Unter dem Baum des Vergessens - - Alexandra Fuller - E-Book

Unter dem Baum des Vergessens - E-Book

Alexandra Fuller

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Beschreibung

Die beeindruckende Geschichte einer mutigen Frau, die mit ihrer Familie in Afrika das Glück sucht

Nach „Unter afrikanischer Sonne“ kehrt Alexandra Fuller in das Afrika ihrer Kindheit zurück und erzählt die ebenso bewegte wie bewegende Geschichte ihrer Eltern. Nicola und Tim Fuller wandern anfang der Siebzigerjahre nach Afrika aus, verheißungsvoll liegt der Kontinent vor ihnen. Doch schon nach kurzer Zeit ereignen sich Unfälle und Tragödien innerhalb der Familie, politische Unruhen und Bürgerkriege erschüttern den Kontinent. Im Zentrum von Alexandra Fullers neuem Buch steht ihre Mutter, die es auf unnachahmliche Weise immer wieder schafft, den Widrigkeiten des Lebens mit Mut und Entschlossenheit zu begegnen, um dann, die Uzi unter den Arm geklemmt, zur nächsten Kostümparty zu fahren. Eine ganz besondere Hommage an eine ganz besondere Frau – und an ein Afrika, das unter die Haut geht.

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Seitenzahl: 316

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Alexandra Fuller

Unter dem Baumdes Vergessens

Ein Leben in Afrika

Deutsch vonWalter Ahlers

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel»Cocktail Hour Under the Tree of Forgetfulness«bei The Penguin Press, New York.

Anmerkung der Autorin: Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist wahr. Dennoch wurden in einigen Fällen Namen und andere kennzeichnende Informationen geändert, um die Privat-sphäre der entsprechenden Personen zu schützen.

Fotografien: mit freundlicher Genehmigung der Autorin und ihrer Familie sowie Ian Murphy

1. AuflageCopyright © der Originalausgabe 2011 by Alexandra FullerCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur MünchenUmschlagmotiv: Photo courtesy of the author; Getty Images / Rob NunningtonSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-06841-7

www.goldmann-verlag.de

Für Charlie – guide extraordinaire – in Liebe

Inhalt

Liste der Hauptfiguren

TEIL EINS

Nicola Fuller of Central Africa lernt fliegen

Nicola Huntingford kommt zur Welt

Nicola Fuller und die Kostümfeste

Roger Huntingfords Krieg

Nicola Huntingford lernt reiten

Nicola Fuller of Central Africa fährt zu ihrem Klassentreffen

Nicola Huntingford, der Afrikaander und das beste Pferd aller Zeiten

Nicola Huntingford und die Mau-Mau

TEIL ZWEI

Tim Fuller ohne feste Bleibe

Nicola Fuller und das perfekte Haus

Nicola Fuller in Rhodesien: Erste Runde

Nicola Fuller in England

Nicola Fuller in Rhodesien: Zweite Runde

Olivia

Nicola Fuller und das Ende Rhodesiens

TEIL DREI

Nicola Fuller of Central Africaund der Baum des Vergessens

Nicola Fuller of Central Africa zu Hause

Danksagungen

Anhang

Soundtrack

Glossar

Quellenverzeichnis

Liste der Hauptfiguren

Nicola Christine Victoria Fuller, geb. Huntingford – die Mutter der Autorin, Nicola Fuller of Central Africa oder Tub

Timothy Donald Fuller – der Vater der Autorin

Vanessa Margaret Fuller – die Schwester der Autorin, Van

Edith Margaret Belfinley Huntingford, geb. Macdonald – die Großmutter mütterlicherseits der Autorin, Granny oder Donnie oder Mrs. Huntingford

Roger Lowther Huntingford – der Großvater mütterlicherseits der Autorin, Hodge

Glennis Duthie – die Tante mütterlicherseits der Autorin, Auntie Glug oder Glug

Sandy Duthie – der angeheiratete Onkel mütterlicherseits der Autorin

Donald Hamilton Connell-Fuller – der Großvater väterlicherseits der Autorin

Ruth Henrietta Fuller – die Großmutter väterlicherseits der Autorin, Boofy

Tony Fuller – der Onkel väterlicherseits der Autorin, Onkel Toe

Alexandra Fuller – die Autorin dieses Buches, Bo oder Bobo

TEIL EINS

Die Seele, die ich liebe, muss wilde Orte haben, einen verwilderten Obstgarten, wo dunkle Pflaumen ins hohe Gras fallen, einen kleinen Wald mit dichtem Unterholz, vielleicht noch eine Schlange hier und da, einen Teich, von dem keiner weiß, wie tief er ist, und Blumen am Wegrand, Blumen der Seele.

Katherine Mansfield

Nicola Fuller of Central Africa lernt fliegen

Mkushi, Sambia, ca. 1986

Mum bei einer Theateraufführungin Eldoret, Kenia, ca. 1963

Unsere Mum – oder auch Nicola Fuller of Central Africa, wie sie sich gelegentlich vorzustellen pflegt – hat sich einen Schriftsteller in der Familie gewünscht, solange wir denken können. Einmal, weil sie Bücher liebt und deshalb schon immer in einem auftreten wollte (so wie sie große, teure Hüte liebt und gerne in ihnen auftritt), aber auch, weil sie von jeher den Plan hegte, ein sagenhaft romantisches Leben zu führen, und dafür brauchte sie einen halbwegs gefügigen Zeugen als Chronisten.

»Wenigstens hat sie dir nicht schon im Mutterleib Shakespeare vorgelesen«, sagt meine Schwester. »Ich glaube, da hab ich meinen Dachschaden her.«

»Du hast keinen Dachschaden«, sage ich.

»Das sieht Mum anders.«

»Ach, hör einfach nicht hin. Du kennst sie doch.«

»Eben.«

»Neuerdings will sie mir weismachen, man hätte mich bei der Geburt vertauscht«, sage ich.

»Tatsächlich?« Vanessa reckt den Hals, legt den Kopf schief, um mein Gesicht besser sehen zu können. »Zeig deine Nase mal von der anderen Seite.«

»Hör auf.« Ich verdecke meine Nase.

