Vier Frauen und ein Sommer - Lo Malinke - E-Book

Vier Frauen und ein Sommer E-Book

Lo Malinke

4,5
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Vier Frauen – ein Geburtstag Fast 40 – aber kein Grund zu feiern. Verkäuferin Melli will unbedingt heiraten, erwischt jedoch ihren Verlobten mit einer Kollegin. Ärztin Yüzil stellt mit Schrecken fest, dass sie immer noch keine Ahnung hat, wie sich verliebt sein wirklich anfühlt. Jenny, Hausfrau und Mutter, sehnt sich nach Romantik und Sex und nach einem Job, der ihr einen Grund gibt, morgens aufzustehen. Und Fernsehmoderatorin Britta bekommt ein Kind von einem Mann, der nur halb so alt ist wie sie. Kurz bevor sie 40 werden stehen sie alle vier an einem entscheidenden Wendepunkt und sind gezwungen, einen großen Schritt zu wagen. Werden sie sich trauen? Gefühlvoll, klug und berührend ehrlich erzählt Lo Malinke von vier Frauen, die endlich verstehen, dass es nie zu spät ist, nach dem Glück zu greifen – auch wenn man dafür verdammt viel Mut braucht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 460

Bewertungen
4,5 (10 Bewertungen)
6
3
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lo Malinke

Vier Frauen und ein Sommer

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Til,JennyBrittaYüzilBrittaJennyMelliJennyBrittaJennyMelliYüzilBrittaJennyBrittaYüzilJennyBrittaYüzilJennyBrittaYüzilMelliYüzilBrittaYüzilJennyYüzilMelliBrittaJennyYüzilMelliBrittaJennyYüzilMelliBrittaNoch mal BrittaJennyYüzilMelliBrittaPhilippJennyYüzilMelliBrittaJennyYüzilMelliBrittaJennyYüzilMelliBrittaJennyYüzilMelliBrittaJennyYüzilMelliBrittaJennyYüzilJennyYüzilBrittaYüzilBrittaMelliDas LebenDanksagung

Für Til,

für die Chance

Es ist lange her, dass ich normal sein wollte. Ich hab’s probiert, aber es war nichts für mich.

 

Wie alle anderen, John Burnside

Jenny

Es war seltsam, Sex zu haben, während die eigene Mutter sich auf der anderen Seite der Wand die Zähne putzte, dachte Jenny. Steffen umfasste ihre Brüste und bewegte sich schneller. Jenny versuchte, nicht daran zu denken, dass sie gleich in die Küche hinuntergehen musste, um das Frühstück für die Kinder vorzubereiten. Ihre Mutter gurgelte und spuckte aus. Die Wand zwischen Schlafzimmer und Gästebad war dünn wie Pappe. Noch etwas, das gemacht werden musste, sobald sie das Geld dafür zusammenhatten. Jenny starrte auf das schielende Katzengesicht mit der goldenen Vierzig, das über der Kommode schwebte. Der Luftballon war zur Decke gestiegen, als Jenny die Schnur losgelassen hatte, aber offensichtlich ging ihm bereits die Luft aus.

Jennys Mutter lebte seit zehn Jahren mit ihrem neuen Partner in Westdeutschland und kam selten zu Besuch. Werner war ein schwerer Mann mit schwitzigen Händen, der viel über Heizungsanlagen sprach und über das Jahr, in dem er für seine Firma den Bau eines Spaßbads in den Arabischen Emiraten beaufsichtigt hatte. Jennys Mutter hatte allen Ernstes vorgeschlagen, dass Jenny zu Werner Papa sagen sollte, aber obwohl sie Werners Großzügigkeit ihren Kindern gegenüber schätzte, hatte Jenny das Wort einfach nicht über die Lippen gebracht. Vielleicht, weil sie es in ihrem Leben noch nie zu irgendjemandem hatte sagen können. Jennys Art, sich bei Werner dafür zu entschuldigen, war, dafür zu sorgen, dass er immer eine seiner geliebten Dosen Schwip Schwap in ihrem Kühlschrank fand, wenn er mit Lilo zu Besuch war.

Steffen brummte und rieb seine Nase an Jennys Nacken. Lilo hatte gehofft, bei den Vorbereitungen zu Jennys Geburtstagsparty helfen zu können, und saß, seitdem klar war, dass ihre Tochter sich eine solche Party verbat, beleidigt in Jennys Küche und beschwerte sich über den Kaffee, den Jenny zu stark machte, und die Kinder, denen Jenny zu viel Freiraum ließ. Das zumindest war ein Problem, das Jennys Mutter nie gehabt hatte. Lilo hatte immer in der Angst gelebt, dass die Existenz einer Tochter ihre Chancen bei ihren häufig wechselnden Bekannten beeinträchtigen könnte, und hatte Jennys Freiheit deshalb stets enge Grenzen gesetzt. Sie hatte ihr beigebracht, sich zu Hause leise zu verhalten, niemanden mit Fragen oder vorlauten Antworten zu belästigen und ihre perfekte Ordnung durch nichts zu stören. Dass Jenny noch am Tag ihres achtzehnten Geburtstags sechshundertvierzig Kilometer zwischen sich und ihre Mutter gebracht und sich geschworen hatte, dass es niemals, niemals weniger sein würden, war kein Zufall gewesen. Jenny ertappte sich noch heute dabei, wie sie geräuschlos durch ihr eigenes Haus ging, als könnte ihre Mutter auch hier jederzeit ihr erschöpftes Ich kann dich hören! rufen. Jenny hatte die Kinder und Steffen mehr als einmal zu Tode erschreckt, als sie, ohne dass sie sie hatten kommen hören, plötzlich neben ihnen aufgetaucht war. Jenny bewunderte das kreative Chaos, in dem Steffen und die Kinder sich wohl fühlten, aber sie ertrug es nur, wenn es sich auf Steffens Werkstatt in der alten Remise und auf die Kinderzimmer beschränkte. Damit Jenny zur Ruhe fand, musste das Haus aufgeräumt sein. Damit Jenny sich auch mit Gästen wohl fühlte, musste es perfekt sein.

Steffen schob Jennys linkes Bein etwas höher. Sie spürte seinen Bauch warm und vertraut an ihrem Rücken. Der Luftballon hatte weiter an Höhe verloren und war bis zur zweiten Kommodenschublade herabgesunken. Die Katze zog einen säuerlichen Flunsch.

Vierzig. Jenny hatte schon vor Monaten Falten an ihren Ohren bemerkt, die dort vorher nicht gewesen waren. Als wäre ihre Kopfhaut ins Rutschen geraten und würde nur noch von ihren Ohren daran gehindert, sich um ihre Fußknöchel zu sammeln. Das war wohl, was Altwerden wirklich bedeutete: Von nun an würde es nicht mehr besser werden. Toast konnte nie wieder Brot sein.

Am Abend vor ihrem Geburtstag hatte Jenny so getan, als würde sie das unterdrückte Kichern der Kinder nicht hören, die unter der Anleitung ihrer Mutter einen Kuchen für sie backten, und hatte sich mit einem Buch ins Bett gelegt. Sie hatte damit gerechnet, sich stundenlang schlaflos im Bett wälzen zu müssen, war aber gleich erschöpft eingeschlafen, als Steffen sich neben sie gelegt hatte. Jenny hatte längst ihren Frieden mit der Tatsache gemacht, dass ihre Mutter als Mutter eine ziemliche Niete gewesen war, aber dennoch ließ sie es immer wieder zu, dass Lilo sie durch ihre bloße Anwesenheit an den Rand der totalen Selbstaufgabe brachte. Dieses demonstrative Staunen ihrer Mutter über jede Entscheidung, die Jenny traf (und sei sie noch so nichtig), das besorgte Stirnrunzeln vom Beifahrersitz aus, wenn Jenny vor dem Supermarkt rückwärts einparken musste, das kleine, überraschte Lachen, das sie ausstieß, wenn Jenny in Steffens Gegenwart eine Meinung äußerte, die von seiner abwich. Jenny konnte während der Besuche ihrer Mutter die Augen oft schon beim Frühstück kaum noch offen halten. Immerhin liebte Lilo ihre Enkelkinder, und sie mochte Steffen. Sie hatte großen Männern immer schon anerkennend hinterhergesehen und dabei Seufzer ausgestoßen, als würde ihr Zwergpinscher ihr gerade die Füße lecken. Dass ihre Mutter auch Steffen mit einem solchen Seufzer bedachte, machte Jenny jedes Mal Gänsehaut.

Jenny war überrascht gewesen, als Steffen ihre nackte Schulter an diesem Morgen mit Küssen bedeckt und sie dann zu sich herumgedreht hatte. Er hatte ihr T-Shirt nach oben gestreift und ihre Brüste geküsst. Jenny war nicht wirklich in Stimmung gewesen, aber sie hatte ihn machen lassen. Sie wollte ihn nicht entmutigen. Seit Wochen hatten sie es nicht mehr miteinander getan. Der Stress, das Wetter, Steffens Schichtarbeit. Dieser Morgensex war Steffens Geburtstagsgeschenk für sie, und Jenny erinnerte die Mühe, die er sich dabei gab, an die Höflichkeit, mit der er alten Damen beim Einsteigen in die Straßenbahn behilflich war.

