Urlaub mit Papa - Dora Heldt - E-Book
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Urlaub mit Papa E-Book

Dora Heldt

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Beschreibung

Ihren Urlaub verbringt die 45-jährige Christine unfreiwillig mit ihrem Vater, der ihren Schwarm als Heiratsschwindler zu entlarven versucht. Es sollte ein toller Urlaub werden: Christine (45) will nach Norderney, um einer Freundin bei der Renovierung ihrer Kneipe zu helfen. Doch dann wird sie von ihrer Mutter dazu verdonnert, ihren Vater mitzunehmen. Kaum sind sie dort, übernimmt Heinz (73) auch sofort das Kommando auf der Baustelle. Es kommt für Christine aber noch schlimmer, als Papa erfährt, dass auf der Insel nach einem Heiratsschwindler gefahndet wird. Für Heinz ist klar: Das muss Johann sein, der mysteriöse Pensionsgast, der Christines Herz Kapriolen schlagen lässt. Mithilfe von Papas neuen Freunden - 72, 75, 63 Jahre alt - soll Johann zur Strecke gebracht werden... Der Bestseller 2008/2009 jetzt als Taschenbuchausgabe!  

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Dora Heldt

Urlaub mit Papa

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Für meinen Vater,

in dem auch ein bisschen Heinz steckt,

und für meine Mutter,

die zum Glück tadellose Knie hat.

Nachts ging das Telefon

– Hilde Seipp –

»Es sind doch nur zwei Wochen.«

Die Stimme meiner Mutter klang freundlich und sehr entschlossen. Ich hatte schon zu Beginn des Telefonats ein ungutes Gefühl gehabt.

»Und er ist dein Vater. Andere Kinder würden sich freuen.«

»Mama, was heißt hier andere Kinder? Ich bin 45!«

Ich hätte das Gespräch gar nicht annehmen sollen. Meine Mutter überging meine Antwort. »Ich habe ihm gesagt, dass ihr seine Hilfe gut gebrauchen könnt, weil Handwerker auf den Inseln doch so teuer sind. Und sie machen ja, was sie wollen, gerade wenn niemand danebensteht. Er kann doch ein Auge auf die Arbeiten haben. Und hier und da mal Hand anlegen. Er hilft doch so gerne.«

Ich musste jetzt etwas sagen. »Mama, warte mal. Ich fahre doch nach Norderney, um Marleen zu helfen, ihre Pension und die Kneipe zu renovieren, ich kann mich da nicht auch noch um Papa …«

»Ach, du brauchst dich doch gar nicht groß um ihn zu kümmern, er macht das alles schon allein. Und zu Mittag essen müsst ihr doch auch, da könnt ihr ja für ihn mitkochen. Abends reicht ihm eine Kleinigkeit und Kuchen für nachmittags könnt ihr auch kaufen, Marleen muss ja nicht extra backen.«

Ich überlegte, seit wann mein Vater alles allein machte. Vor sechs Wochen hatte ich meine Eltern das letzte Mal besucht, da war es noch anders gewesen. Ganz anders. Ich bemühte mich, die aufsteigende Panik aus meiner Stimme zu verdrängen.

»Mama, ich halte das für keine gute Idee, ich …«

»Christine, ich habe dich noch nie um etwas gebeten. Das ist ein Notfall. Ich muss zwei Wochen in der Klinik bleiben, da kann Heinz unmöglich alleine zu Hause herumsitzen.«

»Ich denke, er kann alles allein.«

»Doch nicht kochen und waschen und so. Jetzt hör mal auf. Er ist dein Vater. Und du kannst ihn ja wohl mal zwei Wochen mitnehmen. Du hast doch frei. Stell dich nicht so an. Und nach Norderney wollte er sowieso immer mal.«

»Aber ich kann mich da überhaupt nicht mit ihm beschäftigen. Und wie …«

»Ach, das geht alles schon. Außerdem wohnt doch Kalli auf Norderney, du weißt doch, Papas alter Freund. Den kann er auch mal besuchen.«

»Dann kann er doch auch bei denen wohnen.«

»Christine, ich bitte dich. Hanna ist auf dem Festland. Ihre Jüngste, Kathrina, bekommt doch das zweite Baby. Deine Schwester und du, ihr kriegt das ja nicht auf die Reihe.«

Nur Mütter schaffen solche Themenwechsel.

»Mama, ich bin …«

»Eben, sag ich doch. Also abgemacht. Papa kommt nächsten Samstag nach Hamburg, du holst ihn am Bahnhof ab und ihr fahrt gemeinsam nach Norderney. Er kennt das ja alles nicht, mit der Fähre und so. Da ist es schon besser, du bist dabei. Und ich gehe beruhigt ins Krankenhaus und lasse mein Knie operieren.«

Meine letzte Chance: »Lass uns da mal in Ruhe drüber sprechen, das geht so nicht, ich …«

»Mach dir keine Gedanken, mein Schatz. Ich schreibe dir noch alles Wichtige auf und schicke es dir. Also dann, schönen Abend noch und Grüße von Papa. Er freut sich. Tschüss.«

Ich starrte auf das Display des Telefons. Verbindung beendet. Anscheinend war es beschlossene Sache. Ich würde mit meinem Vater Ferien machen. Das erste Mal nach dreißig Jahren. Die letzte Reise endete damit, dass er mich aus pädagogischen Gründen auf dem Rasthof in Kassel stehen ließ. Ich hatte eine schwere Pubertät, das gebe ich zu, aber Kassel fand ich trotzdem zu hart. Auch wenn er mich nach einer halben Stunde wieder abholte und drei Wochen lang ein schlechtes Gewissen hatte. Und nun, nach dreißig Jahren, fingen wir wieder damit an. Wenigstens führte die Fahrt dieses Mal nicht über Kassel.

O mein Papa

– Lys Assia –

Mein Bruder beschrieb unseren Vater mal mit den Worten: »Er hat Augen wie Terence Hill und Schiss wie Rantanplan.« Letztgenannter ist der feige Hund von Lucky Luke, diese magere Töle, die bei jedem unbekannten Geräusch, jeder fremden Person und jeder Veränderung vor lauter Angst seinem Herrchen auf den Schoß springt. Mein Vater springt natürlich niemandem auf den Schoß, dazu ist er zu gut erzogen, und er ist auch keineswegs so dumm wie dieses Tier, aber er hat wirklich sehr blaue Augen. Die Beschreibung ist gar nicht so schlecht.

Während ich die Treppen zu Dorotheas Wohnung hochstieg, dachte ich darüber nach, wie ich ihr die Umstände für unsere Reisebegleitung schonend beibringen könnte. Dorothea und ich kennen uns seit fünfzehn Jahren, sie kennt meine ganze Familie, der Satz »Heinz kommt mit nach Norderney« würde schon alles sagen. Ich musste diesem Satz den Schrecken nehmen, schließlich hatten wir uns auf diese zwei Wochen gefreut, ich wollte auch nicht, dass jemand meinen Vater anstrengend fand, was er aber leider war. Ich formulierte die Sätze im Kopf. »Dorothea, stell dir vor, Heinz kommt mit, ist das nicht nett?« Das ging nicht. »Hallo, Dorothea, meine Mutter hat endlich einen OP-Termin für ihr künstliches Knie, macht es dir etwas aus, dass Heinz mit nach Norderney kommt? Er kriegt es leider nicht auf die Reihe, sich allein zu ernähren.« Ging auch nicht. »Dorothea, du kennst und magst doch meinen Vater. Wie findest du die Idee, ihn mit nach Norderney zu nehmen, damit er meiner Mutter in der Klinik nicht auf die Nerven geht?« Großartig. »Dorothea, ich habe mir überlegt, dass Heinz uns bei der Renovierung von Marleens Pension helfen könnte, ich möchte ihn gern mitnehmen.« Das würde sie mir nicht glauben. »Dorothea, sag mal …«

Die Wohnungstür wurde geöffnet, Dorothea stand vor mir, einen Einkaufskorb in der Hand. »Hallo, Christine, ich wollte gerade zum …«

»Heinz kommt mit.«

Das war nicht gut formuliert. Dorothea runzelte die Stirn.

