Vom Unsinn des Lebens - Amir Kassaei - E-Book

Vom Unsinn des Lebens E-Book

Amir Kassaei

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Beschreibung

Amir Kassaei hat als Kindersoldat im Iran gekämpft und ist allein nach Europa geflohen. Dort fing er bei null an – und legte eine unvergleichliche Karriere als Kreativdirektor weltweit führender Werbeagenturen hin. Sein Leben ist schriller als jeder Werbespot: eine einzige Achterbahnfahrt voller Höhen und Tiefen, voller Rückschläge und Erfolge. In Vom Unsinn des Lebens erzählt er zum ersten Mal mehr davon. Mit einer starken Haltung und dem festen Glauben an sich selbst hat Kassaei es vom aussichtslosen Flüchtling zum international gefeierten und hundertfach prämierten Werber geschafft. Ungeschönt erzählt er von seinen Tiefpunkten auf dem Weg an die Spitze der Werbebranche und den schlimmsten Momenten in seinem Privatleben. Gleichzeitig legt er schonungslos die Defizite eines profitgetriebenen Wirtschaftssystems sowie die  Oberflächlichkeit und Bigotterie unserer Gesellschaft offen. Kassaeis Leben zeigt, dass Erfolg nicht immer eine Frage von Talent oder Herkunft ist, sondern von Willensstärke und Durchhaltevermögen. Eine unglaubliche Lebensgeschichte, die Mut macht. »Ich finde ihn charismatisch. Kämpferisch. Mutig. Fokussiert. Willensstark. Beseelt. Unbeirrbar. Streitbar. Aber notfalls auch sehr charmant.« Jean-Remy von Matt über Amir Kassaei

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Vom Unsinn des Lebens

AMIR KASSAEI, geboren 1347 (nach persischem Kalender) in Teheran, gehört zu den bekanntesten, am meisten gefeierten sowie umstrittensten Werbern der Welt. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere war er Chief Creative Officer bei DDB Worldwide, Präsident des Art Directors Club Deutschland Europa und Präsident beim Festival of Creativity in Cannes.

Amir Kassaeis Lebensgeschichte liest sich spannender als jeder Roman: Dem todbringenden Militärdienst als menschlicher Minenräumer im Iran entkommt er im Auto eines Schleusers über die türkische Grenze und erhält Asyl in Österreich. Alles, was nach seinem 15. Geburtstag geschieht, nimmt er als Zugabe. Der Wiener Schmäh begleitet ihn bis heute, die Außenseiterrolle wird er nie mehr ablegen.Ohne ein Wort Deutsch, ohne Geld, allein in einer finsteren Kellerwohnung, beginnt sein neues Leben. Seinen Zivildienst leistet er auf einer Sterbestation. Nach einem abgebrochenen Wirtschaftsstudium in Paris finanziert er sich mit Nebenjobs. Als er ein Jahrbuch mit den besten Werbekampagnen in die Hände bekommt, fasst er den Entschluss, zu den Kreativen zu wechseln – auch wenn er sich dort anhören muss, dass er sich mit so einer Scheiße besser nicht raustrauen solle. Das ist der Startpunkt für eine unfassbare Karriere …

Amir Kassaei

Vom Unsinn des Lebens

Was mich mein Weg vom Kindersoldaten zum besten Werber der Welt gelehrt hat

Ullstein

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Um die Persönlichkeitsrechte einiger handelnder Personen zu wahren, wurden einige Namen, Orte und Personenbeschreibungen verfremdet. Alle in diesem Buch dargestellten Ereignisse, Szenen und Dialoge haben sich aber so wie beschrieben oder in sehr ähnlicher Weise abgespielt.

© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere und ausdrücklich die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG.

Redaktion: Michael Schickerling, schickerling.cc, MünchenUmschlaggestaltung und Layout: Barbara Lewall, WienAutorenfoto: © Inge PraderE-Book Konvertiierung powered by pepyrusISBN: 978-3-8437-3182-9

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

Sterben

Bereuen verboten

Mit Anspruch

Auf eigene Feder

Neuland

Fremd und verloren

Mohr im Hemd

Turnschuhe mit Ansage

Disziplinierte Faulheit

Wurzeln

Familienausflug ans Meer

Eine ganz normale Schulzeit

Das tollste Land der Welt

Brücken

Lebemann

König

Lehrling

Konsequenz

Buchhaltung mit Mission

Jung, ledig, untalentiert sucht …

Live, die, learn, repeat

Von Null auf Liebe

Zielgeraden

Ohne Schleudersitz

Zwischenstopp Mond

Alles auf Anfang

Blankoscheck

Von Nichtsnutzen und Volltreffern

Mit Stahlhelm und Schutzweste

Gottes Sohn und Teufels Geld

Übergang

Federgewicht

Leichtgewicht

Schwergewicht

GOAT

Weiche Knie

Schlag auf Schlag

Fassaden, Fundamente, Fehlkonstruktionen

Erster Stein und zweite Chance

Gipfel

Primus inter pares deluxe

Vollgas auf Verschleiß

Masters of Desasters

Grenzgebiete

Mit Korangesängen

Ohne Worte

Auf Anfang

Leben

Was für ein Leben möchtest du leben?

Wie möchtest du es leben?

Wo möchtest du es leben?

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Sterben

Widmung

Um die Persönlichkeitsrechte einiger handelnder Personen zu wahren, wurden einige Namen, Orte und Personenbeschreibungen verfremdet. Alle in diesem Buch dargestellten Ereignisse, Szenen und Dialoge haben sich aber so wie beschrieben oder in sehr ähnlicher Weise abgespielt.