Jenny hätte es an diesem Morgen genügt, nach einem flüchtigen Kuss und einem routinierten Ich hab dich lieb aufzustehen und einfach den Tag zu beginnen. Er würde auch so schlimm genug werden.

Steffen leckte ihr linkes Ohr. Jenny nahm an, dass er das in irgendeinem Film gesehen hatte, und widerstand dem Verlangen, ihr Ohr trockenzureiben. Die Idee, nach fast sechzehn Ehejahren noch spontan Lust füreinander zu empfinden, glich dem Versuch, eine todkranke, alte Frau am Leben zu halten, indem man sie fortwährend rüttelte.

Nach zwei Geburten sah Jennys Körper an keiner einzigen Stelle mehr so aus, wie sie es für angemessen hielt (die Dehnungsstreifen auf ihrem Bauch erinnerten sie an ein in der Sonne gebleichtes Zebrafell), und Sex war auf ihrer Liste der Dinge, die zum Überleben notwendig waren, weit nach hinten gerückt.

Steffen schien sich vorgenommen zu haben, Jennys Geburtstagsmorgen mit seinem gesammelten erotischen Können zu vergolden: Er schob seine Hände unter Jennys Pobacken und ließ sie rhythmisch auf und ab wippen. Die seltsamen, hohen Laute, die er dabei von sich gab, erinnerten Jenny an das Gezwitscher der Sittiche, die sich vor einigen Wochen in der Pappel am Ende der Straße niedergelassen hatten. Hüüp! Hüüp! Hüüp! Alle gaben vor, die exotischen Neuankömmlinge zu lieben, in Wahrheit aber wünschte die gesamte Nachbarschaft ihnen einen grausamen Tod, wenn sie unter hysterischem Kreischen wieder einmal sämtliche Motorhauben mit ätzenden weißen Haufen überzogen hatten.

Jennys Mutter föhnte sich jetzt die Haare, die sie am Abend zuvor auf Lockenwickler aus rosa Schaumstoff gedreht hatte. Steffens Bewegungen wurden schneller.

»Vierzig«, hatte ihre Mutter geseufzt und sich eine Zigarette gedreht. »Die Titten sind nicht mehr so straff, aber die Schwänze sind auch nicht mehr so hart.«

Jenny und ihre Mutter hatten auf der Kiesfläche hinterm Haus gesessen, auf der eines Tages das Holzdeck entstehen sollte, das für Jenny der eigentliche Grund gewesen war, das baufällige Siedlungshäuschen zu kaufen. Jenny wusste, dass ihre Mutter gerne mit ihr sprach, als wären sie nicht Mutter und Tochter, sondern beste Freundinnen. Aber abgesehen davon, dass sie das nie sein würden, hätte Jenny am liebsten jedes Mal laut aufgeschrien, wenn ihre Mutter sexuelle Erfahrungen mit ihr austauschen wollte.

Steffen stöhnte erlöst auf und rollte sich auf den Rücken. Jenny wartete, bis sie das sanfte Flopp hörte, mit dem er das Kondom abzog, und drehte sich zu ihm um.

»Und?« Steffen sah Jenny erwartungsvoll an.

»Was und?«

»Bist du gekommen?«

»Fast«, sagte Jenny und sah an Steffens enttäuschtem Gesicht, dass er sie in diesem Moment für eines von diesen undankbaren Geburtstagskindern hielt, die ihre Geschenke achtlos entgegennahmen und weglegten, ohne sie auszupacken.

»Du hast gesagt, wir sollen was Neues ausprobieren«, brummte Steffen verstimmt.

»Es ist komisch, wenn ich dein Gesicht dabei nicht sehe.«

»Es war deine Idee«, beharrte Steffen.

»Es war toll, okay?«

Steffen schüttelte zwei Tic Tac aus der Dose. Seitdem er den Kindern zuliebe auf das Rauchen verzichtete, waren sie sein Ersatz für die Zigarette danach.

»Mein erster Sex mit einer Frau über vierzig.«

»Ich bin nicht über vierzig!« Jenny setzte sich auf.

»Ulf sagt, Frauen über vierzig sind nicht mehr so orgasmusfähig, weil sie nicht mehr reproduzieren müssen. Das ist genetisch.«

»Wenn man seiner Freundin glauben darf, weiß Ulf nicht gerade besonders gut Bescheid über weibliche Orgasmen.« Jenny verfluchte sich innerlich dafür, diese Information preisgegeben zu haben, die ihr Ulfs Freundin nach dem dritten Gin Tonic anvertraut hatte. Sie würde sich von Sina einiges anhören müssen.

Jenny zupfte ein Papiertaschentuch aus dem Spender, der neben ihr auf dem Nachttisch stand, und schnäuzte sich gereizt. Steffen verschränkte entspannt die Hände hinter dem Kopf.

»Ulf sagt, Frauen über vierzig sind dankbarer.«

»Dankbarer wofür?«

»Für alles. Für Sex, auf jeden Fall. Weil es ihnen nicht mehr so oft passiert.«

»Dann sag Ulf, dass das nicht an den Frauen über vierzig liegt.« Jenny wünschte, Steffen würde aufhören, ständig diesen Idioten zu zitieren, der mit ihm im Rettungswagen saß und der der Letzte war, den Jenny sich in einem Notfall als alles entscheidende Hürde zwischen sich und dem Tod gewünscht hätte.

»Ulf sagt, Sex über vierzig ist entspannter, weil die Erwartungen nicht mehr so hoch sind.«

»Wenn Ulfs Erwartungen an sexuelle Erfüllung so gering sind, solltest du vielleicht besser ihn vögeln.« Autsch. Das war bissiger herausgekommen als beabsichtigt.

»Na dann, happy birthday.« Gekränkt schwang Steffen sich aus dem Bett und verschwand im Bad.

Jenny ließ sich in die Kissen sinken und zog die Decke über den Kopf. Sie konnte fühlen, wie die Erschöpfung der letzten neununddreißig Jahre ihr bleischwer in die Beine fuhr, und wünschte sich plötzlich einen dieser freundlichen Treppenlifte, auf dem sie hinunter ins Erdgeschoss fahren würde. Oder einfach nur irgendwohin.

Britta

Die fetten Frauen bewegten sich schwerfällig durch das Wartezimmer. Wie Nilpferde unter Wasser. Die Haare strähnig, die Blicke leer. Mit unsicheren Schritten tappten sie auf den nächsten freien Stuhl zu und ließen sich fallen. Sie stießen ein sattes Grunzen aus und stemmten ihre geschwollenen Füße in den Teppichboden, um ihre Rücken näher an die Lehne zu bringen. Sie waren zu erschöpft, um sich umzusehen oder zu grüßen. Ihre Blicke blieben auf die Stelle vor ihnen gerichtet, an der sie ihre Füße vermuteten. Mit der für Hochschwangere typischen Bewegung griffen sie aufstöhnend hinter sich, wenn sie sich setzten, und wenn sie aufstanden, bäumten sich ihre Körper auf, und ihre Bäuche schoben sich in die Mitte des Zimmers und zerrten ihre Besitzerinnen hinter sich her. Ein paar Kinder rutschten mit Holzautos über einen Teppich, auf dem die Grundrisse von Straßen und Häusern aufgemalt worden waren. Ein kleines Mädchen riss mit verträumtem Blick die aktuelle Ausgabe des Lesezirkels in Fetzen. Ihre Mutter schien nicht mehr die Kraft zu haben, sie davon abzuhalten. Das Wartezimmer roch nach Schweiß, saurer Milch, Feuchttüchern und voller Windel. Britta tat nicht einmal mehr so, als würde sie sich dafür interessieren, dass Reese Witherspoon ein New Yorker Restaurant verlassen hatte, ohne zu zahlen, und starrte die Frauen unverhohlen an. Sie alle schienen in einem Tagtraum gefangen zu sein, der sie weit, weit weg von hier brachte, oder sie waren kurz davor, vor Erschöpfung einzunicken. Eine der Frauen hatte während der letzten zehn Minuten mit winzigen Bissen einen Müsliriegel gemampft und leckte jetzt völlig ungeniert die letzten Schokoladensplitter aus der Silberfolie der Verpackung.

