Widerhall - Sophia Wesner - E-Book

Widerhall E-Book

Sophia Wesner

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Beschreibung

Das Buch beschreibt den Weg einer jungen Frau, Aurelia, die an der Schwelle des Erwachsenseins steht und in einem Chor faszinierende Menschen trifft, mit denen sie sich verbindet. Sie erlebt eine junge Liebe mit ihrem Freund und Schulkameraden Raphael, kann sich aber der tiefen Liebe zu ihrem bedeutend älteren Chorleiter nicht entziehen. Vor dieser tabuisierten Liebe versucht sie zu fliehen, findet Trost in der Musik und akzeptiert die Unmöglichkeit der Liebe. Der Chorleiter, Albert, erwidert diese Zuneigung und leidet ebenfalls, und auch für ihn spielt die Musik eine wichtige Rolle im Umgang mit der unerlaubten Liebe. Zugleich kommt ihm die Rolle des Mentors und „Entwicklungshelfers“ der jungen Aurelia zu. Schließlich erfüllt sich die Liebe der beiden doch noch und beschenkt sie mit einem tiefen Glück.

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Seitenzahl: 236

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Sophia Wesner

Widerhall

Eine Geschichte von Glück und Aufbruch

Prinzengarten Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Copyright 2022 by Prinzengarten Verlag

Dr. Hans Jacobs, Am Prinzengarten 1, 32756 Detmold

Bild Umschlag: Karline Johanning

ISBN 978-3-89918-831-8

O glaube, mein Herz! O glaube:

Es geht dir nichts verloren!

Dein ist, ja, Dein, was du gesehnt!

Dein, was du geliebt, was du gestritten!

Mit Flügeln, die ich mir errungen,

in heißem Liebesstreben

werd‘ ich entschweben

zum Licht, zu dem kein Aug‘ gedrungen!

Gustav Mahler

Der Graf Garin von Beaucaire war alt und gebrechlich, und seine Zeit war um. Er hatte keinen Erben, nicht Sohn nicht Tochter, als einen einzigen Knaben. Dieser war also, wie ich euch sage: Aucassin hieß der Jungherr; schön war er, adlich, groß und wohlgebaut an Beinen, Füßen, Leib und Armen; er hatte blonde, feingelockte Haare, blaue lachende Augen, ein klares einnehmendes Gesicht, eine hohe wohlstehende Nase und so reich war er mit guten Charaktereigenschaften begabt, daß an ihm keine schlimme zu finden war. Aber so bezwungen war er von der Liebe, die Alles überwältigt, dass er weder Ritter sein, noch die Waffen ergreifen wollte. Er sprach zu seinem Vater: Gott soll mir nichts gewähren, um was ich ihn bitte, so ich jemals Ritterschaft übe, zu Rosse steige oder in Sturm und Schlacht ziehe, um einen Ritter zu schlagen, oder ein anderer mich, wenn Ihr mir nicht Nicolette gebt, mein süßes Mädchen, das ich von Herzen liebe.

Aucassin und Nicolette. Altfranzösischer Roman aus dem 13. Jahrhundert. Übersetzung von Wilhelm Hertz. Die Zitate, die im Text als Überschriften dienen, stammen aus diesem altfranzösischen Roman.

Nicolette lief so lange, bis sie zu dem Thurm kam, wo ihr Geliebter eingeschlossen war.

Unter Rosen gebettet, so lag er da. Überm Haupt Christrosen und der Körper über und über bedeckt von roten Rosen in schlichtem Gesteck. Ein schönes Grab. Das Grab des geliebten Freundes suchen – darauf war sie angewiesen, denn Worte hatte sie nicht. Sollte sie nicht haben. Sie sollte nicht einmal wissen dürfen, ob ihr Freund verbrannt worden war oder sein Körper in einem Sarg lag. Es war ein Sonntag im Winter und Aurelia hatte im Chor gesungen in dem Kirchenraum, den sie über Albert kennengelernt hatte. Nun war er nicht mehr da. Und keiner sagte ihr, wo sie ihn finden konnte. Mit kühler Trauer, die einen fahlen Glanz auf ihr Inneres abstrahlte, fuhr sie nach dem Gottesdienst nach Hause und legte sich zu Bett. Erinnerungen an das Singen mit ihm, Albert, in der Kirche flimmerten durch ihren Traum. Dann setzte sie sich auf. Sie wusste nun, wohin sie fahren musste. Sechs oder sieben Friedhöfe gab es in ihrer Stadt, aber sie spürte plötzlich genau, auf welchem Friedhof ihr Freund lag.

