicht unbeachtet lassen, deshalb leben sie in einer ständigen Verwirrung und Frustration, sie versenden kleine Pfeile in die Welt, in der Hoffnung, ihrer zufällig habhaft zu werden, stellen aber nur fest, dass sie wieder einmal enttäuscht wurden. Die erste schöne Frau, in die ich mich verliebte, Massimo, sagte er, war meine Cousine Lara. Ich sah ihre kleinen Brüste knospen und dann wachsen, und ich hätte bereitwillig mein Leben hergegeben, um sie nackt zu sehen und mit meinen Händen über ihre Brüste zu streichen. Aber ich brauchte mein Leben gar nicht herzugeben, sagte er, sie war nur allzu bereit, sie mir zu zeigen und meine Hand darüber streichen zu lassen, für nichts. Ich wähnte mich im Himmel, sagte er, aber schon bald fand sie, dass meine Liebkosungen ihr nicht das gaben, wonach sie zu suchen glaubte, und als ich sie das nächste Mal berührte, ohrfeigte sie mich. Ich hätte meine Lektion damals lernen sollen, Massimo, sagte er, aber ich brauchte noch einmal dreißig Jahre und viele solcher Schmerzen und Enttäuschungen mehr, bevor es mir gelang.

Er war still. Fahren Sie fort, sagte ich.

Ja, mein Herr, sagte er.

Da er immer noch abgeneigt schien fortzufahren, fragte ich ihn: Sprach er oft so mit Ihnen?

Wie „so“?

Über so … intime Dinge.

Nicht am Anfang natürlich, sagte er, aber später, als er erkannte, wie verlässlich ich war und wie sehr ich ihn bewunderte und respektierte. Dann sprach er mit mir über Gott und die Welt. Vor allem, wenn wir in die Campagna hinausfuhren. Sogar über Musik, obwohl er wusste, dass ich bei diesem Thema ziemlich unwissend war.

Was sagte er?

Über was?

Über Musik.

Er sprach darüber, Sie wissen, wie das ist.

Aber ich frage Sie.

Über Musik?

Ja.