Motto

Für Chiara, Olivia, Ornella und VitoHere’s to the crazy ones, the misfits, the rebels, the troublemakers, the round pegs in the square holes … the ones who see things differently – they’re not fond of rules … You can quote them, disagree with them, glorify or vilify them, but the only thing you can’t do is ignore them because they change things … they push the human race forward, and while some may see them as the crazy ones, we see genius, because the ones who are crazy enough to think that they can change the world, are the ones who do.

Apple-Kampagne »Think different«

Sterben

Bereuen verboten

Anneliese Wüllner saß mit dem Rücken zur Tür in ihrem Rollstuhl und schwieg. Die kleine Person mit Engelsgesicht, eingerahmt von schneeweißen Haaren, war noch nie allzu redselig gewesen, ihr Schweigen fiel mir daher kaum auf. Doch die Atmosphäre in dem kleinen Zimmer des Altersheims im 19. Wiener Bezirk wog an dem Tag schwerer als sonst, alles wirkte irgendwie dunkler, farbloser. Hätte ich die Tränen nicht ihre Wange herablaufen sehen, wäre ich vielleicht gleich wieder gegangen, nachdem Kaffee und Kekse serviert waren. Doch ich blieb, setzte mich zu ihr, fragte nach und hörte zu. Und kann seitdem nicht mehr vergessen, was sie mir erzählte.

1926 wurde Anneliese mit achtzehn Jahren als Tochter eines Großindustriellen aus Salzburg auf Bildungsreise nach Australien geschickt. Damals war es in wohlhabenden österreichischen Familien üblich, die jungen Töchter in die Welt zu schicken, bevor sie so standesgemäß wie konservativ in den Hafen der Ehe und der Familiengründung geleitet wurden. So auch bei den Wüllners. Nach einem Jahr in Down Under reiste Anneliese wieder in ihre Heimat zurück, lernte in Wien ihren zukünftigen Ehemann kennen, gründete mit ihm eine Familie, bekam vier Kinder und noch mehr Enkel. Sie lebte stets wohlsituiert, bewegte sich in guten Kreisen, fühlte sich akzeptiert und zufrieden. Doch siebzig Jahre nach ihrer Reise, 1996, saß sie nun weinend im Altersheim und sagte zu mir: »Ich habe das falsche Leben gelebt.«

Selbst wenn solche Reisen in den damaligen Zeiten kaum zu vergleichen sind mit den heute bekannten »Sabbaticals« oder »Work & Travel«, in denen alles – privat oder beruflich – erlaubt ist: Anneliese Wüllner war wohlhabend und sicher wohlerzogen, aber ebenso jung und leidenschaftlich. Sie verliebte sich in einen jungen Mann und verbrachte in Australien herrlich erfüllte Momente voller Liebe und Glück. Bis ihr Aufenthalt vorbei war, sie dem Ruf von Familie und Gesellschaft erneut folgte und nach Österreich zurückkehrte. Es war nicht an ihr, diese Entscheidungen zu treffen, geschweige denn, ihr Leben selbst zu bestimmen, sagte mir Frau Wüllner. Siebzig Jahre später merkte sie – wusste sie, dass es nicht das Leben war, das sie tatsächlich wollte. Welches sie durch und durch glücklich gemacht hätte, wirklich ihr Leben gewesen wäre.

Sie sah noch immer die große Liebe in dem Mann, den sie in Australien zurücklassen musste und den sie nach ihrer kurzen gemeinsamen Beziehung nie mehr wiedertraf. Er hätte ihr Leben erfüllen sollen, Teil davon sein müssen. Sie hätte bleiben sollen, irgendwie. All das kam an diesem Tag über sie, eine große und erschreckende, schmerzende Erkenntnis, die außer Leid nicht mehr viel bringen kann: Ich habe mich falsch entschieden, die falschen Prioritäten gesetzt, bin falsch abgebogen. Das erschüttert bis ins Mark – und wenn man denkt, schlimmer geht es nicht, kommt die zweite Einsicht: Nichts ist nunmehr umkehrbar, rückgängig zu machen, nichts lässt die Zeit zurückdrehen.

Diese Erkenntnis der alten Dame kann ich sehr gut nachvollziehen, ihre Geschichte ist traurig und schmerzhaft. Besonders da sie wenige Tage danach starb, nachts, mit niemandem an ihrer Seite – außer mir, dem Zivi. Dennoch war sie gewiss kein Opfer eines Systems, einer Familie, eines Standes oder was auch immer. In meinen Augen war sie vielmehr den einfacheren Weg gegangen. Das sah ich schon damals so, und das tue ich heute noch. Gleichzeitig treibt mich seit jeher folgender Gedanke an: Mir wird das nicht passieren. Niemals. Denn nie in meinem Leben, vor allem aber nicht am Ende, möchte ich so dastehen und alles bereuen.

Und damit willkommen im Unsinn des Lebens. Anders kann man das, was wir Leben nennen, oft nicht bezeichnen. So oft ergibt nichts einen Sinn, so oft sind wir Zuschauer in Aktion und Täter in Ohnmacht – und dann kommt es wieder anders, als man denkt. Alles ist gut, doch gelebt hat man nicht. Alles ist schlimm, doch Spaß hat’s gemacht. Und wann zum Teufel soll man das merken, ändern, lassen, kommt die Einsicht doch immer erst später. Chaos in seiner strukturiertesten Form, das ist wohl Leben.