»Zum Einkaufen?«

»Nach Norderney.«

»Welcher Heinz? … Dein …?«

»Ja, der.«

»Mit uns? Zu Marleen? Am Samstag?«

»Ja.«

Ich wartete auf einen Zusammenbruch, einen verständnislosen Blick oder einen Schreikrampf, aber nichts passierte. Ungerührt stellte Dorothea ihren Einkaufskorb ab und ging zurück in ihre Wohnung. Ich folgte ihr in die Küche und sah zu, wie sie begann, Tee zu kochen. Pfeifend. Ich erkannte ›O mein Papa‹ und bemühte mich um ihr Verständnis.

»Meine Mutter hat mich vorhin angerufen. Sie bekommt doch ein neues Kniegelenk und jetzt ist ganz plötzlich ein OP‑Termin frei geworden, irgendjemand ist da wohl abgesprungen. Meine Tante ist im Urlaub, meine Schwester segelt in Dänemark, mein Bruder ist auf Geschäftsreise, also bin ich die Einzige, die sie erreichen konnte. Du kennst ja meinen Vater, der kann nicht zwei Wochen allein zu Hause bleiben. Er weiß noch nicht mal, wie man Kaffee kocht. Geschweige denn eine Kartoffel. Oder ein Ei. Außerdem ist er farbenblind und dementsprechend zieht er sich auch an, wenn keiner guckt.«

Ich überlegte, was ich noch sagen könnte, ohne ihm die Würde zu nehmen. Es war schwierig, Dorothea sollte nicht schlecht über ihn denken, andererseits hatte er einige Angewohnheiten, die, vorsichtig umschrieben, eher ungewöhnlich waren.

»Ich finde deinen Vater witzig.«

Ich schluckte. Dieses Wort hätte ich nicht gewählt. Dorothea goss kochendes Wasser in die Teekanne und drehte sich zu mir um.

»Heinz ist doch noch richtig fit. Und wenn er Lust hat, uns zu helfen, ist das doch nett. Wenn ihm das nicht zu anstrengend wird.«

Wenn ihm das nicht zu anstrengend wird?

Dorothea stellte die Teekanne auf den Tisch und nahm Tassen aus dem Schrank.

»Mach doch nicht so ein besorgtes Gesicht. Wir können ja drauf achten, dass er sich nicht zu viel zumutet.«

»Dorothea, du verstehst mich nicht. Ich habe eher Sorge, dass er mir zu viel zumutet. Er kann ein bisschen anstrengend sein. Er kann wirklich nichts allein, er muss beschäftigt werden, er mischt sich in alles ein, er weiß alles besser, er hat vor allem Neuen Angst, er …«

Ich biss mir auf die Zunge, das wollte ich alles gar nicht erzählen. Ich habe meinen Vater gern. Am liebsten mit drei Stunden Fahrzeit zwischen uns. Oder im Beisein meiner Mutter. Oder mal auf eine Tasse Kaffee. Aber zwei Wochen in einer Ferienwohnung mit ihm, mit drei Stunden Fahrzeit zu meiner Mutter, die in einer Hamburger Klinik ihr neues Kniegelenk pflegt, das konnte zu ungeahnten Turbulenzen führen. Aber das würde Dorothea nicht verstehen. Das würde sie erleben müssen. Ich rührte Zucker in meinen Tee und sah Dorothea an.

»Na ja, vielleicht wird es tatsächlich ganz entspannt und Marleen freut sich über seine Hilfe.«

Ich glaubte mir selbst kein Wort. Dorothea nickte.

»Siehst du. Ich freue mich jedenfalls auf die beiden Wochen, auch mit Heinz. Da werden wir doch einiges erleben, oder?«

Ich versuchte zu nicken. Darauf konnten wir wetten.

 

Meine Freundin Marleen hatte eine alte Pension mit Kneipe auf Norderney übernommen. Eine Tante von ihr hatte sie jahrzehntelang geführt und vor einem Jahr, mit fast 70, beschlossen, dass sie jetzt endlich mal leben müsse. Treibende Kraft bei diesen Plänen war Hubert, ein 74-jähriger Witwer aus Essen, der seit 20 Jahren als Stammgast zu ihr kam, achtzehn Jahre mit der Gattin, dann ohne. Tante Theda hatte ihrer Nichte Marleen erzählt, dass Hubert auf einmal ein ganz neuer Mensch sei, »so was von abenteuerlustig, das glaubst du nicht«, und seiner lang bekannten Pensionswirtin eine feurige Liebeserklärung gemacht habe. Er wolle zwar nicht wieder heiraten, habe er verkündet, das sei ja dummes Zeug, aber er wolle mit Theda um die Welt reisen, erst mal nach Sylt, dann Mallorca und danach vielleicht Amerika. Theda war geschmeichelt, aber noch verhalten. Im selben Gespräch erzählte Marleen ihrer Tante, dass sie sich von ihrem Freund, mit dem sie eine Kneipe führte, getrennt habe. Das Mitleid ihrer Tante hielt sich in Grenzen, sie quittierte die Neuigkeit mit dem Satz: »Na, das ist doch wunderbar, dann kommst du für ein paar Monate nach Norderney und schmeißt die Pension, ich kann das mit Hubert ausprobieren und du musst den Blödmann zu Hause nicht mehr sehen. Und Kneipe ist Kneipe, hier kannst du auch arbeiten.«

Sie hatten alles richtig gemacht, Theda und Hubert waren voneinander begeistert, Marleen war es von Norderney und die Pensionsgäste waren es von Marleen. Hubert schlug vor, Theda solle für sich eine kleine Ferienwohnung einrichten und das übrige Gebäude mitsamt der Kneipe Marleen überschreiben. Marleen ließ sich von ihrem Exfreund auszahlen und steckte das Geld in die Renovierung der Kneipe. Sie war fast fertig, in drei Wochen sollte die neue Bar eröffnet werden.

Dorothea und ich hatten für diese Zeit Urlaub genommen, Marleen hatte uns eine Ferienwohnung gemietet, morgens wollten wir beim Renovieren oder in der Pension helfen, nachmittags am Strand liegen und abends in der »Milchbar« oder der »Weißen Düne« kalten Weißwein trinken. Bis jetzt.

 

Ich wählte die Telefonnummer von Marleen.

»Haus Theda, mein Name ist de Vries, guten Tag.«

»Hallo, Marleen, hier ist Christine.«

»Sag jetzt bitte nicht, dass ihr nicht kommen könnt. Die Pension ist voll, die Handwerker schneckenlangsam und eine meiner Aushilfen hat sich eine Muschel in den Fuß getreten. Jetzt habe ich nur noch Gesa, die mir hilft. Ich drehe hier durch. Und Theda und Hubert haben sich fürs Wochenende angekündigt, sie wollen aber nur gucken, nicht helfen, schließlich seien sie beide Rentner. Also, sag jetzt, was du sagen wolltest, aber denk bitte daran, ich stehe am Rande des Nervenzusammenbruchs.«

Hätte sie dabei nicht gelacht, hätte ich es ihr geglaubt. Dabei war das doch eine wunderbare Überleitung. Ich bemühte mich um eine neutrale Tonlage.

»Na, dann habe ich doch die ultimative Lösung: Ich bringe Heinz mit. Er braucht nur ein Bett. Und Spielgefährten. Und einmal am Tag warmes Essen. Und eine Aufgabe. Und ab und zu ein Weizenbier. Wie findest du das?«

»Du bringst deinen Vater mit? Im Ernst? Wie bist du denn da draufgekommen?«

»Ich?! Diese grandiose Idee stammt von meiner Mutter. Sie hat nächste Woche in Hamburg ihre Operation für das künstliche Kniegelenk. Das war ursprünglich erst für Oktober geplant, aber sie hat jetzt diesen Termin bekommen und will es schnell hinter sich bringen. Kann ich ja auch verstehen. Aber nun ist meine Tante im Urlaub, die befreundeten Nachbarn mit dem Roten Kreuz in Norwegen, meine Geschwister können beide nicht, also muss ich mich um meinen Vater kümmern. Die Alternative wäre, dass ich nach Sylt fahre und ihn da bekoche, dann müsste ich dir jetzt absagen, was ich nicht will. Also hat meine Mutter ihm erzählt, dass wir doch froh über seine Hilfe wären, außerdem wohnt sein alter Freund auf Norderney. Mein Vater hat sich etwas widerwillig bereit erklärt, fühlt sich aber jetzt als Retter. So, das war die Kurzfassung.«

»Du, das ist gar nicht so schlecht. Ich kenne deinen Vater ja nicht besonders gut, aber er ist doch sehr hilfsbereit und macht den Eindruck, als sei er überall einsatzfähig.«

Mir entfuhr ein nervöses Kichern. O ja, den Eindruck machte er.