Aufgeregt stellte sie ihr Auto an der Straße ab und lief suchend und vorsichtig um sich blickend umher. Fast fühlte es sich so an, als beginge sie einen Frevel. Dabei suchte sie doch nur den, den sie liebte. Um seinen Tod aber machte die Familie ein großes Geheimnis, ein Stillschweigen band alle, die davon wussten, und das legte sich schwer auf ihre Seele. Unruhig lief sie von Grab zu Grab und suchte nach den Spuren frischer Erde, lebendiger Trauer, die noch nicht zugedeckt war vom festen Efeu der Gewöhnung. Schäbig kam sie sich vor, wie sie ihre Blicke über Namen und Daten huschen ließ, geradezu vernachlässigend kalt empfand sie es. Immer nur einen Namen suchte sie, Albert Mattheis. Sie irrte herum und fand ihn nicht. Lag er dort abgelegen im Schatten der Bäume? Es dämmerte schon und die Dämmerung war kurz im Winter. Ihr blieb nicht viel Zeit. Nein, dort lag er nicht. Auch nicht in der Nähe der Kapelle, von der hin und wieder ein durchdringendes Piepen zu vernehmen war. Wie störend, auf einem Friedhof. Beinahe mechanisch suchte sie jetzt. Als sie dann am rechten Ort war, fiel die stumpfe Kälte von ihr ab. Aucassin. Sie hatte ihn gefunden. Kein Name kennzeichnete zwar sein Grab, aber sie erkannte es dennoch. An der Frische der Erde. Und an den Christrosen. Da lag der Körper vor ihr, tief in der kalten Erde, unsichtbar, aber doch der Körper, der so zart und zerbrechlich geworden war in den vergangenen Monaten und der sich einmal noch, wenige Wochen war es nur her, mühevoll und langsam für sie, Aurelia, erhoben hatte. Damit sie ihn umarme, ein letztes Mal. Und sie? Könnte sie das Bild aus ihrem Gedächtnis bannen! Jede Erinnerung daran zerschnitt ihr die Seele, brannte furchtbar und nichts wollte sie lieber in diesem Moment, als diese Situation neu zu erleben und alles gut zu machen. Aber war nicht alles gut? Ja, Albert hatte ihr einen goldenen Strahl gesandt, sie durfte sich von diesem Strahl erhellen lassen. Dennoch konnte sie momentan nicht hell und fröhlich sein, jetzt wollte sie trauern und weinen. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Über ihre Augen hatte Albert ihr etwas sehr Berührendes gesagt. Sie hatte seine Worte nie vergessen, aber sie enthüllten sich Aurelia erst in diesem Moment und eine noch größere Traurigkeit umgab sie darüber. Sie seufzte. Diese Gedanken führten ins Nichts, was half es, sich Vorwürfe zu machen.

Albert war an einem dunklen Tag des Jahres gestorben. Für Aurelia hatte das eine Bedeutung. Sein Sterben und Tod warfen einen dichten Schatten auf sie.

Loin des yeux – près du cœur. Das hatte er ihr so oft gesagt und geschrieben. Nun fand sie nicht mehr seine Leidenschaft darin, sondern Trost. Weiter entfernt als im Tod konnte Albert ihren Augen nicht sein, er war für immer unsichtbar geworden, aber ihrem Herzen konnte er nah sein. Und sie seinem. Oder wenigstens seinem Wesen, denn ein Herz hatte er ja nicht mehr.

Mittlerweile war es um sie herum ganz finster geworden, Grablichter von verschiedenen Gräbern leuchteten. Sie verneigte sich vor Albert und wandte sich ab. Ich komme wieder, sagte sie. Ich komme wieder.

Lass von Nicolette, die aus fremden Landen hergebracht. Damit hast du nichts zu schaffen.

»Kommst du also heute Abend mit?«

»Was ist denn heute Abend?«

»Mensch, davon hab ich dir doch schon neulich erzählt!«, sagte Katrin genervt, »Heute ist die erste Probe.«

»Ach ja, aber hmm, ich weiß nicht, ich trau mich nicht so recht.«

»Du traust dich nicht?«

»Nein, ich habe überhaupt keine Erfahrung.«

»Ist doch egal! Es kommen oft Neue ohne Erfahrung. Vergiss nicht, es geht um Brahms!«

