Whistleblower Rebels - Benjamin Knödler - E-Book
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Whistleblower Rebels E-Book

Benjamin Knödler

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Beschreibung

Nach den "Rebel Girls" die Whistleblower: Porträts u.a. von Edward Snowden, Chelsea Manning und Frances Haugen rütteln auf. Spannend wie ein Krimi!

Für die Wahrheit riskieren sie alles – ihre Jobs, ihre Freiheit, manchmal sogar ihr Leben: Whistleblower:innen. Edward Snowden schmuggelte Informationen aus einem Büro des US-Geheimdienstes und enthüllte so einen der größten Überwachungsskandale. Chelsea Manning berichtete der Welt von Kriegsverbrechen. Frances Haugen kopierte interne Facebook-Dokumente, um über die Gefahren der Social-Media-Plattform aufzuklären. Von China, Kenia, Russland bis Deutschland: Die Geschichten dieser Menschen faszinieren. Ihre Themen gehen uns alle an. Ob Wirtschaft, Gesundheit, Klima, Rassismus: Whistleblower:innen informieren und inspirieren dazu, sich starkzumachen für die Gesellschaft, in der wir leben wollen.

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Das ist das Cover des Buches »Whistleblower Rebels« von Benjamin Knödler, Christine Knödler

Über das Buch

Nach den »Rebel Girls« die Whistleblower: Porträts u.a. von Edward Snowden, Chelsea Manning und Frances Haugen rütteln auf. Spannend wie ein Krimi!Für die Wahrheit riskieren sie alles — ihre Jobs, ihre Freiheit, manchmal sogar ihr Leben: Whistleblower:innen. Edward Snowden schmuggelte Informationen aus einem Büro des US-Geheimdienstes und enthüllte so einen der größten Überwachungsskandale. Chelsea Manning berichtete der Welt von Kriegsverbrechen. Frances Haugen kopierte interne Facebook-Dokumente, um über die Gefahren der Social-Media-Plattform aufzuklären. Von China, Kenia, Russland bis Deutschland: Die Geschichten dieser Menschen faszinieren. Ihre Themen gehen uns alle an. Ob Wirtschaft, Gesundheit, Klima, Rassismus: Whistleblower:innen informieren und inspirieren dazu, sich starkzumachen für die Gesellschaft, in der wir leben wollen.

Benjamin Knödler

Christine Knödler

Whistleblower Rebels

20 Menschen, die für die Wahrheit kämpfen

Illustriert von Felicitas Horstschäfer

Hanser

Für Magdalena und Matteo

und für Hattie

B. K.  |  C. K.

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Über Benjamin Knödler, Christine Knödler

Impressum

Inhalt

Vorwort

Edward Snowden — USA

Julia Stepanowa und Witali Stepanow — Russland

Spot 1 — Laut werden! Was tun Whistleblower:innen?

Jóhannes Stefánsson — Island — Namibia

Andrea Würtz — Deutschland

Spot 2 — Pssst! Was ist ein Geheimnis?

Li Wenliang — China

Frances Haugen — USA

Spot 3 — Gemeinsam stark! Was brauchen Whistleblower:innen?

Daniel Ellsberg — USA

Margrit Herbst — Deutschland

Spot 4 — Echt jetzt?! Die Sache mit der Wahrheit

Reality Winner — USA

Abdullah Ibhais — Katar

Spot 5 — Am anderen Ende der Leitung: Journalismus und Whistleblowing

Sonderfall Watergate — USA

Marie Klein und Martin Porwoll — Deutschland

Spot 6 — Unglaublich! Über Enthüllungen und Verschwörungserzählungen

Desirée Fixler — Deutschland — USA

Peter Buxtun — USA

Spot 7 — Die ultimative Transparenz: WikiLeaks und Julian Assange

Chelsea Manning — USA

Edmund Dene Morel — Großbritannien — Belgien

Spot 8 — Das Recht im Rücken: Über Whistleblowerschutzgesetze

Eckart Seith — Deutschland

Daniel Motaung — Südafrika — Kenia

Spot 9 — Eine Entscheidung — und dann? Die Einsamkeit der Whistleblower:innen

Cihan Kuzkaya — Deutschland

Frank Serpico — USA

Spot 10 — Held:innen oder Verräter:innen? Whistleblowing und die Frage der Moral

Glossar

Quellen

Vorwort

Es gibt Geschichten, die vergisst man nicht. Eine davon begann im Spätsommer 2021. Damals wurden immer mehr erschreckende Details über Facebook und Instagram bekannt. Sie betrafen uns alle.

Hinter diesen Enthüllungen stand eine Frau aus den USA. Sie heißt Frances Haugen. Beinahe über Nacht wurde sie zu einer berühmten Whistleblowerin, die die Welt über etwas aufklärte, was bis dahin nur wenige wussten.

Diese Geschichte hat uns nicht mehr losgelassen. Wir wollten mehr wissen, und wir wollten ein Buch daraus machen. Also haben wir uns auf die Suche nach Whistleblower:innen in Vergangenheit und Gegenwart gemacht. Tatsächlich gab und gibt es sie auf der ganzen Welt — und ihre Geschichten sind spannend wie Krimis, nicht umsonst wurden einige von ihnen verfilmt.

Und dann war da noch etwas: Die Ideen, die die Whistleblower:innen angetrieben haben. Denn hinter ihren Enthüllungen, so haben wir im Laufe unserer Arbeit gemerkt, stehen oft Ideale, Werte, Errungenschaften — die der Freiheit zum Beispiel, der Gleichheit, der Würde, der Menschenrechte.