»Hast du Husten? Jedenfalls habe ich genug für ihn zu tun, er kann ein bisschen retten. Und wenn er mir nur Hubert vom Hals hält. Der ist zwar ganz reizend, weiß aber immer alles besser und mischt sich überall ein.«

»Die beiden werden sich lieben.«

»So schlimm wie Hubert ist Heinz bestimmt nicht. Also gut, ich sage der Vermieterin der Ferienwohnung Bescheid, dass ihr zu dritt kommt. Mareike soll ein zusätzliches Bett ins Wohnzimmer stellen, ihr habt ja nur zwei Schlafräume. Aber das geht schon. Ich bin froh, dass ihr kommt, du kannst mir morgens in der Pension helfen und Dorothea kann die Handwerker becircen.«

Wir legten auf und ich sah mich auf einer Pritsche im Wohnzimmer liegen, während mein Vater auf dem Bildschirmtext die HSV-Ergebnisse suchte.

Wunderbar, dachte ich, Hubert kann sich warm anziehen.

 

List/Sylt, den 10. Juni

Liebe Christine,

 

ich habe jetzt meinen Krankenhauskoffer gepackt, man braucht ja doch eine ganze Menge Zeug für zwei Wochen. Ich habe mir erst mal sechs neue Nachthemden gekauft, ganz schick, so mit Ringeln und eins mit Herzen, sehr süß. Aber Agnes, Du weißt, aus dem Süderhörn, das dritte Haus von links, die hat letztes Jahr auch ein neues Knie bekommen und sagt, man braucht ab dem dritten Tag sowieso nur noch Jogginganzüge. Na, ist egal, ich glaube, die passen Dir auch, ich trage ja eigentlich keine Nachthemden. Du kannst sie ja mitnehmen, wenn du das nächste Mal auf Sylt bist.

So, zum eigentlichen Thema: Ich habe Papa gesagt, dass er Marleen helfen soll, nicht den ganzen Tag, aber so ein, zwei Stunden vielleicht. Du weißt ja, wie er ist, wenn er nichts zu tun hat. Irgendwas findet Ihr schon für ihn. Denk dran, dass er nicht schwer heben soll, seine Hüfte ist ja nicht in Ordnung, und auf Leitern steigen kann er auch nicht, da wird ihm schwindelig. Wenn er mit anstreichen soll, sieh Dir die Farbeimer an, Du weißt, er kann keine Farben unterscheiden. Er hat übrigens die Gästetoilette letzte Woche türkis gestrichen, er dachte, es wäre graublau, aber man gewöhnt sich dran. Hoffe ich wenigstens. Sei nicht gleich ungeduldig, wenn er sich mal irrt, er meint es nur gut und ist immer so empfindlich.

Einmal am Tag muss er warm essen, er kriegt schnell Sodbrennen, also nichts Scharfes, wenig Salz und keinen Kohl. Fett auch nicht. Auf keinen Fall Milch- oder Mehlspeisen, dann muss er spucken. Er traut sich nur nie, etwas zu sagen. Nachmittags hat er gern Kaffee und Kuchen. Nur keine Torte und nichts mit Kirschen. Und Kaffee nur ohne Koffein. Falls es Tee gibt, nur Früchtetee, nach schwarzem schläft er schlecht.

Sei so lieb und sieh ihn Dir an, bevor er das Haus verlässt, er sieht die Farben nicht und hat auch nicht so richtig viel Geschmack, nicht dass er losläuft wie ein Hottentotte. Das fällt ja dann irgendwie auch auf mich zurück.

Er geht so gern spazieren, wenn Ihr keine Zeit habt, soll er ein Handy mitnehmen und es anmachen, so besonders gut ist seine Orientierung in fremden Orten nicht. Und er fragt nicht gern Fremde. Habe ich irgendetwas vergessen?

Ich glaube, das war alles. Er hat sich mit Kalli verabredet, vielleicht kannst Du ihn da hinfahren, ich weiß nicht, ob er überhaupt die Adresse hat. Dein Vater ist ja pflegeleicht, wenigstens muss er keine Medikamente nehmen, höchstens mal eine Kompensan gegen Sodbrennen.

Also, ich wünsche Euch ganz schöne Ferien, pass ein bisschen auf Deinen Vater auf, er war noch nie allein im Urlaub. Wird schon schiefgehen.

 

Liebe Grüße,

Mama

Ich faltete den Brief wieder zusammen und atmete tief durch. Ich trage nie Nachthemden und ich begann, mich vor meinen Ferien zu fürchten.

Es fährt ein Zug nach Nirgendwo

– Christian Anders –

Eine Woche später stand ich am Hamburger Hauptbahnhof und sah auf den Bahnsteig 12 a, an dem in 40 Minuten der Intercity aus Westerland einfahren sollte. Ich hatte mich links neben der Rolltreppe, die zum Bahnsteig hinabführte, postiert, genau so, wie ich es meinem Vater in unserem Telefonat erklärt hatte.

»Wenn du aus dem Zug ausgestiegen bist, gehst du nach rechts, Richtung Wandelhalle. Da ist nur eine Rolltreppe, auf der fährst du hoch, und oben, von dir aus gesehen rechts, stehe ich und warte.«

»Ja, ja, ich finde dich schon, ich bin ja nicht senil. Was ich einfach nicht begreife ist, dass ich für dieselbe Strecke, also Westerland–Hamburg, dauernd verschiedene Preise bezahlen soll. Mit der Regionalbahn wäre ich viel billiger gefahren.«

»Papa! Du wolltest nicht in Elmshorn umsteigen, außerdem hast du dich beschwert, dass die Nord-Ostsee-Bahn immer Verspätung hat.«

»Hat sie auch. Bei viel Verspätung kriegt man einen Gutschein. Ich frage dich, was soll ich mit einem Gutschein? Ist doch Quatsch.«

»Jetzt kommst du ja mit dem Intercity. Also, gute Fahrt und bis morgen dann.«

»Sei pünktlich, ich hasse es, lange zu warten. Bei dem Wucherpreis wird der Zug ja keine Verspätung haben.«

Sicherheitshalber war ich eine Stunde früher losgefahren, eigentlich brauchte ich für die Strecke nur zehn Minuten. Aber ich hatte Angst, dass ein Unfall, ein Stau, eine Polizeikontrolle oder Parkplatzmangel gleich zu Beginn zum Chaos führen würde, das käme noch früh genug. Nachdem ich siebenmal die Runde um den Bahnhofsvorplatz gedreht hatte, erwischte ich den ersten Parkplatz direkt neben dem Eingang. Der Himmel war mit mir, mein Vater mochte keine langen Wege.

Noch 35 Minuten.

Mein Vater verreist nicht gern. Das ist untertrieben. Er mag keine fremden Orte. Das ist auch noch untertrieben. Er hasst es, Sylt zu verlassen. Nicht nur die Insel, sondern auch sein Bett, seinen Platz am Esstisch, seine morgendliche Runde zum Hafen, um Zeitungen zu kaufen, seine Nachbarn, seinen Garten, sein Sofa. Er mag keine zusammengelegten Hemden aus dem Koffer, keine Handtücher und Bettwäsche, die fremde Menschen vor ihm benutzt hatten, er isst nur, was er kennt, und weigert sich, seinen gewohnten Tagesablauf zu verändern. Ich wusste nicht, wie meine Mutter es schaffte, ihn wenigstens einmal im Jahr von der Insel wegzubewegen, vor allen Dingen wusste ich nicht, was sie ihm alles versprochen und erzählt hatte, dass er jetzt im Zug saß. Und eigentlich wollte ich es auch gar nicht wissen.