Man kann sich offensichtlich und wortwörtlich ein Leben lang einreden, dass alles richtig ist. Man kann seine Entscheidungen schönreden oder sich alternativ arrangieren, »das Beste machen« aus dem, was man hat. Man kann Optionen wählen, die gewisse Vorteile versprechen, welche man aus diversen Gründen anderen vorzieht. In Strukturen und Ziele investieren, die erstrebenswert erscheinen. Und einmal gefällte Entscheidungen als die einzig richtigen deklarieren. Am Ende des Lebens musst du dich immer der Wahrheit stellen, und zwar ungelogen und allein. Nicht als Rechtfertigung anderen gegenüber oder für deren Seelenfrieden, nicht für die Aufrechterhaltung eines hohen Ansehens oder für einen Eintrag in die Weltgeschichte. Sondern vor dir selbst, ganz allein vor dir selbst, nackt, ungeschönt und ohne Chance auf eine zweite Chance – eben weil diese Rekapitulation am Ende des Lebens passiert. Und du dich fragen wirst: »Ich hatte nur dieses eine Leben, habe ich es wahrhaftig gelebt? Alles für mich herausgeholt? Alles für mein Glück getan?«

Sich diesen Fragen zu stellen ist übrigens kein freiwilliges Manöver, falls die eine oder der andere die Lösung darin sieht, es schlicht sein zu lassen. So einfach wird es nicht gehen, dazu habe ich allein in meiner Zivildienstzeit zu viele Menschen sterben sehen. Dafür sind wir wohl auch nicht gemacht, denke ich: Unseren Lebtag gehen wir uns mit dem ewigen Hinterfragen auf die Nerven, am Ende werden wir es sicher nicht sein lassen. Also, was dann? Wie gewappnet sind wir auf diese Fragen – und wichtiger: auf die Antwort?

Ich habe mir schon vor diesem schicksalhaften Tag mit Frau Wüllner diese Frage gestellt. Sie hatte sich allerdings in ihrer Geschichte so brutal manifestiert, dass es schien, als hätte ich endlich das Erlebnis und die Worte zu diesem Gefühl, das lange in mir wohnte. Ich begann zu verstehen, was ich wollte, wenn ich immer alles aus allem herauszuholen versuchte. Mich jeden Tag fragte, was ich wirklich möchte und wie ich es erreichen kann. Früher ging es oftmals ums Überleben, um ehrlich zu sein, mir etwas zu essen leisten, Schlaf finden, nicht erschossen werden, durchhalten. Später waren es andere Ziele: endlich eine Werbekampagne zu machen, die irgendjemandem gefällt, zum Beispiel. Noch später ging es darum, mein Leben so einzurichten, dass ich trotz zweihundertachtzig Tagen im Flugzeug meine Kinder überhaupt mal zu Gesicht bekomme. Und bei alldem nie Reue zu empfinden, weder über die Zeit im Flieger noch über die im kalten Keller, geschweige denn über die glückliche. Natürlich ist das eine verrückte Herausforderung, wenn man im Minenfeld steht, weit über tausend Kilometer zu Fuß flüchtet oder einer sterbenden Frau die Hand hält. Doch selbst in solchen Momenten hatte ich im Kopf, alles aus ihnen herauszuholen, irgendwie.

Ich glaube, in mir steckt noch immer der kleine iranische Junge, der so unschuldig ist, dass er überzeugt davon ist, mit Liebe und Leidenschaft alles erreichen zu können. Damit meine ich weder materielle Dinge noch Erfolg oder Macht. Sondern die Schöpfung meines eigenen Potenzials – was auch immer das ist, Talent nämlich eher nicht – und dem daraus resultierenden Glück. Mir geht es nicht darum, ob so ein wahres, aktiv gelebtes, bewusst entschiedenes Leben mal frustrierend ist, schmerzhaft oder zum Kotzen. Es geht nicht darum, ob man gehasst und geschasst wird, ständig Gegenwind erfährt, aber kaum Chancen. Denn umgekehrt wird daraus genauso wenig ein Schuh: nie Hindernisse gesehen, nie Schwierigkeiten gehabt, stets in Sicherheit gelebt – für mich garantiert kein erfülltes Leben. Angepasst, nachgegeben, schweigend geduckt kann man durchkommen, wahrlich leben hingegen kaum. Anneliese Wüllner hat nicht ihr wahres Leben gelebt, wobei ihr in den siebzig Jahren sicher weder nur alles in den Schoß fiel noch jeder Tag ein Albtraum war. Sie sagte es selbst: Sie liebte ihren Mann, ihre Kinder, ihr Leben. Irgendwie. Es war gut, nicht schlecht, nicht sinnlos. Aber doch nicht ihres.

So erging und ergeht es vielen Menschen: Sie beugen sich, kapitulieren. Damals wie heute und sicher auch morgen, wenn auch in anderen Formen, Normen, Zwängen. Was soll man schon machen, wenn einem ständig Steine in den Weg gelegt werden oder zumindest keine goldenen Löffel in den Mund? Es sind nur wenige damit gesegnet, ein schönes und selbstbestimmtes Leben zu leben – in der richtigen Familie, im richtigen Land, mit der richtigen Hautfarbe, mit Geld, Macht, Talent? Von wegen, Freunde, hier geht die Reise nicht hin, Jammerland hat geschlossen. Den einfachen Weg nehmen, klein beigeben, andere beschuldigen oder wehklagen, tut euch keinen Zwang an – aber Leben ist das nicht. Das als Vorwarnung, wenn ihr im Sterbebett das große Zittern befürchtet, denn es wird kommen, und die einzige Lösung lautet: Dieses eine ganze Leben lang aufstehen, entscheiden, handeln, leben. Hier, jetzt, jeden Tag, immer und immer wieder.

