Wie Himbeeren im Sommer - Cathy Bramley - E-Book
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Wie Himbeeren im Sommer E-Book

Cathy Bramley

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Beschreibung

Lass alles hinter dir und finde dein Glück

Die junge Freya hangelt sich von einem Job zum nächsten. Als sie erfährt, dass ihr Onkel Arthur einen Zusammenbruch hatte und Hilfe auf seiner verwunschenen Farm braucht, ändert sich alles. Kurz entschlossen macht Freya sich auf zum Ort ihrer Kindheit, einem verzauberten Stück Land, das sie insgeheim sehr vermisst. Schnell stellt sich heraus, dass der Schwächeanfall ihres Onkels das kleinste Problem ist. Freya folgt ihrem Herzen und beschließt, die Farm zu retten. Und kommt dabei auch ihrem eigenen Glück auf die Spur …

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ZUM BUCH

Freya liebt ihren Job als Kellnerin. Nichts macht ihr mehr Spaß, als ihren Gästen den perfekt geschäumten Kaffee oder duftende Scones zu servieren. Doch als sie erfährt, dass ihr Onkel Arthur einen Zusammenbruch hatte und Hilfe auf seiner Farm braucht, ändert sich alles. Kurz entschlossen macht Freya sich auf zum Ort ihrer Kindheit, einem verzauberten Stück Land, das sie insgeheim sehr vermisst. Schnell stellt sich heraus, dass der Schwächeanfall ihres Onkels das kleinste Problem ist. Freya folgt ihrem Herzen und beschließt, die Farm zu retten. Und kommt dabei auch ihrem eigenen Glück auf die Spur …

ZUR AUTORIN

Cathy Bramley lebt mit ihrem Mann, ihren beiden Töchtern und ihrem Hund in einem kleinen Dorf in Nottinghamshire.

Sie war schon immer eine Leseratte und hat mit der Taschenlampe oft unter der Bettdecke gelesen (damit ist zum Glück Schluss, seit sie von ihrem Mann einen Kindle mit Beleuchtung bekommen hat). Nachdem sie achtzehn Jahre lang eine eigene Marketingagentur geleitet hat, macht sie neuerdings Karriere als Autorin unterhaltsamer romantischer Komödien wie Conditional Love und Ivy Lane.

Cathy Bramley freut sich immer über Feedback von ihren Leserinnen. Besuchen Sie ihre Webseite www.CathyBramley.co.uk, oder kontaktieren Sie sie via Facebook (Facebook.com/CathyBramleyAuthor) oder Twitter (twitter.com/CathyBramley).

CATHY BRAMLEY

WIE HIMBEEREN

IM SOMMER

ROMAN

Deutsch von

Ursula C. Sturm

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel APPLEBY FARM.

Deutsche Erstausgabe 08/2016

Copyright © 2015 by Cathy Bramley

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Barbara Häusler

Umschlaggestaltung: Eigele Grafikdesign, München

Umschlagabbildung: © FinePic, München.

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-17961-8V003

www.heyne.de

Für meine geliebte Nanna Mary

GLÜCK IM UNGLÜCK

Kapitel 1

Die Tür schwang auf, die Glocke darüber bimmelte, und ein angenehm kühler Luftzug wehte von draußen herein, als ein paar Mädchen im Teenageralter das Café verließen.

»Adios, amigas!«, rief ich ihnen nach. »Ciao, bellezze!«

Es war Gründonnerstag. Die Kinder hatten Schulferien, und die Frühlingssonne hatte uns den ganzen Tag über einen steten Zulauf beschert. Jetzt, gegen vier, wurde es ruhiger, und das war auch ganz gut so, denn nachdem ich unsere neue Angestellte, die sechzehnjährige Amy, in die hohe Kunst der Zubereitung von Espresso, Cappuccino und Latte Macchiato eingeweiht hatte, glich der Bereich hinter dem Tresen einem Schlachtfeld – überall Kaffee- und Milchpfützen, dazwischen haufenweise Tassen, Löffel und Kännchen. Auch an uns hatte die vergangene Stunde Spuren hinterlassen: Meine roten Haare waren infolge mehrerer Dampfstöße aus der Kaffeemaschine krisselig wie die eines Pudels, und Amys Stirn zierte, gleich einer dritten Augenbraue, ein länglicher Kaffeefleck.