»Du hast selber Schuld«, sagt Vanessa und zündet sich eine Zigarette an. »Warum musstest du auch dieses grässliche Buch über sie schreiben?«

Zum hunderttausendsten Mal erkläre ich Vanessa, dass das nicht stimmt: »Es ist nicht grässlich, und es ist nicht über sie.«

Vanessa bläst ungerührt den Rauch gen Himmel. »Da ist Mum aber anderer Meinung. Mich darfst du nicht fragen. Ich hab’s nicht gelesen. Werd ich auch nicht. Kann’s nicht. Hab einen Dachschaden. Frag Mum.«

Wir sitzen vor Vanessas Steinhaus nahe der Stadt Kafue. Vanessa war so klug, zu einer unergründlichen Künstlerin heranzuwachsen – Stoffe, Grafiken, Leinwände in überbordenden, tropischen Farben, alles verarbeitet zu einer Art unverbindlichem Chaos, damit keiner sie auf irgendetwas festnageln kann. Überhaupt kann passieren, was will, Vanessa tut so, als wäre alles kein Problem, solange keiner ein Drama macht. So wächst zum Beispiel in ihrem Badezimmer ein Baum mitten durch das schilfgedeckte Dach – sehr romantisch und malerisch, aber als Schutz gegen Regen und Reptilien total ungeeignet. »Ach«, sagt Vanessa leichthin, »wenn du die Schuhe anbehältst und aufpasst, wo du dich hinsetzt, geht das schon.«

Das restliche Haus, angebaut an das wahnsinnig unpraktische Bad, hat insgesamt nur drei winzige Zimmer für Vanessa, ihren Ehemann und ihre diversen Kinder, aber es steht auf dem Gipfel eines Kopje, und das macht es zu etwas Besonderem. Es ist, als würde eine Kleiderkammer über eine Kathedralendecke verfügen. Wir sitzen draußen, die Luft duftet nach Miombowald, wir rauchen und blicken hinunter auf die anheimelnden Lichter der vielen Herdfeuer, die in den umliegenden Dörfern glimmen. Hin und wieder ist von den Tavernen an der Kafue Road Hundegebell zu hören, oder die Soldaten drüben im Armeelager rufen sich etwas zu oder ballern ein bisschen in die Luft. Es ist alles sehr friedlich.

»Trink noch ein Glas Wein«, empfiehlt Vanessa mir zum Trost. »Wer weiß, irgendwann vergibt sie dir vielleicht.«

Zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass das grässliche Buch, dessen voller und korrekter Titel in Gegenwart meiner Familie nicht ausgesprochen werden darf, nicht allein auf meinem Mist gewachsen ist. Ich habe mich von Nicola Fuller of Central Africa höchstpersönlich dazu ermutigt, um nicht zu sagen genötigt gefühlt. Nachdem sie meine ältere Schwester ob ihrer beharrlichen Weigerung, lesen und schreiben zu lernen, als potentielle Autorin abschreiben musste, richtete Mum ihre literarischen Ambitionen auf mich. Ich war fünf, als sie die Mathematik-Lektionen in unserem wöchentlichen Rhodesischen Fernunterrichts-Paket ausließ. »Weißt du, Bobo«, erklärte sie mir, »Zahlen sind langweilig. Außerdem kannst du immer jemanden anstellen, der für dich das Rechnen übernimmt, aber du kannst niemanden anstellen, der für dich schreibt. Also?« Mum schwieg und bedachte mich mit ihrem beängstigenden Lächeln. »Was meinst du, worüber möchtest du schreiben?« Worauf sie genüsslich ihren Tee austrank, sich ein paar Hunde vom Schoß fegte und loszog in ein Leben, das der schönsten Literatur würdig war.

Zwölf Jahre später ließ sie dieses Leben Revue passieren und maß es an der Biografie, die ihr vorschwebte, etwas im Stil von West with the Night, The Flame Trees of Thika oder Out of Africa. Alles in allem war sie mit dem Ergebnis ganz zufrieden, auch wenn sie das Gefühl hatte, in manchen Bereichen vielleicht etwas zu viel durchgemacht zu haben (Schicksalsschläge zum Beispiel oder Krieg und Armut). Ein zentraler Posten aber fehlte noch in ihrem Portfolio: Es kamen keine Flugzeuge darin vor, und im Leben von Mums literarischen Vorbildern hatten Flugzeuge durchweg eine tragende Rolle gespielt.

»Und dann tauchte plötzlich, wie ein Geschenk des Himmels, mein schneidiger kleiner Sri-Lanker auf.« Streng genommen war es nicht ihr schneidiger kleiner Sri-Lanker – auch wenn man im Lauf ihrer Beziehung durchaus auf diesen Gedanken kommen konnte –, und innerhalb der Familie wurde zuweilen recht erbittert darüber debattiert, ob er schneidig war. Einigkeit dagegen bestand darüber, dass der Sri-Lanker klein war. Sein richtiger Name war Mr. Vaas, und er war nach Sambia gekommen, sagte er, um dem Elend und der Gewalt in seinem Heimatland zu entfliehen.

»Dann müssten Sie sich bei uns ganz zu Hause fühlen«, sagte Dad, worauf ihn Mr. Vaas misstrauisch ansah. Aber mein Vater sagte nichts weiter, sondern wandte sich in aller Ruhe wieder seinem Farmer’s Weekly zu. Letzten Endes musste ich meinem Vater Recht geben. »Wie immer«, sagte Mum.

»Hat nicht der letzte Pilot, den wir hier hatten, seine Maschine gegen einen Strommasten gesetzt?«, fragte ich und schenkte mir Tee nach.

Ohne den Blick von seiner Zeitschrift zu heben, sagte mein Vater: »Ich fürchte ja.«

Mr. Vaas sank ein bisschen in sich zusammen.

»Am besten gar nicht hinhören«, sagte Mum, schob Mr. Vaas energisch von der Veranda und trieb ihn quer durch ihren Garten – ein kühnes Durcheinander von Bougainvillea und Passionsfrucht-Ranken, Lilienbeeten und Strelitzien, Fliederbüschen und Caladien, die über Fleißige-Lieschen-Rabatten aufragten. Mums Hunde tollten ihnen um die Füße. »Meine Familie schikaniert mich, wo sie kann«, sagte sie. Mr. Vaas tätschelte ihr mitfühlend den Arm und wurde mit einem gierigen Grinsen belohnt. »Sie und ich«, prophezeite Mum, »wir werden allen zeigen, was echter Mut ist. Lassen Sie uns die Blixen und der Finch Hatton von Sambia sein.«

Mr. Vaas blinzelte aus der Abenddämmerung in Dads und meine Richtung.