Britta seufzte. Wenn man sich hier umsah, konnte man die vieldiskutierte Tatsache, dass immer mehr Frauen immer länger damit warteten, ein Kind zu bekommen, fast für ein Gerücht halten. Alle hier waren mindestens zehn Jahre jünger als sie. Britta hatte nie die klassische Entscheidung zwischen Kindern und Karriere treffen müssen. Für sie war es immer die Karriere gewesen. Sie hatte in Viktor einen Partner gefunden, der Kinder zwar zu mögen schien, aber zu Brittas Erleichterung nie auf die Idee gekommen war, eigene haben zu wollen. Dann feierte Britta ihren siebenunddreißigsten Geburtstag, im Haus einer Freundin, die einen Vierseithof irgendwo in Brandenburg gekauft hatte und dort Ziegen und Seidenhühner hielt, die aussahen wie verwahrloste Pudel. Irgendwann nahm ein Kinderchor vorm Scheunentor Aufstellung und sang Wie schön, dass du geboren bist, dreistimmig, und Britta brach vor all ihren Freunden in Tränen aus. Sie hatte an diesem Tag nicht mehr aufgehört zu weinen. Ob es am Alkohol oder an ihrem Geburtstag lag oder an den entzückenden blonden Kindern, die aussahen wie aus einer Werbebroschüre für den Lebensborn – unterbrochen durch Schnappatmung und Ströme von Rotz hatte Britta ihren beunruhigten Freundinnen an diesem Abend immer wieder entgegengeheult: »Ich will ein Bä-hä-häi-by!«

Sie hatten alles versucht. Während Brittas fruchtbarer Tage hielten sie das empfohlene Minimum von zweimal täglich Sex ein. Sie hielten sich an die empfohlenen Stellungen (Missionar oder von hinten, die Empfangende winkelt ihr Bein an!) und stopften Kissen unter Brittas Po, sobald Viktor seine Pflicht erfüllt hatte. Britta ließ sich die letzten Amalgamfüllungen entfernen, da Frauen, die diese tickenden Zeitbomben in ihren Zähnen trugen, angeblich seltener Eisprünge hatten. Viktor und Britta lebten ihr Leben nach Brittas Eisprungkalender. Nach über acht Monaten war Britta noch immer so unschwanger wie zuvor. Dann begann ihre Odyssee durch die Kinderwunschkliniken. Die Ärzte befragten Viktor und Britta nach ihren Krankengeschichten (kerngesund), ihrer psychischen Verfassung (je länger das Baby auf sich warten ließ, umso schlechter) und ihrem Sexualleben (vorhanden, wenn auch in der letzten Zeit eher pflichtbewusst). Brittas Urin wurde untersucht, Ultraschall- und Hormonuntersuchungen folgten. Brittas absolute Favoriten waren die wiederholten Bauch- und Gebärmutterspiegelungen. Als der Arzt seine Prostata abtastete und ein Spermiogramm erstellte, bekam Viktors Entschlossenheit, Britta zu schwängern, erste Risse. Sie merkten es beide. Und sprachen nicht darüber. Als alle Untersuchungen ohne Befund blieben, schien es nur noch einen Grund für das Ausbleiben der Schwangerschaft zu geben: Die Worte ZUALT! ZULANGGEWARTET! SELBSTSCHULD! rollten auf Britta zu und begruben den größten Teil ihrer Hoffnung unter sich. Den größten. Aber nicht alle. Noch längst nicht alle. Britta schluckte Hormone, unterwarf sich einer strengen Diät mitsamt einem zermürbenden Zyklusmonitoring und hatte weiter Sex mit Viktor. Fürchterlichen Sex. Sex, dem die Liebe fehlte. Sex, der sich anfühlte wie Flaschenabfüllung. Viktor fühlte sich vergewaltigt durch Brittas Wunsch nach pünktlicher Besamung, das hatte er bei einem Abendessen mit Freunden einmal gesagt, und alle hatten gelacht. Nur Britta nicht. Sie wusste, dass Viktor das Lachen lange vergangen war. Wie sie sich bei alldem fühlte, fragte Viktor schon längst nicht mehr. Sie hatten aufgehört, miteinander zu reden, irgendwo in einem der zahllosen Wartezimmer hatten sie die Worte verloren und waren Fremde geworden. Sie hatten aufgehört, miteinander zu schlafen, Monate bevor auch die dritte IVF erfolglos blieb. Brittas Körper hatte begonnen, auf die starken Hormongaben und den Stress mit nässenden Hautausschlägen zu reagieren. Waren sie abends allein zu Hause, gingen sie sich aus dem Weg und vermieden jede zufällige Berührung, höflich, wie Reisende in einem überfüllten ICE. Tagsüber taten sie alles, um so lange wie irgend möglich in ihren Büros zu bleiben. Das Leben miteinander, nur Britta mit Viktor und Viktor mit Britta, war für keinen von ihnen mehr zu ertragen.

»Kwittkowski in die eins!«

In Ermangelung einer Aufrufanlage brüllte die Sprechstundenhilfe den Namen der nächsten Patientin ins Wartezimmer. Britta zuckte erschrocken zusammen. Eine junge Frau mit riesigem Bauch und fettigen Haaren wankte an Britta vorbei in den angrenzenden Behandlungsraum. Die Frau links neben Britta griff zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein, den jemand unter die Decke des Wartezimmers geschraubt hatte. Britta sah sich selbst auf dem knallorangen Sofa des Morgenmagazins sitzen. Die Schwangere, die rechts neben Britta saß, hatte bemerkt, dass der Fernseher lief, und sah mit stumpfem Blick erst Fernseh-Britta, dann Britta-Britta an, ohne Anzeichen eines Wiedererkennens. Britta seufzte erleichtert auf. Schwangerendemenz war eine feine Sache.

Fernseh-Britta lächelte verlegen und drückte sich in die Rückenlehne des Sofas, als sich die junge Moderatorin mit buttergelbem Haar (Marion, Melanie, Melitta, oder so ähnlich) vertraulich zu ihr herüberbeugte.

»Britta, du bist seit Jahren eines der beliebtesten Gesichter unseres Senders, erfolgsverwöhnt, glücklich verheiratet – jetzt fehlt eigentlich nur noch eins, um dein Glück perfekt zu machen!«

Britta sah die professionell geheuchelte Begeisterung, die in Marion-Melanie-Melittas Augen funkelte, hörte die routinierte Moderatorinnenstimme, die immer kurz davor schien, in gutgelauntes Kichern umzuschlagen, und wünschte sich, ihr Fernseh-Ich würde so viel Verstand besitzen, Privates privat sein zu lassen.

»Halt die Klappe, halt die Klappe, halt die Klappe«, murmelte Britta inständig und versuchte, mit reiner Willenskraft das Geschehene ungeschehen zu machen.

»Mein Mann und ich, wir üben fleißig. Drücken Sie uns die Daumen.« Fernseh-Britta strahlte. »Sie werden die Erste sein, die es erfährt.«

Britta sank enttäuscht zurück. »Nie hält sie die Klappe.«

Yüzil

»Du kannst es dir immer noch überlegen.«

»Anne, ich bin dreiundzwanzig. Die einzigen, die in meinem Alter noch bei ihrer Mutter leben, heißen Lothar oder sind geistig eingeschränkt.«

»Ich will ja nur, dass du nichts überstürzt.«

»Du willst mich für die nächsten vierzig Jahre im Keller anketten und mit Köfte füttern.«

»Es ist ein sehr trockener Keller.«

»Anne, ich muss.«

»Seni seviyorum, mein Schatz.«

»Ich hab dich auch lieb, Mama.«

Yüzil warf ihr iPhone auf den Schreibtisch, wo es unter einen Stapel Patientenakten rutschte. Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein, dass ihr Sohn am anderen Ende der Stadt seine Umzugskartons in den Miettransporter lud und mit seinen Freunden auf seine erste eigene Wohnung und sein neues Leben anstieß. Sie hatte ihn doch gerade erst in ihrem Bauch in die Schule mitgenommen, wo sie sich darauf vorbereitete, ihr Abitur nachzuholen. Sie hatte ihn sich doch eben erst vor die Brust geschnallt und ihn mit in die Vorlesungen der medizinischen Fakultät geschleppt, wo sie ihn unter den ungläubigen Blicken ihrer Dozenten und Kommilitonen stillte, wenn er unruhig wurde und leise vor sich hin brabbelte.

Yüzil ließ sich in den Bürostuhl fallen und drehte sich missmutig um sich selbst. Sie war eine der Mütter geworden, vor denen sie ihre Patientinnen immer gewarnt hatte. Narzisstische Monster, die ihre Kinder als verlängerte Körperteile ihrer selbst betrachteten und nicht begreifen konnten, dass ihre Kinder eines Tages auf und davon gingen, ohne auch nur den Hauch von Bedauern zu spüren. Yüzil wollte es ja verstehen. Aber sie konnte nicht. Warum sollte ihr Kind die gemeinsame Wohnung verlassen wollen, wenn sie es nicht wollte? Wohin wollte er gehen, wohin sie nicht mitging? Was gab es zu erleben, wenn sie es nicht mit ihm erleben konnte? Sie war eine Teenagermutter gewesen, eine türkische noch dazu, und es war die härteste und die beste Zeit ihres Lebens gewesen.