Anneliese Wüllner hätte es tun sollen – und tun können. In Australien bleiben, das Risiko eingehen, ihrer Liebe folgen, ihrem Glück. Hätte es schiefgehen können? Hätte es Schmerz ob der verlorenen Familie bedeutet? Ja, natürlich. Aber wer Garantien braucht, sucht diese, während das Leben an ihm vorbeizieht. Und wer weiß, womöglich gibt es ein paar Menschen, die nach achtzig Jahren voller Suchen nach Sicherheit sagen, das war das beste Leben, das sie sich jemals hätten vorstellen können – weil sie bei dieser Suche auf volles Risiko gegangen sind. Doch selbst das belegt nur meine Aussage: Lebe dein Leben, wie unbequem, steinig und quälend es sein mag. Solange du dein Ding durchziehst, ist es richtig.

Mein Leben war steinig, oft gnadenlos, manchmal brutal – und immer meines. Ich musste viel einstecken, viel Mist ertragen, viel Leid, Angst, Not. Doch ich weiß seit geraumer Zeit, dass ich in meinen letzten Minuten mit einem Lächeln auf jeden dieser verdammten Tage zurückblicken und sagen werde: »Fucking hell, was für ein Leben, was für ein Ritt, grandios!« Nicht nur, weil es auch unfassbar herrliche Zeiten gab, voller Glück, Liebe, Erfolg und Zufriedenheit. Sondern weil ich für jede noch so beschissene Erfahrung dankbar bin, weil ich aus jeder von ihnen etwas gezogen habe: Jede hat mich stärker gemacht, weiser, besser, vor allem aber zu dem, der ich bin.

Mit Anspruch

Solch eine seltsam reflektierte Lebenseinstellung erfordere doch ungemein viel Kraft, heißt es oft: »Welch starken Turbo hast du da in dir?« Ich weiß manchmal nicht so genau, wovon die Leute reden, aber es wird schon stimmen: Mir wurde eine gewisse Stärke mitgegeben. Und ich habe zwar das Glück, diese Eigenschaft schon immer in mir zu tragen – ob in den Genen oder im Geiste, ist nebensächlich –, aber ich habe sie zudem trainiert und genutzt, spätestens ab dem Tag, an dem ich auf mich allein gestellt war. Mir fehlten gerade in diesen frühen Phasen meines Lebens häufig die Wahlmöglichkeiten, sodass ich nicht behaupten kann, stets die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben – oft gab es nämlich keine zu treffen. Ereignisse haben stattgefunden, die ich lediglich erlebte, passiv, sie sind mir passiert. Hier hatte ich keine anderen Optionen. Es ging nicht um mehr oder weniger Kraft, mehr oder weniger Turbo. Es ging ums blanke Überleben. Ich hatte keine Zeit, zu wählen oder zu arrangieren, und ebenso wenig, zu jammern und zu motzen. Ich kannte den Luxus nicht – und bin heute dafür dankbar.

Nichtsdestotrotz standen für mich während all der dramatischen und glücklichen, schlimmen und schönen Phasen meines Lebens drei Fragen im Vordergrund: Was für ein Leben möchte ich leben? Wie möchte ich es leben? Und wo möchte ich es leben? Nicht, dass ich bereits mit sechs Jahren jeden Tag vor mich hin philosophierte, doch mir wurde recht schnell klar, dass ich das Leben sehr bewusst wahrnahm, es geradezu inhalierte und irgendwie gezielt zu gestalten versuchte. Spätestens seit Frau Wüllners Geschichte konnte ich diese Herangehensweise an das Leben auf ebenjene Fragen herunterbrechen. Und vielleicht wäre auch ihr deutlich früher aufgefallen, dass etwas im Argen liegt, hätte sie sich öfter gefragt, ob sie wirklich dieses Leben leben will, oder ob doch etwas sticht, drückt, schmerzt.

Das soll nicht heißen, dass es stets einen fixen Plan fürs Leben gibt oder dass wir diesen zunächst erstellen und uns dann strikt an ihn halten müssen, bevor wir wahrhaftig leben. Es bedeutet genauso wenig, dass wir zu jedem Zeitpunkt direkt und absolut aussteigen können aus unserer Existenz, ist diese nun auf dem Minenfeld oder im Schloss. Es heißt vielmehr, zuzuhören, wenn es in einem ruft oder gar brüllt – und möglichst schnell etwas zu ändern, anstelle an irgendeinem Plan festzuhalten, den man selbst oder andere gemacht haben.

Meine Antworten auf diese Fragen lauten: Ich möchte ein Leben leben, in dem ich meine Werte zu eintausend Prozent realisieren kann, nämlich: Anspruch, Respekt und Konsequenz. Ich möchte es so leben, dass ich niemanden verletze, vor allem nicht bewusst – allerdings werde ich mich immer wehren, wenn es ungerecht zugeht, ob mir oder anderen gegenüber. Und die Frage nach dem Wo zielt für mich nicht vornehmlich auf die örtliche oder lokale Dimension, sondern abstrakter auf ein Konzept von Heimat oder Obdach. Ich habe solch ein Zuhause und meine Wurzeln in sehr jungen Jahren verloren und bin heimatlos geworden. Zugleich habe ich die Idee dahinter aber so verinnerlicht, dass ich sie stets mit mir trage. Sozusagen als innere Uhr, nur nicht zur Messung von Zeit, sondern von Heimat: Fühle ich mich wohl, fühle ich mich zu Hause.

Diese Antworten brauchen natürlich viel mehr Raum, sie machen mich aus, sind komplex und kontextgeladen. Aber das sind sie bei jedem von uns – wenn man sie sich denn stellt und wirklich nach Antworten sucht. Diesen Raum erhalten sie in diesem Buch auf beinahe jeder Seite, ob schwarz auf weiß, schwarz auf schwarz oder zwischen den Zeilen. Sie sind mein roter Faden, meine Checkliste, mein Sicherheitsnetz. Mit ihnen versuche ich sicherzustellen, im Sterbebett keine böse Überraschung zu erleben. Und bis dahin regelmäßig das Glücksgefühl, genau dort zu sein und das zu tun, was ich möchte. Gleichzeitig erzählt dieses Buch, was all das aus mir gemacht hat – und was ich in dieses Spiel mitbrachte. Denn ich wäre sicher nicht der, der ich heute bin, wäre all das nicht geschehen. Doch das Geschehene wäre auch nicht das, was es ist, wäre ich nicht gewesen.