Hinter ihrem Tun steht die Überzeugung, dass wir alle, wo und wie auch immer wir leben, uns einmischen können, wann immer das nötig ist.

Hinter ihrem Handeln steht meistens die Vorstellung einer gerechten Gesellschaft, eines achtsamen Umgangs der Menschen mit Mensch und Tier, mit der Umwelt und mit der Welt.

Und natürlich stehen hinter ihren Enthüllungen der hohe Anspruch und das hohe Gut der Wahrheit.

Für diese Wahrheit setzen Whistleblower:innen sehr viel aufs Spiel. Sie schauen hin, wo andere wegschauen, und sorgen dafür, dass Missstände öffentlich werden.

Manche sind heute weltberühmt, andere sind fast vergessen. Bemerkenswert sind sie und ihre Geschichten allesamt.

Einige der Geschichten, die ihr nun lesen könnt, sind hart. Sie erzählen von Ungerechtigkeit, Verfolgung, Strafe, Haft, von Mutlosigkeit, Ohnmacht und Verzweiflung. Das sollt ihr wissen, bevor ihr in das Buch eintaucht, denn das kann euch vielleicht bedrücken. Sollte das so sein, sprecht am besten mit anderen darüber.

Zugleich zeugen die Geschichten der Whistleblower:innen von persönlichem Mut, von Verantwortungsbewusstsein, selbstständigem Denken und Handeln und vom Glauben an Veränderung. Darum sind es immer auch Geschichten der Hoffnung.

Uns haben sie berührt, fasziniert, umgetrieben und verändert. Manchmal waren wir fassungslos über das, was wir erfahren haben — etwa, wie Menschen ihre Macht missbrauchen und dafür das Leid anderer in Kauf nehmen, wie sie sich auf Kosten anderer bereichern, wie sie die Öffentlichkeit — und das heißt ja: uns alle — täuschen. Und wie gefährlich das alles werden kann.

Was Whistleblower:innen aufdecken, ist von Menschen gemacht. Darum kann es auch von Menschen verändert werden. Das ist eine der Lehren, die wir aus unserer Arbeit an dem Buch gezogen haben.

Diskriminierung, Rassismus, Krieg, Überwachung, Social Media, Gesundheit, die Macht der Polizei oder der Schutz des Planeten — das sind einige der Themen von Whistleblower:innen.

Ihre Geschichten wollten wir erzählen. Dafür haben wir mit einigen Whistleblower:innen und ihren Unterstützer:innen gesprochen, außerdem haben wir Expert:innen und Enthüllungsjournalist:innen befragt.

Die Großzügigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Erfahrungen und ihr Wissen mit uns geteilt haben, bleibt unvergesslich. Wir danken allen, denen wir unsere Fragen stellen durften und die sich für uns und unser Buch Zeit genommen haben.

Bei unseren Recherchen haben wir festgestellt, dass Whistleblowing als Thema immer mehr Fragen aufwirft: Was sind Whistleblower:innen überhaupt? Wie arbeiten sie? Welche Rechte haben sie? Was brauchen sie? Und natürlich: Warum brauchen wir sie?

Die Fragen gingen weiter: Was ist Wahrheit? Gibt es gute und schlechte Geheimnisse? Wie gehen wir mit Fake News und Verschwörungserzählungen um? Ist Whistleblowing eine Frage der Moral?

Whistleblower:innen, auch das haben wir gemerkt, polarisieren, sie fordern uns alle heraus. Darum sollen diese großen, manchmal auch komplizierten Fragen Raum bekommen, indem wir ihnen spezielle »Spots« widmen. Hier werfen wir Schlaglichter auf Hintergründe und Konsequenzen und laden euch zum Nachdenken über philosophische und gesellschaftspolitische Fragen ein.

Das zieht immer weitere Kreise — wie weit, hat uns selbst überrascht. Und es hat uns überrascht, wie politisch auch unser zweites Buch, das wir zusammen geschrieben haben, geworden ist.

So unterschiedlich die Geschichten der einzelnen Whistleblower:innen sind — ihr gemeinsamer Nenner ist die Frage nach der Gesellschaft, in der wir leben wollen. Und so ist »Whistleblower Rebels. 20 Menschen, die für die Wahrheit kämpfen« nicht zuletzt ein Buch über Freiheit und Demokratie geworden.

Die Gegenwart, in der wir leben, kann mit all ihren Krisen ziemlich verunsichern. Dann brauchen wir erst recht Menschen, die unbeirrbar hinschauen, aufklären, die Frage nach einer besseren Welt stellen und auf ihre jeweilige Art und Weise beantworten.

Darum sind die Geschichten der Whistleblower:innen wichtig und im wahrsten Sinne des Wortes weltbewegend. In diesem Sinne mögen sie auch euch bewegen, inspirieren und ermutigen: die Welt, in der ihr leben wollt, mitzugestalten.