Noch 25 Minuten.

Mein Hals fühlte sich ausgetrocknet an. Wenn ich nervös bin, bekomme ich immer stechenden Durst. Hinter mir war ein Stand mit Würstchen und Getränken. Ich kaufte mir eine Dose Cola, nicht weil ich sie gern trinke, sondern, weil mein Vater sie uns früher verboten hatte. Er hatte mir als Kind die gesundheitsschädliche Wirkung demonstriert, indem er über Nacht ein Gummibärchen in Cola einweichte. Am nächsten Morgen dümpelte ein deformiertes Weingummiteil im Glas, das er mir triumphierend zeigte. »Und genauso sieht dein Bauch hinterher von innen aus. Außerdem macht Cola dumm.« Ich habe ihm lange geglaubt. Mit einem rebellischen Gefühl zerdrückte ich die leere Coladose und warf sie in den Mülleimer. Natürlich nicht in den, neben dem ich stand. Man konnte ja nie wissen.

Noch 10 Minuten.

Als ich wieder auf meinem Posten stand, spürte ich meine Blase. Es war schwachsinnig gewesen, Cola zu trinken, mein konditionierter Körper wollte sie sofort wieder loswerden. Die Toilette war am Ende des Bahnsteigs. Ich müsste hinlaufen, vermutlich wären alle Kabinen besetzt, ich hätte Wartezeit, dann wieder zurück, es könnte knapp werden. Ich hielt an.

Noch 3 Minuten.

Während ich von einem Fuß auf den anderen trat, hörte ich die Durchsage: »Achtung, auf Gleis 12a. Der Intercity 373 ›Theodor Storm‹ von Westerland mit Weiterfahrt nach Bremen, planmäßige Abfahrt 13 Uhr 42, hat voraussichtlich zehn Minuten Verspätung.«

Ich hatte es geahnt. Meine Blase verstärkte ihren Druck. Ich stellte mir vor, wie mein Vater nach einem kurzen suchenden Blick umgehend in den nächsten Zug zurück Richtung Norden steigen würde, hörte den Satz: »Christine war nicht da«, und sah den Blick meiner Mutter. Ich hielt weiter an.

Dann fuhr der Zug ein. Er hielt quietschend und zischend, die Türen klappten auf, die ersten Reisenden stiegen aus. In der Mitte des Bahnsteigs entdeckte ich ihn. Er trug seine rote Windjacke, Jeans und eine blaue Schirmmütze. Ich sah, wie er seinen riesigen Koffer aus dem Zug wuchtete und ihn einen Meter neben der Bahnsteigkante abstellte. Ich begann zu winken, es war überflüssig. Mein Vater verschwendete keinen Blick an seine Umwelt. Er nahm seinen Rucksack vor die Brust und setzte sich auf seinen Koffer, das Gesicht genau in meine Gegenrichtung. Ich bahnte mir einen Weg durch die mir entgegenkommenden Menschen und blieb kurzatmig vor ihm stehen. Er sah zu mir hoch.

Augen wie Terence Hill, dachte ich.

»Wie soll man sich in dem Gewühle hier finden?« Seine Stimme klang beleidigt.

Und benimmt sich wie Rantanplan.

»Hallo, Papa, ich habe es dir doch erklärt, du gehst nach rechts, Richtung Wandelhalle, die Rolltreppe hoch und oben rechts von dir stehe ich.«

»Das höre ich jetzt zum ersten Mal.« Er stand auf und klopfte seine Hose ab. »Hast du das mitgekriegt? Der Zug hatte schon wieder Verspätung. Weißt du, ab wann man diese Gutscheine bekommt?«

Ich wollte ihm seinen Rucksack abnehmen, er hielt ihn fest.

»Den nehme ich selbst, danke. Ab wie viel Verspätung kriegt man denn jetzt den Gutschein?«

»Nicht nach nur zehn Minuten. Gib mir bitte den Rucksack, ich kann doch auch was tragen.«

Er wandte sich in Richtung der Rolltreppe. »Ja, nimm du mal den Koffer. Ich darf mit meiner Hüfte nichts heben.«

Beim Anheben des Koffers blieb mir fast die Luft weg. Ich stellte ihn wieder ab und versuchte ihn zu ziehen.

»Papa, warte doch mal, was ist denn mit den Rollen?«

Mein Vater blieb stehen und sah mich ungeduldig an.

»Die sind kaputt, aber für die paar Male, die wir verreisen, geht das auch so. Nun komm.«

Ich wuchtete den Koffer mit völlig schiefer Körperhaltung hinter ihm her und versuchte, meine Atmung zu kontrollieren.

»Und sonst … trägt … Mama ihn?«

»Unsinn.«

Ohne weitere Erklärungen ging er mit langen Schritten zur Rolltreppe. Das Sprechen strengte mich an.

»Sag mal, was … ist denn da … alles drin?«

Seine Antwort konnte ich kaum verstehen, weil er vor mir lief und sich nicht umdrehte.

»Meine Bohrmaschine, mein Akkuschrauber und so ein bisschen anderer Kram, ich kann nicht mit fremdem Werkzeug arbeiten.«

Oben angekommen musste ich den Koffer abstellen, ich konnte nicht mehr. Ich erwischte meinen Vater gerade noch am Ärmel.

»Bleib mal kurz stehen … Ich muss ganz dringend … zum Klo. Stell dich hier neben … den Koffer … ich beeile mich.«

»Das hättest du ja auch früher erledigen können. Das passiert, wenn man immer auf den letzten Drücker kommt.«

»Ja, ja …«

Mir war alles egal, ich rannte los.

 

Ich musste zwar erst Geld wechseln, dann noch die drei Damen, die vor mir in der Schlange standen, vorlassen, trotzdem hatte die ganze Aktion keinesfalls länger als fünfzehn Minuten gedauert. Als ich zurückkam, stand der Koffer einsam an der Stelle, allerdings standen zwei schwarzblau uniformierte Polizisten daneben. Einer von ihnen sprach hektisch in ein Funkgerät, ich verstand nur »herrenlos … Hunde bringen … absperren« und bekam Schweißausbrüche. Und dann sah ich meinen Vater. Er stand fünf Meter weiter, aß einen Hotdog und beobachtete interessiert das Geschehen. Genauso wie eine Anzahl weiterer Zuschauer, die nach und nach stehen blieben. Der Polizist, auf den ich zustürmte, hob abwehrend den Arm, ich grüßte beschwichtigend.

»Mit dem Koffer ist nichts. Das ist unserer, ich war nur auf der Toilette.«

Ich warf meinem Vater einen wütenden Blick zu, doch er drehte sich weg. Der andere schwarzblau Uniformierte ließ das Funkgerät sinken und sah mich drohend an.

»Was heißt das? Sie lassen ein Gepäckstück unbeaufsichtigt stehen und gehen zur Toilette? Wo kommen Sie denn her? Haben Sie noch nie etwas von den Sicherheitsvorkehrungen gehört? Oder von Kofferbomben?«

Sein Kollege ging einen Schritt auf mich zu. Er wirkte nicht besser gelaunt.

»Ich glaube, ich spinne! Sie verursachen hier fast eine Sperrung des Hauptbahnhofs und kommen zurück, als wenn gar nichts passiert wäre? Ich fasse es ja wohl nicht!«

Die schadenfroh-neugierigen Gesichtsausdrücke der umstehenden Zuschauer gaben mir den Rest.

»Papaaa!«

Meine Stimme klang schrill und etwas weinerlich. Die Polizisten sahen sich bedeutungsvoll an. Einige der Gaffer schüttelten mitleidig die Köpfe. Ich versuchte, Haltung zu wahren, zeigte mit dem Finger in Richtung meines Vaters, der mich ungerührt ansah und sich dabei die dänische Mayonnaise von den Fingern leckte.