»Ja, ich weiß, aber trotzdem.«

»Ich hol dich ab. Um zehn vor acht bin ich bei dir.«

Aurelia packte Schulbuch und Hefte in ihre Tasche und schaute ihrer Freundin nicht hinterher. Halb war sie wütend, halb froh. Katrin konnte ausdauernd sein und offenbar war sie davon überzeugt, Aurelia einen Gefallen zu tun. Das Requiem mochte Aurelia sehr und eigentlich wollte sie es auch endlich einmal singen, aber in diesem Chor kannte sie außer Katrin niemanden und Katrin sang auch nicht dieselbe Stimme wie sie, das hieß, sie würde zwei Stunden neben irgendwelchen fremden Leuten singen. Und wahrscheinlich waren das auch alles alte Frauen, mit denen sie kein Gespräch haben könnte. Andererseits, es war eben Brahms.

Aurelia verabschiedete sich von Rosa, ihrer allerbesten Freundin, und lief schnell nach draußen zum Fahrradständer, ihre Schwester Emma wartete schon auf sie. »Wo bleibst du bloß, los komm, sonst sind wir die Letzten und können uns was anhören.« Emma warf ihre blonden Haare aus dem Gesicht. Um die beneidete Aurelia sie, sie selbst hatte kurze, irgendwie struppige dunkelblonde Haare, die ihre Mutter ihr immer im Bad schnitt. Schrecklich! Warum nur Emma lange Haare haben durfte, hatte sie nie verstanden. Auch Leonie bekam die Haare von ihrer Mutter geschnitten. Schon war Emma auf der Pedale, Aurelia kam kaum hinterher, aber der Weg war ohnehin nur kurz. Leonie war tatsächlich bereits zu Hause, der Tisch war fast fertig gedeckt, Aurelia trank schnell ein Glas vom kalten Tee, der immer in der Küche in einem braunen Krug aus Emaille stand. Ihre Mutter hatte Bratkartoffeln gemacht, die gab es oft, aber alle mochten sie auch besonders gern. Mit Zeichensprache, um ihre Eltern nicht im Gespräch zu stören (ihr Vater war da höchst empfindlich) fragte Aurelia Emma, ob sie gemeinsam einen Tee nach dem Essen tränken, aber Emma schüttelte den Kopf und grinste. Aha, wahrscheinlich kam Adrian dann gleich. Aurelia war enttäuscht, mit Leonie wollte sie ganz bestimmt nicht wieder Monopoly spielen, dann legte sie sich lieber auf ihr Bett. Da konnte sie am besten nachdenken und träumen. Sie träumte oft. Malte sich ihr Leben aus, durchlebte alles erneut, was in der Schule gewesen war; oder sie träumte von ihrem Studentenleben, denn sie sehnte sich danach, endlich das Elternhaus zu verlassen und zum Studium in eine aufregende Stadt zu gehen. So lange dauerte das gar nicht mehr. ZweieinhalbJahre waren es noch bis zum Abitur.

Heute war der Herbsthimmel hell. Sie schaute in den Himmel und ließ die Gedanken ziehen. Der ganze Nachmittag verging damit.

Aurelias Gedanken wanderten zu Christian. Sie schwärmte für ihren Handballtrainer und tat alles, damit sie ihm nah sein konnte. Sie knüpfte sich zum Beispiel die Schuhe wieder auf, damit sie einen Grund hatte, draußen vor der Turnhalle zu sein, wenn sie sah, dass sein Auto noch nicht da war. Dafür hatte sie auch eine ideale Beobachterposition ausfindig gemacht, von der aus sie Ausschau halten konnte, wann er kam, und von wo aus sie dann wie zufällig mit ihm gleichzeitig bei der Halle ankommen konnte. Es war ihr egal, was die anderen Mädchen dazu sagten, viele fanden Christian toll. Zweimal hatte sie Training, montags und mittwochs. Für Aurelia, wie bestimmt auch für viele andere, war der Mittwoch der Höhepunkt der Woche. Denn da trainierten sie in einer kleinen Halle und es kamen immer nur wenige. Mehr Zeit mit Christian. Manchmal gingen sie nach dem Training sogar alle zusammen etwas trinken.

Heute aber würde sie singen. Mittlerweile war sie einverstanden, dass Katrin sie abholen wollte. Um halb acht setzte sie sich auf das graue Sofa unten im Wohnzimmer, von dessen Lehne aus man einen Blick bis hinunter zur Kreuzung hatte und sehen konnte, wann die Verabredung ankommen würde. Um viertel vor acht sah sie Katrin auf ihrem Fahrrad um die Ecke biegen, zog sich schnell die Schuhe an und rannte in den Keller, damit sie die Garage öffnen konnte, bevor Katrin klingelte.