Klingt arrogant und überheblich? Mag sein, aber lediglich für Menschen, die nicht verstehen, dass Bescheidenheit die größere Lüge und weniger sympathisch ist als eine reelle Selbsteinschätzung. Seit mindestens zweitausend Jahren werden Misfits, Rebellen und Visionäre ihrer Zeit, die nicht nur wissen, was sie wollen und können, sondern es zudem freiheraus sagen, als Großmaul beschimpft. Sie müssen mit gigantischem Gegenwind rechnen, mögen ihre Ideen noch so gut sein. So what? Ich sage nicht, dass das gut ist – mein Gerechtigkeitsgefühl wiegt schwer. Aber ich bin überzeugt, dass wir Misfits dadurch nur besser werden.

Ich habe unfassbar viele Fehler gemacht, Scheiße gebaut, Dinge versaut, mir Feinde gemacht – das gehört dazu. Wer stromlinienförmig durchs Leben geht, schreibt mit fünfundfünfzig Jahren wohl kaum seine Biografie. Ich bin mit mir im Reinen. Und lande auch deswegen stets am richtigen Platz. Soll nicht heißen, am schönsten oder gemütlichsten Platz: Wer will schon im Minenfeld landen, im Kellerloch, auf der Flucht? Niemand, selbst ich nicht. Doch dank meiner Einstellung, meiner Werte, die mir stets als Koordinatensystem dienten, konnte ich diese Situationen meistern, konnte mit fünfzehn entscheiden, ohne Heimat zu leben, jeden Tag allein aufzustehen, durchzuziehen und meine Geschichte zu formen.

Anspruch, Respekt und Konsequenz sind jene Werte, die ich lebe, seit ich bewusst darüber nachdenke, an jedem verfluchten Tag. Denn hätte ich es ab dem Alter von fünfzehn Jahren nicht getan, hätte es niemand für mich getan. Niemand stellte Ansprüche an mich, niemand zollte mir Respekt, niemand bedachte die Konsequenzen, sollte ich nicht aufstehen, nicht weitermachen. Niemand hat mich wahrgenommen, mich gesehen, mir zugehört, geschweige denn an mich geglaubt. Ich war der Einzige, der dies tat. Nicht weil ich mich so geil fand oder so überzeugt von mir war. Sondern weil ich sonst schon längst tot wäre.

Jeder braucht einen Grund, um morgens aufzustehen. Also erschuf ich einen Amir, der es wert war, der es schaffen würde, der stark genug war, für den es sich aufzustehen lohnte. Genau dieser Amir bin ich noch heute und werde es immer bleiben. Meine Haltung ist Zeugnis meiner Entscheidung, das Leben so zu nehmen, wie es kommt – und es dann zu packen und zu formen, wie es mir gefällt. Dazu gehören für mich eben diese Werte, inklusive aller Zwischenschritte, Fehltritte, Fußtritte, Volltreffer. Sie begleiten entsprechend die gesamte Geschichte des untalentierten Mr. Kassaei und bilden das Gerüst meines Buchs.

Ich stelle den Anspruch, alles, was ich anfasse, richtig gut zu machen, mit bestem Wissen und Gewissen, mit allem, was ich mitbringe, so ungeschönt wie nötig, so offen wie möglich. Nun bin ich kein Genie oder Gott und wie gesagt in vielen Bereichen untalentiert – wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen geht, gehöre ich leider sogar zur Kreisliga. Diese Defizite sind mitunter Ergebnis meiner Geschichte, und ich habe es nie geschafft, sie auszumerzen und loszuwerden. Nichtsdestotrotz habe ich gekämpft und ein ums andere Mal versucht, besser zu werden. Diesem Anspruch bin ich, glaube ich, gerecht geworden: immer alles zu geben. Keine halben Sachen, keine fünfzig Prozent, kein »Hauptsache durchkommen« – wenn es für mich um etwas geht. Entsprechend gilt dies nicht unbedingt für Belangloses: Materiell beziehungsweise finanziell hätten andere aus meinen Möglichkeiten wesentlich mehr herausgeholt, doch mein Interesse hieran war schon immer begrenzt. Ähnlich ergeht es mir bei Begeisterung, Bewunderung, Ehrerbietung oder Achtung: Ich hätte mir eine ganz andere Fangemeinde, zumindest aber erheblich weniger Feinde heranziehen können – aber diesen Anspruch hatte ich nie.

Erkenne ich jedoch einen Nutzen, eine echte Bedeutung, steigen mein Interesse und mein Ehrgeiz ins Unermessliche, nichts ist zu aufwendig oder zu anstrengend, um dieses Ziel zu erreichen. So erging es mir im Job grundsätzlich immer. Keine Kampagne, kein Text, kein Bild fand meine Akzeptanz, wenn es nicht absolut höchsten Ansprüchen, nämlich meinen Erwartungen an mich selbst, genügte. Interessierte mich etwas nicht oder schien es mir belanglos, verlor ich jegliche Lust an der Sache, konnte ich keine Motivation finden. Niemand hat mich gezwungen, Chef der größten Werbeagentur der Welt zu werden, ich hätte in einer kleinen Klitsche in Wien bleiben und meinen Lebtag lang ganz normale Werbung machen können, entspannt, mit viel Freizeit, Freunden, Familie, Fußball, wer weiß. Doch allein, wenn ich mir genau das vorstelle, dreht sich mir der Kopf vor Langeweile. Es musste einfach immer mehr sein, Neues, Hartes.