Benjamin Knödler und Christine Knödler

Berlin und München, Januar 2024

Edward Snowden

USA

Whistleblower über Massenüberwachung durch US-Geheimdienste

»Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich tue und sage, aufgezeichnet wird. Solche Bedingungen bin ich weder bereit zu unterstützen, noch will ich unter solchen leben.«1

Im Frühjahr 2013 sitzt ein junger Mann in einem teuren Hotel in Hongkong und wartet. Um ihn herum liegen Klamotten verstreut, Teller mit angebissenen Burgern und Nudelboxen. Zehn Tage hat Edward Snowden das Zimmer nicht verlassen, denn er möchte so wenig wie möglich auffallen. Er ist aus seiner Heimat, den USA, nach Hongkong gereist, um sich mit Journalist:innen zu treffen und ihnen von Dingen zu berichten, über die sonst nur wenige andere Menschen auf der Welt Bescheid wissen. Da sitzt er nun in diesem Zimmer in einem 5-Sterne-Hotel im 10. Stock mit Blick auf einen Park und fühlt sich so einsam wie noch nie in seinem Leben.

Als Edward Snowden sein altes Leben hinter sich lässt, ist er gerade einmal 29 Jahre alt — und könnte eigentlich wunschlos glücklich sein: Er lebt mit der Liebe seines Lebens auf Hawaii und verdient mehr als genug Geld. Er kann mit dem Fahrrad an Palmen vorbei zu seiner Arbeit für die NSA, einen US-amerikanischen Geheimdienst, fahren. Früher war das mal sein Traumjob.

Schon als Kind spielte er für sein Leben gern Spion und war fasziniert von Technik. Er war noch ein kleiner Junge, als er im Büro seines Vaters seine ersten Befehle in den Computer eintippte. Von da an wurde er immer besser. Auch, weil er in seiner Jugend bald kaum noch vom Rechner zu trennen war — vor allem wegen des Internets. Das Netz veränderte für ihn und seine Generation alles.

Im Internet gab es Antworten auf alles, Einblicke in neue Welten und Foren, in denen man sich gegenseitig bei Fragen weiterhalf. All das ging anonym. Das brachte, Edward Snowdens Meinung nach, »alle Beziehungen ins Gleichgewicht und korrigierte jede Ungleichheit.«2 So konnte er sich mit Erwachsenen auf Augenhöhe unterhalten, wurde ernst genommen, durfte aber auch reichlich Unsinn schreiben, wenn ihm danach war. Das Netz war sein Freiraum.

Nach der Schule begann Edward Snowden Informatik zu studieren, schloss das Studium aber nicht ab. Und während er sich über seine Zukunft Gedanken machte, kam der Tag, der alles veränderte: der 11. September 2001.

Es gibt einschneidende Ereignisse, die alles in ein »Davor« und ein »Danach« teilen. Die Terroranschläge im September 2001 waren für die USA ein solches Ereignis. Für die Vereinigten Staaten gab es danach nur noch Verbündete oder Feinde, das Land begann einen »Krieg gegen den Terror«, griff Afghanistan an und marschierte später in den Irak ein. Und in den USA selbst erhielten die Geheimdienste, denen es nicht gelungen war, den Terror zu verhindern, mehr Macht und Geld, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal passieren konnte.

Die Anschläge veränderten auch das Leben von Edward Snowden. Seine Familie arbeitete für den Staat, sie fühlten sich den USA sehr verbunden. Auch der Patriot Edward Snowden wollte »seinem Land dienen«. Und bald wusste er auch wie: »mit Hirn und Händen … durch die Arbeit am Computer.«3 So kam es, dass der blasse Junge von einst, der sich die Nächte vor dem Computer um die Ohren geschlagen hatte, weiter vor dem Bildschirm saß — für den Geheimdienst. Seine Aufgabe: Er musste das technische System der Geheimdienste — all die Server, auf denen Informationen gespeichert waren, all die Verbindungen zwischen den verschiedenen Computern der Agent:innen — auf dem neuesten Stand halten. Er musste das System pflegen und weiterentwickeln. Und der Computer-Nerd Edward Snowden war darin sehr gut.

So machte er Karriere. Er arbeitete für den Geheimdienst CIA, hatte feierlich geschworen, die Verfassung der USA zu schützen, und wurde in einem geheimen Programm zum Spion und Undercoveragenten ausgebildet, um vor allem die Technik der CIA zu betreuen.

Bei einem seiner Jobs durchlief Snowden ein Sicherheitstraining der CIA. Dabei wurden den Teilnehmer:innen Fotos ehemaliger Agent:innen und Vertragsarbeitskräfte präsentiert. Diese Menschen, so hieß es, hätten die Regeln nicht befolgt — aus Habgier, Bosheit, Unfähigkeit oder Nachlässigkeit. Sie hätten einen unendlich hohen Preis gezahlt, landeten im Gefängnis, ihr Leben sei ruiniert. Noch ahnte Edward Snowden nicht, dass er eines Tages selbst die Regeln brechen würde — und dass sein Gesicht ebenfalls auf Millionen Bildschirmen zu sehen sein würde.

Seine Geheimdienstarbeit führte ihn nach Genf, später nach Tokio. Doch während er dabei half, Informationen zu beschaffen, Spione bei technischen Fragen unterstützte oder dafür sorgte, dass all die gesammelten Informationen sicherer gespeichert wurden, wuchs in Edward Snowden auch das Unbehagen. Denn er erlebte, wozu die Geheimdienste auf der ganzen Welt fähig waren. Und er wusste: Wenn etwas technisch möglich ist, dann wird es früher oder später auch gemacht. Edward Snowden wollte es genauer wissen.