Als Philipp ihr gesagt hatte, dass er ausziehen würde, hatte Yüzil vor Schreck innerlich aufgeschrien. Dann hatte sie gelächelt und ihm zu seiner Entscheidung gratuliert. Sie hatte das heruntergekommene WG-Zimmer im vierten Stock einer Ostberliner Mietskaserne begutachtet und ihm zu der Aussicht beglückwünscht, die auf Mülltonnen und eine krummgewachsene, pilzzerfressene Fichte hinausging. Yüzil war immer stolz darauf gewesen, dass Philipp und sie nicht nur Mutter und Sohn, sondern auch Verbündete waren, Geheimagenten im Kampf gegen die Welt da draußen, Freunde, Schicksalsgenossen, Blutsbrüder. Philipps Entscheidung, sie zu verlassen, hatte Yüzils Herz gebrochen, und sie hatte sich von jetzt auf gleich so alt gefühlt, dass sie sich im Treppenhaus auf dem Weg nach unten bei ihrem Sohn hatte unterhaken müssen. Ihr war die Pille eingefallen, die Pipi Langstrumpf schluckte und mit der sie auf ewig Kind blieb, und sie hatte sich gewünscht, es gäbe sie für alleinerziehende Mütter, die Gefahr liefen, ihr einziges Kind an die Welt zu verlieren, auf Rezept.

Rezept! Yüzil kramte den Rezeptblock hervor und stellte eine Sechsunddreißiger-Packung Eisentabletten auf Frau Kwittkowski aus. Dann riss sie das Fenster auf und versuchte, tief und ruhig zu atmen. Sie fühlte sich, als würde sie ersticken. Was waren das für herzlose Mütter, die ihre Kinder mit einem Lächeln in die Welt hinausschickten und sich ohne Not der Möglichkeit beraubten, ihre Töchter und Söhne vor Drogen, falschen Freunden und Geschlechtskrankheiten zu schützen? (Yüzil war Gynäkologin, und es gab nichts, was sie nicht schon einmal gesehen hatte.) Das alles war die Schuld ihrer Eltern. Can und Merve hatten vor vierzig Jahren eine jahrhundertealte Tradition unterbrochen und waren allein in die Fremde gezogen. Wären sie geblieben, wo sie hingehörten, wäre Yüzils Sohn als Teil einer riesigen Sippe von Bauern und Ziegenhirten aufgewachsen, die ihre Mandelbaumplantagen bestellten und ihren Käse machten und sich in ihrem Leben nie weiter von ihrem Dorf entfernten als bis zum nächsten Marktflecken. Ihr Sohn hätte wie alle diese Männer ein Mädchen aus einem der benachbarten Weiler gewählt und wäre mit ihr in sein Dorf zurückgekehrt, wo er sein Haus direkt neben das Haus seiner Eltern gebaut und nie aufgehört hätte, seine Mutter zu ehren, bis sie ihrem Schöpfer gegenübertrat. Can und Merve hatten eine uralte Kultur mit Füßen getreten, und Yüzil war diejenige, die dafür büßen musste.

Yüzil ignorierte das rote Lämpchen an ihrer Telefonanlage, das seit geraumer Zeit hektisch blinkte. Sollte ihre Sprechstundenhilfe zur Hölle fahren. Sollten ihre Patientinnen zur Hölle fahren. Die ganz besonders. Sie alle hatten noch Jahre vor sich, in denen sie ihre Kinder an sich drücken und den Duft ihrer Haare in sich aufnehmen konnten. Sie konnten sie aufheben, wenn sie fielen, und trösten, wenn sie traurig waren. Sie konnten sie in den Schlaf singen und ihnen Geschichten erzählen, alles außer Konkurrenz. Keine Freundin, die interessanter, kein Job, der wichtiger, kein Ort, der spannender war. Diese Jahre, in denen die eigene Mutter eine ganze Welt war. In denen sie die ganze Welt war. Wo es jenseits von ihr nichts gab. Oder nichts, was ihr gleichkam. Und diese fabelhafte, wundersame Zeit voller Liebe und Einverständnis sollte für Yüzil nur läppische dreiundzwanzig Jahre gedauert haben? Allahs Wimpernschlag, in den sie ein ganzes Leben pressen sollte?

Yüzils Eltern hatten sich für ihren Enkel gefreut, sie hatten seine Tatkraft und seinen Mut gefeiert, so wie sie ihn sein ganzes Leben lang auf Händen getragen hatten.

Aber was war mit ihr?

Es sollte Traueranzeigen für Frauen wie sie geben, die ihre Kinder an ein neues Leben verloren. Hier ruht Yüzil Gündem. Überflüssig, vergessen, nutzlos, alt.

Yüzil graute davor, in ihre Wohnung zurückzukehren und Philipps Zimmer leer vorzufinden. Die Umrisse alter Tesafilmstreifen an den Wänden, mit denen ihr Sohn Poster von Hertha BSC und Fenerbahçe Istanbul aufgehängt hatte, die Abdrücke der seltsamen türkischen Stilmöbel auf dem Teppichboden, die Can und Merve für ihren Enkel gekauft hatten und von denen er sich aus Liebe zu ihnen nie hatte trennen wollen. Sie würden jetzt in seiner neuen Wohnung stehen, und seine neuen Freunde würden sich über sie lustig machen, und Philipp würde es mit einem Lächeln quittieren, denn so war er – voller Liebe und Treue und frei von Eitelkeit. Yüzil fühlte, wie ein Meer von Tränen an die Rückseite ihrer Augen drückte.

»Frau van Ende wäre dann die Nächste.«

Yüzils Sprechstundenhilfe hatte eingesehen, dass ein rotes Lämpchen an der Telefonanlage für ihre Chefin zu leicht zu ignorieren war, und steckte ihren Kopf durch die Tür. Yüzil straffte die Schultern und winkte die nächste Patientin herein.

Britta

Nach all der Zeit, die sie in Praxen und Kliniken verbracht hatte, hatte Britta gelernt, ihre Ärzte zu lesen, und sie hatte Mitleid mit ihnen. Die meisten von ihnen hatten ihren Beruf ergriffen, um Menschen zu helfen. Sie hatten sich durch ein jahrelanges Medizinstudium gekämpft, um Patienten zu heilen, und saßen doch oft genug vor ihnen, um all ihren Hoffnungen ein Ende zu setzen und ihre schlimmsten Albträume wahr werden zu lassen. Britta kannte ihn nur zu gut, diesen Moment, wenn die Ärzte ihre Köpfe senkten und vorgaben, noch etwas in der Patientenakte notieren zu müssen, während sie den Mut suchten, ihr zu sagen, dass sie auch dieses Mal nicht schwanger geworden war.

»Britta, es tut mir leid, aber es hat auch dieses Mal nicht geklappt.« Doktor Gündem schlug Brittas Akte zu und faltete die Hände. »Ich weiß, dass alle behaupten, dass vierzig die neue dreißig ist«, Doktor Gündem probierte ein schiefes Lächeln, »aber leider hat das noch niemand unseren Eierstöcken gesagt.«

Der peinsame Moment, in dem man merkt, dass ein Scherz, der eigentlich die Spannung lösen sollte, so vollständig danebengeht. Wie ein Betrunkener, der im Stehen pinkelt und mit einem Mal spürt, dass seine Socken feucht werden. Britta konnte sehen, wie Doktor Gündem vor sich selbst erschrak. Für eine Frau, die auf ihrem Gebiet als Koryphäe galt, verfügte ihre Ärztin über erstaunlich wenig soziale Kompetenz. Es war schon fast wieder komisch, ihren panischen Blick hinter den Brillengläsern zu sehen und zu spüren, wie verzweifelt sie hoffte, dass Britta sie aus dieser Situation erlösen würde.

»Wir hatten unsere Hoffnung in die letzte Hormontherapie gesetzt.« Britta hatte versucht, nicht zu vorwurfsvoll zu klingen. Das war ihr gründlich misslungen.

Doktor Gündems rechte Hand flatterte hinauf zu ihrem Hals, wo sie kurz über die filigrane Goldkette fuhr und hinunter auf ihren linken Unterarm, den sie nervös zu kneten begann. »Britta, Sie müssen das verstehen. Wenn wir Ihnen noch mehr Hormone verabreichen, gehen Sie nicht mit einem Baby hier raus, sondern mit einer dritten Brust auf dem Rücken.«

Doktor Gündem lachte ein nervöses und abgehacktes Lachen, das in ein trockenes Husten überging. Britta sah gespannt und auch ein klein wenig schadenfroh zu, wie ihre Gynäkologin sich um Kopf und Kragen redete.

»Sie wissen, es gibt andere Optionen. Adoption. Leihmutterschaft.«

»Ich dachte, das ist illegal?«

»Das ist vollkommen richtig.« In der Tiefe von Doktor Gündems Kehle schien ein kleines, fassungsloses Oi zu sitzen und dringend herauszuwollen.

Britta beschloss, dass dieser Moment lang genug gedauert hatte, und lächelte ihrer Ärztin traurig zu. »Vielleicht wollte ich einfach nur glauben, dass ich noch eine Chance habe.«

»Britta, es tut mir leid, aber die Chance, in Ihrem Alter auf normalem Wege schwanger zu werden, liegt bei höchstens zehn Prozent.«

»Doktor Gündem, meine Chance, auf normalem Wege schwanger zu werden, ist gerade auf null gesunken.«

Britta sah den ratlosen Blick ihrer Ärztin.