Kamen solche Herausforderungen, gab es kein Ende, bis alles perfekt war, und das mit Freude, Elan und Vollgas. Dies verlangte ich von mir selbst – aber ebenso von meinen Mitarbeitern. Sie wussten das, mussten es manchmal bitter lernen, und doch hat kaum jemand geheult, denn es ging immer um die Sache, das gemeinsame Ziel. Ich habe nicht nur gefördert, sondern gefordert, und zwar alles. Wem es nicht passte, ging oder war verloren. Die meisten blieben jedoch und hatten Spaß an dem Feuer, das wir gemeinsam legten, an dem Anspruch, den ich stellte – weil das Ergebnis umso besser war. Ich bin überzeugt, dass die meisten über mich sagen: »Dieser Wahnsinnige hat mich geprägt und das Beste aus mir herausgeholt. Es war nicht immer reiner Spaß, okay, aber richtig gut.« Womöglich würde ich heute verklagt ob meiner Ansichten oder des Drucks, aber wer Substanz will, muss weiter gehen als üblich. Zudem greift hier der zweite Wert meiner Lebensphilosophie: Respekt.

Es gibt für mich nichts und niemanden, der keinen Respekt verdient hat. Meine Mitarbeiter eingeschlossen, ebenso mich selbst. Die Zeiten, in denen ich dies lernte, ließen es genau daran mangeln, doch meine Schlussfolgerung war nie, mich bewusst oder unbewusst zu rächen, ob an Einzelnen oder stellvertretend an der gesamten Welt. Diese Neigung liegt mir allein deshalb nicht, weil ich selten Wut fühlte, wenn ich respektlos behandelt wurde, sondern vielmehr Antrieb, Stimulation, meine Situation zu ändern. Und es dann besser zu machen, Respekt zu zeigen, jedem gegenüber, ob Anfänger oder Profi, Spaßbremse oder Lauthals, Porschefahrer oder Hartz-IV-Empfänger, Einheimischer oder Migrant. Schon diese Kategorien sind ziemlich lächerlich, wenn es um Respekt geht, um den Umgang miteinander. Hier siegt mein Gerechtigkeitssinn, der keine Unterschiede erkennen mag. Zugleich meine ich, dass jede dieser Parteien Hol- und Bringschuld hat, selbst alles geben muss, eben Ansprüche nicht nur an andere, sondern auch an sich selbst stellen soll. Passiert dies nicht, ist es kein Wunder, wenn solche Menschen keine Achtung vor anderen zeigen.

Ich wurde zum Beispiel als Flüchtling – als dunkelhäutiger Junge im hellen Europa – mehr als einmal beschissen behandelt. Doch ich habe geliefert und die Zähne zusammengebissen, bis ich es geschafft hatte. Eigentlich könnte das jeder: ein wenig Demut zeigen, sich zunächst als Gast höflich einordnen und sich einbringen. Dass das nicht immer reicht, ist mir bewusst, denn selbst dann lassen sich damals wie heute die widerlichsten Reaktionen gegenüber Flüchtlingen oder Ausländern beobachten – doch auch das hat nichts mit Respekt zu tun. Ich habe mir als Flüchtling in Österreich nie etwas zuschulden kommen lassen – und musste lernen, dass das nicht reicht. Ich lernte zudem, dass es mir nichts bringt, verbittert um mich zu schlagen, zu jammern oder Forderungen zu stellen.

Denn ob Erfolge oder Fehler, ob Strategie oder Ausrutscher, es sind unsere, also müssen wir die Konsequenzen tragen. Entsprechend empfinde ich es als falsch, sich bei den einen als Held und den anderen als Opfer hinzustellen. Dumm gelaufen, aufstehen, schütteln und weitermachen – und zwar mit exakt dem Gold, das man selbst geschürft, oder dem Mist, den man selbst gebaut hat. Was einfach klingt, ist es nicht, das gebe ich zu. Aber zum einen hat mich »einfach« noch nie gereizt, zum anderen geht es schlicht um zu viel, als dass es mit zwei Handgriffen erledigt oder mit drei Gedanken getan wäre.

Nehmen wir Gunter Sachs als brillantes Beispiel für Konsequenz in meinem Sinne: Nicht nur hat er sein Selbstverständnis und seine Überzeugungen durchgehend gelebt – er ist auch so gestorben. Die Kritiker von Suizid mögen das anders sehen (und ziemlich sicher nur theoretisch), aber was Sachs getan hat, ist für mich der Inbegriff von unbeirrbarer Kohärenz. Das ist es, was ich meine, wenn ich von Wahrhaftigkeit spreche, das ist es, was mich überzeugt und antreibt: durchziehen, woran man glaubt, um jeden Preis, ohne Schuldzuweisung, ohne Rückzug, ohne Reue.

Steve Jobs ist ein anderes Beispiel für diese Tugend: Er war mit seinen Ideen und Visionen – die oftmals zu innovativ und eigen waren, um direkt verstanden zu werden – ebenso wie mit seiner außergewöhnlichen Unternehmensführung ungemein konsequent. Dafür verehre ich ihn bis heute, selbst wenn er die Kombination von Wahrhaftigkeit und Respekt lange Zeit anders sah als ich. Bei aller Ehrfurcht vor diesem Mann: Er konnte ein respektloses Arschloch sein. Dennoch achte ich ihn für seine Konsequenz, die nur wenige zeigen oder leben, es dafür aber umso weiter bringen, was ihr persönliches Glück betrifft. Es mag das schwierigste Ziel überhaupt sein, schließlich muss man nicht nur seine Stärken, sondern zudem seine Schwächen kennen, sich sich selbst stellen.