»Ich musste genau verstehen, wie das System funktionierte; erst dann konnte ich entscheiden, ob daran etwas zu ändern war, und wenn ja, was.«4

Inzwischen war er mit seiner Freundin Lindsay Mills nach Hawaii gezogen und arbeitete im Auftrag der NSA. Auf einer unterirdischen Militärbasis, versteckt unter einem Ananasfeld und hinter Sicherheitsschleusen, sammelte Edward Snowden Dokumente und Informationen, die sein Unbehagen weiter verstärkten. Er, dessen Aufgabe es war, das technische System der Geheimdienste im Blick zu haben, schaute nun dem größeren politischen System auf die Finger. Und was er sah, schockierte ihn.

Das Internet, das er als Ort der Freiheit kennengelernt hatte, wurde flächendeckend überwacht. Die US-Geheimdienste, die eigentlich dazu da waren, die Menschen in den USA zu beschützen, spionierten sie stattdessen aus. Sie brachten Telefonunternehmen und Tech-Konzerne dazu, Sicherheitsprobleme an den Geräten nicht zu beheben, um so einen Zugriff auf die Computer und Telefone aller Kund:innen zu bekommen. Sie überwachten Telefongespräche und Chatverläufe, Suchanfragen im Netz, private Fotos. Sie sammelten sogenannte Metadaten und konnten so herausfinden, wo sich die Menschen aufhielten — und das nicht nur in den USA, sondern auf der ganzen Welt. Dafür brauchten sie nicht einmal die Erlaubnis eines Gerichts — eine ganze Reihe Geheimdienstmitarbeiter:innen konnte sich die Informationen jederzeit beschaffen. Die NSA tauschte dabei Informationen mit anderen Geheimdiensten aus, zum Beispiel aus Großbritannien oder auch Deutschland. Dabei war es ganz egal, ob man den Menschen eine Straftat vorwarf oder ob man glaubte, dass von ihnen eine Bedrohung ausging. Ganz normale Menschen wurden so behandelt wie potenzielle Terrorist:innen. Sogar das Handy der damaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde überwacht.

Aber, könnte man jetzt fragen, ist es nicht genau die Aufgabe der Geheimdienste, besonders viel zu wissen und deshalb die Menschen zu überwachen? Ist da so etwas wie Privatsphäre nicht vielleicht etwas, auf das wir verzichten sollten? Edward Snowden waren diese Erklärungen nicht fremd. Immerhin war er selbst aus Überzeugung zum Geheimdienst gegangen. Und dennoch ging ihm das, was er dort entdeckte, zu weit.

Es gibt ein Menschenrecht auf Privatsphäre. Vermutlich kennt ihr das auch: Jede:r von uns braucht ab und zu unbeobachtete Momente, ganz für sich allein. Und das sollte auch fürs Internet gelten, fand Edward Snowden. Denn mal ehrlich, wir alle haben schon einmal eine Website besucht, von der wir nicht wollen, dass andere es wissen. Stellt euch vor, ihr hättet die Wahl: Entweder ihr lasst eure Freund:innen eine Stunde allein in eurem Zimmer, oder ihr lasst sie eine Stunde allein mit eurem entsperrten Smartphone, mit all den Suchen bei Google, mit all den Nachrichten, die ihr geschickt, all den Seiten, die ihr besucht, und all den Videos, die ihr euch angeschaut habt. Was wäre euch lieber?

Doch auch jenseits aller Privatsphäre: Die Überwachung konnte zur Gefahr für die Gesellschaft werden. Wenn wir Glück haben, sind wir in einer Demokratie aufgewachsen, die Menschen nicht grundlos verfolgt. Aber Geschichte und Gegenwart zeigen auch, dass sich autoritäre Regierungen anders verhalten. Dann werden Menschen verfolgt, zum Beispiel, weil sie in der Opposition sind oder homosexuell. Wenn eine solche Regierung dann die Macht und Mittel hat, die Menschen zu überwachen, wenn sie weiß, was sich Menschen schreiben oder wo sie sich treffen, werden diese Mittel sehr gefährlich. Und Edward Snowden wusste auch, dass all die Informationen gespeichert werden konnten. Das bedeutete: Alles, was die Menschen im Internet machten, konnte später gegen sie verwendet werden — ob sie nun etwas getan hatten oder nicht. All das sind Gründe dafür, dass Geheimdienste demokratische Kontrolle brauchen, zum Beispiel durch Gerichte oder das Parlament. Genau das aber passierte viel zu wenig. Mehr noch: Der Geheimdienst log das Parlament an, wenn es um das Thema Massenüberwachung ging, und behauptete, sie würde nicht stattfinden.

Edward Snowden ließ all das keine Ruhe mehr, doch er konnte mit niemandem darüber sprechen. Seine Kolleg:innen reagierten auf die Überwachung frei nach dem Motto: Was will man machen?

»Ich hasste diese Frage, diese Resignation, die darin zum Ausdruck kam; dennoch fühlte sie sich so berechtigt an, dass ich mich selbst fragen musste: ›Ja, was eigentlich?‹ Als sich mir die Antwort bot, entschloss ich mich, zum Whistleblower zu werden.«5

Edward Snowden war der Meinung, dass die Öffentlichkeit über ein so wichtiges Thema mitentscheiden müsste. Also begann er, Beweise zu sammeln, und kopierte sie während seiner Nachtschichten heimlich auf winzige Speicherkarten. Es dauerte Stunden, es fühlte sich unerträglich lang an. »In jeder Ecke sah ich Schatten oder hörte Schritte«6, erinnerte er sich später an die Angst, erwischt zu werden. Und noch hatte er die Karten nicht aus dem Büro geschmuggelt — vorbei an Scannern und bewaffneten Wachleuten.

