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Glennon Doyle

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Beschreibung

Seit ihrem zehnten Lebensjahr strebt Glennon Doyle danach, gut zu sein: eine gute Tochter, eine gute Freundin, eine gute Ehefrau - so wie die meisten Frauen schon als Mädchen lernen, sich anzupassen. Doch statt sie glücklich zu machen, hinterlässt dieses Streben zunehmend ein Gefühl von Müdigkeit, Über- und Unterforderung. Glennon - erfolgreiche Bestsellerautorin, verheiratet, Mutter von drei Kindern - droht, sich selbst zu verlieren. Bis sie sich eines Tages Hals über Kopf in eine Frau verliebt - und endlich beschließt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Glennon Doyle zeigt uns, was Großes geschieht, wenn Frauen aufhören, sich selbst zu vernachlässigen, um den an sie gestellten Erwartungen gerecht zu werden, und anfangen, auf sich selbst zu vertrauen. Wenn sie auf ihr Leben schauen und erkennen: Das bin ich. Ungezähmt.

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Seitenzahl: 414

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Glennon Doyle

Ungezähmt

 

 

Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld

 

Über dieses Buch

Seit ihrem zehnten Lebensjahr strebt Glennon Doyle danach, gut zu sein: eine gute Tochter, eine gute Freundin, eine gute Ehefrau – so wie die meisten Frauen schon als Mädchen lernen, sich anzupassen. Doch statt sie glücklich zu machen, hinterlässt dieses Streben zunehmend ein Gefühl von Müdigkeit und Unzufriedenheit. Glennon – erfolgreiche Bestsellerautorin, verheiratet, Mutter von drei Kindern – droht, sich selbst zu verlieren. Bis sie sich eines Tages Hals über Kopf in eine Frau verliebt – und endlich beschließt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. «Das tat ich, indem ich all die Teile von mir wieder auferstehen ließ, denen ich zu misstrauen gelernt hatte, die ich versteckt und im Stich gelassen hatte, damit andere sich wohlfühlen: Meine Gefühle. Meine Intuition. Meine Vorstellungskraft. Meinen Mut.»

Vita

Glennon Doyle ist Bestsellerautorin, renommierte Aktivistin sowie Gründerin und Präsidentin von Together Rising, einer von Frauen geführten gemeinnützigen Organisation. Oprah Winfrey gehört zu ihren Unterstützerinnen, genauso wie Elizabeth Gilbert und Reese Witherspoon. Glennon Doyle lebt mit ihrer Familie in Florida.

 

Sabine Längsfeld übersetzt bereits in zweiter Generation Literatur verschiedenster Genres aus dem Englischen in ihre Muttersprache. Zu den von ihr übertragenen AutorInnen zählen unter anderem Anna McPartlin, Sara Gruen, Malala Yousafzai, Amitav Ghosh und Simon Beckett.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel «Untamed» bei The Dial Press, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Untamed» Copyright © 2020 by Glennon Doyle

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich,

nach dem Original von Penguin Random House; Design: Lynn Buckley

Coverabbildung Leslie David

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00972-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für jede Frau, die sich selbst zu neuem Leben erweckt

Für die Mädchen, die niemals begraben werden

 

Besonders für Tish

PrologGepardin

Im Sommer vor zwei Jahren war ich mit meiner Frau und unseren Töchtern im Zoo. Beim Spaziergang über das Gelände entdeckten wir ein Schild mit dem Hinweis auf das Ereignis im Park: das Gepardenrennen. Wir gingen an den Familien vorbei, die sich bereits die besten Plätze suchten, und fanden irgendwo entlang der Strecke eine freie Stelle. Amma, unsere Jüngste, ergatterte den besten Aussichtspunkt, auf den Schultern meiner Frau.

Eine dynamische junge Mitarbeiterin in Khakiweste erschien. Sie hielt ein Megaphon in der Hand und hatte einen hellbraunen Labrador-Retriever an der Leine. Ich war verwirrt. Ich kenne mich mit Tieren nicht besonders gut aus, aber falls sie vorhatte, meinen Kindern den Hund als Gepard zu verkaufen, wollte ich mein Geld zurück.

Dann war es so weit. «Willkommen! Gleich geht es los, und ihr lernt unsere Gepardendame Tabitha kennen. Glaubt ihr, das hier ist Tabitha?»

«Neeeeeiiiin!», schrien die Kinder im Chor.

«Das hier ist Minnie. Minnie ist ein Labrador und Tabithas beste Freundin. Wir haben die beiden zusammengebracht, als Tabitha noch ein kleines Baby war, und haben sie zusammen aufgezogen. Minnie hat uns geholfen, Tabitha zu zähmen. Tabitha will alles machen, was Minnie macht.»

Die Tierpflegerin zeigte auf den Jeep, der hinter ihr parkte. An der Ladeklappe hing an einem ausgefransten Seil ein rosarotes Stoffkaninchen.

Sie fragte: «Wer von euch hat einen Labrador zu Hause?»

Kleine Hände schossen in die Höhe.

«Und wessen Labrador liebt es zu jagen?»

«Meiner!», riefen die Kinder.

«Genau. Und Minnie jagt am liebsten dieses Kaninchen! Wir machen jetzt Folgendes: Zuerst absolviert Minnie den Gepardenlauf, und Tabitha sieht zu, damit sie sich erinnert, wie es geht. Dann zählen wir alle zusammen rückwärts, ich mache Tabithas Käfig auf, und sie rennt los. Und am Ende der Bahn, hundert Meter da entlang, wartet ein köstliches Steak auf sie.»

Die Tierpflegerin deckte Tabithas Käfig ab und brachte die vor Vorfreude hechelnde Minnie zur Startlinie. Sie gab dem Fahrer ein Zeichen, und der Jeep fuhr los. Dann machte sie die Leine los, und wir sahen zu, wie ein hellbrauner Labrador fröhlich hinter einem dreckigen rosaroten Stoffkaninchen herrannte. Die Kinder klatschten begeistert. Die Erwachsenen wischten sich den Schweiß von der Stirn.

Dann war Tabithas großer Moment gekommen. Zusammen zählten wir rückwärts: «Fünf, vier, drei, zwei, eins …» Die Tierpflegerin öffnete den Käfig, und das Kaninchen startete die nächste Runde. Tabitha schoss heraus, völlig auf das Stofftier fokussiert, ein verschwommener, gefleckter Pfeil. Binnen Sekunden hatte sie die Ziellinie erreicht. Die Wärterin pfiff und warf ihr ein Steak zu. Tabitha angelte sich ihre Belohnung mit großen Pranken aus der Luft, kauerte sich in den Staub und machte sich darüber her, während die Menge klatschte.

Ich klatschte nicht. Mir war mulmig zumute. Die Dressur von Tabitha kam mir … vertraut vor.

Ich sah der Gepardin zu, die im Staub des Zoos an ihrem Steak kaute, und dachte: Tag für Tag jagt dieses wilde Tier dreckstarrenden rosa Kaninchen hinterher auf dem wohlvertrauten, schmalen Trampelpfad, den man zu diesem Zweck für sie freigemacht hat. Kein Blick nach links, kein Blick nach rechts. Erwischt nie das verfluchte Kaninchen und begnügt sich stattdessen mit gekauftem Steak und dem gelangweilten Applaus verschwitzter Fremder. Gehorcht jedem Befehl ihrer Wärterin, genau wie Minnie, die Labradorhündin, die sie zu sein glaubt, weil man sie dazu gebracht hat. Nicht ahnend, dass sie, würde sie sich ihrer Wildheit erinnern – nur einen Augenblick lang –, sämtliche Zoowärterinnen[*] in Fetzen reißen könnte.