»Viktor hat mich verlassen, und sein Sperma hat er mitgenommen.«

Jenny

Jenny schmierte Brote und sah ihrer Mutter dabei zu, wie sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte. Lilos Haare lagen wie ein makelloser, kastanienbrauner Helm um ihren Kopf, ihrem perfekten Make-up und der teuren Seidenbluse sah man an, wie viel Mühe und Zeit sie auf ihr Aussehen verwendete. Trotzdem sah sie nicht einen Tag jünger aus als zweiundsechzig. Vielleicht lag es an ihrem hageren Körper, dem sie seit dreißig Jahren nicht ein Gramm Zucker oder Fett gegönnt hatte. Oder an dem mürrischen Zug um ihren Mund, der zwei tiefe Linien in ihre Kinnpartie gegraben hatte. Lilo schaufelte fünf Löffel Kaffeepulver in die Filtertüte, zögerte kurz und nahm einen wieder heraus. Der Kaffee, den ihre Mutter kochte, sah aus wie Wasser, das zu lange in einem rostigen Eimer gestanden hatte. Jenny konnte die schlappe Brühe nicht ertragen, die Lilo den ganzen Tag in großen Pötten in sich hineinschüttete, und gab vor, lieber Tee zu trinken (Jenny hasste Tee). Ihre Mutter ahnte, dass Jenny sie belog, und hatte damit noch etwas, das sie ihr übelnehmen konnte.

Sosehr Jenny sich auch bemühte, sie hatte an ihrer Mutter nie etwas Mütterliches entdecken können. Für Jenny war sie eher so etwas wie eine ständig schlechtgelaunte, ältere Schwester, vor deren unberechenbar wechselnden Stimmungen man auf der Hut sein musste.

Lilo schaltete die Kaffeemaschine ein und lehnte sich an den Küchentresen. »Vierzig. Mein Beileid.«

Jenny holte den Butterkäse aus dem Kühlschrank (ohne Rinde, für Benni) und den vegetarischen Brotaufstrich (für Kim) und nahm sich vor, alles was ihre Mutter heute an Gift verspritzen würde, zu ignorieren. Sie hatte Geburtstag. Es war ihr Tag. Und sie würde nichts tun, um dem Furor ihrer Mutter noch mehr Nahrung zu geben.

»Du solltest dir langsam überlegen, was du mit dem Rest deines Lebens anfangen möchtest.«

»Dem Rest meines Lebens?« Dreißig Sekunden. Immerhin, sie hatte es versucht. »Ich bin kein abgelaufener Joghurt, Mama. Ich bin Hausfrau und Mutter, und ich bin es gern. Und aus freien Stücken.«

»Das ist es ja, was ich nicht verstehe. Es dauert nicht mehr lang, und Kim und Benni sind aus dem Haus.«

»Benni ist acht, Mama. Er wird noch mindestens zehn Jahre bei uns wohnen.«

»Und dann bist du Ende vierzig und nur noch eine alte Hausfrau. Und du wirst den beiden peinlich sein.«

»Du bist Hausfrau, und du warst mir nie peinlich.«

»Kind, ich war dir immer peinlich.«

Das stimmte, wenn auch aus ganz anderen Gründen, als ihre Mutter annahm. Jenny hatte nie verstanden, warum sich ihre Mutter immer wieder Männer suchte, die sie nicht einmal besonders zu schätzen schien (sie hatte für alle ihre Lebensgefährten Spitznamen gehabt, und keiner war besonders schmeichelhaft ausgefallen). Vielleicht, weil sie ihr das Leben bieten konnten, das sie für angemessen hielt. Das, was ihre Mutter in diesen Tauschhandel einbrachte, war ein gepflegtes Äußeres und eine merkwürdig bedürftige Freundlichkeit, die Jenny unerträglich fand.

»Du hättest studieren können«, fuhr Lilo fort.

»Ich wollte Kinder, Mama. Ich wollte Mutter sein.«

»Das wird allgemein überschätzt.«

»Danke, Mama. Aber es muss nicht jeder Karriere machen.«

»Du liebe Güte, wir leben nicht mehr im Mittelalter. Du hättest beides haben können.«

»Vielleicht bin ich einfach nicht so ehrgeizig wie du.«

Das war gelogen. In Jenny brannte ein Ehrgeiz, der sie manchmal selbst erschreckte. Aber nach Kims Geburt war Jenny wie besoffen gewesen vor Mutterglück und hatte sich nicht vorstellen können, ihre wunderschöne Tochter auch nur für halbe Tage allein zu lassen. Und Benni war ein überängstliches, schwieriges Kleinkind gewesen, und als sich das langsam gelegt hatte, schien es an Fotolaboranten Mitte dreißig keinen Bedarf mehr zu geben. Sie hatten das kleine Haus am Stadtrand gekauft und sich vorgenommen, es Schritt für Schritt zu renovieren. Und auch hier hatte es immer irgendeinen Notfall gegeben, der Jennys ganze Aufmerksamkeit und Zeit beanspruchte. Und die Zeit raste. Sie verging, und jedes Jahr ein bisschen schneller.

»Ich sage das nicht gern, aber du wirst auch nicht jünger.«

Von wegen. Ihre Mutter sagte das sehr gern. Sie schien innerlich vor Freude zu beben bei diesem Satz. Sie war nicht mehr die Einzige, die alt wurde! Jetzt hatte es endlich auch ihre Tochter erwischt, die auf alles eine Antwort hatte – nur darauf nicht.

»Häbbie Börsdäi!« Benni und Kim kamen die Treppe herunter. Sie trugen den Kuchen, den sie am Abend zuvor mit Lilos Hilfe gebacken hatten. Der Schokoguss war über Nacht grau geworden, aus seinen Rändern tropfte eine schleimige Flüssigkeit, und in seiner Mitte brannte eine rosaweiße Vierzig.

Ihre Kinder. Wie groß die beiden jetzt schon waren. Kim war mittlerweile vierzehn, fast schon eine junge Frau, die erschrocken Mama! rief, wenn Jenny sie oben ohne im Bad überraschte, und sich ein Handtuch vor die noch kaum vorhandene Brust presste. Ihre Tochter war außerdem viel zu schön, um wirklich ihr biologisches Kind sein zu können. Jenny vermutete seit längerem, dass irgendjemand im Krankenhaus ihr Kind aus dem Babybettchen genommen und stattdessen diese erdbeerblonde Schönheit hineingelegt hatte. Sie war unglaublich stolz auf ihre Tochter, die sowohl beißenden Witz als auch ein gutes Herz besaß. Selbst wenn sie das zur Zeit gut zu verbergen wusste und ihrer Mutter meist mit der amüsierten, wohlwollenden Nachsicht begegnete, die Betreuer den ihnen anvertrauten geistig Behinderten entgegenbrachten.

Benni war gerade acht geworden und die dunkelhaarige Entsprechung seiner großen Schwester. In den zwei Wochen, die sie jedes Jahr in einem Holzbungalow auf Rügen verbrachten, nahm seine Haut einen olivfarbenen Ton an, und das Grün seiner Augen strahlte hinter seinen unerhört langen Wimpern umso kräftiger. Jenny fand, dass sie und Steffen unverschämt gutgelungene Kinder bekommen hatten, und es gab Tage, an denen sie mit den Gesichtern der beiden am liebsten Plakatwerbung gemacht hätte.

Benni hielt Jenny eine selbstgebastelte Glückwunschkarte entgegen, die über und über mit Strass besetzt war. Ihr Sohn liebte alles, was glitzerte, funkelte und rosa war. Als Steffen ihn einmal zum Handballtraining mitgenommen hatte, hatte Benni angefangen zu schluchzen, entsetzt über die harten Stürze auf dem Platz. Steffen hatte Benni in den Arm genommen und gefragt, wohin er denn lieber gehen würde. Seitdem fuhr er ihn dreimal in der Woche zum Ballettunterricht, wo Benni der einzige Junge in einer Armee kleiner, schnatternder Ballerinen war und sich sichtlich wohl fühlte. Steffen hatte es geschafft, seine Enttäuschung vor seinem Sohn zu verbergen, und Jenny liebte ihn dafür. Nur manchmal fing sie Steffens wehmütigen Blick auf, wenn er bei einem Handballspiel Jungs sah, die vor Freude krähend auf den Schultern ihrer Väter in die Halle geritten kamen. Es gab ihr jedes Mal einen Stich.

»Du musst die Karte lesen!«, rief Benni aufgeregt.

»Eine Jahreskarte fürs Hallenbad!« Jenny hoffte, dass niemand ihr die Enttäuschung anmerkte.

Ihre Mutter lächelte schadenfroh. Natürlich. Diese Frau, ansonsten ignorant bis zur Selbstverleugnung, hatte, was Jenny betraf, einen Röntgenblick. »Da hast du jetzt was Eigenes. Fast so gut wie ein Jodeldiplom.«

Kim gab Jenny einen Kuss und packte ihre Sporttasche.