Vielleicht kennt ihr die sogenannten Zauberwürfel. Sie bestehen aus kleinen Quadraten in unterschiedlichen Farben, und man kann sie in sich drehen, sodass die unterschiedlichen Farben — Rot, Blau, Weiß, Grün, Gelb und Orange — entweder komplett durcheinander sind oder so geordnet, dass jede Seite des Würfels eine Farbe hat. Das ist das Ziel dieses 3-D-Puzzles. Mit genau so einem Würfel lenkte Edward Snowden die Wachleute ab, indem er mit ihnen über das Spielzeug plauderte, während er das NSA-Büro verließ. Was jedoch noch wichtiger war: Unter den farbigen Abdeckungen des Würfels hatte er die Speicherkarten versteckt. Andere Karten schmuggelte er in seinen Socken oder im Mund, sodass er sie im Notfall schnell schlucken konnte. Das klingt nach einem Abenteuer. Für Edward Snowden aber stand alles auf dem Spiel: Das, was er da tat, war eine Straftat, die ihm Job und Freiheit kosten konnte.

Um die Informationen endgültig an die Öffentlichkeit zu bringen, wandte sich der Whistleblower schließlich an die Journalist:innen Laura Poitras und Glenn Greenwald. Er schrieb ihnen nur anonym und mit verschlüsselten Nachrichten. Dafür fuhr er nachts mit seinem Auto über die hawaiianische Insel, auf der er lebte, und loggte sich in wechselnde Netzwerke ein. Dann parkte er, den Motor im Leerlauf, und schrieb hinter dem Lenkrad E-Mails — und überlegte dabei, wie er Lindsay all das erklären sollte, was nun folgte.

Denn nach der Veröffentlichung würde nichts mehr sein wie zuvor. Whistleblower zu werden bedeutete für Edward Snowden auch, sein Leben und seine Familie hinter sich zu lassen. Ständig hatte er das Gefühl, alles zum letzten Mal zu tun: beim indischen Imbiss zu essen oder in den Nachthimmel zu blicken, auf der Suche nach Sternschnuppen.

Schließlich war der Tag gekommen. An ihrem letzten gemeinsamen Morgen drückte Edward Snowden seine ahnungslose Freundin Lindsay noch einmal fest an sich und sagte ihr, dass sie der beste Mensch sei, der ihm je begegnet sei. Und als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, weinte er das erste Mal seit Jahren. Dann meldete er sich krank, reiste ab und landete schließlich am 20. Mai 2013 in Hongkong.

Hier sitzt Edward Snowden nun also im Hotelzimmer. In den letzten Tagen hat er sich überlegt, wie man all die komplizierten Themen verständlich erklären kann. Erst den Journalist:innen, dann der ganzen Welt. Er ist angespannt. »Bitte kommt«, fleht er innerlich. Doch es dauert, und der Mai wird zum Juni. Am 2. Juni kommen Laura Poitras und Glenn Greenwald schließlich an. Sie erkennen den Whistleblower am verabredeten Treffpunkt im Hotelrestaurant daran, dass er einen Zauberwürfel in der Hand hält. Einen der Sorte, mit dem er auch die Informationen aus der NSA-Zentrale herausgeschmuggelt hat.

Auf seinem Hotelzimmer legen sie ihre Telefone in die Minibar, damit sie nicht abgehört werden können. In den nächsten Tagen sitzen die drei und Ewan McAskill, ein weiterer Journalist, in Edward Snowdens Zimmer und reden über das, was er da vor ihnen ausbreitet. Über die Geheimprogramme, die fehlende Kontrolle der Geheimdienste, darüber, was ihn zum Whistleblower gemacht hat. Gleichzeitig erscheinen die ersten Artikel mit den Enthüllungen. In Nachrichtensendungen auf der ganzen Welt sind sie Thema. Es betrifft schließlich alle: Privatmenschen, aber auch Regierungen weltweit. Teilweise, weil damit offensichtlich wird, wozu Geheimdienste in der Lage sind. Teilweise, weil die USA auch befreundete Staaten ausspioniert haben.

Und während die Aufregung überall groß ist, erzählt Edward Snowden weiter. Schließlich entscheidet er sich, dass es an der Zeit ist, sich der Öffentlichkeit zu erkennen zu geben. Er will sich nicht verstecken, schließlich ist er nicht der Meinung, etwas Falsches getan zu haben — im Gegenteil. Außerdem findet er, die Öffentlichkeit verdiene zu erfahren, was ihn antreibt. »Mein Name ist Ed Snowden, ich bin 29 Jahre alt«7, mit diesen Worten beginnt das Video, das den jungen Mann, blass und mit eckiger Brille, weltberühmt macht. Es ist auf der ganzen Welt zu sehen, in Nachrichtensendungen, auf Webseiten, ja sogar auf großen Videotafeln in den Straßen Hongkongs.