»Das da ist mein Vater. Es ist sein Koffer. Er sollte aufpassen. Und jetzt isst er Hotdogs. Was kann ich denn dafür?«

Eine Frau sah erst mich, dann meinen Vater, dann ihre Begleiterin an und sagte laut: »Entweder ist die durchgeknallt oder betrunken. Peinlich, komm lass uns weitergehen.«

 

Mein Vater und ich blieben ungefähr zehn Minuten im Büro der Bahnpolizei. Wir mussten den Koffer öffnen, alles noch mal erklären und fünfzig Euro für die Bahnhofsmission spenden, bevor wir ziemlich ungnädig entlassen wurden.

Ich kochte innerlich. Mein Vater hatte seine »Ich höre schwer, bin gehbehindert und weltfremder Insulaner« – Nummer abgezogen, er hätte gar nichts mitbekommen, es sei ihm ja so unangenehm. Und seine Tochter wäre plötzlich weg gewesen, das wäre nicht zum ersten Mal passiert. Ich zog den Koffer hinter mir her, als hätte er Rollen, was einen Heidenlärm machte. Mein Vater warf mir einen vorsichtigen Blick zu.

»Das ist aber …«

»Papa! Wenn du jetzt noch ein Wort sagst, lasse ich dich wirklich mitsamt deinem blöden Koffer hier stehen.«

Mein Vater schwieg tatsächlich die nächsten Minuten, wenn man von dem Satz: »Das ist sehr weitläufig hier mit den Parkplätzen«, absah, den ich ignorierte, weil ich in der Zeit den Koffer in den Kofferraum wuchtete und danach die Klappe lauter als nötig zuknallte. Papa zuckte zusammen, was mir guttat.

Wir stiegen ein. Während ich den Motor anließ, sagte ich, ohne meinen Vater anzusehen: »Wir fahren jetzt zu Dorothea.«

Er traute sich anscheinend nicht zu antworten.

Das Außenthermometer zeigte 25 Grad, der Himmel war knallblau, es war Ferienwetter, wie es sein sollte. Und Vater und Tochter schwiegen sich böse an. Ich warf einen vorsichtigen Seitenblick auf meinen Vater. Niemand konnte so zerknirscht aussehen wie er. Da saß er, drehte seine Schirmmütze in den Händen, der Reißverschluss seiner roten Windjacke war bis oben hin zugezogen, von seiner Stirn perlten Schweißtropfen. Schon tat er mir wieder leid. Es ging mir jedes Mal so. Er benahm sich unmöglich, ich war sauer auf ihn und hatte anschließend ein schlechtes Gewissen. Und ich machte wie immer den Anfang.

»Es ist warm, oder? Warum hast du denn deine Jacke nicht ausgezogen?«

Er sah mich treuherzig an. »Wir hatten zu wenig Zeit. Aber ich kann es aushalten.«

Einige Meter weiter war ein freier Parkplatz auf dem Seitenstreifen. Ich fuhr in die Parklücke und stellte den Motor aus. Mein Vater sah sich um.

»Hier wohnt Dorothea? Das ist aber keine schöne Gegend.«

»Sie wohnt auch nicht hier. Ich habe angehalten, damit du deine Jacke ausziehen kannst.«

Er strahlte mich an. »Das ist sehr nett.«

Während er sich abschnallte, umständlich ausstieg, seine Jacke auszog, sie ordentlich auf die Rückbank legte, wieder einstieg und sich anschnallte, kam ich zu dem Entschluss, die Kofferszene nicht mehr zu erwähnen.

Mein Vater strich sich erleichtert über die Stirn. »Ja, so ist es besser. Das ist aber auch warm. Ich glaube, das kommt durch die Abgase in der Stadt. Die Hitze, jetzt. Auf Sylt tragen die Polizisten keine schwarzen Uniformen. Die gefallen mir überhaupt nicht, ich finde sie zu bedrohlich.«

Ich suchte einen Sender im Autoradio und drehte die Lautstärke höher.

 

Dorothea schloss gerade ihr Auto ab, als wir auf den Parkplatz vor ihrem Haus fuhren. Sie kam uns lächelnd entgegen.

»Da seid ihr ja endlich. Ich habe schon vor einer halben Stunde mit euch gerechnet. Hatte der Zug so viel Verspätung?«

Sie umarmte erst meinen Vater, dann mich. Über ihre Schulter warf ich ihm einen warnenden Blick zu. Er nickte beruhigend zurück.

»Natürlich hatte der Zug Verspätung, aber nicht genug für so einen Gutschein, aber den kann ich sowieso nicht gebrauchen und dann ist uns …«

Ich unterbrach ihn. »So, wir trinken jetzt erst einen Kaffee und dann packen wir das Auto. Wir fahren mit Dorotheas Wagen, Papa, ihr Kofferraum ist größer. Und dann sollten wir auch bald los, sonst verpassen wir die Fähre.«

Dorothea sah zwischen uns hin und her. »Der Kaffee ist fertig. Sag mal, Heinz, musst du nicht was Warmes essen oder reicht dir ein Stück Kuchen?«

»Ich hatte am Bahnhof schon so ein Würstchen mit Brötchen, damit ging das Theater ja …«

»Komm, Papa.« Ich schob ihn vor mir her. »Wir trinken jetzt erst mal Kaffee.«

 

Eine halbe Stunde später wischte sich Dorothea zum wiederholten Mal die Lachtränen ab, was nicht viel nützte, sobald sie mich ansah, prustete sie wieder los. Sie konnte kaum zusammenhängend reden.

»Ach, Heinz, ich sehe dauernd Christine vor mir, umringt von schwarzen Polizisten, die sie mit Maschinengewehren in Schach halten. Und eine Herde lärmender Schäferhunde. Und Christines blödes Gesicht. Und du isst in aller Ruhe einen Hotdog. Hahaha, ich könnte mich wegschmeißen.«

Sie krümmte sich regelrecht. Heinz-Judas lachte ebenfalls. Ich fand die Geschichte beim zehnten Mal nicht mehr witzig. Beim ersten Mal übrigens auch nicht. Also stand ich auf.

»Sie hatten keine Maschinengewehre, es gab keine Hunde und wir sollten langsam los, wenn wir die Fähre kriegen wollen. Umpacken müssen wir auch noch. Wir können das Thema an dieser Stelle also beenden.«

Dorothea kicherte albern. Und mein Vater sagte zu ihr: »Sie ist zwar nett, aber manchmal eine Spaßbremse.«

Ich zwang mich zum Schweigen.

 

Kurz darauf öffnete ich auf dem Parkplatz die Kofferraumklappe von Dorotheas Kombi. Vor dem Auto standen vier große Reisetaschen, drei Stoffbeutel, ein Korb mit Lebensmitteln und der Trumm von einem Koffer. Und daneben Dorothea und mein Vater. Sie machten nicht den Eindruck, als würde einer von ihnen eines dieser Gepäckstücke jemals anfassen. Ich sah die beiden an.

»Was ist? Wollen wir jetzt einpacken?«

Mein Vater machte eine abwehrende Handbewegung. »Kind, ich kann nicht, meine Hüfte. Das weißt du doch. Mir ist der Koffer zu schwer.«

Dorothea lachte schon wieder. »Und ich kann den noch nicht mal angucken.«

Ich schloss kurz die Augen. Ich wollte mich nicht aufregen, ich hatte Urlaub. Also hievte ich den Koffer hoch, schob ihn ganz ans Ende des Kofferraums. Dorothea reichte mir ihre beiden Reisetaschen, ich stellte sie neben den Koffer, meine erste Tasche passte nur knapp, die zweite gar nicht mehr, der Rest lag noch vor dem Auto.

»Ich habe gleich gesehen, dass du den Koffer längs packen musst. Quer geht das nicht.«

»Danke, Papa.«

Ich holte die Reisetaschen wieder raus, drehte den Koffer um, der Schmerz schoss mir in den Ischiasnerv. Ich stöhnte. Mein Vater griff an mir vorbei und schob den Koffer um einen weiteren Zentimeter.