»Aha, wie schön! Da bist du ja schon. Komm, in zwölf Minuten fängt die Probe an und Herr Mattheis beginnt immer pünktlich!«

Albert Mattheis war der Chorleiter, anscheinend bekannt für seine Strenge, jedenfalls hatte Katrin davon erzählt, sie sang schon eine Weile in diesem Chor. Aurelia selbst kannte den Namen nur von ihrem Vater, der beruflich mit ihm zu tun hatte und nicht besonders gut von ihm sprach.

Sie kamen am Probenraum an, pünktlich, es war ein nüchterner Raum, eher dunkel als hell und wenig einladend. Gedrängt standen Stühle im Raum und vorn ein Klavier. Katrin stellte Aurelia Herrn Mattheis vor, der »Sehr erfreut« sagte und Aurelia bat, neben einer älteren Dame, die einen strengen Eindruck auf Aurelia machte, Platz zu nehmen. Diese Dame hieß Frau Becker und sprach kein Wort mit ihr. Überhaupt wurde wenig gesprochen, man folgte konzentriert den Anweisungen von Herrn Mattheis. Auf den ersten Blick erschien dieser Aurelia nicht besonders Furcht einflößend. Flink und wendig war sein Körper, er war mehr als einen Kopf größer als sie, sein Gesicht wurde beherrscht von unglaublich blauen Augen, die einen forschen Blick hatten, eine große Nase und ein schmaler Mund trugen aber auch dazu bei, dass man dieses Gesicht als markant bezeichnen würde. Ansonsten fiel Aurelia seine klare Diktion auf. Keine Füllwörter, keine Floskeln hatten Platz in seiner Sprache.

Die Probe war seltsam. Dauernd musste man auf dim oder non oder na singen, zum Lachen fand sie das gemeinsame Sprechen des Textes. Überdeutlich musste es sein, da war Herr Mattheis sehr streng. Und der Chor folgte willig, nur sie schien diese Übung komisch zu finden. Überhaupt war da eine große Ernsthaftigkeit. Fast hatte Aurelia das Gefühl, hier würde etwas zelebriert. Sie hatte sich die Probe ganz anders vorgestellt, von Brahms war nicht viel zu erahnen gewesen. So war sie froh, dass sie nach zwei Stunden endlich gehen konnte.

Katrin kam zu ihr. »Und? Wie fandest du es?«

»Naja, geht so. Es war alles so zerstückelt. Und die Frau Becker ist … langweilig.«

»Nächstes Mal kannst du dich dann ja neben Rike setzen, die ist nett.«

Albert Mattheis stand am Ende seines beruflichen Lebens. Zwei Jahre hatte er noch, dann war es auch genug. Nicht genug Musik, niemals, aber genug Gremienarbeit, genug Gottesdienste, die er zu spielen hatte, genug Ärger mit den Pfarrern, die immer die Liedauswahl beeinflussen wollten. Für sein Abschlusskonzert hatte er sich bereits ein besonderes Programm zusammengestellt, das sein Vermächtnis erstrahlen ließ. Er freute sich darauf. Wenige Menschen würden verstehen, was er aufführen wird und warum es genau diese Stücke sind. Dabei war das leicht zu verstehen, fand er. Es war seine Heimat. Der Genfer Psalter gehörte zu seiner Identität. Viele dachten, das wusste er, dass er mit einer gewissen Andersartigkeit kokettierte, sich spreizte, dass er einen bestimmten Habitus auslebte. Mittlerweile tat er das gelegentlich, um genau diese Menschen von sich fernzuhalten, indem er ihr Urteil bediente. Aber es war ganz anders. Von frühester Jugend an war er geprägt von dieser Musik. Vielleicht durch die räumliche Nähe zur Schweiz? Jedenfalls hatte er früh Kontakt bekommen mit dieser besonderen Musik. Er hatte ein Jungengymnasium besucht und dort im Knabenchor gesungen, der eine enge Beziehung zur Partnerschule, dem calvinistischen Gymnasium aus Genf, lebte. Und in einem Konzert dieser Schule hatte er diese Töne zum ersten Mal gehört. Sofort hatte er die Klarheit geliebt, die einfache Struktur. Und es sich zur Lebensaufgabe gemacht, diese Musik lebendig zu erhalten.