Als Tabitha ihr Steak gefressen hatte, öffnete die Tierpflegerin ein Gatter zu einem kleinen umzäunten Gehege. Tabitha durchschritt das Tor, und die Wärterin schloss es hinter ihr. Dann nahm sie das Megaphon und bat um Fragen. Ein Mädchen, vielleicht neun Jahre alt, hob die Hand und fragte: «Ist Tabitha nicht traurig? Vermisst sie die Wildnis nicht?»

«Es tut mir leid, ich kann dich nicht hören», sagte die Tierpflegerin. «Kannst du das bitte wiederholen?»

Die Mutter des Mädchens sagte mit lauterer Stimme: «Sie will wissen, ob Tabitha die Wildnis vermisst.»

Die Zoowärterin lächelte. «Nein», sagte sie. «Tabitha ist hier geboren. Sie kennt es nicht anders. Sie hat die Wildnis nie erlebt. Tabitha hat bei uns ein gutes Leben. Hier ist es für sie viel sicherer als draußen in der Wildnis.»

Während die Tierpflegerin uns mit Fakten über in Gefangenschaft geborene Geparden beglückte, stieß Tish, meine ältere Tochter, mich in die Seite und zeigte auf Tabitha. In ihrem Gehege, abseits von Minnie und den Wärtern, hatte Tabitha plötzlich eine völlig andere Körperhaltung angenommen. Sie trug den Kopf hoch und stolzierte über das Gelände, immer an der vom Zaun gesetzten Grenze entlang. Zurück und vor, zurück und vor. Ab und zu blieb sie stehen und richtete den Blick in die Ferne jenseits des Zauns. Es war, als würde sie sich an etwas erinnern. Sie sah majestätisch aus. Und ein bisschen angsteinflößend.

Tish flüsterte mir zu: «Mommy! Sie ist wieder wild geworden.»

Ich nickte zustimmend und sah Tabitha weiter beim Stolzieren zu. «Was geht gerade in dir vor?», hätte ich sie gern gefragt.

Ich wusste, was sie antworten würde. Sie würde sagen: «Mit meinem Leben stimmt was nicht. Ich spüre Unruhe und Frustration in mir. Ich habe das Gefühl, eigentlich müsste doch alles viel schöner sein. Ich sehe endlos weite Savannen ohne Zäune vor meinem inneren Auge. Ich will rennen und jagen und töten. Ich will unter einem tintenschwarzen, mit Sternen übersäten, stillen Himmel liegen. Es ist so echt, dass ich es schmecken kann.»

Dann würde sie sich zu dem Käfig umdrehen, dem einzigen Zuhause, das sie je kennengelernt hat. Sie würde die lächelnden Zoowärter ansehen, die gelangweilten Besucher und ihre hechelnde, springende, bettelnde Freundin, die Labradorhündin. Seufzend würde sie sagen: «Ich sollte dankbar sein. Ich habe ein gutes Leben hier. Es ist verrückt, sich nach etwas zu sehnen, das gar nicht existiert.»

Und ich würde sagen:

Tabitha. Du bist nicht verrückt.

Du bist eine gottverdammte Gepardin!

Erster TeilIm Käfig

FUNKELN

Vor vier Jahren, als ich noch mit dem Vater meiner drei Kinder verheiratet war, verliebte ich mich in eine Frau.

Sehr viel später, an einem Sonntagmorgen, sah ich dieser Frau nach, als sie das Haus verließ, um mit meinen Eltern über ihr Vorhaben zu sprechen, mir einen Heiratsantrag zu machen. Sie dachte, ich wüsste nicht, was los war, aber sie hatte sich getäuscht.

Als ich ihr Auto zurückkommen hörte, setzte ich mich aufs Sofa, nahm ein Buch in die Hand und versuchte, mein rasendes Herz zu beruhigen. Sie kam durch die Tür, ging direkt auf mich zu, beugte sich über mich und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Sie schob meine Haare beiseite und atmete den Geruch an meinem Hals ein, wie sie es immer tat. Dann richtete sie sich auf und verschwand im Schlafzimmer. Ich ging in die Küche, um ihr eine Tasse Kaffee einzuschenken, und als ich mich umdrehte, kniete sie plötzlich vor mir, mit einem Ring in Händen. Ihre Augen waren bestimmt und bittend, groß und scharf fokussiert, himmelblau, bodenlos.

«Ich konnte nicht mehr warten», sagte sie. «Ich konnte keine einzige Minute länger warten.»

Später, im Bett, mein Kopf lag auf ihrer Brust, erzählte sie mir, wie der Vormittag gelaufen war. Sie hatte zu meinen Eltern gesagt: «Ich liebe eure Tochter und eure Enkelkinder, wie ich noch nie in meinem Leben einen Menschen geliebt habe. Ich war mein ganzes Leben auf der Suche, ich habe mich mein ganzes Leben lang auf sie vorbereitet. Ich verspreche euch, dass ich sie immer lieben und beschützen werde.» Mit vor Angst und Mut zitternder Unterlippe hatte meine Mutter geantwortet: «Abby, ich habe meine Tochter nicht mehr so lebendig gesehen, seit sie zehn Jahre alt war.»

Abby und meine Eltern hatten an diesem Vormittag noch über vieles andere gesprochen, aber die erste Reaktion meiner Mutter sprang mir entgegen wie ein Satz in einem Roman, der darum fleht, unterstrichen zu werden:

Ich habe meine Tochter nicht mehr so lebendig gesehen, seit sie zehn Jahre alt war.

Meine Mutter hatte miterlebt, wie das Funkeln in meinen Augen während meines zehnten Jahrs auf Erden verloschen war. Jetzt, dreißig Jahre später, erlebte sie mit, wie dieses Funkeln wiederkam. In den vergangenen Monaten hatte sich meine ganze Körperhaltung verändert. Ich wirkte plötzlich majestätisch. Und ein bisschen angsteinflößend.

An dem Tag fing ich an, mich zu fragen: Wohin verschwand mein Funkeln, als ich zehn war? Wie bin ich mir selbst abhandengekommen?

Ich habe die Frage gründlich untersucht und bin zu folgender Erkenntnis gelangt: Im Alter von zehn lernen wir, brave Mädchen und echte Jungs zu sein. Mit zehn Jahren fangen Kinder an, ihr wahres Selbst zu verstecken, um so zu werden, wie die Welt sie haben will. Zehn ist das Alter, in dem wir mit unserer inneren Zähmung beginnen.

Ich war zehn Jahre alt, als die Welt mir befahl, mich hinzusetzen, still zu sein, und mir die Richtung zu meinem Käfig wies:

Diese Gefühle darfst du nicht ausdrücken.

Eine Frau hat sich so zu benehmen und nicht anders.

So sieht der Körper aus, den du anstreben musst.

Daran sollst du glauben.

Diese Menschen darfst du lieben.

Diese Menschen musst du fürchten.

Dies ist das Leben, das du wollen sollst.

Pass dich an. Am Anfang ist es ungewohnt und ein bisschen unbequem, aber mach dir keine Sorgen – irgendwann vergisst du, dass du in einen Käfig gesperrt bist. Schon bald wird dein Käfig sich ganz normal anfühlen. Wie das Leben.

Weil ich ein braves Mädchen sein wollte, fing ich an, mich selbst an die Leine zu legen. Ich suchte mir eine Persönlichkeit, einen Körper, einen Glauben und eine Sexualität, die so eng und winzig waren, dass ich die Luft anhalten musste, um hineinzupassen. Und wurde prompt sehr krank.