»Wer mit mir fahren will, muss jetzt am Auto sein!« Steffen kam in die Küche und legte Jenny den Arm um die Schulter.

Jenny hielt ihm die glitzernde Karte hin. »Deine Idee?«

»Du wolltest doch immer ein Hobby. Und es ist gut für deinen Rücken.«

Was war falsch an einem gemeinsamen Abendessen in einem romantischen Restaurant? Einem Wochenende in Rom oder meinetwegen auch Kopenhagen? Sogar im Herbst! Ab vierzig schien auch der Glamour der Geschenke abzunehmen.

»Ihr seid lieb, lieb!« Nacheinander drückte Jenny ihren Kindern einen Kuss auf die Wange. Benni grinste verlegen, Kim wischte sich mit gespieltem Ekel den Ärmel ihres Sweatshirts übers Gesicht. Jenny steckte ihnen die Pausenbrote in ihre Taschen.

»Mach dir einen schönen Tag.« Steffen drückte Jenny einen Kuss auf den Scheitel, schnappte sich Kims Sporttasche und Bennis Schulranzen und trieb die beiden vor sich her durch die Tür. Jenny war wieder mit ihrer Mutter allein.

»Es wird nicht mehr lang dauern, und die beiden gehen durch diese Tür, ohne noch einmal lieb zu winken.« Jennys Mutter spülte ihre Kaffeetasse aus. »Und rechne nicht mit Dankbarkeit. Für Mütter gibt es keine.«

»Ich wollte nie, dass meine Kinder dankbar sind. Ich will, dass sie glücklich sind.«

»Hast du das aus einem Kalender?« Ihre Mutter spülte ihre Kaffeetasse aus und stellte sie auf das Abtropfgitter. »Wahrscheinlich ist es jetzt eh zu spät für dich. Komm nur nicht heulend zu mir gerannt, wenn dein Mann eine andere gefunden hat, die nicht den ganzen Tag mit ungewaschenen Haaren in der Küche sitzt und Geschirrhandtücher bügelt.«

»Wann fährst du gleich noch?« Jenny wandte sich um und schüttete Lilos Kaffeebrühe in die Spüle.

Ihre Mutter verließ kopfschüttelnd die Küche.

»Und ich habe noch nie Geschirrhandtücher gebügelt«, rief Jenny ihr hinterher.

Sie sah sich in ihrer Küche um. Ihre Küche, ihr Haus, ihre Kinder, ihr Mann. Und was sonst? Hatte sie sich zu früh mit zu wenig zufriedengegeben, und jetzt war es zu spät? Sie hasste sich für diese Gedanken – aber ihre Mutter noch ein bisschen mehr. Nur was, wenn sie recht hatte und das alles war?

»Herzlichen Glückwunsch.« Jenny beugte sich über den Kuchen mit der brennenden Vierzig, die bereits halb im Kuchen versunken war, und blies die Kerze aus. Das Wachs spritzte über den fleckig grauen Schokoguss und machte die ganze Sache vollends ungenießbar.

Melli

Ihr Kleid war aus elfenbeinfarbener Seide, das Mieder mit belgischer Spitze besetzt, die Schleppe ein fast acht Meter langer cremefarbener Traum. Es schien, als könnte sie mit einem einzigen Schwung ihrer Hand die gesamte Kathedrale damit bedecken, als hätte der Stoff das Licht, das durch das Opaion der Kuppel fiel, aufgesogen und in ein perlmuttfarbenes Leuchten verwandelt, es sah aus, als könnte die Prinzessin darin fliegen. Diana Frances Spencer stieg aus der Kutsche, und während die Brautjungfern ihre Schleppe richteten, winkte sie den Schaulustigen und den Fotografen zu und sah unendlich glücklich aus.

Melli hatte die VHS-Kassette mit der Hochzeitszeremonie der zukünftigen Princess of Wales so oft abgespielt, dass eines Tages ein feiner, weißer Rauchfaden aus dem Schlitz des Videorekorders gestiegen und schließlich unter Mellis entsetzten Schreien das gesamte Gerät in Flammen aufgegangen war. Das war jetzt fast fünfunddreißig Jahre her, Melli war damals fünf gewesen, doch sie hatte bis zum heutigen Tag nichts gesehen, das schöner war als dieser Moment, dieser Wimpernschlag der Geschichte auf den Treppenstufen vor der Kathedrale von St. Paul’s, von wo ein schüchternes Mädchen der unfassbaren Zahl von einer Milliarde Menschen zuwinkte, die ihr allesamt vor ihren Fernsehgeräten von Herzen alles Gute wünschten. Auch heute musste Melli sich zusammenreißen, um nicht in ihr Smartphone zu winken, wenn sie die Szene auf YouTube verfolgte. Melli hatte diese nicht ganz fünfundzwanzig Sekunden so oft gesehen, dass sie sie in fünfundzwanzig Sequenzen hätte unterteilen und jede einzelne differenziert beschreiben können. Und doch waren die tatsächlichen Bilder jedes Mal wieder so unendlich viel schöner als Mellis Vorstellung davon. Als kleines Kind und dann als junges Mädchen war Melli wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass auch sie später heiraten und – viel wichtiger – ein Brautkleid tragen würde, das sich anfühlte wie der zufriedene Seufzer einer Seidenraupe und aussah wie federfeiner, stoffgewordener Eierschaum. Aber dazu war es seltsamerweise nie gekommen. Seltsam, weil Melli so fest damit gerechnet hatte. Seltsam, weil auch alle ihre Freundinnen davon ausgegangen waren. Es war nie etwas wirklich Schwerwiegendes passiert. Es hatte keinen Mann in Mellis Leben gegeben, der ihr kurz vor dem Jawort gestanden hätte, bereits eine Frau und drei kleine Töchter in Paderborn oder eine Affäre mit seinem Fußballtrainer zu haben. Es hatte sie einfach nur keiner gefragt. Ein paar von Mellis Männern waren nicht lang genug geblieben, um die Sache überhaupt in Betracht zu ziehen. Ein paar hatten gespürt, dass Melli sie nur als Übergangskandidaten betrachtete, und waren klug genug gewesen, es gar nicht erst zu versuchen. Überraschend viele waren weitergezogen, um kurz darauf andere Frauen zu heirateten. Mit Ende zwanzig waren Mellis Fehlschläge noch Futter für skurrile Partyanekdoten gewesen. Mit Ende dreißig war Melli das Lachen vergangen. Sie hatte nach Gründen gesucht und zu glauben begonnen, es läge daran, dass sie etwas molliger war als andere. Sie hatte versucht abzunehmen, aber ihr Körper hatte sich allen Versuchen widersetzt, durch Diäten, Ernährungsumstellungen oder sogar Sport überschüssige Pfunde zu verlieren. Mellis Arme blieben speckig, beim Lachen zeigte sich weiter ein leichtes Doppelkinn, und ihre Brüste ließen sich beim Joggen auch durch den stärksten Sport-BH nicht davon abhalten, Melli aus dem Gleichgewicht zu bringen. Melli war ein verträumtes, stämmiges Kind gewesen. Heute war sie eine hübsche, rundliche Frau Ende dreißig, deren Oberschenkel beim Gehen leicht aneinanderrieben. Sie hatte den Traum, mit einer Kutsche vor einer Kirche vorzufahren und am Arm ihres Vaters zum Altar zu schreiten, noch nicht aufgegeben. Aber er war über die Jahre in die Ferne gerückt – etwas, das anderen passierte, nicht ihr. Ein Tag, den Melli wie durch eine Milchglasscheibe bestaunen konnte, zu dem ihr jedoch niemand Zutritt gewährte.

Dann hatte Melli Martin kennengelernt. Sie leitete die Dessous-Abteilung des Kaufhauses, in dem Martin sich gerade anschickte, ins obere Management aufzusteigen. Eine Weihnachtsfeier und sechs Plastikbecher Glühwein später landeten sie zum ersten Mal zusammen im Bett. Beziehungen unter Angestellten wurden von der Leitung des Kaufhauses nicht gern gesehen, aber immerhin geduldet, und Melli und Martin waren in den ersten Monaten diskret genug, um den üblichen Klatsch erst gar nicht aufkommen zu lassen. Als sie ihre Beziehung schließlich öffentlich machten, ließ die fehlende Begeisterung bei ihren Kollegen Melli fast ein wenig gekränkt zurück.

Martin sah gut aus. Fast ein bisschen zu gut für Melli, wie eine jüngere und dünnere Kollegin aus der Schuhabteilung dann doch noch meinte, sagen zu müssen. Aber die Weiber aus der Schuhabteilung waren verbitterte, neidische Schlampen, die auch nach dem dritten Mal Duschen noch nach alten Socken rochen, das wusste jeder.