Im Chor kannten ihn viele. Aber längst nicht alle von denen, die die nächste Arbeitsphase mitsingen wollten. Brahms. Ein Deutsches Requiem. Das lockte viele an, die immer schon einmal Brahms singen wollten. Oder die eine der letzten Gelegenheiten wahrnehmen wollten, unter ihm zu singen. Er war so etwas wie eine Legende in dieser kleinen Stadt. Dass man zur Legende werden konnte, indem man sich präzise, mit ganzer Kraft und ohne Nachlassen und Rücksicht auf sich und andere – auf sich auch, oh ja – für die Arbeit einsetzte, hielt er für einen der Grundfehler dieser Zeit. Worum ging es denn? Doch darum, sich ganz in den Dienst der Menschen, in den Dienst Gottes zu stellen. Das war für ihn in Stein gemeißelt. Es zählte die Verbindlichkeit, das Produkt – nicht der gute Wille oder das Gefühl. Es war gut, dass er bald aller beruflichen Verpflichtungen ledig war. Andererseits fühlte er noch genug Kraft durch seinen Körper fließen und jetzt, so kurz vor der ersten Probe für das Requiem spürte er auch eine Aufregung, wieder einmal ein größeres und so bekanntes Werk auf das Pult zu legen.

Im Probenraum hatten sich bereits einige Sänger versammelt. Frau Becker war damit beschäftigt, Noten und Bleistifte aus dem Schrank zu holen. Sie begrüßte ihn, wie es seit so vielen Jahren ihre Art war: freundlich und nüchtern. Er wusste ihre Zuverlässigkeit zu schätzen und konnte in ihrer Sprödigkeit auch die Herzlichkeit sehen. Frau Krüger stürzte auf ihn zu, in ihrer Art das genaue Gegenteil Frau Beckers.

»Herr Mattheis, Herr Mattheis, stellen Sie sich vor, drei neue Personen haben sich für den Alt angemeldet. Wo sollen die denn bloß sitzen? Meinen Sie, neben mir wäre ein guter Platz? Oder vorne, damit Sie sie besser hören können? Ich kann das aber auch für Sie machen.«

»Liebe Frau Krüger, nehmen Sie sie gern unter Ihre Fittiche, ich vertraue Ihnen vollkommen.«

Er kam nicht dazu, seinen Probenplan und die Noten auf das Pult zu legen, ständig gab es Anliegen. Katrin, eine Schülerin des Musikgymnasiums, hatte auch jemanden mitgebracht, schau an, eine Maurer-Tochter, er konnte nicht umhin, sie einmal scharf zu mustern, sagte »Sehr erfreut«, bat sie, sich neben Frau Becker zu setzen, da stand schon der Vorsitzende des Chorvorstands vor ihm und wollte ein paar Termine besprechen, die in der Pause angesagt werden mussten. Und dann begann endlich die Probe.

»Meine Damen, meine Herren, ich freue mich, Sie zur ersten Arbeitsphase von Brahms zu begrüßen. Stehen Sie bitte auf, wir singen uns ein.« Zum Amüsement vieler, er bemerkte es wohl, schaute er immer in das Chorleitungsbuch, das mittlerweile verschlissen war von den unzähligen Proben, die er mit seiner Hilfe begonnen hatte. Als Erstes nahm er sich dann den zweiten Satz des Requiems vor. Natürlich zuerst einmal auf Silbe. Non oder Dim eignete sich besonders gut, wenn Töne gesucht wurden und Struktur hörbar gemacht werden sollte. Dann kam immer das Problem: das Singen mit dem Text. Gute Textverständlichkeit war ihm ganz wichtig, es ging nichts über Deklamation. Schließlich war das Requiem geistliche, verkündende Musik, da hing die Qualität besonders davon ab, dass die Botschaft überbracht wurde. Manche von den neuen Sängern schauten skeptisch, als sie mit allen zusammen gleichzeitig sprechen sollten: »Denn al-les Fleisch, es ist wwwie Grrrras. Das Komma muss man hören, noch einmal bitte. Fleisch, es ist wwwie Gras. Ja, aber doch keine Pause, in die man hineinplumpst. Einfach eine innere Zäsur, bitte noch einmal, die Herrschaften. Und jetzt weiter: Und alle Herrrrrlichkeitdes Menschen… Lauthalt, herrjeh, Lauthalt. Ich habe es doch vorgemacht. …keitdes Menschen, ja, so ist es gut. Und jetzt mit Tönen.«