Ich wurde mehr als nur ein braves Mädchen, ich wurde Bulimikerin. Kein Mensch kann ewig die Luft anhalten. In der Bulimie atmete ich auf. In der Bulimie weigerte ich mich, mich zu fügen, schwelgte im Hunger, gab meiner Wut Ausdruck. In meinen täglichen Fressorgien wurde ich zum Tier. Danach hängte ich mich über die Kloschüssel und gab alles wieder von mir, denn schließlich muss ein braves Mädchen möglichst klein bleiben, damit es in seinen Käfig passt. Es darf auf keinen Fall sichtbare Spuren für seinen riesengroßen Hunger hinterlassen. Brave Mädchen sind nicht hungrig, wütend oder wild. Alles, was eine Frau menschlich macht, sind die schmutzigen Geheimnisse eines braven Mädchens.

Damals dachte ich, die Bulimie sei der Beweis dafür, dass ich verrückt war. Als ich während der Highschool ein Praktikum in einer psychiatrischen Klinik absolvierte, fand ich meinen Verdacht bestätigt.

Inzwischen habe ich ein anderes Bild von mir.

Ich war nur ein Mädchen in einem Käfig, das für den grenzenlosen Himmel gemacht war.

Ich war nicht verrückt. Ich war eine gottverdammte Gepardin.

 

Als ich Abby begegnete, kam die Erinnerung an meine Wildheit zurück. Ich wollte diese Frau, und es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich etwas wollte, das außerhalb der Konditionierung dessen lag, was ich zu wollen hatte. Ich liebte sie, und es war das erste Mal, dass ich jemanden liebte, die sich außerhalb des Kreises jener befand, die zu lieben von mir erwartet wurde. Mir ein Leben mit ihr zu erschaffen, war die erste wahrhaftig eigene Idee, die ich je hatte, und meine erste Entscheidung als freie Frau. Nach dreißig Jahren, in denen ich mich selbst deformiert und klein gemacht hatte, um anderer Leute Vorstellungen von Liebe zu entsprechen, erlebte ich endlich eine Liebe, die zu mir passte – eine Liebe, die maßgeschneidert war, für mich und von mir. Endlich stellte ich mir die Frage, was ich wollte, anstatt zu fragen, was die Welt von mir wollte. Ich fühlte mich lebendig. Ich hatte die Freiheit gekostet, und ich wollte mehr.

Ich nahm alles unter die Lupe – meinen Glauben, meine Freundschaften, meine Arbeit, meine Sexualität, mein ganzes bisheriges Leben – und fragte mich: Wie viel davon war meine Idee? Will ich all das wirklich, oder wurde ich dazu konditioniert, es zu wollen? Welche Überzeugungen habe ich selbst kreiert und welche wurden mir einprogrammiert? Wie viel von der Frau, die ich geworden bin, gehört von Natur aus zu mir und wie viel von ihr sind lediglich übernommene Konzepte? Wie viel von meinem Aussehen und meiner Art zu sprechen und mich zu benehmen wurde mir von anderen antrainiert? Wie viele Dinge, denen ich mein Leben lang hinterherjagte, sind in Wirklichkeit nur dreckstarrende rosarote Kaninchen? Wer war ich, ehe ich die wurde, die zu sein mir die Welt befahl?

Ich habe meinen Käfig im Laufe der Zeit verlassen, habe ein zweites Mal geheiratet, eine neue Form des Glaubens und eine neue Weltsicht entwickelt, einen neuen Sinn gefunden, mir eine neue Familie und eine neue Identität erschaffen – nicht mehr die Werkseinstellung, sondern eine Eigenkreation. Aus Imagination heraus statt aus Indoktrination. Aus meiner wilden Natur heraus, nicht aufgrund meiner Zähmung.

Was jetzt folgt, sind Geschichten darüber, wie ich in meinen Käfig gesperrt wurde – und wie ich mich daraus befreite.

Äpfel

Ich bin zehn Jahre alt, ich sitze mit zwanzig anderen Kindern in einem kleinen Nebenraum der Nativity Catholic Church. Ich besuche den Bibelunterricht der Confraternity of Christian Doctrine, weil meine Eltern mich jeden Mittwochabend herschicken, damit ich was über Gott lerne. Unsere Lehrerin ist die Mutter einer Klassenkameradin. An ihren Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, nur noch daran, dass sie uns mal erzählt hat, sie wäre eigentlich Buchhalterin. Weil ihre Familie gemeinnützige Arbeit leisten musste, hatte sie sich freiwillig für den Andenkenladen der Kirche gemeldet. Stattdessen steckte die Kirche sie in Zimmer 423, Bibelunterricht für Fünftklässler. Also erzählt sie jetzt – immer mittwochs von 18 Uhr 30 bis 19 Uhr 30 – den Kindern was von Gott.

Wir sollen uns auf den Teppich vor ihrem Stuhl setzen, denn sie wird uns jetzt erklären, wie Gott die Menschen gemacht hat. Ich beeile mich, damit ich einen Platz ganz vorne bekomme. Ich bin sehr neugierig darauf zu erfahren, wie und warum ich gemacht wurde. Mir fällt auf, dass unsere Lehrerin weder eine Bibel noch sonst ein Buch auf dem Schoß hat. Sie wird aus dem Gedächtnis erzählen. Ich bin beeindruckt.

Dann fängt sie an.

«Gott schuf Adam und setzte ihn in einen wunderschönen Garten. Adam war Gottes Lieblingsgeschöpf, und Er sagte zu Adam, seine einzige Aufgabe wäre es, glücklich zu sein, über den Garten zu herrschen und den Tieren ihre Namen zu geben. Adams Leben war fast perfekt. Nur, dass er einsam war und sehr viel zu tun hatte. Er wünschte sich Gesellschaft und jemanden, der ihm half, die Tiere zu benennen. Deshalb sagte er Gott, dass er Gesellschaft und Hilfe wolle. Eines Nachts half Gott Adam dabei, Eva zur Welt zu bringen. Aus Adams Körper heraus wurde eine Frau geboren.» Unsere Lehrerin sagt, deshalb wäre das englische Wort für Frau Woman. Weil die Frauen aus dem Schoß – Womb – des Mannes stammt. Womb-Man eben.

Ich bin so baff, dass ich vergesse, die Hand zu heben.

«Moment. Adam hat Eva geboren? Ich dachte, die Menschen kommen durch den Körper der Frau zur Welt? Eigentlich müssten doch eher Jungen Woman heißen? Sollten nicht alle Menschen Woman heißen?»

Die Lehrerin sagt: «Heb die Hand, Glennon.»

Ich hebe die Hand. Sie gibt mir ein Zeichen, die Hand wieder herunterzunehmen. Der Junge, der links von mir sitzt, rollt mit den Augen.

Unsere Lehrerin erzählt weiter.

«Adam und Eva waren sehr glücklich, und eine Weile war alles wunderbar.

Doch dann sagte Gott ihnen, dass es einen Baum gibt, von dem sie auf keinen Fall essen dürfen: der Baum der Erkenntnis. Und obwohl es das Einzige im ganzen Garten Eden war, das Eva nicht wollen durfte, wollte sie ausgerechnet einen Apfel von diesem Baum. Also pflückte sie eines Tages, als sie hungrig war, den Apfel vom Baum der Erkenntnis und biss hinein. Dann brachte sie Adam mit einem Trick dazu, auch einen Bissen zu nehmen. In dem Moment, als Adam in den Apfel biss, verspürten Adam und Eva zum allerersten Mal im Leben Scham, und sie versuchten, sich vor Gott zu verstecken. Aber Gott sieht alles, deshalb wusste Gott auch, was sie getan hatten. Gott vertrieb Adam und Eva aus dem Garten. Dann verfluchte Er sie und ihre künftigen Kinder, und so kam das Leid auf die Welt. Das ist der Grund, warum wir heute immer noch leiden: weil die Erbsünde Evas immer noch in uns lebendig ist. Die Sünde besteht darin, mehr wissen zu wollen, als wir wissen sollen, von allem mehr zu wollen, anstatt dankbar für das zu sein, was wir haben, und sie besteht darin, zu tun, was wir wollen, anstatt zu tun, was wir sollen.»