Wenn das einfach wäre, würde es jeder machen, ja. Ist es nicht, muss es aber auch nicht. Es reicht schon, sich anzunähern, sich selbst zu beobachten und anzutreiben. Wo wir auf einer fiktiven Skala von konsequenter Haltung oder Wahrhaftigkeit schließlich landen, ist weniger relevant als die Tatsache, dass wir es jeden Tag versuchen. Ich tue es, noch immer und mit voller Überzeugung, dass alles andere mehr Vegetieren als Leben bedeutet.

Zusammengenommen bilden diese Werte für mich ein Koordinatensystem, an dem ich mich stets orientieren kann. Ich muss noch immer den richtigen Weg finden, ihn gar ebnen, ihn in jedem Fall selbst gehen, aber mit diesen Werten weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Bevor hier ein falsches Bild entsteht: Ich kann auch laut, wild und ungestüm werden, und muss es mir schon sehr lange nicht mehr bieten lassen, respektlos behandelt zu werden. Dennoch gleiche ich meine Handlungen und Sichtweisen mit meinen Werten Anspruch, Respekt und Konsequenz ab und bestimme, ob sie mich zu meinem Glück führen, zu meiner Haltung passen, mich meinem Ziel näher bringen: nämlich mein Leben zu leben. Und mein Buch zu schreiben.

Dieses beinhaltet ein paar Stellen, die vorsorglich geschwärzt sind. In diesen kamen mein Wertesystem und juristische Schlaglöcher zusammen. Beide geboten, meinen Respekt und meinen Anspruch anzuwenden, um meine Geschichte zu erzählen, ohne anderen ihre zu nehmen. So manches geschriebene Wort hat Konsequenzen, die es mir nicht wert sind, gezogen zu werden. Die aber auch nicht nötig sind. Der Unsinn, den ich erlebt habe, erstrahlt selbst in diesem Schwarz und lässt gar Raum für mehr – float like a butterfly, sting like a bee.

Obwohl ich überzeugt davon bin, dass wir alle solch ein Koordinatensystem in uns tragen, sehen wir jeden Tag, dass nicht alle dieses verwenden. Anneliese Wüllner hat es nicht getan und nicht hingehört, als ihr persönliches Radar Warnsignale ertönen ließ. Bei ihr waren die Rufe der Gesellschaft lauter, und das soziale Skript wurde zum vermeintlich sichereren Hafen, schließlich erleichtern Vorgaben unsere Entscheidungen. Zu einem horrenden Preis, wie sie am Ende lernen musste, wie so viele lernen mussten.

Auf eigene Feder

Das ist er also, dieser Unsinn des Lebens. Dennoch, kein Grund zur Schockstarre. Ja, unglückliche Dinge geschehen einem manchmal, und wenn schon. Dann muss man auch damit weiterarbeiten, da ergibt es nämlich ebenso wenig Sinn, zu heulen oder wegzurennen. Besonders, da wir oft lange brauchen, um wirklich beurteilen zu können, ob und wie schlimm es im Grunde war. In meinem Leben ist mir unfassbar viel »passiert«, inklusive meiner ersten Tochter – so viel zu Glück im Ungeschick. Ich habe zudem gehungert, mich fast totgeschuftet, als Nichtsnutz beschimpfen lassen, bin gefeuert worden, habe liebste Menschen verloren. Aber selbst da kämpfte ich mich durch, weil ich immerhin das in der Hand hatte. Freiwillig? Nicht unbedingt. Doch Opfer? Sicher nicht. Ich habe mich selbst nie mit solch einer passiven Rolle behindert, sondern die Konsequenzen getragen, unabhängig davon, wer sie verursacht hat. Denn solch ein falscher Fokus bringt mich nicht weiter, schafft keine Lösung und macht auch keinen Spaß.

Was allerdings Spaß macht, ist eine Metapher, die ich seit geraumer Zeit mit mir trage und die genau abbildet, wie ich nicht nur durch diesen oftmals wirklich unfassbaren Unsinn des Lebens gekommen bin, sondern warum ich das Ganze zudem noch als grandios bezeichne und nichts davon bereue. Sie vereint meine Werte mit meiner Geschichte, stellt das Fundament meiner Haltung, hilft schlicht in allen schwierigen Phasen – und ist dabei so banal und spartanisch, dass sie beinahe so schwerelos wirkt wie das ihr zugrunde liegende Bild selbst. In ihrer einfachsten Form lautet sie wie folgt: Du bist eine kleine Feder im Wind, doch wenn du dir treu bist, landest du immer am richtigen Platz. Sagt der Kindersoldat aus dem Minenfeld. Klingt unsinnig? Wahnwitzig? Irre? Ja, denn das sind alles Synonyme für brillant, betrachtet man mein gesamtes Leben und meine Freude daran.

Mit mehr Details lässt sich dieses Bild womöglich besser nachvollziehen: Wir sind wie Federn, die mehr als weniger machtlos auf Reisen geschickt werden. Wir können nicht bestimmen, welche Umstände uns treiben. Wohin, wie lange, warum – darauf haben wir als Federn keinen Einfluss. Doch wo auch immer wir landen, was auch immer wir vorfinden, ab diesem Moment liegt es an uns, jeden Vorort zur Hölle zum richtigen Ort zu machen, und wenn es nur der richtige Ort ist, um ihn zu verlassen. Selbst dort können wir agieren, nicht nur reagieren, und entscheiden, was wir dort aktiv aus der Situation machen. Es ist reine Illusion zu glauben, wir hätten immer die unbedingte Herrschaft über unser Dasein – wer meint, Kontrolle zu besitzen, sollte zum Arzt gehen. Das Entscheidende jedoch ist, sich davon nicht abhalten zu lassen, sein Leben zu gestalten und unabhängig vom Ort jedes bisschen Einfluss geltend zu machen, den wir haben.