»Was macht der Tee, Bobo?«, fragte Dad. »Noch heiß?«

»Brühend heiß.«

Jetzt verschwand Mr. Vaas und nach ihm Mum in unserem Pferch, wo das Milchvieh ins Freie gekommen war, um den abendlichen Stechmücken zu entgehen. »Come fly with me«, hörte ich Mum singen, »let’s fly, let’s fly away. If you can use some exotic booze, there’s a bar in far Bombay. Come fly with me, let’s fly, let’s fly away.«

Dad ist so gut wie taub von all den Gewehrschüssen, die in seinem Leben um ihn herum abgefeuert wurden (nicht alle von Mum), deshalb hörte er nichts vom Gesang der Nicola Fuller of Central Africa, und ich hielt es für meine Pflicht, ihn zu warnen, dass Frank Sinatra soeben die Bühne betreten hatte. Dad legte die Zeitschrift hin. »Na, da kann man dem kleinen Inder nur die Daumen drücken«, sagte er.

»Sri-Lanker«, verbesserte ich ihn.

Dad zündete sich eine Zigarette an.

»Come fly with me«, trällerte Mum – ihre Stimme schien jetzt aus Richtung der Tabakschuppen zu uns herüberzuwehen –, »let’s float down to Peru.«

Und so parkte Mr. Vaas, angespornt durch Mums beinahe schon angriffslustige Begeisterung, seine betagte, sehr primitive Cessna auf dem Rollfeld neben dem Mkushi Country Club (auf dessen Tennisplätzen kleine Bäume wuchsen und in dessen Bar Fledermäuse unterm Dach nisteten) und bot offiziell seine Dienste als Fluglehrer an. Wäre in dieser Geschichte jemand ums Leben gekommen, hätte sie sich sicherlich in mein Gedächtnis eingeprägt. So aber weiß ich nicht mehr genau, wer noch alles an dem Flugkurs teilgenommen hat; es müssen ein, zwei Farmer und vielleicht noch ein paar andere Frauen gewesen sein. Doch wie bei so vielen Geschichten, die sich um Mum drehen, spielt das sowieso keine große Rolle.

»Wie ein Vogel« fand Mum zum Fliegen – nur mit den technischen Formalien, die für einen halbwegs reibungslosen Flug nötig waren, hatte sie so ihre Probleme. »Diese blöden Zahlen«, musste sie finster einräumen. »Vielleicht hätte ich doch besser aufpassen sollen, als diese verfluchten Nonnen mir das Rechnen beibringen wollten.« Navigation und Treibstoff-Füllmengen zum Beispiel fand sie »sehr verirrend«. Trotzdem konnte eine Bagatelle wie Mums absolute Unfähigkeit, über die zehn Finger an ihren Händen hinaus zu zählen, weder sie noch Mr. Vaas daran hindern, auf die Erfüllung ihres Traums hinzuarbeiten. Den ganzen dunstigen Winter hindurch bis in die ersten heißen Frühlingstage hinein waren die beiden zugange.

Der Zufall wollte es, dass der Tag, auf den sie ihre ersten Start- und Landeversuche terminiert hatte, auf einen Vollmond fiel. Die Tragflächen ruckelten ächzend in der sackenden Spätnachmittagshitze, als Mum und Mr. Vaas die Cessna ans Ende der Startbahn rollten. Sie drehte sich in den Wind, dem Jägermond zu, der blutrot in einem rauchdurchwehten Himmel aufging. Mr. Vaas dirigierte Mum durch den allerletzten Instrumentencheck, und dann schaute sie noch einmal kurz zu der kleinen Wellblechhütte hinüber, in der die anderen Flugschüler warteten, und zeigte der Welt den hochgerichteten Daumen.

Roter Sand wirbelte auf, als das Flugzeug durch die Ameisenbärenlöcher der Startbahn rumpelte. Ein, zwei kleine Hopser, dann schwang es sich empor, kippte nach links und nach rechts, bevor es die Wipfel der Msasa-Bäume unter sich ließ, deren frische Frühlingsblätter kurioserweise orange, rot und gelb leuchteten. Mr. Vaas schaute hinüber zu Mum. »Wie fühlen wir uns, Mrs. Fuller?«

Für die anderen Flugschüler in der kleinen Wellblechhütte neben der Startbahn war zunächst nur ein Knistern zu hören, dann kam die Stimme von Nicola Fuller of Central Africa, noch leicht zittrig von dem wahnwitzigen Mut, der sie in die Lage versetzte, Abenteuer und Möglichkeiten zu erblicken, wo andere nur Katastrophen und Tragödien sahen. »Fly me to the moon«, sang sie, noch nicht ganz fest, aber klar und deutlich, »let me play among the stars.«

Eine Pause. Mit beunruhigendem Lächeln schaute Mum Mr. Vaas an. Auf seiner Stirn perlten winzige Schweißtropfen. »Und es gehört schon was dazu, einen Sri-Lanker ins Schwitzen zu bringen«, sagte sie hinterher.

»Immer sachte«, sagte Mr. Vaas.

Mums Stimme kam wieder über Funk, lauter jetzt: »Let me see what spring is like on Jupiter and Mars.«

Aber als das kleine Flugzeug entschlossen auf die untergehende Sonne zuhielt, ein tapferes, dunkelviolettes Ausrufezeichen in einem glühend roten Himmel, fing Mr. Vaas wild zu gestikulieren an. »Umdrehen! Drehen Sie sofort um!«

Mum wollte über das Flakgeschütz auf der Mkushi River Bridge hinwegfliegen. Die Rhodesier hatten die Brücke während des Rhodesischen Buschkriegs gesprengt, was selbst aus heutiger Sicht noch übertrieben erscheint – schließlich lag die Brücke, so, wie die Straßen beschaffen waren, mindestens ein, zwei Tage Fahrt von der rhodesischen Frontlinie entfernt. Die Vergeltung der sambischen Armee sah so aus, dass sie, als der Krieg schon vorbei war, auf der Nordseite der Brücke einen ständigen Maschinengewehrposten gegen die South African Defense Forces installierte. Da Südafrika Tausende von Kilometern weit wegliegt und die eigentlichen Kämpfe wie üblich anderswo stattfanden, boten sich den sambischen Schützen nicht viele Ziele. Vor lauter Langeweile schossen sie, mit Bier aufgetankt, auf alles, was in Reichweite war: Krähen, Eukalyptusbäume, Hühner. Wer hätte da vorhersagen wollen, wie sie auf den absolut außerplanmäßigen Anflug eines echten Flugzeugs reagieren würden?