Nach dieser gewissenhaften Erläuterung der Dinge hatte ich keine weiteren Fragen mehr.

Blowjobs

Als mein Mann mir gestanden hatte, dass er mit anderen Frauen geschlafen hatte, suchten wir uns eine Therapeutin. Jetzt heben wir uns unsere Probleme auf und tragen sie dienstagabends zu ihr auf die Couch. Wenn Freunde mich fragen, ob sie gut ist, sage ich: «Keine Ahnung, vielleicht. Immerhin sind wir noch verheiratet.»

Ich habe darum gebeten, den heutigen Termin allein wahrnehmen zu dürfen. Ich bin müde und nervös, weil ich die ganze Nacht wach lag und insgeheim geübt habe, wie ich sagen soll, was ich zu sagen habe.

Ich sitze still in meinem Sessel, die Hände gefaltet auf dem Schoß. Sie sitzt aufrecht im Sessel gegenüber. Sie trägt einen schlichten weißen Hosenanzug, vernünftige Absätze, kein Make-up. Hinter ihr ragt kerzengerade ein hölzernes Bücherregal, voll mit Büchern und gerahmten Diplomen. Ihr gezückter Stift schwebt über dem ledernen Notizbuch auf ihrem Schoß, bereit, mich schwarz auf weiß aufs Papier zu nageln. Stumm ermahne ich mich: Sprich ruhig und selbstbewusst, Glennon, benimm dich wie eine Erwachsene.

«Ich muss Ihnen etwas Wichtiges sagen. Ich habe mich verliebt. Bis über beide Ohren. Ihr Name ist Abby.»

Meiner Therapeutin bleibt der Mund offen stehen, gerade so weit, dass ich es sehen kann. Einen ewigen Augenblick lang ist sie stumm. Dann holt sie tief Luft, atmet aus und sagt: «Okay.»

Sie hält inne, fasst sich, fängt noch mal von vorne an. «Glennon, Ihnen ist doch klar, dass das nicht echt ist, was immer da vor sich geht? Diese Gefühle sind nicht echt. Was für eine Zukunft Ihnen auch vor Augen schweben mag: Auch die ist nicht echt. Das ist lediglich ein großes, gefährliches Ablenkungsmanöver. Das kann nicht gut ausgehen. Sie müssen es beenden.»

Ich will «Sie verstehen das nicht. Das ist was anderes» sagen, doch dann muss ich an die vielen Menschen denken, die vor mir in diesem Sessel saßen und darauf beharrten: Bei mir ist das was anderes.

Wenn sie mir Abby verwehrt, muss ich zumindest dafür einstehen, mich endgültig meinem Mann zu verwehren.

«Ich kann nicht mehr mit ihm schlafen», sage ich. «Sie wissen selbst, dass ich alles versucht habe. Manchmal denke ich, ich hätte ihm verziehen. Aber dann legt er sich auf mich drauf, und plötzlich ist der Hass wieder da. Es ist Jahre her, und ich will keine Zicke sein, also mache ich die Augen zu und versuche, meinen Körper zu verlassen, bis es vorbei ist. Aber dann lande ich versehentlich doch wieder in meinem Körper, und zwar in einem Zustand weißglühender Wut. Es ist ungefähr so: Ich versuche, mich innerlich abzutöten, aber leider ist in mir immer noch ein bisschen Leben übrig, und dieses bisschen Leben macht Sex unerträglich für mich. Ich kann beim Sex nicht lebendig sein, aber tot genug bin ich auch nicht dabei, also ist das keine Lösung. Ich – ich will das einfach nicht mehr.»

Ich bin wütend, weil mir die Tränen kommen, aber das interessiert meine Tränen nicht. Ich beginne zu flehen. Gnade, bitte.

Zwei Frauen. Ein weißer Hosenanzug. Sechs gerahmte Diplome. Ein aufgeschlagenes Notizbuch. Ein gezückter Kugelschreiber.

Dann: «Glennon, haben Sie mal versucht, ihm stattdessen einfach einen zu blasen? Viele Frauen empfinden Blowjobs als weniger intim.»

Wegweiser

Ich habe einen Sohn und zwei Töchter, es sei denn, sie korrigieren mich diesbezüglich irgendwann.

Für meine Kinder ist die Dusche ein magisches Ideenportal.

Neulich sagte meine Jüngste zu mir: «Mom, manchmal habe ich den ganzen Tag keine einzige Idee, aber wenn ich unter der Dusche stehe, habe ich plötzlich lauter cooles Zeug im Kopf. Ich glaube, das liegt am Wasser.»

«Kann sein, dass es am Wasser liegt», antwortete ich. «Oder es liegt daran, dass die Dusche der einzige Ort ist, an dem du nicht verkabelt bist – deshalb kannst du dort deine Gedanken hören.»

Sie sah mich an und machte: «Hä?»

«Ich meine das, was dir in der Dusche passiert, Honey. Das nennt man Denken. Weißt du, das haben die Menschen früher gemacht, vor Google. Denken ist wie … wie in deinem eigenen Gehirn rumzugoogeln.»

«Oh», sagte sie. «Cool.»

Dasselbe Kind klaut mir jede Woche mein sündhaft teures Shampoo, weshalb ich mich neulich in das Bad schlich, das sie sich mit ihrem Teenie-Bruder und ihrer Schwester teilt, um es mir zurückzuklauen. Ich schob den Duschvorhang beiseite und stieß auf zwölf leere Plastikflaschen, die den Duschwannenrand vermüllten. Sämtliche Flaschen auf der rechten Seite waren rot, weiß und blau. Sämtliche Flaschen auf der linken Seite waren rosa und lila.

Ich nahm eine rote Flasche von der Seite, die eindeutig die Seite meines Sohnes war. Die Flasche war groß, kantig, klobig. In roten, weißen, blauen Großbuchstaben schrie sie mir entgegen:

3 x GRÖSSER

RAUBT DIR DEINE WÜRDE NICHT

HÜLLT DICH IN EINEN PANZER AUS MÄNNLICHKEIT

MACHT SCHLUSS MIT SCHMUTZ UND DRECK UND SCHICKT LÄSTIGEN KÖRPERGERUCH AUF DIE MATTE

Ich dachte: Was soll die Scheiße? Wo bin ich hier? In einem Badezimmer oder einem militärischen Ausbildungslager?

Ich nahm eine der schmalen, rosaroten Metallicflaschen von der Mädchenseite. Anstatt gebellter Marschbefehle flüsterte die Flasche mir mit kursiv gesetzter, zarter Schreibschrift unzusammenhängende Adjektive zu: verführerisch, duftend, zart, rein, leuchtend, verlockend, berührbar, sanft, cremig. Kein Verb in Sicht, nur eine Liste erstrebenswerter Eigenschaften.

Ich sah mich zweifelnd um, um sicherzugehen, dass die Dusche nicht doch ein magisches Portal war, das mich in eine andere Zeit befördert hatte. Nein. Hier stand ich, mitten im einundzwanzigsten Jahrhundert, wo Jungen immer noch beigebracht wird, dass echte Männer groß sind, tapfer, brutal, unverletzlich, angeekelt von ihrer weiblichen Seite und dazu verpflichtet, sämtliche Frauen der Welt zu erobern. Wo Mädchen immer noch lernen, dass richtige Frauen still, hübsch, klein, schlank, passiv und begehrenswert zu sein haben, um es wert zu sein, erobert zu werden. Da wären wir also. Unsere Söhne und Töchter werden, wie immer schon, in ihrem vollständigen Menschsein bloßgestellt und beschämt, noch ehe sie sich morgens angezogen haben.

Unsere Kinder sind viel zu groß, um sich in diese starren, in Massen produzierten Flaschen zu quetschen. Und auch sie werden sich in dem Versuch, es trotzdem zu tun, selbst abhandenkommen.