Dafür durchzog das himmlische Aroma von frischem Kaffee den Raum, und Amy beherrschte allmählich die Bedienung der Maschinen. Ich sah ihr über die Schulter, während sie Milch aus dem Aufschäumkännchen in ein hohes Glas goss.

»Perfekt!«, rief ich. »Und nicht vergessen: Immer schön langsam, damit der Schaum nicht zusammenfällt.« Puh. Streckenweise hatte ich befürchtet, sie würde es nie lernen. Mit zitternden Händen stellte Amy das Milchkännchen ab und atmete erleichtert auf.

»Na, was meinst du?«, fragte sie und biss sich auf die Unterlippe, während wir ihren ersten Latte Macchiato beäugten.

Ich lächelte sie an. »Ich glaube, langsam hast du den Dreh raus.«

Und keine Sekunde zu früh, denn gleich hatte ich Feierabend, und dann musste sie allein hinterm Tresen die Stellung halten. Ich legte ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie.

»Jetzt musst du nur noch die Geschmacksnerven der Chefin überzeugen«, sagte ich und deutete mit dem Kopf in die hinterste Ecke des Cafés, wo Shirley, über einen Stapel Rechnungen gebeugt, an einem kleinen Tisch saß. Ihr linkes Bein lagerte auf einem Stuhl – eine Angewohnheit, die sie beibehalten hatte, nachdem sie sich im Herbst den Knöchel gebrochen hatte.

Wegen dieses Knöchels war ich hier gelandet. Ich bin mit Shirleys Tochter Anna befreundet, und als diese mich vor ein paar Monaten bat, im Shenton Road Café auszuhelfen, bis ihre Mutter wieder einsatzfähig war, nahm ich das Angebot dankend an. Von meinem damaligen »Promotionjob« in Manchester (Flyer und Gutscheine vor Supermärkten verteilen) hatte ich die Nase nämlich längst voll. Seither wohne ich in Annas Gästezimmer in Kingsfield, einer Kleinstadt in der Grafschaft Derby, und arbeite im Shenton Road Café.

Das hohe Glas schepperte leise auf der Untertasse, während Amy im Schneckentempo die paar Meter zu Shirley zurücklegte. Ich beobachtete sie dabei so gespannt wie einen Seiltänzer bei der Überquerung der Niagarafälle.

Shirley nippte an dem Getränk und hob dann anerkennend das Glas. »Sehr lecker. Gut gemacht, ihr zwei. Amy, hiermit bist du offiziell befugt, die Kaffeemaschine zu bedienen. Und zu deiner Information: drei Tütchen Zucker für mich.«

»Ja! Amy for president!«, johlte ich und reckte die Faust, während Amy mit verlegen gesenktem Kopf und verschränkten Beinen dastand.

Ich machte einen Knicks in Richtung Shirley, wobei ich mit den Fingern einen imaginären Rocksaum anhob. »Tja, dann kann ich ja jetzt den Hut nehmen.«

Shirley schüttelte glucksend den Kopf und widmete sich wieder ihren Unterlagen. War es tatsächlich so? Hatte sich mein Job hier erledigt?

Auf einmal schlug mir das Herz bis zum Hals. Vielleicht war es wirklich wieder einmal an der Zeit für eine berufliche Veränderung. Nachdenklich stierte ich auf Shirleys braunen Haarschopf, bis ich merkte, dass mich Amy einigermaßen verwundert musterte.

Ich schüttelte den Kopf, deutete auf den Mopp und trug ihr auf, die Pfützen auf dem Boden aufzuwischen, während ich mich daranmachte, den Tisch abzuräumen, an dem vorhin die Mädels gesessen hatten. Du lieber Himmel. Ich war feuerrot angelaufen bei meinen reichlich unvorhergesehenen Überlegungen, was mir wohl deutlich anzusehen war, da ich normalerweise weiß wie ein Albino bin.