Es war immer eine harte Arbeit, den Grund zu legen. Die Neuen fügten sich gut ein, er sah zwar kritische und fragende Blicke, aber das war nicht weiter schlimm. Das Maurer-Mädchen sang sogar recht schön. Auch die neuen Altistinnen waren zu gebrauchen. Eine gute Probe insgesamt. Erfolgreich war er, seinen Zeitplan konnte er exakt einhalten. Aber immer musste er »Hersehen« rufen. Warum das nötig war und die Menschen nicht von sich aus Kontakt zum Dirigenten hielten, wusste er nicht. Es plagte ihn. Es schien nicht zu ändern zu sein. Nach der Probe fragte er Frau Becker und Frau Krüger nach ihren Eindrücken der neuen Sängerinnen. Männer bräuchte der Chor viel dringender. Beide waren wohl zufrieden mit den Leistungen der Damen. Und er auch. Überhaupt mit dem Stimmmaterial des Chores, damit konnte er arbeiten. Er wünschte allen ein ruhiges Wochenende und verabschiedete sich bald.

Zu Hause saß Henriette in ihrem Lehnstuhl, ein Buch in den Händen. Natürlich, sie war eine Nachteule. Sie hatte einen Tee bereitet und Obst geschnitten. Sie wusste, dass Albert nach den Proben etwas Zucker brauchte. »Na, wie war die erste Probe?«, fragte sie und sah ihn zärtlich an.

»Zufriedenstellend. Und Brahms klingt auch im Anfangsstadium gut, ist mir nah gegangen. Du weißt, dass das Altern mir sehr bewusst ist.«

»Ach, Albert, mit dem Sterben hat es noch eine lange Zeit. Du lebst und machst uns glücklich und das möge eine lange Weile so bleiben. Gab es denn Heiteres? Es haben sich bestimmt viele gefreut, das Requiem zu beginnen?«

»Nein, Heiteres nicht. Es war eher anstrengend. Und dann ist da auch neu gekommen die Tochter des Kollegen Maurer, ob das glattgeht?«

»Was soll denn da passieren? Ich verstehe die Frage nicht.«

»Nun, der Maurer ist mir ja nicht so grün. Erinnerst du dich nicht? Aber du hast recht, was soll da passieren. Außerdem war sie mir sympathisch. Trotz ihrer kritisch kühlen Blicke.«

»Na siehst du. Sie ist nicht er. Gib ihr eine Chance. Sippenhaft, das ist etwas für Ungerechte, oder?« Henriette wechselte das Thema, fragte ihn, was morgen anstünde. Während er antwortete, dass er in den Wald gehen wolle und dass sie morgen eingeladen seien, dachte er, dass sie seine leisen Bedenken nicht ernst genommen hatte. Natürlich, das Maurer-Mädchen war nur eine Chorsängerin in einem Chor, den er nur noch zwei Jahre lang leiten würde, aber sie war nun einmal die Tochter des Kollegen, mit dem er sich zerstritten hatte, der ihn hart angegangen war, andere Kollegen gegen ihn aufgebracht hatte, was sehr verletzend für ihn gewesen war, und dem er fortan aus dem Weg ging. Ob er jedes Mal, das er das junge Mädchen sah, an den Kollegen denken musste? Das wollte er wirklich nicht. Aber zu grübeln half auch nicht.

»Ich bin müde«, sagte Herr Mattheis schließlich, »Ich lege mich hin. Kommst du auch?«

»Geh du schon einmal vor, ich lese dieses Kapitel zu Ende und komm dann nach.« Sie streckte ihren Arm nach ihm aus, er kam zu ihr und küsste sie zur Nacht.

Am Mittwoch, als Aurelia zum Training kam, wartete Christian auf sie. Er lehnte an seinem Auto, als er sie kommen sah, stieß er sich ab und eilte auf sie zu.

»Hallo Aurelia, ich freu mich dich zu sehen!«

»Hallo Christian«, sagte Aurelia, »du hast auf mich gewartet? Was gibt’s?« Aurelias Herz schlug aufgeregt.

»Ich will dich als Co-Trainerin für das Kindertraining werben. Ist freitags von 16 Uhr bis 18 Uhr und du bekommst 12 DM pro Stunde. Bist du dabei?«

»Was muss ich denn dafür tun? Kann ich das?«

»Klar kannst du das, du bist die Assistentin von Uli, der leitet das Training. Du korrigierst Haltungen, zeigst Bewegungen, motivierst. Ist ganz leicht. Ich glaub, du würdest das gut machen.«

»Oh ja, das klingt gut. Ab wann wäre das?«

»Du kannst übermorgen anfangen.«

»Super, das ist toll! Danke, dass du an mich denkst!« Sie jauchzte innerlich. Wenn sie sich geschickt anstellte, konnte sie irgendwann auch Christian assistieren? Oder irgendwie anders mit ihm zusammenarbeiten? Sie hatte davon gehört, dass man Trainerscheine machen konnte. Das wäre doch etwas für sie?