Martin war charmant und ehrgeizig und vor allem – solo. Aber Martins Ehrgeiz, so schnell wie möglich innerhalb des Unternehmens aufzusteigen, ließ ihn auch ängstlich bemüht sein, keine Fehler zu machen. Er brauchte lange, um sich zu entscheiden, da er jede Entscheidung auf mögliche Konsequenzen untersuchte, und seine Art, in Winkelzügen und Taktiken zu denken, anstatt rundheraus zu sagen, was er eigentlich wollte, ließ ihn manchmal, so hatte es eine Kollegin aus der Haushaltsabteilung Melli gesteckt, bevor sie in den Ruhestand verschwand, wie einen intriganten kleinen Kriecher aussehen, der er – das fand jedenfalls Melli – nicht war. (Die Zicken aus der Haushaltswarenwelt waren noch schlimmer als die Schuhschlampen. Kein Wunder, was sollte man auch von jemandem erwarten, der ausschließlich Kundenkontakt zu mürrischen Hausfrauen über fünfzig hatte? In die Welt der Töpfe, Pfannen und Nähgarne verirrte sich kaum ein Mann, und die netten Frauen bestellten ihre Woks online.)

Melli dagegen konnte sich den Luxus der Unentschiedenheit nicht leisten. Melli hatte seit frühester Kindheit einen Plan gehabt. Sie wollte die perfekte Hochzeit mit dem perfekten Bräutigam und dem perfekten Brautkleid, und dieser Plan erforderte das reibungslose Zusammenwirken so vieler verschiedener Faktoren, dass Melli zu einer Meisterin im Organisieren, Durchdenken, Vorausschauen und Improvisieren geworden war. Die Damenunterwäscheabteilung war eine harte Schule gewesen. Melli war jahrelang durch das Stahlbad weiblicher Ängste und Neurosen gegangen und perfekt gewappnet daraus aufgetaucht (die Damenwäsche hatte die höchste Abbruchrate unter allen Ausbildungsplätzen des Kaufhauskonzerns, da hielt nicht einmal die Müllbeseitigung mit). Es gab wenige Situationen, in denen Menschen verletzlicher waren als während der Anprobe von Unterwäsche vor einer fremden Person, und Melli hatte gelernt, wie man diesen Menschen die Angst nahm und sie sanft in die richtige Richtung schob, ohne dass sie merkten, dass gerade eine namenlose Verkäuferin darüber entschied, in welcher Unterwäsche sie sich an diesem Abend ihrem Partner zeigen würden.

Da Martin das Talent besaß, Talent in anderen zu wittern (und auszubeuten, wie die frühpensionierte Haushaltsware gemurmelt hatte), verließ er sich schon nach wenigen Wochen bei Entscheidungen, die ihm nicht geheuer waren, auf Mellis Urteil. Drei Monate nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht bat er sie, bei ihm einzuziehen. Ohne eine Sekunde zu zögern, packte Melli ihre Sachen und zog zu ihm. Das Brautkleid, das seit Jahren in seiner Plastikhülle in Mellis Kleiderschrank hing, bunkerte sie bei einer Freundin. Sie wollte Martin nicht schon beim Einzug verschrecken. Denn für Melli war Martin der Kandidat. Er passte ihr wie ein lang getragener Turnschuh. Solange die Dinge gut für ihn liefen, war Martin nett und unkompliziert. Er roch gut und war besser im Bett als alle seine Vorgänger. Er schlief so oft mit Melli, dass sie sich begehrt, aber nicht so oft, dass sie sich in ihrem Tagesablauf gestört fühlte. Sex mit Martin war manchmal experimentierfreudiger, als Melli es gebraucht hätte, aber er fand oft am Wochenende statt, nach ein paar Gläsern Rotwein beim Italiener, wenn Melli sich sowieso in großzügiger Stimmung befand. Vielleicht fand Melli es manchmal ein bisschen beunruhigend, wie schnell sie und Martin nach den ersten gemeinsam verbrachten Wochen zu einer Routine gefunden hatten. Aber auf der anderen Seite bestätigte das auch ihre Überzeugung, dass man einander auf dieser Welt suchte und fand.

Martins Wohnung war ein bisschen zu sachlich, aber dennoch geschmackvoll eingerichtet. Melli legte ihre bunten Kelims auf die spiegelnden Fliesenböden, strich die Wände in Cappuccino und Aubergine und fühlte sich zu Hause. Martins Eltern lebten im Badischen und waren mit Martins vier älteren Geschwistern und deren Familien so beschäftigt, dass sie nur selten zu Besuch kamen. Sie waren reizende, ein bisschen langweilige Leute aus einem Weinort, in dem nach achtzehn Uhr kein Bus mehr fuhr und einem in der örtlichen Kreissparkasse der Kontostand noch über den Schalter zugerufen wurde.

Melli konnte nicht mit letzter Gewissheit sagen, was stärker war – ob Martin und sie einander liebten oder eher brauchten. Aber das beunruhigte sie immer nur kurz. Dann sah sie Martin, der im Kaufhaus mittlerweile sowohl für Public Relations als auch für Innen- und Außenwerbung zuständig war, wie er mit einem Tross von Mitarbeitern und Fotografen durch ihre Abteilung zog, und ein warmes Gefühl machte sich in ihr breit. Martin war derjenige welcher. Punktum. Er würde am Altar stehen, mit seinem ältesten Freund scherzen, während er auf sie wartete. Und wenn Melli dann die Kirche betrat, würde er sich zu ihr umdrehen, er würde sie in ihrem Brautkleid sehen, und in seinen Augen würde Melli (und alle anderen) in rascher Folge ungläubiges Erstaunen, wilde Freude und die sanfte Gewissheit sehen, dass dort die Frau seines Lebens auf ihn zukam. Mellis Freundinnen würden weinen – ach was! –, alle Frauen in der Kirche würden gegen die Tränen ankämpfen (und den Kampf verlieren). Ein Kinderchor würde Morning has broken singen, zwei Fotografen und vier professionelle Kameramänner, von denen einer einen schwenkbaren Kameraarm um die Hüfte geschnallt trug, der es ihm ermöglichte, vor Melli herzugehen, um das glückliche Strahlen in ihren Augen aufzufangen, würden den schönsten Tag in Mellis Leben für alle Ewigkeit festhalten. Sie würden ihn auf CDs pressen oder per Dropbox digital zugänglich machen, um den Gästen – und vor allem Melli – die Gelegenheit zu geben, diese Stunden wieder und immer wieder zu erleben.

Iiiiieeeep! Die Kasse gab einen schrillen Warnton von sich. Mellis Kollege Rico tippte ratlos auf der Weichgummifolie herum, die die Tasten vor Abnutzung schützte.

»Das hat sie noch nie gemacht!«

Rico, ebenso niedlich wie ahnungslos, schlug mit der flachen Hand auf die Digitalanzeige, so wie Mellis Großmutter immer auf ihren alten Schwarzweißfernseher eingeprügelt hatte, wenn Der große Preis mal wieder durch gräuliche Schlieren entstellt wurde und Wim Thoelkes Stimme nur noch als dumpfes Quaken durch den Äther drang.

Melli bückte sich seufzend unter den Verkaufstresen und wackelte wahllos an irgendwelchen Kabeln.

»Zieh den Stecker raus und steck ihn wieder rein«, rief Rico optimistisch. »Vielleicht funktioniert sie dann wieder.«

»Vielleicht?« Melli kam wieder unter dem Tresen hervor. »Ich dachte, ihr jungen Dinger seid mit Computern groß geworden?«

»Nur die mit Pickeln.« Rico rümpfte in Erinnerung an im Wachkoma durchstandene Informatikstunden die Nase. »Ich war zu hübsch für Computer.«

»Melli? Hast du kurz Zeit?« Martin stand vor dem Tresen und zog ein kummervolles Gesicht.

Warum musste immer noch etwas passieren, wenn die Kacke gerade am Dampfen war? Warum hielt es das Universum für eine gute Idee, den Menschen fünf Bälle gleichzeitig zuzuwerfen, um damit zu jonglieren, wenn einer doch gereicht hätte?

Melli warf Rico einen Blick zu, den er nur zu gut kannte.

»Ich bin schon weg.«

Melli kannte sich gut genug, um zu wissen, dass sie Rico hinterher jedes mit Martin gesprochene Wort berichten würde; und Rico wusste das auch. Trotzdem schlenderte er jetzt aufreizend langsam zu einer Kundin, die ratlos ein Leibchen in den Händen wendete, das gerade einmal ihren rechten Oberarm bedecken würde

»Ich bin zum Chef bestellt worden.«

Melli wunderte es immer wieder, wie Martin gleichzeitig flüstern und am Rande der Hysterie sein konnte.

»Angeblich ist er mit unserer Performance nicht zufrieden.«

Melli tippte wahllos auf den Tasten der Registrierkasse herum in der Hoffnung, damit etwas bewirken zu können und genug Gelassenheit auszustrahlen, um Martin wieder zu beruhigen. »Du machst dir zu viele Sorgen.« Melli schnupperte. Hatte sie Geruchshalluzinationen, oder roch es von unter der Kasse her nach verbranntem Gummi? »Kreimann war schon Chef, als ich hier angefangen habe. Er weiß, dass die Werbeabteilung Tüten-BHs in der Originalverpackung abfotografiert hat, bevor du gekommen bist und alles umgekrempelt hast.« Melli sah, dass Martin auf seiner Unterlippe kaute und lächelte ihn aufmunternd an. »Du bist super, okay?«

Martin schien nicht überzeugt. »Werbekampagnen sind immer nur so super wie die Verkäufe, die sie gerieren.«

»Umgangssprache«, murmelte Melli automatisch.