»So.« Seine Stimme klang zuversichtlich. »Das sieht doch schon viel besser aus.«

Jetzt gingen drei Taschen daneben, die vierte stellte ich oben drauf. Die Heckklappe ging nicht zu. Mein Vater kippte die obere Tasche auf die Seite, stopfte zwei der drei Stoffbeutel davor und legte den Kopf schief.

»Müsst ihr wirklich so viel Zeug mitnehmen? Man braucht auf einer Insel doch nur Jeans und eine Regenjacke.«

Ich gab keine Antwort, nahm die Reisetasche wieder heraus, legte alle Stoffbeutel auf den Koffer, klemmte den Korb davor und fragte Dorothea, wo unsere Jacken seien. Sie holte sie, ich stemmte mich solange gegen den Korb, damit die Konstruktion hielt. Dorothea kam mit zwei Regenjacken, zwei Mänteln und drei Flaschen Wein zurück.

»Für Marleen.«

Ich stopfte abwechselnd die Flaschen und die Jacken in die Zwischenräume, versuchte dann vorsichtig, die Klappe zu schließen. Es ging, Millimeterarbeit. Ich drehte mich stolz um.

»Und?«

»Du hast eine Reisetasche vergessen.«

»Nein, Papa, habe ich nicht, die kommt auf den Rücksitz. Da ist Platz genug.«

»Ich sitze aber nicht hinten.«

»Brauchst du auch nicht. Ich kann mich nach hinten setzen.«

»Und wenn Dorothea scharf bremst, kriege ich die Tasche ins Kreuz.«

»Heinz, ich bremse nie scharf, außerdem können wir die Tasche auch auf die andere Seite der Rückbank stellen. Dann kriege ich sie ins Kreuz.«

»Gut.« Mein Vater wirkte beruhigt. Er sah auf seine Uhr. »Da haben wir doch tatsächlich über eine halbe Stunde gebraucht. Wenn man nicht so oft Autos bepackt, hat man auch keine Übung. Ich war damals ja wahnsinnig schnell, als meine Hüfte noch in Ordnung war und wir alle naselang verreist sind. So, jetzt geht noch mal aufs Klo und dann fahren wir los.«

Er ging zum Haus, Dorothea folgte ihm lächelnd, ich lehnte mich ans Auto und zündete mir eine Zigarette an. Es war mir egal, dass mein Vater gleich einen Anfall bekommen würde, wenn er mich rauchen sah. Ich war jetzt schon sehr erschöpft.

Reif für die Insel

– Peter Cornelius –

Eine gute halbe Stunde später überquerten wir die Elbbrücken. Mein Vater sah unverwandt auf die Straßenkarte, die auf seinem Schoß lag. Zum einen, weil er Dorotheas Navigationsgerät und meinem Orientierungssinn misstraute, zum anderen, weil er mich durch sein beharrliches Schweigen für das Rauchen bestrafen wollte. Ich konnte im Moment sehr gut damit leben, sah aus dem Fenster auf die Elbe und freute mich auf die Nordsee. Dorothea summte leise irgendeinen Popsong aus dem Radio mit, Heinz schwieg weiter. Ich schob die Reisetasche ein Stück zur Seite und beugte mich nach vorn.

»Dorothea, hast du noch Pfefferminzbonbons im Handschuhfach?«

»Ich glaube ja. Heinz, guckst du mal bitte?«

»Ach, nee, hast du Halsschmerzen? Woher das wohl kommt? Und Pfefferminz hilft nicht gegen Raucherschäden. Da müssen ganz andere Geschütze aufgefahren werden. Und …«

»Heinz.« »Papa.«

»Ja, ja, ihr werdet euch noch wundern. Raucht euch ruhig kaputt, bitte, aber sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.«

Er öffnete die Klappe des Handschuhfachs, die ihm mit Schwung auf die Knie fiel. Mein Vater brüllte sofort los, Dorothea zuckte zusammen.

»Meine Güte, Heinz, ich wäre fast gegen die Leitplanke gefahren. Was ist denn?«

»Ach, dieses blöde Handschuhfach. Voll auf die Knie. Das tut so weh, und alles bloß, weil sie geraucht hat.« Er griff zum Rückspiegel und drehte ihn so, dass er mich vorwurfsvoll darin ansehen konnte.

»Sag mal«, Dorothea stellte den Spiegel wieder in die richtige Position, »dreh dich doch um, du kannst mir doch nicht einfach den Spiegel verstellen.«

Heinz sah sie an. »Ich kann mich kaum bewegen. Ihr habt den Sitz so weit nach vorn geschoben, nur weil Christine die Reisetasche nicht mehr in den Kofferraum bekam.«

»Papa, du kannst gerne hinten sitzen.«

»Das geht nicht, mir wird hinten schlecht. Wie lange fahren wir denn noch?«

Ich verdrehte die Augen, er sah mich ja nicht. »Ungefähr zweieinhalb Stunden.«

»So lange? Um Himmels willen. Das ist gar nicht gut für meine Hüfte. Ich muss mir zwischendurch mal die Beine vertreten.« Er beugte sich vor, um das Autoradio besser sehen zu können. »Was ist denn das für ein Sender?«

Es lief ein altes Stück von Fleetwood Mac.

»Diese Hottentottenmusik macht mich ganz verrückt. Wo ist denn der NDR 1?«

Ohne zu fragen, tippte er mit dem Finger auf die Sendertaste. Ich befürchtete das Schlimmste. Und es passierte: ›Steig in das Traumboot heute Nacht, Anna Lena‹ in voller Lautstärke.

»Das passt ja wie die Faust aufs Auge.« Mein Vater stupste Dorothea an und sang verzückt mit. Dorothea sah mich entsetzt im Rückspiegel an.

»Was ist das denn?«

»Traumboot heut Nacht, lalalala. Das ist Costa Cordalis. Ein schönes Lied. Und so passend. Obwohl wir nicht erst heute Nacht einsteigen und diese Fähre ja wohl kein Traumboot ist. Na, Christine, das ist doch wenigstens Musik, oder?«

Er wippte mit den Knien, ich lehnte meinen Kopf an die Scheibe und schloss die Augen.

Eine Stunde später und fast betäubt von Textzeilen wie ›Ich fange nie mehr was an einem Sonntag an‹, ›Eine Goldmedaille für deine Supertaille‹ oder ›Du musst mit den Wimpern klimpern‹ fuhr Dorothea mit angestrengter Schulterhaltung auf eine Raststätte. Sie parkte vor einer Tanksäule und stellte den Motor ab. Stille. Das Radio war aus, wir hörten nur noch Heinz, der mit geschlossenen Augen voller Hingabe die Zeile zu Ende sang. Dorothea und ich sahen erst uns, dann ihn stumm an. Mein Vater öffnete die Augen und lächelte.

»Das ist Renate Kern. Dolle Frau. Nicht richtig hübsch, aber durchaus patent. Hat schöne Schlager gesungen. Damals.« Er schnallte sich ab und öffnete seine Tür. »So, Mädels, lasst den Herrn mal tanken, ihr könnt noch einen Moment sitzen bleiben, danach trinken wir eine schöne Tasse Kaffee. Aber nicht wegfahren.« Er stieg aus und schlug die Tür hinter sich zu.