Mr. Vaas wurde autoritär. »Ich habe keine Freigabe für die Brücke. Drehen Sie um!«

»In other words«, trällerte Mum, »hold my hand.«

Mr. Vaas betrachtete sie grimmig. »Wir landen. Wir starten. Wir landen. Wir starten. Bums. Bums. Bums. Bums. Keine Brücken, keine Gesänge, verflixt und zugenäht.«

Mum betrachtete ihren kleinen Sri-Lanker mit bekümmertem Tadel. »Wir könnten nach Zaire fliegen«, bot sie an. »Das liegt gleich hinter den kleinen Hügeln.«

Der Grimm in Mr. Vaas’ Blick wurde bedrohlicher. »Wir kehren jetzt schleunigst zum Rollfeld zurück«, sagte er.

Ein Schleier fiel über Mums Augen, aber sie nickte. »Roger«, sagte sie. In dem Moment sei ihr klar geworden, sagte sie später, dass sie nie allein über das sambische Hochplateau fliegen würde, an den Felsklippen entlang und den Luangwa River hinauf, ausfächernde Elefantenherden vor sich herjagend, das Licht von Höhe und Adrenalin so ausgedünnt, dass es dem perfekten Licht ihrer Kindheit nahekam. »Also flog ich die Cessna zurück, setzte sie auf der Piste auf und begrub auch diesen Traum«, sagte sie.

Im Gedenken an ihren zerstörten Traum stellte Mum Trevor Thoms’ dreibändiges Pilotenhandbuch auf ihr Badezimmerregal, neben Charles Berlitz’ German Step-by-Step und Commander F. J. Hewetts Sailing a Small Boat. »Man kann nicht alles haben«, sagte sie. Und mit der ihr eigenen anfallartigen Großherzigkeit verzieh sie ihrem schneidigen kleinen Sri-Lanker trotz seiner – zumindest sah sie es so – grandiosen Mittelmäßigkeit als Fluglehrer. »Soviel ich weiß, hat kein Einziger von uns auch nur die theoretische Prüfung bestanden«, sagt Mum. Und dann reckt sie das Kinn hoch: »Aber ich bin geflogen, oder etwa nicht? Ich bin geflogen.«

Und es stimmt ja, niemand kann ihr den Tag nehmen, an dem sie das Flugzeug über die Msasa-Bäume hinweg um das Gelände des Country Club herum und wieder zurück auf die holprige Landepiste zog, aus der untergehenden Sonne mitten hinein in den glühenden Jägermond. Der Propeller ruckelte zum Stillstand. Die Tür zum Cockpit sprang auf. Staub sank herab. Einen Augenblick lang hörte die Welt auf zu atmen. Und dann – Mr. Vaar auf dem Platz des Copiloten wischte sich noch die Stirn – ließ Mum Beryl Markham und Karen Blixen zu einem Nichts verblassen, als sie lächelnd dem Cockpit entstieg und ihren begeisterten Fans, realen und eingebildeten, das V für Victory zeigte.

Nicola Huntingford kommt zur Welt

Isle of Skye, Schottland, 1944

Treppenaufgang in Waternish House,Schottland, ca. 1940

Nicola Fuller of Central Africa hält die Werte ihres Clans in Ehren: Treue zum Blut, Liebe zum Land, Tod vor Unterwerfung. Das sind Grundsätze, für die man tötet und sich töten lässt, und in jeder nur erdenklichen Hinsicht waren es genau die Werte, an denen man in Afrika stur festhielt, wenn man weiß war und wild entschlossen, das Land in weißer Hand zu behalten, zuerst während des Mau-Mau-Aufstands in Kenia, später während des Rhodesischen Krieges. Es waren ganz sicher nicht die Werte der auf einmal ach so liberalen Weißen, die in diesen afrikanischen Ländern die Zeit nach der Unabhängigkeit nur überlebten, indem sie – plötzlich zu Rückgrat gekommen – erklärten, sie seien »von Anfang an auf Seiten des Volkes« gewesen und für die Menschlichkeit eingetreten, und die Ungleichheit sei für sie schon immer ein unerträgliches Unrecht gewesen.

»Du liebe Zeit!«, sagt Mum gequält. »Die Humanität zu unserer Sache machen? Im Ernst? Klingt das nicht nach Wiedergeburt?« (Prinzipiell hat Mum nichts gegen wiedergeborene Christen, aber in England ist sie mal in einen evangelikalen Gottesdienst geraten, von dem sie sich nie richtig erholt hat. »Plötzlich war ich umringt von lauter wimmernden Menschen, die meine Hand halten wollten.«) »Du meine Güte, nein«, sagt Mum. »Vielen Dank.«

Mum hat gekämpft für das Land, das sie als »ihre afrikanische Heimat« verstand, und sie hat es erbittert und voller Überzeugung getan. Da ist es aufschlussreich, sich ihre politischen Helden vor Augen zu führen (aus denen sie kein Geheimnis macht, denn sie hat ihre Lieblingstiere nach ihnen benannt): Che Guevara, Josip Broz Tito und Aung San Suu Kyi. Mit anderen Worten, Mum bewundert Führer des Volkes, mit dem Volk selber scheint sie weit weniger Geduld zu haben. Der Fairness halber sollte erwähnt werden, dass eine ihrer Katzen Maggie Thatcher hieß, und einen ihrer neuen Jack-Russell-Welpen hat sie Papa Doc getauft. »Er ist so diktatorisch«, hat sie mir kürzlich stolz geschrieben. »Er guckt schon richtig finster, dabei ist er erst sechs Wochen alt.«