Spätestens jetzt ist Edward Snowden das Gesicht der Enthüllungen, einer der berühmtesten Whistleblower der Geschichte, über dessen Rolle in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten und Jahren viel diskutiert wird. Der unscheinbare junge Mann wird zu einem Symbol und für viele auch eine Heldenfigur, die nicht wirklich mit seinem bedächtigen Auftreten, seiner ruhigen Stimme zusammenpassen will. Es wirkt eher so, als sei Edward Snowden ein Mann, dem sein Gewissen keine andere Wahl gelassen hat. In der Zeit nach den Enthüllungen hat fast jede:r eine Meinung zu ihm. Viele Menschen feiern seinen Mut, seine Kompromisslosigkeit im Kampf für das Grundrecht auf Privatsphäre und gegen Überwachung. Andere machen ihm schwere Vorwürfe, nennen ihn einen Verräter, einen Spion für fremde Mächte oder sind der Meinung, dass seine Enthüllungen gefährlich sind, weil nun eine breite Öffentlichkeit Macht und Möglichkeiten von Geheimdiensten kennt. Der damalige US-Präsident Barack Obama sagt, Snowden sei kein Patriot. Viel eher hätte er sich doch in den USA der Debatte stellen sollen. Donald Trump, der später US-Präsident werden wird, fordert unmittelbar nach den Enthüllungen sogar die Todesstrafe für den Whistleblower.

Offiziell wird Edward Snowden unter anderem wegen Spionage und Diebstahls von Regierungseigentum angeklagt. Die Regierung will ihm in den USA den Prozess machen. Doch er fürchtet, dass es keinen fairen Prozess geben wird — es geht schließlich um Staatsgeheimnisse, und so würde auch bei einem Gerichtsprozess der Schutz der Öffentlichkeit fehlen. Also flieht er wieder.

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist festgelegt, dass Menschen ein Recht auf Asyl, also auf Schutz, haben. Das gilt zum Beispiel, wenn Menschen vor Krieg oder politischer Verfolgung fliehen. Edward Snowden bittet bei über 20 Staaten um Asyl, doch die meisten von ihnen, darunter auch Deutschland, lehnen ab. Sie wollen es sich nicht mit den USA verscherzen. Schließlich sieht es so aus, als könnte er tatsächlich Asyl in Ecuador bekommen. Über Russland und Kuba soll er dorthin gelangen.

Doch in Moskau erfährt Edward Snowden, dass sein Pass für ungültig erklärt worden ist. Schließlich erhält er Asyl in Russland. Eigentlich will er dort nicht bleiben, doch bis heute lebt Edward Snowden in Moskau. Das war eine Bestätigung für die Menschen, die ihn für einen russischen Agenten hielten. Gegen diesen Vorwurf hat sich Edward Snowden immer gewehrt. Er habe sich geweigert zu kooperieren, als er vom russischen Geheimdienst angesprochen worden sei. Außerdem habe er ja zuerst in anderen Ländern um Asyl gebeten.

Inzwischen lebt auch Lindsay Mill in Moskau. Die beiden haben zwei Kinder, und seit 2022 ist Edward Snowden russischer Staatsbürger. Diese Entscheidung hat für viel Kritik gesorgt. Denn seit seiner Flucht aus Hongkong ist viel passiert: Der russische Präsident Wladimir Putin wurde immer brutaler, er unterdrückte Bürger:innen und Demokratiebewegungen in seinem Land. 2022 überfiel die russische Armee die Ukraine und begann einen grausamen Krieg. Wie konnte Edward Snowden da nur Bürger dieses Landes werden?

Der Whistleblower hat das schon 2020 erklärt: »Nach der jahrelangen Trennung von unseren Eltern haben meine Frau und ich kein Interesse daran, von unserem Sohn getrennt zu werden.«8

Auch heute, über zehn Jahre nach den Enthüllungen und weit weg von den USA, setzt sich Edward Snowden für mehr Privatsphäre im Netz und gegen eine unbegrenzte Überwachungsmacht von Geheimdiensten ein. Er engagiert sich für Pressefreiheit und berichtet in Video-Interviews von seinen Überzeugungen und Ideen.

Doch was hat sein Handeln bewegt? Nach den Enthüllungen verlangten viele Parlamente Untersuchungen. Es sollte endlich mehr Licht in die weitreichenden Möglichkeiten der Geheimdienste gebracht werden. Es wurden Gesetze verabschiedet, die Geheimdienste noch strenger kontrollieren sollten. Auch in den USA musste der Präsident deren Macht einschränken. In Europa wurden Datenschutzgesetze für mehr Privatsphäre im Netz beschlossen. Und die großen Tech-Konzerne, die jahrelang mit den US-Geheimdiensten zusammengearbeitet hatten, verschärften in den Jahren nach Edward Snowdens Enthüllungen ihren Schutz gegen Überwachung. Trotzdem wurde der Konzern Meta, zu dem unter anderem Facebook gehört, 2023 zu einer Rekordstrafe von 1,2 Milliarden Euro verurteilt — wegen der Beteiligung an der Massenüberwachung.

Vor allem aber hat sich durch die Enthüllungen von Edward Snowden die Debatte über Datenschutz und Privatsphäre verändert. Den Menschen wurde klar, welche Möglichkeiten es gibt, online überwacht zu werden — und welche Spuren wir online und bei unseren Internetanbietern hinterlassen. Diese Debatte ist noch lange nicht am Ende — aber dank Edward Snowden können wir sie aufgeklärter führen.

Edward Snowden entdeckte bei seiner Arbeit für verschiedene US-Geheimdienste, wie umfangreich Menschen weltweit überwacht wurden. Mit 29 Jahren kopierte er Tausende Seiten geheimer Dokumente und übergab sie an die Presse. Seine Enthüllungen stießen eine große Debatte über Überwachung im Internet und die Macht der Geheimdienste an.