Eisbären

Vor ein paar Jahren rief Tishs Vorschullehrerin mich an und sagte, im Unterricht hätte es einen «Zwischenfall» gegeben. Sie hatte den Kindern während einer Diskussion über die Tierwelt erzählt, dass die Eisbären wegen der schmelzenden Polarkappen Heimat und Nahrungsquellen verloren, und ihnen als Beispiel für die Auswirkungen der globalen Erwärmung das Foto eines verhungernden Eisbären gezeigt.

Der Rest der Schülerinnen fand das zwar traurig, aber nicht so traurig, um nicht, na ja, trotzdem fröhlich in die Pause zu hopsen. Im Gegensatz zu Tish. Die Lehrerin erzählte mir, dass Tish, als die Stunde vorbei war und alle Kinder aufsprangen und fröhlich hinausliefen, als Einzige sitzen blieb, mit weit aufgesperrtem Mund, wie gelähmt. Ihr standen die Gedanken offen ins entsetzte Gesicht geschrieben:

«WAS? Haben Sie gerade gesagt, dass die Eisbären sterben? Weil die Erde schmilzt? Die Erde, auf der wir leben? Und haben Sie uns dieses kleine Häppchen Terror mal eben so im Sitzkreis präsentiert?»

Irgendwann schaffte Tish es dann doch noch nach draußen, aber sie war an dem Tag nicht mehr in der Lage, mit den anderen Kindern zu spielen. Ihre Freundinnen versuchten, sie von der Bank zu locken, aber sie blieb in der Nähe der Lehrerin sitzen und fragte mit großen Augen: «Wissen die Erwachsenen das? Was tun sie dagegen? Sind noch mehr Tiere in Gefahr? Wo ist die Mama von dem hungrigen Eisbär?»

Von dem Moment an drehte sich unser ganzes Familienleben um Eisbären. Wir kauften Eisbärenposter und tapezierten Tishs Zimmer damit. «Um mich zu erinnern, Mom – das darf ich nie mehr vergessen.» Wir sponsorten online vier Eisbären. Wir sprachen beim Abendessen über Eisbären, beim Frühstück, beim Autofahren, auf Partys. Genauer gesagt, wir redeten ununterbrochen darüber, es gab kein anderes Thema mehr als Eisbären, und nach ein paar Wochen fing ich an, Eisbären aus tiefstem Herzen zu hassen. Ich verfluchte den Tag in der Evolution, an dem der Eisbär das Licht der Welt erblickt hatte. Ich versuchte alles, was mir irgendwie einfiel, um Tish aus ihrem Eisbärenabgrund zu retten. Ich kuschelte mit ihr, ich schimpfte mit ihr, und am Ende log ich sie an.

Ich bat einen Freund, mir eine «offizielle» E-Mail zu schicken, so zu tun, als wäre er der «Präsident von Antarktika», und zu verkünden, dass die Eiskappen ein für alle Mal wieder festgefroren wären, wo sie hingehörten, und sämtliche Eisbären plötzlich wieder tipptopp in Ordnung wären. Ich öffnete die Mail mit den Fake News und rief in Tishs Zimmer hinüber: «Ach du meine Güte, Baby! Schnell, komm her! Schau mal, was ich eben bekommen habe! Das sind ja wunderbare Neuigkeiten!» Stumm las Tish die Mail, drehte sich langsam zu mir um und bedachte mich mit einem vernichtenden Schmähblick. Sie wusste genau, dass die Mail ein Fake war, denn Tish ist sensibel, nicht dumm. Die Eisbärensaga ging weiter, ungebremst und mit Vollgas.

Eines Abends brachte ich Tish ins Bett und schlich mit der Freude einer Mutter, die nur noch eine Haaresbreite vom Gelobten Land entfernt ist, auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. (Alle sind im Bett, und ich habe meine Couch für mich. Meine Couch und Kohlehydrate und Netflix, und niemand darf mich anfassen oder ansprechen bis morgen Früh die Sonne wieder aufgeht. Halleluja.) Ich zog gerade die Tür hinter mir zu, als ich Tish flüstern hörte. «Warte! Mom.»

Verfluchter Mist!

«Was ist denn, Honey?»

«Es ist wegen den Eisbären.»

VERFLUCHTE HÖLLE! NEIN!

Ich machte kehrt, ging zurück an ihr Bett und starrte sie an, ein bisschen manisch. Tish schaute zu mir hoch und sagte: «Mommy. Weißt du, was ich die ganze Zeit denken muss? Jetzt sind es die Eisbären. Und es ist allen egal. Als Nächstes sind wir dran.»

Dann drehte sie sich auf die Seite, schlief ein und ließ mich im Dunkeln allein zurück. Jetzt war ich stocksteif und wie gelähmt. Ich stand über sie gebeugt, die Augen weit aufgerissen, und schlang die Arme um mich. «O Gott! Die Eissssbäääääreeen! Wir müssen die verdammten Scheißbären retten! Wir sind als Nächstes dran. Was ist los mit uns?»

Ich sah auf meine kleine, unglaubliche Tochter hinunter und dachte: Du bist nicht verrückt, weil dir die Eisbären das Herz brechen; der Rest der Welt ist verrückt, weil es uns nicht so geht.

Tish konnte nicht in die Pause gehen, weil sie ihrer Lehrerin zugehört hatte. Sobald sie die Geschichte von den Eisbären hörte, ließ sie das Gefühl von Entsetzen in sich zu, das Wissen um die unglaubliche Ungerechtigkeit, und sie stellte sich die unausweichlichen Folgen vor. Tish ist empfindsam, und das ist ihre Superkraft. Das Gegenteil von empfindsam ist nicht mutig. Es ist nämlich nicht besonders mutig, sich einfach zu weigern, zuzuhören, wegzusehen, etwas nicht zu fühlen und zu wissen und sich vorzustellen. Das Gegenteil von empfindsam ist empfindungslos, und damit schmückt man sich nicht.

Tish fühlt, spürt, nimmt wahr. Obwohl die Welt versucht, an ihr vorbeizurasen, nimmt sie die Dinge langsam auf. Stopp, Moment! Das, was du da eben über die Eisbären gesagt hast … hat bei mir ein Gefühl ausgelöst, ich muss darüber nachdenken. Können wir bitte einen Moment dabei bleiben? Ich habe Gefühle. Ich habe Fragen. Ich bin noch nicht bereit, raus in die Pause zu laufen.

In den meisten Kulturen werden Leute wie Tish früh identifiziert und dazu bestimmt, Schamaninnen zu werden, Medizinmenschen, Dichterinnen, Geistliche. Sie werden zwar als exzentrisch betrachtet, aber auch als absolut notwendig für das Überleben der Gemeinschaft, weil sie in der Lage sind, Dinge zu hören, die andere nicht hören, und Dinge zu sehen, die andere nicht sehen, und Dinge zu fühlen, die andere nicht fühlen. Die ganze Kultur hängt von der Empfindsamkeit einiger weniger ab, weil nichts heilen kann, das nicht zuerst gefühlt worden ist.

Doch unsere Gesellschaft ist derart versessen auf Wachstum, Macht und Leistung um jeden Preis, dass Typen wie Tish – oder ich – eher stören. Wir bremsen die Welt. Wir stehen mit ausgestrecktem Arm am Bug der Titanic und schreien aus vollem Hals: «Eisberg! Eisberg!», während die anderen aus dem Ballsaal unter Deck zurückrufen: «Wir wollen weitertanzen!» Es ist einfacher, uns als kaputt zu bezeichnen und wegzuschieben, als den Gedanken zuzulassen, dass wir lediglich angemessen auf eine kaputte Welt reagieren.