Nicola Fuller of Central Africa erblickte am 9. Juli 1944 im Vorderzimmer des Wirtschafterhäuschens auf Waternish Estate, dem Anwesen der Familie ihrer Mutter auf der Isle of Skye, das Licht der Welt. Ihre Mutter war eine Macdonald of Clanranald. Das Wappen des Clans zeigt einen körperlosen, aus den Zinnen einer Burg ragenden Arm, der ein überproportional breites Schwert hält. Das Motto des Clans, das wohl niemand so richtig ernst nimmt, lautet »My hope is constant in Thee« (Meine Hoffnung ruht unbeirrbar in Dir). Umso ernster scheint mir dagegen der Schlachtruf genommen zu werden: Dh’aindeoin co theireadhe e, aus dem schottischen Gälisch übersetzt: »Widersetze sich, wer es wagt.«

Zuerst machte es mich ein bisschen fassungslos, dass Mums Familie einen Schlachtruf hatte, doch wenn ich es mir genau betrachte, hätte man für eine Einstellung meiner Mutter einen Schlachtruf erfinden müssen, wenn es noch keinen gegeben hätte. Während des Buschkriegs in Rhodesien verzichtete sie sogar auf den gälischen Schlachtruf ihrer Familie und suchte sich ihren eigenen. Sie entlieh ihn aus einem Song von Cliff Richard and the Shadows, in dem es um einen brasilianischen Banditen ging, der mit dem Revolver der Schnellste war und schoss, um zu töten, und damit war Mums Interesse am Wortlaut des Textes eigentlich schon erschöpft. Tatsächlich kam sie über das erste Wort meist nicht hinaus – ein laut ausgerufenes »Olé!«, das es allen, die des Gälischen nicht mächtig waren, leichter machte, dafür hatten diejenigen das Nachsehen, die kein Spanisch sprachen. Vanessa und ich übersetzten das Wort mit »Hooray!«. Die Bedeutung war ohnehin klar: Hier kam meine Mutter, sie war bewaffnet, und – man durfte seinen schändlichen Kommunistenarsch darauf verwetten – sie war gefährlich.

Meine Großmutter gab ihrem ersten Kind die Namen Nicola Christine Victoria – drei Taufnamen als Trost für all die Kinder, die sie bis zur Geburt dieses ersten bei Fehlgeburten verloren hatte. Nicola zum Gedenken an einen Nichols-Zweig ihrer Familie, Christine nach der Hauswirtschafterin in Waternish, die meiner Großmutter während der Geburt beigestanden hatte, und Victoria, weil meine Mum nur gut einen Monat nach dem D-Day zur Welt gekommen war.

Zusammen mit Nicola Christine Victoria waren am selben Tag auf Waternish noch zwei andere Kinder zur Welt gekommen – ein kleiner Babyboom. Die beiden anderen Kinder beanspruchten ihren Platz in der Chronik neben meiner normalerweise im Mittelpunkt stehenden Mutter, weil bei einem von ihnen später eine Art Zwergwuchs diagnostiziert wurde und bei dem anderen die Füße verkehrt herum gewachsen waren. »Die Glückliche«, soll meine Großmutter gesagt haben, als sie davon erfuhr, »das kommt ihr zustatten, wenn sie später mal Schermesserfische fangen will.«

»Wieso Schermesserfische?«, frage ich.

»Schermesserfische«, erklärt Mum, »leben am Strand im sandigen Grund. Man schleicht sich rückwärts an sie heran.«

Obwohl sie bis auf ein kurzes Zwischenspiel in England ihr ganzes Leben in Afrika verbracht hat, begreift sich Mum – was ihre Herkunft betrifft – als tausendprozentige Hochlandschottin. Ihr Vater war Engländer, aber das zählt nicht, sagt Mum; schottisches Blut (insbesondere das der Hochlandsorte) löscht englisches Blut aus. Wie zum Beweis kommen Mum bei Dudelsackmusik regelmäßig die Tränen, und einmal hat sie sogar versucht, einen Koffer voll Haggis durch den sambischen Zoll zu schmuggeln (damals hatte sie eine manische Phase, muss der Ordnung halber dazugesagt werden). Tatsächlich wechselt ihre Augenfarbe von Grün zu einem hellen Gelb, wenn sie sich über etwas aufregt oder im Begriff ist, ernstlich den Verstand zu verlieren. Außerdem hat Mum eine Art zweites Gesicht, das heißt, sie hat Zugang zu unsichtbaren Welten und etwas seltsame Einstellungen zu Dingen wie Erleuchtung, Prophezeiung und Visionen. Sie glaubt an Geister und Feen.

Diese Gabe ist ihr von ihrer gar zu zweitausend Prozent hochlandschottischen Mutter vererbt worden, deren Fähigkeit hellzusehen so ausgeprägt war, dass sie mit verblüffender Exaktheit die Zukunft voraussagen konnte. »Das wird mit Tränen enden, ihr werdet es sehen«, pflegte meine Großmutter mehrmals am Tag zu sagen. Meine Großmutter unterhielt sich allen Ernstes und mit größter Nonchalance mit Feen und Geistern, vorzugsweise nach dem zweiten vormittäglichen French Coffee mit Gin, der ihr in den späten Lebensjahren zur Gewohnheit geworden war (allerdings war sie es auch, die behauptet hatte, nach elf Uhr vormittags im Kreis gehen zu müssen, weil das eine Bein kürzer sei als das andere, also ist das alles mit Vorsicht zu genießen).

Ich dagegen scheine nichts von Mums Hang zur Gewalt geerbt zu haben. Ich bin nicht hellsichtig wie meine Großmutter. Ich gebe nicht jedes Mal, wenn wir alle zu viel getrunken haben, einseitige Unabhängigkeitserklärungen ab. Meine Augen sind dunkelgrün und bleiben dunkelgrün, und wenn ich noch so wütend oder erregt bin. Ich sehe durchaus die Schönheit von Schottland oder Teilen davon, aber ich sinke nicht auf die Knie, sobald ich den Fuß auf den Boden der Isle of Skye setze und die Torfluft atme. Und obwohl eins meiner Beine kürzer als das andere ist, pflege ich nicht im Kreis zu gehen, nicht einmal wenn ich betrunken bin.