Es ist doch immer dasselbe mit dir, Freya Moorcroft. Nie hältst du es länger als ein paar Monate irgendwo aus. Und was ist eigentlich mit Duweißtschonwem? Ich dachte, du LIEBST ihn?

Ich blies entnervt die Backen auf und stapelte geräuschvoll die Teller, um die bissigen Stimmen in meinem Kopf zu übertönen. Shirleys Café boomte, und das war – ohne prahlen zu wollen – zu einem guten Teil mir zu verdanken. Als ich vor einem halben Jahr hier anfing, gab es nur Pulverkaffee, und auf der Karte stand kaum mehr als einige Ofenkartoffel-Variationen. Kein Wunder also, dass sich nach 14 Uhr kaum je Kundschaft in das Café verirrte.

Mittlerweile steht hinter dem Tresen neben einem Toaster für die Zubereitung leckerer Panini eine schicke verchromte Kaffeemaschine, deren Dampfdüse faucht wie ein erboster Schwan, und das kostenlose WLAN (ebenfalls eine Empfehlung von mir) kommt vor allem bei den jungen Gästen sehr gut an. In Teenagerkreisen gelten wir inzwischen als In-Schuppen, sodass der Laden nach Schulschluss täglich eine gute Stunde lang aus allen Nähten platzt.

Der Absatz von heißer Schokolade und Smoothies hat sich verdoppelt, und nachmittags kommen die Leute in Scharen, um Tee zu trinken.

Die vergangen paar Monate waren ganz schön hektisch, aber genau so mag ich mein Leben. Je quirliger, desto besser. Shirley hatte mir mehr oder weniger freie Hand gelassen, nachdem ich sie davon hatte überzeugen können, dass ihr Café einer Rundumerneuerung bedurfte, und deren Umsetzung hatte mir großen Spaß gemacht. Aber auch privat lief es hervorragend. Ich genoss das Zusammenleben mit Anna sehr und hatte viele neue Freundschaften geschlossen. Und vor allem hatte ich vor vier Monaten meinen Freund Charlie kennengelernt. Ach, Charlie …

Wann immer ich an ihn dachte, bekam ich den verträumten Gesichtsausdruck dieser Frauen in der Werbung, wenn sie sich einen Löffel Joghurt in den Mund schieben. Charlie ist groß und durchtrainiert und hat tolle blaue Augen und ein umwerfendes Lächeln. Und als würde das noch nicht genügen, ist er auch noch Feuerwehrmann.

Mein Leben in Kingsfield gestaltete sich also ziemlich annehmbar.

Aber jetzt … Ich hielt inne und starrte aus dem Fenster. Mein Blick schweifte über die Läden auf der gegenüberliegenden Straßenseite, einschließlich des Pubs an der Ecke und der am baumlosen Straßenrand geparkten Autos. Seit Oktober immer mehr oder weniger derselbe Ausblick. Und meine Arbeit konnte ich inzwischen quasi mit verbundenen Augen erledigen. Einhändig und im Kopfstand.

Amy dagegen fehlte es noch an der nötigen Routine, wie ich feststellen musste, während ich sie verstohlen bei der Beseitigung des Chaos hinter dem Tresen beobachtete.

Ich brachte ihr das schmutzige Geschirr. »Na, wie war dein erster Tag?«, erkundigte ich mich. »Kannst du dir vorstellen, hier zu arbeiten, oder hab ich dich mit den ganzen verschiedenen Kaffeesorten verschreckt?«

»Ach, als Übergangsjob ist es ganz okay«, erwiderte sie. »Ich will damit ja bloß die Zeit bis zur Uni überbrücken.«

»Ah ja.« Es gibt doch nichts Ernüchternderes, als von einer Sechzehnjährigen darauf hingewiesen zu werden, dass die Tätigkeit, mit der man sich seine Brötchen verdient, für sie nur die unterste Sprosse auf der Karriereleiter ist.