»Wie das, was sie einbringen«, verbesserte sich Martin, der auch jetzt noch hin und wieder vergaß, dass er seine Zeit nicht mit Werbern in einer Public-Relations-Fortbildung verbrachte. Früher war er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit in völlig unverständliches Product-Placement-Kauderwelsch ausgebrochen, was alle Umstehenden ratlos zurückgelassen hatte. »Und die Zahlen sahen in der letzten Zeit nicht besonders prickelnd aus.«

Melli stellte immer wieder mit Erstaunen fest, wie ernst erwachsene Männer ihren Job nahmen. Als hinge ihr Leben (oder das irgendeines anderen) davon ab, ob ihr Chef ihnen ihr tägliches Fleißsternchen in ihr Aufgabenheft klebte.

»Nenn mir ein Kaufhaus, bei dem es besser aussieht.« Melli wühlte in einer Schublade nach der Gebrauchsanweisung. Sie war keine Elektrotechnikerin, aber ein technisches Gerät dieser Größe, das nach verbranntem Plastik roch, in einer sechshundert Quadratmeter großen Etage voller Stoffe mit hohem Elastan-Anteil schien selbst ihr keine gute Sache zu sein. »Wir sind ein Kaufhaus. Eine aussterbende Gattung. Wir sind ganz einfach nicht mehr sexy genug.« Melli merkte sofort, dass diese Art Betrachtung für Martin im Moment etwas zu düster war.

»Ich hab keine Ahnung, was ich denen sagen soll«, presste Martin zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch.

Melli richtete sich auf. Sie war kurz davor, Martins Hände zu nehmen und sie beruhigend zu tätscheln. »Sag ihnen, die Wäsche, die sie hier verkaufen wollen, ist für magersüchtige Zwölfjährige gemacht. Und die gehen im Zweifel lieber in die nächste Shoppingmall. Sag ihnen, von den Frauen, die zu uns kommen, können das Zeug genau null Komma null Prozent tragen.«

»Und?«

Sagenhaft, wie erstaunt ihr Freund sich etwas anhörte, das Melli ihm schon Hunderte Male erklärt hatte. Wie so oft beneidete Melli Männer um das angeborene Talent, Sachen, die ihnen nicht wichtig erschienen, einfach auszublenden. Und sie verfluchte sich und die übrigen Frauen auf diesem Planeten, für die das, was andere sagten, automatisch einen viel höheren Stellenwert hatte als alles, was sie selbst gerade noch für richtig und wichtig gehalten hatten.

»Und«, Melli erlaubte sich einen genervten Seufzer, »das heißt, dass sie ihr Angebot umstellen müssen. Sexy Wäsche für richtige Frauen! Große Größen für sexy Mamas! Schnitte, die sich unseren Körpern anpassen und nicht denen von mangelernährten tschechischen Barbiepuppen, deren Frühstück aus gewässerten Wattebäuschen besteht.«

»Sexy Mamas?« Martins Blick war anzusehen, dass das zwei Zustände waren, die in seiner Vorstellung völlig unvereinbar waren.

»Ich weiß nicht.« Martin sah sich vorsichtig um, als sei er im Begriff, etwas schockierend Unanständiges zu sagen. »Das klingt nach Hausfrauenerotik.«

»Hausfrauenerotik!« Melli war kurz davor, die Geduld mit ihm zu verlieren. »Was ist falsch an erotischen Hausfrauen?«

Martin wich erschrocken zurück. Eine ältere Dame sah hinter einem Wäscheständer voller Stützstrümpfe neugierig zu ihnen herüber.

Melli stemmte beide Hände auf den Tresen und lehnte sich vor, wie eine empörte Marktfrau, die sich aufgefordert sah, die Frische ihrer Fische zu verteidigen. »Sag ihnen, wenn sie wollen, dass Frauen ihre Wäsche kaufen, müssen sie Frauen fragen, welche Wäsche sie gern hätten. Sag ihnen, wenn jede Hausfrau in der Stadt, die sich sexy fühlen möchte, bei uns auch nur einen Schlüpfer kauft, müssen sie ihre Lagerkapazitäten erweitern und nicht abbauen!«

Martins Augen wurden glasig, und sein Blick ging ins Leere, wie immer, wenn er kurz davorstand, etwas Grundlegendes zu begreifen. »Wenn der Markt dich abhängt, such die Marktlücke.«

»Endlich vastehn wa uns.« Mellis Stoßseufzer kam in breitestem Berlinerisch, ein Dialekt, den sie sich mühsam abtrainiert hatte und normalerweise zu verbergen suchte. Wer aussah wie eine pfundsfidele Brandenburger Kartoffel, sollte nicht noch wie eine sprechen, hatte ihre Schwester gesagt, die gertenschlank war und nach Düsseldorf geheiratet hatte.

»Und jetzt ab mit dir.« Melli sah sich um, ob jemand sie beobachtete, und hielt Martin ihre Wange hin. »Mach sie fertig.«

Martin streifte Mellis Haar mit einem flüchtigen Kuss. Melli wusste, er war in Gedanken schon auf dem Weg zu seinem nächsten Triumph. Sie brummte zufrieden. Vielleicht hatte sie nie den Wunsch nach Kindern verspürt, aber Martin zu sehen, wie er mit ihrer kleinen Idee in den Aufzug stieg und sie, bis er in der Chefetage wieder ausstieg, zu ihrer maximalen Größe aufgeblasen haben würde, erfüllte sie mit mütterlichem Stolz. Vielleicht war ihr Freund nicht der einfallreichste Kreative, aber er war ein begnadeter Verkäufer.

Seltsam erschöpft von der Anstrengung, einen kleinen Mann wieder groß gemacht zu haben, lehnte sich Melli an den Korb mit den Kleiderbügeln. Mit einem dumpfen Wump! Wump! Wump! meldete sich die Registrierkasse zurück und spuckte einen meterlangen Bon mit astronomischen Beträgen für Seidenstrümpfe, Hüfthalter und Damenslips aus. Melli tauchte unter den Tresen und zog den Stecker.

Jenny

Steffen war früh aufgebrochen, um vor seiner Schicht Kim und Benni an der Schule abzusetzen. Das Haus war aufgeräumt, sauber und schrecklich still gewesen. In der Obstschale hatte wie ein Vorwurf der Gutschein für die Jahreskarte gelegen. Jenny war fast ein wenig gekränkt, dass Steffen glaubte, sie könnte sich über freien Eintritt für ein in die Jahre gekommenes Hallenbad freuen, das nach Fußschweiß und muffigen Unterhosen roch. Der Gutschein befand sich in derselben Geschenkekategorie wie Badesalze und Stützstrumpfhosen und erinnerte Jenny auf ungute Weise an ihr häufiges Klagen über einen steifen Nacken und Besenreiser an ihren Fußgelenken. War das das Bild, das Steffen von ihr hatte? Eine meist mürrische Frau Anfang vierzig, die beim Shoppen Klamotten, die ihr eigentlich gefielen, wieder zurück an den Ständer hängte, weil sie Angst hatte, darin zu jugendlich zu wirken? Vor ein paar Wochen hatte Jenny sich einen Trenchcoat gekauft, in dem sie sich vor der Spiegelwand des Shops trendy und urban gefühlt hatte. Als sie ihn dann zum ersten Mal trug, sah sie aus wie eine der beigen Omas, die ihre Einkaufstrolleys hinter sich herzogen und in ihren gedeckten Farben bei starker Sonneneinstrahlung oft von Autofahrern übersehen wurden.

Jenny hatte den Gutschein eingesteckt und war aufs Fahrrad gestiegen. Genug. Schluss mit dem Gejammer. Es gab doch gar keinen Grund zu klagen. Sie war einfach nur hysterisch. Eine Auswirkung dieses schauderhaften Geburtstagmorgens. Sie war nicht sie selbst. Das Hallenbad war der Ort, an dem ihre Kinder schwimmen gelernt und das Seepferdchen gemacht hatten. Dort hatten sie und Steffen ihrer Tochter applaudiert, als sie sich getraut hatte, vom Dreier zu springen, und Benni beim Babyschwimmen zum ersten Mal vor Glück kreischen gehört. Es war nett von Steffen, sie mit seinem Geschenk daran zu erinnern, wie schön es gewesen war, mit zwei kleinen, aufgeregten Kindern und Rucksäcken voller aufblasbarer Reifen und Schwimmflügel in die Schwimmhalle einzumarschieren, wie eine glückliche, kleine Armee, und sich dort den Nachmittag über wie im Urlaub zu fühlen, den man sich nicht hatte leisten können. Und es war wirklich