Meine kleine Tochter ist nicht kaputt. Sie ist eine Prophetin. Ich möchte weise genug sein, gemeinsam mit ihr innezuhalten, sie zu fragen, was sie fühlt, und auf das zu hören, was sie weiß.

Strichlisten

Es ist mein letztes Highschool-Jahr, und ich wurde immer noch nicht für den Homecoming-Court nominiert.

Der Homecoming-Court besteht aus den zehn beliebtesten Schülerinnen und Schülern jedes Jahrgangs. Diese zehn werfen sich in Schale und fahren während der Homecoming-Parade in Cabriolets offen durch die Stadt, werfen sich in Schale und laufen in der Halbzeit übers Spielfeld, werfen sich in Schale und stolzieren mit ihren Homecoming-Court-Schärpen durch die Hallen. Das Homecoming ist die jährliche Highschool Fashion Week, und wir anderen sitzen auf unseren Plätzen im Schatten und himmeln die Mitglieder des Court oben auf dem Laufsteg an.

Im Englischunterricht werden Stimmzettel verteilt, mit der Aufforderung, diejenigen unter uns zu wählen, die in den Court aufsteigen sollen. Jahr für Jahr stimmen wir in Massen für dieselben Goldenen Zehn. Wir wissen alle, wer sie sind. Es fühlt sich an, als wären wir schon mit dem Wissen um sie zur Welt gekommen. Die Goldenen stehen – wie die Sonne – in einem fest geschlossenen Kreis zusammen: auf den Fluren, bei Football-Spielen, in der Shopping-Mall und in unserer Vorstellung. Es ist uns nicht gestattet, sie direkt anzusehen, was nicht leicht ist, denn sie haben glänzendes Haar, und ihre Körper sind verführerisch, hell und strahlend. Unter ihnen gibt es keine Tyranninnen. Denn jemanden zu tyrannisieren, würde viel zu viel Aufmerksamkeit für eine andere Person und viel zu viel Anstrengung erfordern. Sie stehen weit über solchen Dingen, jenseits davon. Ihre Aufgabe besteht darin, den Rest von uns zu ignorieren, und unsere Aufgabe ist es, uns an den von ihnen gesetzten Standards zu messen. Unsere Existenz macht sie golden, und ihre Existenz macht uns unglücklich. Trotzdem wählen wir sie Jahr für Jahr wieder, weil die Regeln uns sogar in der Intimsphäre der geheimen Wahl im Griff haben. Wählt die Goldenen. Sie haben die Regeln perfekt befolgt, sie sind, was und wie wir alle sein sollten, sie müssen die Wahl gewinnen. Fair ist fair.

Ich bin nicht Golden, aber ab und zu fällt die Reflexion der leuchtenden Strahlen der Goldenen auch auf mich, so oft, dass ich ein bisschen davon abbekommen habe. Sie laden mich hin und wieder zu ihren Partys ein, und ich gehe hin, auch wenn sie dann so gut wie nicht mit mir sprechen. Ich glaube, ich bin mit dabei, weil sie ein bisschen Nichtgold um sich brauchen, um ihr Goldensein spüren zu können. Goldensein erfordert Kontrast. Also lassen sie mich, wenn sie bei einem Football-Spiel im Kreis stehen, mit hinein, aber auch dann sprechen sie nicht mit mir. Ich fühle mich in diesen Kreisen immer furchtbar unwohl, ausgeschlossen und lächerlich. Ich rede mir ein, dass unwichtig ist, was in diesen Kreisen tatsächlich passiert. Wichtig ist nur die Vorstellung, die Menschen außerhalb des Kreises sich von dem machen, was dort passiert. Wichtig ist nicht, was echt ist, sondern was ich anderen als echt verkaufen kann. Wichtig ist nicht, wie ich mich im Inneren fühle, sondern welche Gefühle ich nach außen transportiere. Wie ich vorgebe, mich zu fühlen, bestimmt, welche Gefühle andere für mich hegen. Wichtig ist, was andere für mich empfinden. Also benehme ich mich wie jemand, die sich Golden fühlt.

Mitte September hat die Aufregung um die Homecoming-Vorbereitungen ihren Höhepunkt erreicht. Wir haben abgestimmt, und in der sechsten Stunde werden die Gewinnerinnen bekanntgegeben. Ich bin Teil der Schülermitverwaltung, und unsere Aufgabe besteht darin, die Stimmen auszuzählen. Meine Freundin Lisa zieht die Stimmzettel einzeln aus einer Schachtel und liest laut die Namen vor, während ich die Strichliste führe. Es sind wieder und wieder die gleichen Namen: Tina. Kelly. Jessa. Tina. Kelly. Jessa. Susan. Jessa. Susan. Tina, Tina, Tina. Und dann Glennon. Und wieder … Glennon. Glennon. Lisa sieht mich an, zieht die Augenbrauen hoch, lächelt. Ich verdrehe die Augen und sehe weg, aber das Herz rast in meiner Brust. Heilige Scheiße. Die halten mich für Golden. Die Wahlurne ist inzwischen fast leer, aber das Rennen ist knapp, und ich könnte es tatsächlich schaffen. Ich könnte es schaffen. Mir fehlen nur noch zwei Stimmen. Ich werfe Lisa einen Blick zu, sie schaut gerade woandershin. Mit dem Bleistift setze ich zwei Striche neben meinen Namen. Eins. Zwei. Lisa und ich zählen die Stimmen. Ich bin in den Homecoming-Court berufen worden.

Ich gehöre jetzt zu denen, die noch mit vierundvierzig die Augen verdrehen und, ganz nebenbei natürlich, erzählen können, sie wären im Homecoming-Court gewesen. Die anderen werden ebenfalls die Augen verdrehen (Ach ja, damals, die Highschool!), aber gleichzeitig registrieren sie: Ah. Du warst Golden. Golden zu sein, entscheidet sich früh im Leben, und es bleibt an einem haften, selbst wenn wir erwachsen sind und es inzwischen besser wissen, inzwischen so viel mehr wissen und verstanden haben. Einmal Golden, immer Golden.

 

Ich spreche jetzt seit mehr als zehn Jahren offen und öffentlich über Sucht, Sex, Untreue und Depressionen. Schamlosigkeit ist meine spirituelle Praxis. Trotzdem habe ich außer meiner Frau noch nie einem Menschen gestanden, dass ich in der Highschool betrogen habe. Als ich ihr erzählte, dass ich diese Geschichte endlich zu Papier gebracht hätte, zuckte sie zusammen. «Bist du sicher, Babe?», fragte sie. «Bist du ganz sicher, dass du das erzählen solltest?»

Ich glaube, was diese Geschichte unverzeihlich macht, ist die Verzweiflung, diese unglaublich große Sehnsucht, dazugehören zu wollen. Wenn man nicht Golden sein kann, muss man unbedingt so tun, als wäre es einem egal, als wollte man gar nicht dazugehören. Es ist uncool, megamäßig uncool, so dringend dazugehören zu wollen, dass man bereit ist, dafür zu betrügen. Doch genau das habe ich getan.

Ich habe eine Wahl gefälscht, um Golden zu sein. Ich habe sechzehn Jahre meines Lebens mit dem Kopf in der Kloschüssel verbracht, um dünn zu sein. Ich habe mich zehn Jahre lang stumpf gesoffen, um sympathisch zu sein. Ich habe Arschlöcher becirct und mit ihnen geschlafen, um berührbar zu sein. Ich habe mir auf die Zunge gebissen, bis es blutete, um nett zu sein. Ich habe Tausende für Zaubertränke und Gift ausgegeben, um jung zu sein. Ich habe mich selbst jahrzehntelang verleugnet, um echt zu sein.