Das ist meiner Erfahrung nach harte Arbeit, die ab und an mit etwas Glück gesegnet wird, das einige Etappen weniger holprig gestaltet oder sogar hervorragend fröhlich. Dazu muss man mit sich selbst im Reinen sein, nur so kann sich das Gefühl einstellen, dass es richtig ist, dass man die richtigen Entscheidungen trifft, nicht mit jeder hadern muss. Ich bin weder religiös noch esoterisch, aber ich kann es drehen und wenden, wie ich will: Etwas Spirituelles sitzt in meiner Sicht auf die Dinge, zumindest sind es nicht ausschließlich Logik oder kalte Ratio. Das ist selten bewusst intendiert, doch es mündet letztlich darin, also soll es so sein und ich sage: Hör auf deinen Bauch, auf deine Instinkte, gib deinen Visionen und Träumen Raum. Denk nicht zu viel – denn eigentlich können wir ohnehin nur nachdenken, also rekapitulieren, mit Blick nach hinten. Das tun wir aber allemal, meist mit Bedauern, selbstkritisch oder gar selbstmitleidig.

Ich bevorzuge eine Art Vordenken, mit dem Herzen, mit Leidenschaft und mit Neugier anstelle fixer Vorgaben, Zwänge und Sorgen. Sicherheit gibt es nicht, Selbstbestimmung schon, da hilft der minutiöseste Plan nichts. Wer den Mount Everest besteigen will, braucht zwar gewiss einen Plan (oder verdammt viel Geld), doch am Ende tut man es nur, wenn man nicht zu viel nachdenkt, alles zerdenkt. Auch die Mondlandung 1969 kann man als unsinnig und lebensgefährlich bezeichnen, keine Frage – und hätten die Amerikaner damals so gedacht, wären sie nie geflogen. Doch John F. Kennedy sagte: »Wir wollen zum Mond fliegen …, weil es schwer ist.« Dank seiner so ehrgeizigen wie enthusiastischen Vision erlebte die ganze Nation einen verbindenden und mitreißenden Moment. Ich selbst musste sehr früh lernen, dass dieser Unsinn des Lebens weder einfach noch kontrollierbar ist – und genau das bezeichne ich als Glück, schließlich säße ich sonst nicht hier. Natürlich passieren Fehler, baut man Mist, versagt, entscheidet sich falsch, doch das ist allemal erfolgreicher und glückbringender als Heulen, Warten, Stillstehen – das wäre Sterben, das kommt aber danach.

Solche Aussagen bringen mir immer wieder heftige Kritik ein, und ich werde als arroganter, Mist erzählender Karrieretyp abgeurteilt. Sorry, Leute, aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Wäre ja gelacht, würde ich mich davon aufhalten lassen. Es passiert genau das Gegenteil: Kritik wirkt wie eine Triebfeder auf mich. Ich bin es gewohnt, zu kämpfen, gegen den Strom zu schwimmen, Widerstand zu ertragen. All das weckt sogar meine Energie und lässt mich zu Höchstform auflaufen. Nicht der Provokation willen, nicht des Kampfes willen, das ist mir zu wenig, zu trivial. Es geht vielmehr um Freude am wahrhaftigen Dasein.

Ich zögere keine Sekunde, mich gegen eine Mehrheit zu stellen, den harten Weg zu gehen, die unkonventionelle Seite einzunehmen – manchmal sogar mit einem herrlichen Zusatzeffekt: Menschen zu motivieren, ihren ganz eigenen Mut zu finden, sich zu trauen, zu ihren Ideen zu stehen oder sie einmal laut auszusprechen, für etwas zu kämpfen, das ihnen wichtig, in der Breite aber (noch) nicht anerkannt ist. Die Welt ist voll von normalen, durchschnittlichen, zufriedenen Menschen – und das ist völlig okay. Wir sollten nur nicht vergessen, dass diese selten die Welt verändern oder jubelnd danebenstehen, wenn andere es tun. Wer das versteht, wagt es vielleicht eher, unangepasst nach vorn zu schreiten. Wenn ich mit meiner Geschichte und meinen Werten auch nur einem helfe, hat sich dieses Buch bereits gelohnt.

Ich kenne und lebe diese Werte und mein »Federleben« schon sehr lange. Sie sind Teil von mir, und sie sind Teil jeder Etappe meines Lebens, ob in Teheran oder New York, ob ganz oben oder ganz unten, ob als Vater oder als Sohn, in guten wie in schlechten Zeiten. Sie haben mein Leben gestaltet, meinen Werdegang beeinflusst und mir immer wieder geholfen hochzukommen, als ich durch die Welt getrieben wurde und hart aufschlug.

Ein Beispiel für diese Einstellung und ihre Stärke ist meine Ankunft in Wien. Dreizehn Jahre bevor ich Anneliese Wüllner mit ihrem Schicksal kennenlernte und sie in den Tod geleitete, landete ich aus dem Iran fliehend in dieser Stadt, mit nichts als einem kleinen Rucksack auf dem Rücken, vierzehn Geburtstagen im Herzen, vielen hundert Kilometern in den Beinen, tausend Ängsten und Sorgen – und dem Willen, das fucking Beste daraus zu machen.

Neuland

1983 – 1988Wien

»Wir sind wie Federn. Aber wenn wir uns treu sind, landen wir immer am richtigen Platz.«