Donnerstag erzählte sie Katrin davon. Sie hatte nämlich die Idee, nach dem Training die Zeit bis zum Chor bei Katrin zu verbringen, die auf dem Weg zwischen Halle und Gemeindehaus wohnte.

»Ja, klar, du kannst kommen!«, sagte Katrin nur. Ihre Freundschaft war abgekühlt in den letzten Wochen, ob es an Aurelias Schwärmerei für Christian lag oder daran, dass Katrin plötzlich ehrgeizig in der Schule geworden war, wusste Aurelia nicht, vielleicht würde die gemeinsame Zeit freitags sie wieder näher zusammenbringen.

Tatsächlich hatten sie am Freitag, als Aurelia nach ihrem Training Katrin besuchte, ein gutes Gespräch. Sie fühlte auch wieder Ansätze der alten Verbundenheit, die für sie in den letzten Wochen in den Hintergrund getreten war.

Auf dem Weg zur Probe sagte Katrin bestimmt: »Heute setzt du dich aber neben Rike! Dann wird es dir gleich viel besser gefallen.«

Rike war ein wenig älter, sie studierte Architektur. Sie hatte dunkle, lebendige Augen und lud in ihrer offenen, fröhlichen Art Aurelia gleich ein, sich neben sie zu setzen. Statt in der dritten saß sie nun in der ersten Reihe, das war ihr eigentlich nicht so recht, aber sie wollte nichts einwenden. Wenn die anderen Stimmen probten, flüsterten sie ein wenig, aber Herr Mattheis schaute mehrfach scharf herüber, da raunte Rike: »Nach der Probe gibt es ein Treffen in der Kneipe nebenan, wir haben da einen Stammtisch, bleib doch ein wenig, dann können wir in Ruhe quatschen.«

Tatsächlich gefiel Aurelia die Probe viel besser. Auch wenn sie sich beglotzt fühlte von Damen aus dem Alt, aber sie guckte einfach zurück. Es machte Freude, neben und mit Rike zu singen, die sicher sang und auch Herrn Mattheis gegenüber offensichtlich frei und selbstbewusst auftrat. Das gefiel Aurelia, denn die Atmosphäre der Ehrfurcht, die sonst in dem Chor herrschte, war ihr unangenehm. So etwas mochte Aurelia nicht. Rike anscheinend auch nicht. Diese Woche wurde zunächst der Mittelteil des zweiten Satzes geprobt und der Chor durfte ihn sogar zum Abschluss der Übungen einmal ganz singen. Oh, Brahms, da war er! Er schwebte durch Aurelias Herz. So sollte es am liebsten weitergehen.

»Sehr gut hier vorne!«, sagte Herr Mattheis nach dem Abschlag.

»Aurelia, er meint dich!« Rike stieß sie in die Rippen. Sie hatte Blick und Geste nicht gesehen, schaute auf Rikes Stoß hin zu Herrn Mattheis, der noch einmal kurz aufblickte, und sie wurde rot. Sie schämte sich ein wenig, war aber auch stolz auf das Lob.

Es ging dann aber nicht so weiter. Herr Mattheis arbeitete detailversessen, die nächste Phase beschäftigte sich damit, dass der Chor wieder sprechen lernen sollte, wie schon in der ersten Probe. Ihr fiel Loriot ein: Mein Sohn ist sechzehn. Er sitzt und spricht. Sie lachte innerlich, konnte sich aber auch ein sichtbares Lachen nicht verkneifen, als der Chor Sprachübungen machen musste, unter vorheriger Anleitung in überdeutlicher Aussprache. Ja, ddder Gggeissstttt schprichttt Dddass [zzzzz]ie rrrruhennn fffonn ihrrerr Arrbbeittt

»Herrschaften, es ist unglaublich wichtig, dass Sie differenzieren zwischen stimmhaften und stimmlosen Verschlusslauten. Weiß hier jeder, wovon ich spreche? Ja, nicht wahr, Sie sind ja gebildet, wenn nicht, hören Sie mir einfach aufmerksam zu und machen mir alles genau nach, dann machen Sie alles richtig. Und die Klinnggerrr bitte klingen lassen, kosten Sie sie aus. Also bitte schön!« Alle raunten im Takt die Worte, gaben sich die schönste Mühe und artikulierten unter größter Anstrengung. Es zischte, spritzte, knallte, tönte und summte nur so, dass es eine Freude war. Hätte sein können. Denn Herr Mattheis war mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Zweimal musste diese Übung wiederholt werden, Aurelia versuchte mitzumachen, aber sie hatte einen Lachanfall. Keiner, auch Rike nicht, konnte offenbar ihre Erheiterung verstehen. Sie wurde allseits missbilligt und unter den strengen Blicken aus allen Richtungen verstummte auch Aurelias Lachen.