»Entschuldige«, murmelte sie angesichts meiner wohl etwas konsternierten Miene und tauchte die Hände ins Spülwasser. »Das ist jetzt irgendwie falsch rübergekommen. Ich meine, es ist echt überhaupt nichts dagegen einzuwenden, in einem Café …« Sie verstummte und beugte sich noch tiefer über das Spülbecken.

Ich lachte. »Hey, kein Problem. Ist doch gut, wenn du weißt, was du mit deinem Leben anfangen willst. Ich hatte zwar den erforderlichen Notendurchschnitt für die Uni, aber keine Ahnung, was ich studieren sollte.« Ich zuckte die Achseln. »Also hab ich nach dem Abschluss ein Jahr Pause eingelegt, um ein bisschen rumzureisen.«

Aus dem einen Jahr waren mittlerweile zehn geworden.

Tante Sue sagt immer, ich würde eben »an der Universität des Lebens studieren«. In den Augen meiner Mutter dagegen ist mein beruflicher Werdegang eine totale Vergeudung der teuren Privatschulausbildung, die man mir hat angedeihen lassen.

Amy warf einen Blick über die Schulter zu Shirley hinüber, dann sah sie wieder zu mir. »Ich will hier arbeiten, bis ich meinen Schulabschluss in der Tasche habe. Dann möchte ich Architektur studieren und danach nach London ziehen. Das Studium dauert einschließlich Praxisjahr und allem Drum und Dran mindestens sieben Jahre. Da werd ich jeden Cent brauchen.«

»Verstehe. Tja, dann viel Glück!« Ich schluckte, lächelte flüchtig und suchte schleunigst das Weite.

Du meine Güte. Das Mädel ist noch nicht einmal mit der Schule fertig und hat bereits einen Zehnjahresplan aufgestellt. Ich dagegen fühle mich schon toporganisiert, wenn ich mir einen Zehntagesplan zurechtgezimmert habe. Ich bin ein richtiger Karriereschmetterling. Ich kann nicht anders. Wann immer ich einen neuen Job antrete, nehme ich die Herausforderung mit Handkuss an und stürze mich mit Feuereifer in die Arbeit. Und sobald ich meine Tätigkeit aus dem Effeff beherrsche, verspüre ich aus unerklärlichen Gründen den Drang, mir etwas Neues zu suchen.

Mein Vater findet, es mangelt mir an Ehrgeiz und Durchhaltevermögen. Onkel Arthur dagegen meint, ich müsste nur meine »Nische« finden, dann stünde einer steilen Karriere nichts mehr im Weg. Ich kann nur hoffen, er hat recht; alles andere wäre zu deprimierend.

Zu den Highlights meines bisherigen beruflichen Werdegangs zählen Jobs wie Apfelpflückerin in Neuseeland, Pferdepflegerin in Dubai, Zimmermädchen in einem Wintersportort in Österreich und Kellnerin in Cornwall (achtzehn Monate lang – ein persönlicher Rekord, der auf das Konto eines Rettungsschwimmers namens Ivan geht). Ganz kurz habe ich auch als Führerin in einem Bleistiftmuseum gearbeitet. Und jetzt bin ich wie gesagt Kellnerin im Shenton Road Café in Kingsfield.

All diese unterschiedlichen Erfahrungen haben mich auf irgendetwas vorbereitet, davon bin ich überzeugt. Ich muss nur noch herausfinden, worauf. Ich ließ mich gegenüber von Shirley auf einen Stuhl plumpsen und überlegte, ob ich ihr sagen sollte, dass ich in Erwägung zog, mich beruflich neu zu orientieren. Oder sollte ich meine Überlegungen vorerst lieber für mich behalten?

»Dir ist schon klar, dass du hier dein Talent verschwendest, oder?«, stellte Shirley fest, ohne den Kopf zu heben.

Ich setzte mich etwas anders hin. Tja, man sollte Shirley Maxwell eben nie unterschätzen. Sie konnte Gedanken lesen, wenngleich meine Gedankengänge doch eine Spur bescheidener gewesen waren. Aber eine neue Herausforderung käme mir jetzt in der Tat wie gerufen.