Algorithmen

Mehrere Monate, nachdem ich herausgefunden hatte, dass mein Mann mich immer wieder betrogen hatte, wusste ich immer noch nicht, ob ich gehen oder bleiben würde. Ich wusste ja nicht mal, ob das neue Dekokissen auf meiner Couch gehen oder bleiben würde. Ich war eine schrecklich unentschlossene Frau. Als ich der Beratungslehrerin an der Schule meiner Kinder gestand, wie unentschlossen ich war, sagte sie zu mir: «Kinder gehen nicht an harten Entscheidungen kaputt, sondern an Unentschlossenheit. Ihre Kinder müssen wissen, in welche Richtung es weitergeht.»

«Das können sie aber nicht wissen, ehe ich es weiß», antwortete ich.

Sie sagte: «Dann müssen Sie rausfinden, wie Sie es wissen werden.»

Damals waren Umfragen und Recherchen die einzige Methode, die ich kannte, an Wissen zu kommen. Ich fing mit Umfragen an. Ich rief alle meine Freundinnen an, in der Hoffnung, dass sie wissen würden, was ich tun sollte. Danach kam die Recherche. Ich las jeden Artikel über Ehebruch, Scheidung und Kinder, den ich in die Finger bekam, in der Hoffnung, dass die Expertinnen wissen würden, was ich tun sollte. Die Ergebnisse meiner Umfragen und Recherchen waren unerträglich uneindeutig.

Schließlich wandte ich mich ans World Wide Web, um rauszufinden, ob ein unsichtbares Konglomerat an Fremden, Trollen und Bots womöglich wusste, was ich mit meinem einen wilden, wunderbaren und wertvollen Leben tun sollte. Und so fand ich mich um drei Uhr morgens schlaflos im Bett wieder und tippte, während ich mir löffelweise Ben & Jerry’s in den Mund schaufelte, folgende Frage in die Google-Suchzeile:

Was soll ich tun, wenn mein Mann mich betrügt und trotzdem ein toller Vater ist?

Versammlungen

Mein siebzehnjähriger Sohn Chase sitzt mit seiner Clique im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Ich habe versucht, sie in Ruhe zu lassen, aber es fällt mir schwer. Ich weiß, dass die meisten Teenager ihre Mütter extrem uncool finden, aber ich bin überzeugt, dass ich die Ausnahme bin.

Ich stehe an der Tür und luge hinein. Die Jungs liegen hingelümmelt kreuz und quer auf dem Sofa. Die Mädchen haben sich auf dem Fußboden zu kleinen ordentlichen Päckchen zusammengefaltet. Meine jüngeren Töchter liegen den älteren Mädchen in stummer Anbetung zu Füßen.

Mein Sohn entdeckt mich und lächelt schief. «Hi, Mom.»

Ich brauche eine Entschuldigung für meine Anwesenheit, also frage ich: «Hat jemand Hunger?»

Die Reaktion scheint sich in Zeitlupe zu entfalten.

Jeder einzelne Junge ruft, ohne auch nur eine Sekunde den Blick vom Bildschirm zu nehmen: «JA!»

Die Mädchen reagieren nicht sofort. Langsam löst sich ein Blick nach dem anderen vom Fernseher und mustert die Gesichter der anderen Mädchen. Jede von ihnen sucht im Gesicht einer Freundin die Antwort auf die Frage, ob sie selbst hungrig ist. Zwischen ihnen vollzieht sich eine Art Telepathie. Sie starten eine Umfrage. Sie recherchieren. Sie sammeln Konsens – Erlaubnis oder Ablehnung.

Auf geheimnisvolle Weise bestimmt das Kollektiv stumm eine sommersprossige Sprecherin mit französischem Zopf. Sie löst den Blick von den Gesichtern ihrer Freundinnen und sieht mich an. Sie lächelt und sagt: «Wir möchten nichts, vielen Dank.»

Die Jungen haben im Innen nach einer Antwort gesucht. Die Mädchen im Außen.

Wir haben vergessen zu wissen, als wir lernten, zu gefallen.

Das ist der Grund, weshalb wir mit Hunger leben.

Regeln

Meine Freundin Ashley hat neulich zum ersten Mal eine Yogastunde besucht. Sie betrat den Raum, rollte ihre Matte aus, setzte sich und wartete darauf, dass etwas geschah.

«In dem Raum war es fürchterlich heiß», erzählte sie mir hinterher.

Als die Yogalehrerin – jung und selbstbewusst – schließlich den Raum betrat, war Ashley bereits schweißgebadet. Die Frau verkündete Folgendes: «Wir fangen gleich an. Es wird sehr heiß werden, aber ihr dürft den Raum nicht verlassen. Egal, wie ihr euch fühlt, bleibt stark. Geht nicht aus dem Raum. Das ist die Übung.»

Die Stunde begann, und nach ein paar Minuten hatte Ashley das Gefühl, die Wände kämen immer näher. Ihr wurde schwindlig und schlecht. Ihr fiel das Atmen schwer. Zweimal sah sie bunte Punkte, und ihr wurde kurz schwarz vor Augen. Sie schaute zur Tür und verspürte den verzweifelten Drang, aus dem Raum zu rennen. Sie verbrachte neunzig Minuten in grauenvoller Angst, kurz vor dem Hyperventilieren, den Tränen nahe. Trotzdem ging sie nicht aus dem Raum.

Im selben Moment, als die Lehrerin die Stunde beendete und die Tür öffnete, sprang Ashley von ihrer Matte und rannte hinaus auf den Flur. Sie hielt sich verzweifelt den Mund zu, bis sie die Toilette gefunden hatte. Sie riss die Tür auf und spuckte alles voll: das Waschbecken, die Wand, den Fußboden.

Während sie auf Händen und Knien mit Papierhandtüchern ihr eigenes Erbrochenes aufwischte, fragte sie sich: Was stimmt nicht mit mir? Wieso bin ich da dringeblieben und habe gelitten? Die Tür war nicht mal abgeschlossen.

Drachen

Als ich ein kleines Mädchen war, schenkte meine Großmutter mir zum Geburtstag eine Schneekugel. Sie war klein und rund, eine handtellergroße Kristallkugel. In der Mitte stand ein roter Drache mit glitzernden Schuppen, leuchtend grünen Augen und feuerroten Flügeln. Ich nahm ihn mit nach Hause und stellte ihn auf meinen Nachttisch. Aber dann lag ich nachts wach und konnte nicht einschlafen, weil ich Angst hatte vor dem Drachen, der da im Dunkeln direkt in meiner Nähe existierte. Also stand ich eines Nachts auf und verbannte die Schneekugel auf das höchste Regalbrett in meinem Zimmer.

Ab und zu, aber nur tagsüber, wenn es ganz hell war, schob ich den Schreibtischstuhl vors Regal, kletterte hinauf und holte die Schneekugel herunter. Ich schüttelte sie, wurde ganz still und sah zu, wie die Schneeflocken herumwirbelten. Wenn sie sich langsam niederließen, tauchte in der Mitte der Schneekugel der feuerrote Drache auf, und mich überkam ein Frösteln. Dieser Drache war magisch und beängstigend, er war immer da, regungslos, wartete.

 

Meine Freundin Megan ist nach zehn Jahren Alkohol- und Drogenmissbrauch seit fünf Jahren clean. Seit kurzem versucht sie, herauszufinden, was mit ihr passiert ist – wie es dazu kommen konnte, dass die Sucht das Leben einer so starken Frau übernahm.

Am Tag ihrer Hochzeit saß Megan in der hintersten Reihe der Kirche und wusste, dass sie den Mann, der da vorne auf sie wartete, nicht heiraten wollte. Sie wusste es mit jeder Faser ihres Wesens.