Nach der Probe aber war dann in dem Lokal durchaus eine heitere, lockere Atmosphäre, Aurelia war fast überrascht. Das hätte sie den vielen älteren Menschen, die während der Probe mit ernsten Gesichtern dasaßen, gar nicht zugetraut. Rike führte Aurelia in die Runde ein und setzte sich dann gemeinsam mit ihr auf die Bank. Es waren alle versammelt, die Lust hatten, ein wenig zusammenzusitzen, hier wurde die Probe nachbesprochen, aber auch über alles Mögliche geredet, das Leben, den Alltag, die Hobbys, die Kinder. Aurelia fühlte sich wohl und verstand nicht, dass Katrin die Kneipe nicht mochte, wie sie sagte.

Albert war für eine kurze Zeit zu der Runde gestoßen. Man sah es immer gern, wenn er kam. Selten nur blieb er länger, selten auch kam er nicht. Es war sein Chor und die Menschen waren ihm über all die Jahre so lieb geworden. Mittlerweile konnte er die Mentalität dieser Region besser verstehen und mit ihr zurechtkommen. Das Maurer-Mädchen hatte er heute auch entdeckt, sieh an. Rike hatte sie unter ihre Fittiche genommen, das sah er gern. Auf dem Weg zu dem Platz, den man für ihn freigehalten hatte, ging er an dem Maurer-Mädchen, wie hieß sie doch? er musste Frau Becker fragen, vorbei und sagte von oben auf ihren Schopf sprechend: »Das fandst du vorhin lustig, was?« Sie drehte sich zu ihm, das Gesicht ganz emporgehoben, und lachte ihn aus fröhlichen Augen an: »Ja, das fand ich sehr lustig!« und drehte sich lachend wieder zu Rike. Er war eigentümlich berührt davon und fragte sich auf seinem Heimweg im Auto, ob sie sich wohl einfügen oder ob sie übermütig und frech sich verhalten würde. Beides schien in ihrem Wesen zu liegen.

Ein paar Wochen später stand am Freitag das Handballturnier an. Aurelias Verein war der Ausrichter, sie hatte gern zugesagt zu helfen, sie hoffte, auch Christian dort zu sehen. Aber er kam nicht. Schade. Sie hatte aber genug zu tun, um nicht die Enttäuschung spüren zu müssen. Ihre Aufgabe war es, die Kinder zu betreuen, sie zu beruhigen, sie zu motivieren; nebenbei sollte sie auch in der Organisation helfen, Schilder kleben, Listen besorgen und ausdrucken. Als sie zur Halle kam, war schon viel Getöse. Etwa zehn Vereine aus der Region hatten sich angemeldet, viele Kinder und Eltern hatten Schwierigkeiten, die richtige Gruppe zu finden. Auf der Suche nach ihren Schützlingen lief Aurelia einem Jungen vor die Brust, den sie aus der Schule vom Sehen kannte, er war eine Stufe über ihr.

»Hey, ich wusste gar nicht, dass du auch Handball spielst«, sagte er.

»Ich von dir auch nicht.«

»Du bist Aurelia, oder? Ich bin Raphael.«

»Woher weißt du?«

»Wir gehen auf dieselbe Schule, hallo? Außerdem kenn ich deine Schwester Emma. Lass uns doch später etwas trinken gehen, jetzt haben wir hier zu tun, was meinst du? Treffen wir uns nach dem Turnier?« Mit einem netten Lächeln tauchte er im Gewühl unter.

»Äh, vielleicht, mal sehen.«

Das hörte Raphael schon nicht mehr. Aurelia war verdattert, sie hatte vorher noch kein Wort mit Raphael gewechselt, nicht mal Blicke auf dem Schulhof getauscht, und jetzt wollte er sich direkt mit ihr treffen. War das eine blöde Anmache? Sie fand ihn eigentlich sympathisch, aber sie wollte lieber zum Chor gehen. Gehen trafs heute auch, ihr Rad war kaputt, hatte einen Platten. Aber das kam später – jetzt war erst einmal der Sport dran.