»Was soll das heißen?«, fragte ich, um Zeit zu gewinnen.

Shirley hob den Kopf, legte den Stift ab und seufzte in »Was soll ich bloß mit dir machen?«-Manier.

»Du bist doch ein kluges Mädel. Du könntest eine eigene Firma gründen, wie meine Tochter. Ein Franchise-Unternehmen wie Starbucks oder …« Mit gespielter Hochmütigkeit hob ich eine Augenbraue. »Du willst mich wohl loswerden, wie?«

»Ach, Freya«, sagte sie und verpasste mir einen Klaps auf den Arm. »Du hast die Speisekarte überarbeitet und den lästigen Bürokram umstrukturiert, und jetzt arbeitest du sogar schon neue Mitarbeiterinnen ein. Ich bin dir unendlich dankbar dafür, dass du so viel Energie in mein Café gesteckt hast.« Sie beugte sich über den Tisch. »Aber ich kann dich nicht angemessen dafür bezahlen, und das belastet mich. Früher oder später willst du dir bestimmt ein Häuschen kaufen und eine Familie gründen …«

»Wohlstand bedeutet mir nichts, Shirley«, unterbrach ich sie. »Ich kenne genügend Menschen, für die sich alles nur um Geld dreht statt um Glück.« Meine Eltern zum Beispiel. Ich schauderte. »Und ich kann dir versichern, dass ich da anders bin. Ich halte es mit den Beatles: All you need is love.« Ich grinste sie an, und sie verdrehte die Augen.

»Und ich mit Abba: Money, Money, Money«, konterte sie, und wir lachten.

»Du bist ein hoffnungsloser Fall, Freya Moorcroft.« Sie seufzte erneut.

Ich ergriff über den Tisch hinweg ihre Hand. »Danke. Es ist ein schönes Gefühl, geschätzt zu werden.«

»Sei doch mal ehrlich zu dir selbst, Freya – du hast hier keine Zukunft.«

Die Türglocke ersparte mir weitere Diskussionen. Ich drehte mich um und erblickte einen in rosaroten Samt gehüllten Hintern, der mir nur allzu bekannt vorkam.

»Gemma!«, rief ich und sprang erleichtert auf, um meiner Freundin die Tür aufzuhalten, während sie ihren Kinderwagen rückwärts über die Stufe am Eingang hievte.

»Für dieses blöde Ding braucht man echt einen Lkw-Führerschein«, knurrte sie.

»Oje. Setz dich, ich bring dir gleich mal eine Tasse von diesem übel riechenden Beruhigungstee.« Ich drückte ihr einen Kuss auf die Wange und spähte dann in den Kinderwagen. Yippie, Parker war wach! Komm kuscheln, Kleiner!

»Ehrlich gesagt bin ich nur kurz zum Umtapezieren hier«, gestand Gemma und steuerte auf direktem Wege die Toilette an. »Ich hoffe, das ist okay. Seine Majestät haben die Windel gestrichen voll, und allmählich wird die Geruchsbelastung selbst für meine Nase zu heftig, dabei ist meine Toleranzgrenze in dieser Hinsicht echt hoch.«

Shirley verzog das Gesicht. »Igitt! Zu viel Information, Gemma.« Ihre Toleranzgrenze ist in vielerlei Hinsicht äußerst niedrig, sei es in puncto Gerüche, Schmerz, laute Musik oder gelbes Essen … Einmal wäre sie beim Anblick einer zerdrückten Banane fast in Ohnmacht gefallen. Sie ekelt sich sogar vor Ofenkartoffeln, die eine Spur zu gelb ausgefallen sind.

»Und du willst wirklich nicht mal ein klitzekleines Tässchen Tee?«, fragte ich enttäuscht. Ich war zwar in einer halben Stunde mit Charlie in dessen Schrebergarten verabredet, hatte Gemma aber seit Parkers Taufe nicht mehr gesehen und brannte darauf, zu hören, was es Neues bei ihr gab. Wenn möglich mit Parker auf dem Schoß.