»Daran sieht man«, sagt Mum, »dass du bei der Geburt vertauscht worden bist. Dir geht die Liebe zum Clan ab. Treue zur Familie über alles. Blut, Blut, Blut.« Um der Sache Nachdruck zu verleihen, ist sie dazu übergegangen, mich den Leuten als ihre »amerikanische Tochter« vorzustellen. Dann legt sie eine bedeutungsvolle Pause ein, um meine Andersartigkeit, mein unverhohlenes Von-drüben-Sein einsinken zu lassen, bevor sie mit freudlosem Lachen hinzufügt: »Also hütet eure Zunge, oder ihr landet in einem ihrer grässlichen Bücher.«

An dieser Stelle lässt Mum keinen Zweifel an ihrer Überzeugung, dass das Blut ihrer Vorfahren in meinen blauwandigen Venen eine Art Vollbremsung hingelegt haben muss. Infiziert von amerikanischer Gewöhnlichkeit, treulos bis zum Gehtnichtmehr, wird das Schottische in meinen Adern wie bei einem Druckverband abgeklemmt. Ich bin keine tausendprozentige Hochlandschottin. Ich gehöre nicht zum Clan. Für Heimatgefühle habe ich nichts übrig. Ich habe das wunderbare alte Afrika verschmäht und den Atlantik überquert, um mich der langweiligen Neuen Welt anzuschließen. Und was das Schlimmste ist: Das alles habe ich in einem grässlichen Buch breitgetreten wie in der Jerry Springer Show.

Der Mann in Casper, Wyoming, dessen Job es war, Menschen zu verhören, die sich im Cowboy State als Amerikaner einbürgern lassen wollten, hatte fast sein ganzes erwachsenes Leben beim Militär zugebracht. Sein Kiefer wurde von einem Draht zusammengehalten, weshalb er durch geschlossene Zähne sprechen musste, und das klang dann so, als könnte er nur mit größter Mühe einen tief empfundenen Hass auf die Welt im Allgemeinen und Einwanderer in die Vereinigten Staaten im Besonderen unterdrücken. Er stellte mir ein paar Fragen zur Verfassung und dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, wollte wissen, wie viele Sterne auf dem Sternenbanner leuchten und in welcher Farbe, bevor er zu den zutiefst persönlichen Fragen wechselte.

»Sind Sie oder waren Sie jemals Mitglied der Nazi-Partei?«

»Nein«, sagte ich.

»Sind Sie oder waren Sie jemals Mitglied der Kommunistischen Partei?«

»Nein«, sagte ich.

»Sind in Ihrer Familie«, wollte der Mann wissen, »Fälle von Geisteskrankheit bekannt geworden?«

Mum hätte in einer solchen Situation die Genugtuung einer Studentin durchströmt, der man eine Examensfrage zu einem Thema stellt, mit dem sie sich ihr Leben lang beschäftigt hat. Sie hätte sich für eine ausführliche Antwort behaglich zurückgelehnt und begonnen: »In der Tat gibt es in unserer Familie seit Jahrhunderten Anzeichen geistiger Instabilität: seltsame Anwandlungen, psychische Labilität, Depressionen, solche Dinge.«

Ich schaute dem Mann nur fest in die Augen, schüttelte entschieden den Kopf und antwortete: »Nein.«

Und so kam es – weil ich meine Mutter und den Großteil ihrer Vorfahren verleugnet hatte –, dass ich im Frühherbst 2002 als Ausländerin zum ersten Mal schottischen Boden betrat. Mein nagelneuer blauer amerikanischer Reisepass sah sehr flach und sehr glatt und deshalb auch fast ein bisschen gefälscht aus, als wäre ich eine mit provisorischen Papieren ausgestattete Auftragsspionin. Ich mietete mir ein Auto und fuhr nach Westen, quer durch Schottland, bis die Straßen einspurig und die Landschaften immer zerklüfteter und ungestümer wurden. Wie auf den Postkarten gab es auch in Wirklichkeit überall Schafe, und Schafe hatten überall Vorfahrt (sie blieben mitten auf der Straße stehen und schauten ungnädig aus der Wolle, wenn ich um sie herumrollte). Als ich jedoch nach Skye kam, waren da plötzlich Elefanten, Kamele und Kaffernbüffel auf den dreieckigen gelben Schildern zu sehen, die andernorts vor Schafen warnten. Vorsicht, Elefanten auf der Straße. Vorsicht, Kamele auf der Straße. Vorsicht, Kaffernbüffel auf der Straße.

Kaum hatte ich mir ein Cottage für eine Woche gemietet, fing es natürlich an zu regnen. Es war kein normaler Regen, auch kein normaler, starker Regen, nein, so muss es sich anfühlen, wenn irgendein Allmächtiger auf die Idee kommt, mal eben den Ozean über deinem Kopf auszuschütten. Der Wind blies so heftig, dass er alle naselang die Alarmanlage des Autos auslöste. Möwen flogen an den Fenstern des Cottages vorüber – rückwärts. Vier Tage lang verließ ich das Haus nicht, weil ich nicht glauben wollte, dass ein solches Wetter ewig dauern konnte. Am fünften Tag packte ich mich von Kopf bis Fuß in wasserdichte Materialien und wagte mich mit Landkarte und Laptop bewaffnet auf den gewaltigen Brocken wilder Landschaft an der nordwestlichen Klaue der Insel.

Meine Erinnerung an die Gespräche, die ich im Lauf der Jahre mit Mum und Granny geführt hatte, leitete mich mindestens so gut wie die Landkarte. Land, Himmel und Meer hatten alle denselben verregneten Grauton, der das Erkennen von markanten Orientierungspunkten fast unmöglich machte, aber schließlich fand ich das herrschaftliche alte Haus auf Waternish Estate, ein großes zerfallenes Gemäuer mit schwarzen Löchern, wo früher die Fenster waren, Löchern, die es blind und leblos erscheinen ließen. Ich parkte am Straßenrand, und als ich das Grundstück betrat, kam ich mir wie ein Eindringling vor, nicht gegenüber dem jetzigen Besitzer, wer immer das sein mochte, sondern gegenüber Mums rebellisch-romantischer Vorstellung von ihren Ahnen.

Als ich auf die Lichtung kam, erschrak ich beinahe vor dem unerwarteten Anblick der Araukarie, die am Rande einer freien Fläche stand, die früher ein Rasen gewesen sein musste. Ich hatte von dem Baum, einer Koniferenart aus Südamerika, alte Schwarzweißfotografien aus den zwanziger Jahren gesehen, aber nichts hätte mich auf diese Fremdheit auf einem verwilderten Küstengrundstück in Schottland vorbereiten können.