Julia Stepanowa und Witali Stepanow

Russland

Whistleblower:innen über russisches Staatsdoping

»Ich habe einfach die beschämende Wahrheit aufgedeckt, mit der sich unser Land nicht auseinandersetzen will. Und der einzige Grund, warum ich die Wahrheit über all das gesagt habe, war der Versuch, dem ein Ende zu setzen.«9

Im Herbst 2014 geht Julia Stepanowa aufs Ganze. Die russische Profisportlerin, sie ist 800-Meter-Läuferin, soll sich in einem Trainingslager richtig fit machen. Stattdessen filmt sie mit einer versteckten Kamera. Auf keinen Fall darf Julia Stepanowa erwischt werden, während sie aufnimmt, wie ihr Trainer ihr eine ganze Hand voll Pillen übergibt. Fast wirft er sie ihr vor die Füße. Die ganze Zeit läuft die Handykamera heimlich mit, während Julia Stepanowa mit den Tabletten ins Nebenzimmer geht und jede Pille abfilmt. Diese verdeckten Filmaufnahmen sind ein letzter Beweis für einen der größten Sportskandale der Geschichte.

Nach dem Trainingslager kehrt Julia Stepanowa nach Moskau zurück. Dort warten ihr Mann, Witali Stepanow, ihr kleiner Sohn — und gepackte Koffer. Die Stepanows müssen schnell das Land verlassen. In Russland, glauben sie, ist es zu gefährlich für sie. Denn Julia Stepanowa und Witali Stepanow sind Whistleblower:innen.

In Berlin kommen sie in der Wohnung des Investigativjournalisten Hajo Seppelt unter. Ein paar Tage später wird dessen Film gesendet, in dem die Stepanows eine zentrale Rolle spielen. Denn sie wollen wenigstens versuchen, etwas zum Besseren zu verändern, und öffentlich machen, was falsch läuft im russischen Leistungssport: das systematische Doping.

Wenn es um Sport geht, dann geht es fast immer auch um den Wettkampf und das Gewinnen. Gerade beim Leistungssport sind die Athlet:innen bereit, dafür sehr viel zu opfern. Trotzdem gibt es Regeln. Eine davon: Der Wettbewerb muss fair sein. Natürlich können Sportler:innen unterschiedlich gut trainieren, die einen eine bessere Taktik haben oder die anderen mal einen schlechten Tag. Aber eine Sache ist im Sport nicht erlaubt: sich einen Vorteil mit verbotenen Medikamenten zu verschaffen. Das geht auf unterschiedliche Weise. Manche Mittel sorgen für mehr Sauerstoff im Blut. Dadurch wird man nicht so schnell müde. Andere Medikamente lassen die Muskeln schneller wachsen.

Das ist unfair und kann auch für die Gesundheit der Sportler:innen gefährlich werden. Genau deshalb sind diese sogenannten Dopingmittel verboten. Wer sie als Sportler:in trotzdem nimmt und dabei erwischt wird, riskiert eine lange Sperre. Um Doping zu entdecken, gibt es Organisationen, die die Sportler:innen unangekündigt kontrollieren. Weltweit hat hier die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) das Sagen. Die entsprechende Organisation in Russland heißt RUSADA, das Kürzel für Russische Anti-Doping-Agentur. Sie spielt für die Geschichte der Stepanows eine wichtige Rolle.

Trotz der Verbote und Kontrollen wurden russische Sportler:innen gedopt. Das lernte auch Julia Stepanowa schnell. Mit 14 Jahren hatte sie im Fernsehen die Sportler:innen bei den Olympischen Spielen in Sydney auf Rekordjagd gehen sehen. Das wollte Julia Stepanowa auch. Mit 17 stellte sich für sie vor allem der 800-Meter-Lauf als Paradedisziplin heraus. Doch würde Training allein reichen, um es bis zu den Olympischen Spielen zu schaffen?

Von anderen Sportler:innen hatte Julia Stepanowa einiges aufgeschnappt:

»Im Speisesaal des Trainingslagers sprachen die Mädchen über die Pillen und die Spritzen. Das macht doch jede:r, sagten die Mädchen. Man kann nicht in der Nationalmannschaft sein, ohne diese Dinge zu nehmen. Wenn du sie nicht nimmst, hast du keine Zukunft im Sport.«10

Daran erinnerte sich Julia Stepanowa später in einem Interview. 2006, mit 20 Jahren, begann auch sie mitzumachen. Um nach einer Krankheit wieder auf die Beine zu kommen, überzeugte ihr Trainer einen Arzt, sie mit Steroiden zu behandeln. Diese Mittel sorgen dafür, dass man nicht nur schneller, sondern auch ausdauernder wird — also alles, was eine 800-Meter-Läuferin braucht. Und so wurde Julia Stepanowa Teil des Dopingsystems. Regelmäßig bekam sie das Hormon Testosteron, das zum Beispiel die Muskeln schneller wachsen lässt und die Erholung beschleunigt. Später kam auch EPO dazu, ein Mittel, das dazu führt, dass mehr Sauerstoff in die Muskeln gelangt. Das fördert die Ausdauer.