Sie heiratete ihn trotzdem. Weil sie schon fünfunddreißig war und die Heirat nun mal von ihr erwartet wurde. Sie heiratete ihn trotzdem, weil sie mit einer Absage sonst so viele Menschen enttäuscht hätte. Sie selbst gab es nur einmal, also enttäuschte sie stattdessen lieber sich. Sie sagte «Ja, ich will», während ihr Inneres «Nein, ich will nicht» sagte, und verbrachte die nächsten zehn Jahre mit dem Versuch, nicht zu wissen, was sie wusste: dass sie sich selbst betrogen hatte und ihr Leben erst dann richtig anfangen würde, wenn sie mit dem Selbstbetrug aufhörte. Die einzige Möglichkeit, nicht zu wissen, war, sich volllaufen zu lassen und in diesem Zustand zu bleiben. Also fing sie in den Flitterwochen heftig an zu trinken. Je betrunkener sie wurde, desto größer wurde der Abstand zu dem Drachen in ihrem Inneren. Nach einer Weile wurden Alkohol und Drogen zu einem Problem, was sehr angenehm war, weil sie sich nicht mehr mit ihrem echten Problem auseinandersetzen musste.

 

Wir sind wie Schneekugeln: Wir verwenden unsere Zeit, unsere Energie, unsere Worte und unser Geld darauf, einen Schneesturm zu erzeugen, in dem Versuch, nicht zu wissen, und sorgen dafür, dass die Schneeflocken sich niemals setzen und wir der feurigen Wahrheit in unserem Inneren – massiv und regungslos – nie ins Gesicht sehen müssen.

Die Beziehung ist am Ende. Der Wein gewinnt. Die Tabletten sind längst nicht mehr gegen die Rückenschmerzen. Er kommt nie zurück. Das Buch schreibt sich nicht von selbst. Dieser Schritt ist die einzige Möglichkeit. Das ist Missbrauch. Du hast nie um ihn getrauert. Wir haben seit einem halben Jahr nicht mehr miteinander geschlafen. Sie ein Leben lang zu hassen, ist kein Leben.

Wir halten uns alle in permanenter Bewegung, weil im Inneren von uns allen Drachen lauern.

 

Eines Abends, meine Kinder waren noch klein, lag ich in der Badewanne und las einen Gedichtband. Ich stolperte über ein Gedicht mit dem Titel «A Secret Life» über die tiefen Geheimnisse, die wir alle in uns tragen. Ich dachte: Ich nicht, seit ich wieder nüchtern bin. Ich hüte keine Geheimnisse mehr. Das war ein gutes Gefühl. Doch dann stieß ich auf folgende Zeilen:

Es ist das, was du am meisten schützen würdest

Würde die Regierung sagen, nur eins

darfst du behalten, der Rest ist unser …

Es ist das,

was sich verströmt und was sehr weh tun kann

wenn man ihm zu nahe kommt.

Ich hörte auf zu lesen und dachte: Oh. Moment.

Eine Sache gibt es.

Eine Sache, die nicht mal meine Schwester weiß.

Mein sich verströmendes, schmerzhaftes Geheimnis lautet, dass ich Frauen unendlich unwiderstehlicher und attraktiver finde als Männer. Mein Geheimnis ist die Vermutung, dass ich dazu gemacht bin, eine Frau zu lieben und eine Frau im Arm zu halten und mich auf eine Frau zu verlassen und an der Seite einer Frau zu leben und zu sterben.

Als Nächstes dachte ich: Wie seltsam. Das kann nicht sein. Du hast einen Mann und drei Kinder. Dein Leben ist mehr als gut genug.

Als ich aus der Badewanne stieg und mir die Haare trockenschüttelte, sagte ich mir: Vielleicht in einem anderen Leben.

Ist das nicht eigenartig?

Als hätte ich mehr als eines zur Verfügung.

Waffen

Ich sitze auf einen kalten Plastikstuhl am Abfluggate, starre meinen Koffer an, trinke Flughafenkaffee. Bitter und schwach. Durchs Fenster ist das Flugzeug zu sehen. In wie viele Flugzeuge werde ich im kommenden Jahr steigen? Hundert? Ich bin bitter und schwach wie der Kaffee.

Wenn ich einsteige, wird dieses Flugzeug mich nach Chicago O’Hare befördern, wo ich nach einem Schild mit meinem Namen (nein, stimmt nicht, dem meines Mannes) in der Hand eines Fahrers Ausschau halten werde. Ich werde meine Hand heben und das Erstaunen auf seinem Gesicht registrieren, weil ich eine kleine Frau in Jogginghose bin und kein großgewachsener Mann im Anzug. Der Fahrer wird mich ins Palmer House Hotel bringen, dem Veranstaltungsort einer nationalen Bücherschau. Dort werde ich mich in einem Ballsaal auf eine Bühne stellen und mehreren hundert Bibliothekaren von Love Warrior erzählen, meinen demnächst erscheinenden Memoiren.

Love Warrior – die Geschichte der dramatischen Zerstörung und des mühevollen Wiederaufbaus meiner Familie – wird als eine der Neuerscheinungen des Jahres gehandelt. Ich werde das Buch auf der Bühne und in sämtlichen Medien bewerben, und zwar gefühlt bis in alle Ewigkeit.

Ich versuche, mir über meine Gefühle klarzuwerden. Angst? Aufregung? Scham? Es gelingt mir nicht, etwas Spezifisches zu isolieren. Ich starre durchs Fenster zu dem Flugzeug hinaus und frage mich, wie ich es schaffen soll, einem Meer aus Fremden innerhalb der mir zugewiesenen sieben Minuten die intimste, komplizierteste Erfahrung meines ganzen Lebens nahezubringen. Ich habe ein Buch geschrieben, und jetzt wird von mir erwartet, mich in die Werbesendung für das von mir geschriebene Buch zu verwandeln. Was hat es für einen Sinn, Schriftstellerin zu sein, wenn ich Worte über die Worte machen muss, die ich bereits geschrieben habe? Müssen Maler Bilder über ihre Bilder malen?

Ich war schon einmal an diesem Punkt. Vor drei Jahren veröffentlichte ich mein erstes Buch. Mit dem bin ich ebenfalls durchs Land getingelt, um den Leuten zu erzählen, wie ich mein persönliches Happy End fand, indem ich meine lebenslange Ess-Brech- und Alkoholsucht gegen einen Sohn, einen Ehemann und die Schriftstellerei eintauschte. Ich stand damals auf Bühnen im ganzen Land und wiederholte vor erwartungsvollen Frauen die Botschaft meines Buchs: Gib nicht auf. Das Leben ist hart, aber du bist eine Kriegerin. Eines Tages wird sich auch für dich alles fügen.

Die Tinte des ersten Buchs war kaum getrocknet, da saß ich im Sprechzimmer eines Therapeuten und hörte mir an, dass mein Mann seit unserer Hochzeit mit anderen Frauen geschlafen hatte.

Ich hielt den Atem an, als er sagte: «Es hat andere Frauen gegeben», und als ich wieder Luft holte, hing der Geruch von Riechsalz in der Luft. Er konnte nicht aufhören, sich zu entschuldigen, den Blick auf die Hände gesenkt, und sein hilfloses Gestammel ließ mich laut auflachen. Mein Gelächter war den beiden Männern – meinem Ehemann und seinem Therapeuten – sichtlich unangenehm. Ihr Unbehagen verlieh mir ein Gefühl von Macht. Ich schaute zur Tür und zwang das Adrenalin, mich aus dem Gebäude zu tragen, über den Parkplatz und weiter bis zu meinem Minivan.

Dort saß ich eine Weile auf dem Fahrersitz, und mir wurde klar, dass das Geständnis meines Mannes in mir nicht etwa das Gefühl einer verzweifelten Frau mit gebrochenem Herzen hinterlassen hatte. In mir tobte die Wut einer Schriftstellerin, der man soeben den Plot versaut hatte. Die Hölle selbst kann nicht wüten wie eine Frau, deren Ehemann ihr gerade die frisch gedruckten Memoiren kaputtgemacht hat.