»Wahrscheinlich ist sie zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts von Major Allan Macdonald gepflanzt worden«, hatte Mum gesagt. »Der Major hatte eine große Begeisterung für Gartenbau und Landwirtschaft. Seine Hochlandrinder waren preisgekrönt, und er liebte seine Cairn Terrier über alles. Er hat die Zucht begonnen, oder wie immer das heißt, wenn jemand einen Hund erfindet. Gezüchtet hat er sie, damit sie die wilden Otter abmurksten, die ihm den Fischfang verdarben.«

Trotz des Massakers an den Ottern gab es keinen Zweifel, dass Major Allan Macdonald Mums ungeteiltes Wohlwollen genoss. Und als absolut loyale Macdonald of Clanranald sagt Mum gleichfalls nichts gegen seine Cairn Terrier, auch wenn sie als junge Frau von einem Rüden namens Robert so malträtiert worden war, dass an ihrer Oberlippe eine Narbe zurückgeblieben ist. »Ach, da war ich selber schuld«, sagt sie. »Ich hab ihn erschreckt, und das mögen Cairn Terrier nun mal nicht.«

Major Allans Sohn, Captain Allan – in der Familie Muncle genannt –, teilte die Begeisterung seines Vaters für Rinder und Hunde. Gegen Ende der 1840er-Jahre segelte unter seinem Kommando eines der letzten Sträflingsschiffe nach Tasmanien. Auf die Reise nahm er ein paar von den Cairn Terriern mit, und in der Familienchronik ist zu lesen, dass er im Tausch gegen die Hunde zwei tasmanische Aborigines vom Stamm der Palawa mit nach Hause gebracht hat. Die Aborigines sollen bis zu ihrem Tod auf Waternish Estate gelebt haben, zusammen mit einem gezähmten Hirsch (vom passionierten Jäger Muncle geblendet, aber nicht getötet) und einer Meute kläffender Terrier.

Die beiden angeblichen Palawa lassen mir keine Ruhe. Nur Gott weiß, welch schreckliche Erinnerungen an ihre Heimat sie in ihren Seelen bargen, aber auf dieser seltsamen Insel nun, wo alle nur Gälisch sprachen, konnten sie sich nicht einmal mitteilen und von ihrem Martyrium erzählen. »In den 1820ern passierten schreckliche Dinge in Tasmanien«, schreibt Jan Morris in Heaven’s Command: An Imperial Progress. »Nicht selten wurden Schwarze zum Vergnügen gejagt … manche en passant vergewaltigt, andere als Mätressen oder Sklaven entführt. Die Robbenfänger auf den Bass-Inseln richteten sich ihre ganz private Sklavenhaltergesellschaft mit Harems ein und bedienten sich des bewährten Instrumentariums der Sklaverei – Stockschlägen, Aufhängen an Bäumen, Auspeitschungen mit Gerten aus Kängurudärmen. Auf einem Raubzug wurden siebzig Ureinwohner getötet, die Männer erschossen, Frauen und Kinder aus Felsspalten gezerrt und erschlagen.«

Am 1. Dezember 1826 verkündete die tasmanische Colonial Times: »Wir heucheln nicht selbstgefällig Menschenliebe. Wir sagen unzweideutig: SELBSTVERTEIDIGUNG IST DAS ERSTE GESETZ DER NATUR. DIE REGIERUNG MUSS DIESE EINGEBORENEN FORTSCHAFFEN – ODER SIE WERDEN WIE WILDE TIERE GEJAGT UND GETÖTET!«

Mit dem allergrößten Wohlwollen könnte ich mir vorstellen, dass Muncle die beiden Palawi nach Waternish gebracht hat, um sie vor dem Völkermord zu retten, dem sie in Tasmanien zweifellos zum Opfer gefallen wären.

»Das bezweifle ich«, sagt Mum. »So einer war Muncle nicht.«

Ich habe Fotos von Muncle mit seinen Terriern und mit seinem Hirsch gesehen, aber die Palawi sind Geister geblieben, werden nirgendwo sichtbar. Ich weiß ja nicht einmal, ob es Männer oder Frauen oder wie alt sie waren. Und solange ich keinen Gegenbeweis habe, stelle ich mir zwei heimwehkranke Männer mittleren Alters vor, wie sie in Gesellschaft eines blinden Hirsches in diesem regengepeitschten Garten unter einem südamerikanischen Baum sitzen, von bösartigen, unberechenbaren Terriern fast zum Wahnsinn getrieben.

»Eine schreckliche Geschichte«, sage ich zu Mum. »Wo liegen sie denn begraben?«

»Na, auf dem Friedhof sicher nicht, sie waren ja keine Christen.« Und nach einer Pause: »Sie waren Heiden.« An der Art, wie sie das Wort ausspricht, kann ich erkennen, dass es ihr gefällt – Heiden – mit all seinen Somerset Maughamschen Konnotationen. »Aber hinter dem Haus gibt es einen hübschen kleinen Tierfriedhof«, sagt sie. »Gut möglich, dass sie dort begraben liegen.«

»Zusammen mit den bissigen Kötern«, sage ich.

»Ach, weißt du«, sagt Mum, »mich würde das nicht stören.«

Ihre Augen werden bedrohlich hell. »Du wirst das hoffentlich nicht in eins deiner grässlichen Bücher schreiben, oder?«, sagt sie. »Sonst graben die Aborigines die Insel vom einen Ende zum anderen um, um ihre Verwandten zu finden.« Sie denkt kurz darüber nach. »Na ja, da uns das Anwesen nicht mehr gehört, ist es eigentlich auch egal.«

Nach dem Tod des übellaunigen Donald wurde Waternish Estate in den 1960er-Jahren an einen Holländer verkauft. Der Holländer wiederum verkaufte einen Teil des Anwesens an den schottischen Sänger und Liedermacher Donovan. Donovan war der erste britische Musiker, der auf der Flower-Power-Welle mitschwamm. Weltberühmt wurde er mit seinen fantastischen psychedelischen Hits Sunshine Superman, Season of the Witch und The Fat Angel und weil er der erste britische Popstar war, der wegen Marihuanabesitzes verhaftet wurde. Man erzählt sich über Donovan, dass er groovy war und oft mit Bob Dylan verwechselt wurde, worüber er sich sehr geärgert haben soll.