So wurden die Leistungen von Julia Stepanowa immer besser. Zu Beginn brauchte sie noch 2 Minuten und 15 Sekunden für die 800 Meter. Rund zwei Jahre später waren es fast 15 Sekunden weniger. Ein gigantischer Fortschritt, der ihr auch den Sieg in den nationalen Meisterschaften ihrer Altersgruppe bescherte. Und während Julia Stepanowa mit Doping immer besser wurde, begegnete sie einem Menschen, der so ganz anders auf die Welt blickte. Sein Name war Witali Stepanow.

Witali Stepanow arbeitete für die Russische Anti-Doping-Agentur RUSADA. Dort hatte er einen steilen Aufstieg hinter sich. Er arbeitete nicht nur als Kontrolleur, sondern beriet auch den RUSADA-Chef. Witali Stepanow war stolz auf seinen Job, immerhin trug er dazu bei, dass der Sport »sauberer« war, ohne Betrug. Zumindest glaubte er das, bis er 2009 Julia Stepanowa kennenlernte. Bei ihrem ersten Date saßen sie einfach in Witali Stepanows Auto und sagten einander die Wahrheit. Die Doperin Julia erzählte dem Dopingjäger Witali davon, wie verbreitet Doping wäre und sogar von der RUSADA mitvertuscht würde. Sie sagte ihm, dass laut ihrer Trainer:innen alle Nationen dopen würden. Und als Witali ihr das nicht glaubte, hielt sie ihn für naiv. Später sagte Witali, dass da zwei Idiot:innen im Auto gesessen hätten. Kaum drei Monate später heirateten sie — trotz aller Differenzen.

Witali fand Doping immer noch falsch, während Julia weitermachte — mit dem Sport und mit dem Doping, das ihr auch zum Aufstieg in das russische Nationalteam verhalf. Dort wurde sie von einem Arzt betreut, der nach außen hin vorgab, gegen Doping zu kämpfen. Er hielt sogar Vorträge darüber. Doch hinter den Kulissen half er dabei, russische Sportler:innen zu dopen. Julia Stepanowa sah in der Praxis des Arztes Athlet:innen aus anderen Sportarten, Welt- und Europameister:innen, Schwimmtrainer:innen.

Das Dopingsystem in Russland war offenbar sehr groß — und es war ausgeklügelt. Dazu muss man wissen, dass Doping nicht nur im Wettkampf selbst hilft, sondern auch schon beim Training. Wer immer ans Limit oder darüber hinausgehen kann, verschiebt diese Leistungsgrenze und wird dadurch besser. So wurden die russischen Sportler:innen während des Trainings gedopt, doch man hörte rechtzeitig vor internationalen Wettkämpfen damit auf, damit die Sportler:innen nicht bei internationalen Kontrollen erwischt wurden.

Bei Dopingkontrollen wird der Urin auf verbotene Medikamente hin untersucht. Um zu verhindern, dass Sportler:innen im Training dopen, werden sie unangekündigt kontrolliert. Für diesen Fall sollten die Sportler:innen »sauberen« Urin abgeben, bevor sie im Training mit dem Doping begannen. Und wenn doch einmal eine positive Probe auftauchte, gab es Mittel und Wege, dass die Dopingproben im Labor verschwanden oder ausgetauscht wurden. Es kam sogar vor, dass das Sportministerium forderte, bestimmte positive Proben verschwinden zu lassen. Das galt vor allem für Superstars oder hoffnungsvolle Talente.

Doch warum ein solches System aufbauen? Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Zum einen verdienten die Beteiligten gut daran. Denn um Proben verschwinden zu lassen, flossen Bestechungsgelder. Die Strippenzieher:innen ließen sich wiederum die Tests von den Sportler:innen selbst bezahlen. Immerhin hingen deren Karrieren von ihrem Erfolg ab.

Und es ging auch um Politik. Wenn eine Nation herausragende Ergebnisse im Sport vorweisen kann, dann wird das immer auch Teil der eigenen Erfolgsgeschichte. Besonders wichtig ist das in Staaten, in denen es weniger oder keine demokratische Mitbestimmung gibt. Die Herrscher:innen dort wollen oft mit Erfolgen im Sport zeigen, dass sie das Beste für das Land wollen — und erreichen können. So auch in Russland. Schon Jahre vor dem Angriff auf die Ukraine zeigte sich der russische Präsident Wladimir Putin als brutaler Herrscher. Im Land unterdrückte er Andersdenkende und beschnitt die Pressefreiheit. Auch gegenüber anderen Ländern wurde Putin aggressiver. Julia Stepanowa fasste es später einmal so zusammen: »Das Ziel unseres Staates ist es zu beweisen, dass Russland größer und besser ist als jedes andere Land auf der Welt. Auf jedem Gebiet.«11 Unter anderem auf dieses Ziel war das Dopingsystem ausgelegt.

Sportliche Erfolge können aber auch andere Länder blenden und ablenken. Im Januar 2014 fanden in der russischen Stadt Sotschi die Olympischen Winterspiele statt. Das russische Nationalteam gewann insgesamt 33 Medaillen, darunter 13 goldene. Das machte Russland zur erfolgreichsten Nation — mithilfe von Doping, wie sich später herausstellen sollte. Doch bis dahin strahlte der Glanz der Medaillen und der Olympischen Spiele auf das Land ab.

Schon einige Jahre vor den Olympischen Spielen in Sotschi kämpfte Witali Stepanow gegen das Doping an. Bei Sitzungen der RUSADA sagte er offen seine Meinung, gleichzeitig wandte er sich heimlich an die Welt-Anti-Doping-Organisation WADA, um dort auf