Gemma hielt inne. »Also gut, einen Kamillentee, bitte. Falls ihr so was habt.«

Fünf Minuten später saß ich ihr mit dem frisch gewickelten Knirps auf dem Schoß gegenüber, während Gemma in einer hässlichen weißen Tasse einen Teebeutel hin und her schwenkte.

Das ist einer der wenigen Punkte, in denen Shirley und ich uns nicht einigen konnten: Ich bin ein Fan von Vintage-Porzellan, für sie dagegen muss Geschirr billig, praktisch und spülmaschinenfest sein. Sie war regelrecht blass geworden bei der Vorstellung, die Regale mit einem bunten Sammelsurium an Tassen und Tellern in Pastelltönen zu füllen, und sie hatte sich durchgesetzt.

Gemma und ich lächelten uns an, während Parker, leise vor sich hinbrabbelnd, die mit Stoff bezogenen knisternden Seiten eines Babybuchs befingerte.

»Sollen wir uns den letzten hausgemachten Scone teilen?«, schlug ich ihr vor. Ich backe die Scones höchstpersönlich, mit Sultaninen, nach einem Rezept von Tante Sue. Sie sind herrlich locker und leicht. Die Mischung macht’s – wenn man sich bei der Dosierung der Zutaten vertut, erhält man ein Blech potenziell tödlicher Wurfgeschosse.

Gemma schüttelte ihre blonden Locken und tätschelte ihren Bauch, der erstaunlich flach war in Anbetracht der Tatsache, dass Parker erst vier Monate alt war. Beim Anblick ihrer perfekt manikürten Nägel schob ich verschämt die Hände in die Jeanstaschen. »Ich fürchte, ich muss passen. Es sei denn, ihr habt Clotted Cream.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nur Schlagsahne.« Etwas lauter fügte ich hinzu: »Siehst du, Shirley, es gibt durchaus eine Nachfrage nach clotted cream.«

Das war der zweite Streitpunkt zwischen meiner Chefin und mir gewesen.

»Nur über meine Leiche. In meinem Café wird es dieses klumpige gelbe Zeug niemals geben«, entgegnete Shirley und schüttelte sich.

»Okay, dann lass ich’s lieber. Ist wahrscheinlich besser so«, sagte Gemma und zog die Nase kraus. »Was hast du eigentlich fürs Osterwochenende geplant?« Ab Karfreitag war das Café geschlossen, ich hatte also frei, einschließlich der darauffolgenden Woche. Es war mein erster Urlaub, seit ich angefangen hatte, hier zu arbeiten.

»Nicht viel.« Ich zuckte die Achseln. Vielleicht hätte ich mir irgendetwas vornehmen sollen. »Ich hoffe auf ein paar faule Tage mit Charlie.«

»Klingt herrlich.« Gemma seufzte. »Das kann ich dieses Wochenende wohl vergessen – mein Herzallerliebster hat nämlich beschlossen, im Garten den Rasenmäher zu zerlegen, und meine fünfzehnjährige Tochter scheint zu glauben, dass sie wegen ihrer Prüfungen die gesamte Familie terrorisieren muss.«

Ich strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Gib Bescheid, wenn ich ein paar Stunden auf Parker aufpassen soll.«

Sie bückte sich nach dem Spielzeug, das der Kleine gerade hatte fallen lassen.

»Nett von dir, danke, Freya. Hörst du etwa allmählich deine biologische Uhr ticken?«

Ich überlegte.

»Ja und nein«, erwiderte ich. »Noch bin ich nicht so weit, aber irgendwann will ich definitiv Kinder. Und dazu ein Cottage auf dem Land, ein Pferd und einen Hund. Aber vorerst genügt es mir vollauf, wenn ich mir hin und wieder Parker ausborgen darf.« Ich spürte, wie ich rot anlief. Keine Ahnung, warum das alles so urplötzlich aus mir herausgesprudelt war. Bis jetzt hatte ich mir nie groß Gedanken darüber gemacht. Wie auch immer, selbst auf die Gefahr hin, dass es ein bisschen fünfzigerjahremäßig klingt: Ich will die Art von Mutter sein, die zu Hause ist, wenn die Kinder von der Schule kommen. Die sie mit einem Kuss und einem selbst gebackenen Kuchen empfängt. Wobei sich mein Kuchenrepertoire bis jetzt zugegebenermaßen auf Scones beschränkt.