»Irgendwann Anfang der Siebziger hat Bob Dylan einen Teil des Besitzes gekauft«, verrät mir Mum. »Aber wie die Hippies nun mal sind, hat er ein Wasserbett in den ersten Stock schaffen lassen, und das ist durch die Decke gekracht.«

»Nicht Bob Dylan«, sage ich. »Donovan.«

»Wer?«, sagt Mum.

Das einzige Stück Erde, auf das die Macdonalds of Waternish überhaupt noch Anspruch haben, sind ein paar Grabhügel auf dem Friedhof hinter der Ruine der Trumpan Church. Unter zwei kleineren liegen meine Großeltern begraben, und ein größerer beherbergt eine ganze Bande meiner mörderischen ermordeten Angehörigen. Ich bin ans Meer gefahren und habe die Gräber meiner Großeltern gefunden. Als ich auf sie herunterschaute, fragte ich mich, unter welchem mein Großvater und unter welchem meine Großmutter lag. Mum versucht immer noch, sich an die Geburtsdaten zu erinnern, um sie auf ihre Grabsteine gravieren zu lassen, und bis dahin bleiben die Gräber anonym. »Ist das nicht furchtbar«, sagt sie, »mir will einfach nicht einfallen, wann sie geboren sind.« Aber das war in unserer Familie immer so. Lange Menschenleben werden auf ein, zwei lächerliche oder bösartige Anekdoten reduziert. Wann wir auf die Welt gekommen sind oder sie wieder verlassen haben, ist dabei nicht wichtig. Geboren werden oder sterben kann schließlich jeder, aber wer sammelt schon Aborigines oder erfindet neue Hunde?

Ich drehte mich um, blickte hinaus auf die Äußeren Hebriden. Zwischen mir und dem Meer lag das Massengrab für Hunderte meiner Vorfahren, ums Leben gekommen in einer der blutigsten Episoden der schottischen Geschichte. Es starben so viele, dass man statt eines ordentlichen Begräbnisses einen Erdwall über die Leichen geschoben hatte, und die Schlacht ging unter dem Namen »The Spoiling of the Dyke« (Die Schändung des Deiches) in die Chroniken ein. Jeder in meiner Familie erinnert sich an diese Geschichte, nicht nur, weil sie so brutal war oder weil wir dabei so viele Vorfahren verloren hatten (das war den Macdonalds of Clanarald mit deprimierender Regelmäßigkeit widerfahren), sondern weil in ihr eine Vergewaltigung, zwei verhängnisvolle Feuer und eine abgerissene Brust vorkamen – selbst für unsere Standards eine recht muntere Akkumulation von Dramatik.

Ungefähr 1577 hatte ein Macdonald eine Jungfrau der MacLeods missbraucht, »oder durch irgendetwas ihren Zorn erregt«, sagt Mum. Als Reaktion darauf – »aus heutiger Sicht eine gelinde Überreaktion« – trieben die MacLeods dreihundertfünfundneunzig Macdonalds in die St.-Francis-Höhle auf der Insel Eigg und zündeten vor dem Eingang ein Feuer an. Die gefangenen Macdonalds erstickten. Clanranald, das Oberhaupt der Macdonalds, nahm sich den ganzen Winter und halben Frühling Zeit, auf eine geeignete Vergeltung zu sinnen. »Logisch«, sagt Mum, »Highlander sind nicht gerade dafür bekannt, die andere Backe hinzuhalten.« Und so schlichen sich am ersten Sonntag des Mai 1578 Kämpfer der Macdonalds im Schutze dichten Nebels an die Trumpan Church, in der sich eine große Zahl MacLeods von nahe gelegenen Höfen zum Gottesdienst versammelt hatte. Die Macdonalds verriegelten die Kirchentür von außen und setzten Feuer auf das Strohdach. Alle dem Gottesdienst beiwohnenden MacLeods verbrannten, bis auf eine junge Frau, die entkam, indem sie sich durch ein schmales Fenster zwängte und sich dabei eine ihrer Brüste abriss.

Ich blinzle durch den starken Regen und stelle mir die junge Frau vor, wie sie blutend und in panischem Schrecken durch den Nebel über der Heide zum Dunvegan Castle läuft. Als sie ihre Hilferufe hörten, hissten die MacLeods ihr gefürchtetes Banner – »Die Fairy Flag«, sagt Mum, die diesen Teil der Geschichte genießt, »wir sind nämlich ein sehr mystischer, wilder Menschenschlag, weißt du?« Sie stürmten daraufhin die verrußten Überreste der Trumpan Church, trieben die Macdonalds in die Ecke und metzelten sie nieder, bevor sie fliehen konnten. »Das nenne ich Zusammenhalt«, stellt Mum anerkennend fest.

Ich ging um die Kirchenruine herum zu dem kleinen Fenster. Es erschien mir wie ein Schlitz, durch den man bestenfalls einen Pfeil schießen konnte, aber nie und nimmer wie ein Fluchtweg, nicht einmal unter schrecklichsten Umständen. Und überhaupt sollten Kirchen Orte sein, an denen man Schutz findet, aus denen man nicht panisch fliehen muss. Sie sollten generell als Zufluchtsstätten anerkannt werden. Aber darin unterscheiden meine Vorfahren sich nicht von den schlimmsten Verbrechern der Zeitgeschichte – sie gehören auch zu denen, die Menschen in Kirchen getötet haben. Ich kehrte zurück zu dem Ausblick übers Meer und lief den geschändeten Deich entlang. Eine kleine schwarze Wolke war von den Äußeren Hebriden herübergeflogen, um die nächste kleine Flut über mir zu entladen.

Ausgekühlt und durchnässt – Imprägnierung stößt an Grenzen, wenn der Regen nicht mehr nur von oben, sondern auch von unten kommt – flüchtete ich mich ins nächste Pub. Dort saß ich vor einem großen Glas Bitter und wärmte mich auf, umgeben von amerikanischen Touristen, die Clananekdoten und Schottenkaromuster tauschten, und musste daran denken, dass Mum vermutlich gar nicht gerne auf der Insel Skye leben würde. Die endlosen Kriege um Land, die Blutfehden zwischen den Clans – all das ist Vergangenheit. Heute dürfte sie bestenfalls auf eine Wirtshauskeilerei hoffen, und selbst die wäre – der aufgeräumten Natur der Gäste nach zu urteilen – schon wieder vorbei, ehe man sich die besten Ringplätze gesichert hätte.