Dorothea drehte sich zu mir um. »Du hättest mir das sagen müssen. Ich hätte das Radio ausgebaut. Er kann ja jeden Text mitsingen. Seit wann ist dein Vater so ein Schlagerkönig?«

»Och, immer schon.« Ich verschwieg ihr, dass auch ich alle Texte konnte. Ob Monica Morell oder Bernd Clüver, nichts war mir fremd. Meine wichtigen Jahre von zehn bis sechzehn hatte ich damit zugebracht, jeden Sonntag die deutsche Schlagerparade mit einem Grundig-Tonbandgerät aufzunehmen. Meine Eltern feierten gern, beim kleinsten Anlass wurde das Sideboard im Esszimmer zum Büfett umfunktioniert, die Teppiche aufgerollt und die Lampen hochgebunden. Man trank Erdbeerbowle und Bier, aß Nudelsalat mit Erbsen und dann tanzte man. Nächtelang. Die Tonbandspulen liefen 60 Minuten, es mussten mindestens fünf verschiedene Bänder vorhanden sein. Dafür war ich zuständig. Ich habe fast jeden deutschen Schlager in diesen Jahren irgendwann einmal aufgenommen. Von Renate und Werner Leismann über Christian Anders und Dorthe Kollo bis hin zu Exoten wie Andrea Andergast oder Hoffmann & Hoffmann. Alle. Die Kunst bestand darin, immer wieder andere Reihenfolgen zu kreieren und zum richtigen Zeitpunkt, nämlich vor den Verkehrsmeldungen, auf den Pauseknopf zu drücken. Während dieser sechs Jahre hatte ich eine ausgefeilte Technik entwickelt. Meine Zusammenschnitte waren perfekt. Lautstärken, Pausen, Übergänge, alles stimmte. Es gab ein einziges Band, das meine Schwester aufgenommen hatte. Ich war auf einer Klassenfahrt und sie musste mich an zwei Sonntagen vertreten. Auf der Party, deren Anlass das neue Fahrrad meiner Mutter war, bemerkte mein Vater das erste Mal, dass es auf NDR 2 halbstündlich Nachrichten gab. Keiner der Gäste empfand die Tanzpausen als störend, es wurde aber sehr viel mehr getrunken. Und es war an diesen Sonntagen viel los auf den Autobahnen.

Vor einigen Jahren hat mein Vater diese alten Schlagerbänder sortiert. Er rief mich danach an, um mir zu erzählen, dass er es ganz spannend gefunden hätte, die damaligen Nachrichten noch einmal zu hören und dass es irgendwie schade sei, dass mich damals nur die Musik interessiert hätte.

 

»Christine, was summst du da eigentlich?«

Dorotheas Stimme riss mich aus meinen Gedanken. ›Du entschuldige, i kenn’ di‹ von Peter Cornelius, ich versuchte, die Melodie abzuschütteln.

»Nichts, wo bleibt denn der Schlagerkönig?«

In mir sang Peter weiter und wurde erst von Heinz abgewürgt, der ›Immer wieder sonntags‹ pfiff, während er sich wieder auf den Beifahrersitz setzte.

»So, die Damen, Wagen betankt, Rechnung bezahlt. Jetzt muss ich eine Pause haben.«

Er dirigierte Dorothea auf den Parkplatz vor dem Rasthof. Nach dem Aussteigen musterte er mich.

»Was ist los? Du bist so blass.«

In meinem Kopf tobten die Dämonen, lang vergessene Namen und Texte fielen mir ein, Schlagerparaden, Schallplatten, Grundig-Geräte, ich würde sofort alle Howard-Carpendale-Lieder mitsingen, ich hatte gedacht, es läge hinter mir. Schlagerprinzessin.

»Papa, danach hören wir bitte andere Musik. Oder keine. Aber nicht mehr diese blöden Schlager.«

»Was bist du denn so gereizt? Früher hast du das gern gehabt. Du konntest sogar alles mitsingen.«

Ich floh vor Dorotheas fassungslosem Gesicht und ging auf die Toilette.

 

Als ich zurückkam, standen mein Vater und Dorothea mit einem Tablett vor den Auslagen. Dorothea sah mich ernsthaft an. »Und deine Lieblingssängerin war Wencke Myhre? Da sieht man mal, wie wenig man voneinander weiß.« Sie kicherte.

»Ich war elf.« Ich griff an ihr vorbei, um ein Tablett aus dem Regal zu nehmen.

Mein Vater schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das ging viel länger. Hattest du nicht sogar schon den Führerschein?«

»Quatsch. Höchstens zwölf. Und nur wegen eurer blöden Partys. Weißt du, was du essen willst?«

Eine der Servicekräfte stand uns gegenüber. Mein Vater nickte ihr freundlich zu.

»Ich glaube, du hattest schon den Führerschein. Hm, was will ich denn essen? Was ist das denn da hinten?«

»Das ist Leberkäse. Wir machen ihn mit Spiegelei und Brot.«  

»Ist da Gammelfleisch drin?«

»Papa.« »Heinz.«

Die blonde Frau im weißen Kittel sah ihn komisch an. »Natürlich nicht. Aber Sie müssen es ja nicht essen.«

»Genau. Aber man muss heutzutage fragen. Irgendwo wird dieses Gammelfleisch ja abgeblieben sein.«

Die Blonde guckte sauer. Mein Vater lächelte sie an. »Nichts für ungut. Was nehmt ihr denn?«

Dorothea sah ihn kurz an, dann bestellte sie drei Käsebrötchen und drei Tassen Kaffee.

Mein Vater nickte. Als er das Brötchen sah, sagte er nur: »Dieses Salatblatt sieht irgendwie komisch aus. Das ist doch ein Käsebrötchen, wozu ist denn das Grünzeug da?«

Ich griff nach seinem Teller, stellte ihn aufs Tablett und lächelte der Bedienung beruhigend zu. Sie sah eisig zurück.

An der Kasse bestand mein Vater darauf, alles zu bezahlen. Was ihm auch das Recht gab, seine Meinung zur Preispolitik der deutschen Autobahnraststätten zu sagen. Auch die Kassiererin guckte anschließend eisig.

Wir setzten uns an den hintersten Tisch. Heinz klappte sein Brötchen auf, entfernte das Salatblatt, die Tomaten- und Gurkenscheiben und fing an zu essen. Kauend sah er uns abwechselnd an.

»Das ist kein frisches Gemüse. Hab ich mal gelesen. Da muss man aufpassen, wegen der Keime und so.«

Dorothea salzte ihre Tomatenscheibe und steckte sie in den Mund.

»Ach, Heinz.«

Er drückte aufmunternd ihre Hand.

»Gammelfleisch ist schlimmer.«

 

Es gab keine weiteren Zwischenfälle. Ich verkniff mir die Zigarette, mein Vater kaufte sich eine Zeitung, Dorothea eine Illustrierte, ich setzte mich hinters Steuer und schnallte mich an. Als ich den Wagen anließ, hielt sich mein Vater am Türgriff fest und sah hektisch an mir vorbei. »Du siehst, dass der Mercedes hinter dir auch losfährt?«

»Ja, Papa.«

Ich steuerte auf die Auffahrt zur Autobahn, beschleunigte und schaltete in den nächsten Gang.

»Gibst du kein Zwischengas?«

»Papa, das hat man vor dreißig Jahren getan, bei den alten Getrieben, heute ist das Quatsch.«

»Es schont den Motor.«

»Blödsinn.«

»Hm … Blinkst du eigentlich nie?«

Dorothea lachte leise, sagte aber nichts. Ich reihte mich in den Verkehr ein und stellte den Rückspiegel nach.

»Also, Christine, das macht man, bevor man die Fahrt antritt. Du musst doch auf die Straße gucken.«

»Papa, lies doch einfach Zeitung.«

Er beugte sich zu mir, um den Tacho sehen zu können. Mit einer Hand stützte er sich an der Konsole ab.

»140. Wieso rast du denn so?«

Dorotheas Hand legte sich beruhigend auf meine Schulter.

»Heinz, wir sind die ganze Zeit so schnell gefahren.«

»Aber Christine fährt hier einen Fremdwagen. Wie schnell hat man sich überschlagen? Du musst ein bisschen mehr Abstand halten, ich glaube, der Laster schert gleich aus.«

»Papa, es ist gut. Ich habe seit 27 Jahren den Führerschein, unfallfrei, und ich bin auch schon öfter mit diesem Auto gefahren.«

»Du hattest aber sehr wenige Fahrstunden, damals, das weiß ich noch.«

Ich gab auf.

 

Eine gute halbe Stunde, bevor die Frisia-Fähre von der Norddeicher Mole ablegte, fuhren wir auf den Hafen zu. Bevor ich den Koffer meines Vaters kannte, hatten wir vor, das Auto in der dafür vorgesehenen Garage unterzustellen und zu Fuß zur Fähre zu gehen. Auf Norderney hätten wir uns dann ein Taxi genommen und wären zu Marleen gefahren. Die Vorstellung, dass ich diesen Koffer zur Fähre schleppen müsste, dazu noch zwei Reisetaschen und diverse Stoffbeutel, um dann auf der Insel das ganze Zeug wieder mühsam in ein Taxi zu laden, schreckte mich so ab, dass ich vorhin beschlossen hatte, das Auto mitzunehmen. Dorothea sah das genauso. Mein Vater, der sich den Prospekt der Frisia-Reederei durchgelesen hatte, fand das unsinnig. »Das ist doch albern. Hier steht, dass man gar nicht überall fahren darf, und dann ist die Fahrkarte so teuer und die Insel so klein, wozu brauchen wir da ein Auto?«

Mittlerweile war auch Dorothea zu müde, um in eine Diskussion einzusteigen. Wir fuhren auf die Wartespur an der Mole und gingen zum Fahrkartenschalter.

»Ein Auto, drei Erwachsene. Heute hin und in zwei Wochen zurück.«

Ich lächelte den Fahrkartenverkäufer an und versuchte, meinem Vater, der dicht hinter mir stand, den Blick auf die Kasse zu versperren. Es nützte nichts. Die Antwort kam durch ein Mikrofon. »114 Euro bitte.«

»Wie viel? Und was kostet das ohne Auto?« Mein Vater hatte sich vor mich geschoben.

»15 Euro pro Person.«

»Und nur weil wir im Auto sitzen, mit dem wir auf der kleinen Insel sowieso nicht überall fahren dürfen, macht ihr solche Preise? Das ist ja Wucher.«

»Sie können das Auto auch in der Garage stehen lassen, das machen die meisten Gäste.«

»Das sag ich doch, Christine. Wissen Sie, meine Tochter hat nur so viel Gepäck und will es nicht tragen. Ich komme ja von Sylt, also da ist das so, dass …«

»Heinz, komm mal bitte.« Dorothea packte meinen Vater am Ellenbogen und zog ihn zum Eingang. »Wir beide warten draußen in der Sonne.«

Ich sah ihnen nach und dann wieder den Fahrkartenverkäufer an. Hinter mir standen mittlerweile acht Urlauber.

»Ein Auto, drei Erwachsene, heute hin, in vierzehn Tagen zurück.«

»Ihr Vater?«

Der Mann sah mich mitleidig an, während er mir die Norderney-Karten und die Quittungen durchs Fenster schob. Ich nickte.

»Ich wünsche Ihnen trotzdem eine schöne Zeit auf Norderney.«

Ich hatte das Gefühl, ich müsste ihm etwas erklären, hatte aber keine Ahnung, wo ich anfangen sollte. »Danke, es wird schon schiefgehen. Ich meine, es wird sicher schön, also …«

Er bediente schon den nächsten, ich ging zu unserem Auto und meinem Vater zurück.

 

Die meisten Fahrzeuge, die vor der Verladung standen, waren Kleinbusse, Lieferwagen oder Autos mit Auricher Kennzeichen, also Einheimische. Heinz stieg erst ein, nachdem er die Autoreihen abgelaufen hatte.

»Kein Wunder, bei den Preisen ist man doch behämmert, wenn man den Wagen mitnimmt. Die denken alle, wir halten uns für was Besseres. Peinlich.«

»Papa, jetzt hör auf, ich kann es nicht mehr hören, dein blöder Koffer hat mich schon genug Nerven gekostet, den schleppe ich jetzt nicht mehr weiter durch die Gegend.«

Mein Vater sah mich ungerührt an. »Du bist aber auch nervös. Es ist wirklich an der Zeit, dass du mal Ferien machst, du regst dich ja über jede Kleinigkeit auf. Warte mal ab, nach diesen zwei Wochen bist du ein ganz neuer Mensch.«

Ich legte meine Stirn auf das Lenkrad und schloss für einen Moment die Augen.

 

Es gab einen großen Vorteil: Mit dem Auto ersparten wir uns die Schlange der Reisenden an der Gangway. So betraten wir als Erste den Salon, in dem es eine Restauration gab. Wir saßen schon an einem Fenstertisch, während die Passagiere die Gangway stürmten. Alle zogen Trolleys hinter sich her oder hatten Rucksäcke auf dem Rücken, sie drängelten und schoben sich gegenseitig ungeduldig weiter.

Dorothea beobachtete das Treiben. »Meine Güte, das hört ja gar nicht auf. Was wollen diese Massen denn alle auf Norderney?«

»Wir müssen ja auch hin«, antwortete mein Vater sofort. »Und habt ihr das gesehen? Die meisten der Leute sind zwanzig Jahre älter als ihr und sie tragen alle ihr Gepäck.«

»Die haben Koffer mit Rollen, Heinz, im Gegensatz zu einem hüftkranken Herrn hier am Tisch.«

Heinz griff mit beleidigtem Gesicht zur Speisekarte. »Ich weiß wirklich nicht, was ihr dauernd mit meinem Koffer habt.« Er überflog die Seiten. »Würstchen, das ist gut. Ich esse auf Fähren immer Würstchen. Irgendwie gehört das dazu.«

Ich nahm ihm die Karte aus der Hand. »Ich denke, du hast Angst vor Gammelfleisch.«

Er sah erstaunt hoch. »Das ist doch nicht in Würstchen. Das glaube ich nicht. Außerdem habe ich keine Angst davor. So doll hat meine Mutter ja auch nicht gekocht.« Er blickte sich interessiert um. »Ein feines Schiff. Und so sauber. Und größer, als ich es mir vorgestellt habe. Wie eine richtige Fähre.«

»Papa, das ist eine richtige Fähre.«

»Die Rømø-Sylt-Linie ist größer.«

»Das ist Quatsch.«

Mein Vater wollte aufstehen, Dorothea hielt ihn zurück. Sie kämpfte seit Minuten mit einem Lachkrampf.

»Bleib sitzen, wo willst du denn hin?«

»Ich gehe auf die Brücke und frage den Kapitän. Wieso lachst du denn so albern?«

Dorothea versuchte zu antworten. »Wegen … deiner … Mutter … ich …« Sie lachte jetzt haltlos. Ich ließ mich anstecken.

Mein Vater verstand es nicht. »Du kanntest meine Mutter doch gar nicht.«

Er wurde von einem Kellner unterbrochen, der plötzlich vor unserem Tisch stand.

»Haben Sie einen Wunsch?«

»Ja, kennen Sie die Daten von diesem Schiff?«

Der Kellner war Vietnamese. Er sah uns freundlich an.

»Nur Wünsche mit Essen und Trinken.«

»Gut. Dann wünsche ich mir zwei Würstchen und eine Coca-Cola. Und wenn ihr beide euch mal endlich zusammenreißen und entscheiden würdet, könnte der junge Mann auch noch andere Gäste bedienen.«

Ich war bereits wieder ernst. »Seit wann trinkst du denn Cola?«

»Immer schon. Deine Mutter findet nur, die macht dick, deswegen kauft sie die nie.«

»Ich durfte als Kind nie Cola trinken.«

»Unsinn, die gab es doch damals noch gar nicht.«

Dorothea kam aus dem Lachkrampf nicht raus.

»Heinz, Cola gibt es länger als Christine.«

»Tatsächlich? Dann mochte sie die wohl nicht. Kind, dann trink doch jetzt eine.«

Der Kellner wartete freundlich.

»Ich möchte ein Wasser. Und ich mochte Cola gerne.«

Mein Vater runzelte die Stirn und sah Dorothea an.

»Manchmal verstehe ich sie einfach nicht. Trinkst du wenigstens eine Cola mit mir?«

Ich hatte plötzlich das deformierte Gummibärchen im Kopf und wollte sie warnen. Aber dann erinnerte ich mich daran, dass ich 45 und einfach nur nervös war.

Mittlerweile hatte die Fähre abgelegt und Kurs auf Norderney genommen. Erstaunlicherweise hatten fast alle Passagiere Plätze gefunden, ganz vereinzelt suchten Nachzügler noch eine Sitzgelegenheit.