Gemma hob eine Augenbraue. »Und, hast du schon mit Charlie darüber geredet?«

Das ist das Einzige, was mich an Kingsfield echt nervt: Die meisten Leute leben schon seit Ewigkeiten hier. Ich kenne Charlie erst seit ein paar Monaten, während Gemma seit Jahren mit ihm befreundet ist, weil sie ebenfalls eine Parzelle der Kleingartenanlage in der Ivy Lane bewirtschaftet hat, bis Parker auf die Welt kam. Würde man gar nicht denken, wenn man ihre Fingernägel sieht.

»Ich bitte dich, Gemma, wir sind quasi erst seit fünf Minuten zusammen, da spricht man noch nicht über dieses Thema. Aber früher oder später wird es sicher aufs Tapet kommen.«

»Also … Ach, nichts«, murmelte Gemma und nippte an ihrem Tee.Was hatte sie wohl gerade sagen wollen? Doch ich kam nicht mehr dazu nachzuhaken, denn sie rief: »Ah, da fällt mir etwas ein!«, und begann in ihrer Tasche zu kramen.

»Hier, hätte ich fast vergessen, dir zu zeigen.« Sie reichte mir eine Postkarte, auf der eine Schildkröte an einem menschenleeren Strand zu sehen war. »Die kam heute früh, von Tilly und Aidan. Klingt, als hätten sie auf den Galapagosinseln einen richtigen Traumurlaub.« Sie seufzte und nahm mir Parker ab, um ihn wieder in den Kinderwagen zu setzen.

»Die beiden sind echt wie füreinander geschaffen.«

Unsere gemeinsame Freundin Tilly gehört ebenfalls zur Schrebergartenclique und zeichnet dafür verantwortlich, dass Charlie und ich zusammengefunden haben. Ihren Freund Aidan, einen Fernsehregisseur, hat sie kennengelernt, als er voriges Jahr mit seinem Team für eine Doku über die Schrebergartensiedlung nach Kingsfield kam. Momentan drehte er auf den Galapagosinseln, und Tilly hatte beschlossen, ihn zu begleiten und ihren Urlaub mit ihm dort zu verbringen.

Während sich Gemma für den Aufbruch rüstete, las ich, was Tilly geschrieben hatte, dann verabschiedete ich mich lächelnd von ihr und Parker, obwohl mir eigentlich nicht nach Lächeln zumute war.

Die beiden sind echt wie füreinander geschaffen.

Man soll ja nichts überinterpretieren, aber irgendwie kam es mir so vor, als wäre sie der Ansicht, dass Charlie und ich im Gegensatz zu Tilly und Aidan nicht wie füreinander geschaffen waren. Dazu Shirleys Bemerkung vorhin von wegen du hast hier keine Zukunft …

Plötzlich hatte ich ein seltsam flaues Gefühl im Magen. Heute früh beim Aufwachen war mein Leben noch ganz einfach und vorhersehbar gewesen, doch jetzt standen die Zeichen auf Veränderung.

Kapitel 2

Kurz darauf verließ ich das Café und eilte durch die Shenton Road und die All Saints Road in Richtung Kleingartenanlage, und bis ich in der Ivy Lane angelangt war, hatte sich meine Laune wieder gebessert. Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Wo waren bloß all diese albernen Zweifel auf einmal hergekommen?

Sah mir gar nicht ähnlich, derartig trübsinnigen Gedanken nachzuhängen. Ich sollte mir weder wegen meiner Karriere noch wegen meiner Beziehung graue Haare wachsen lassen; dafür ist das Leben viel zu kurz. Ist doch viel ratsamer, alles einfach auf sich zukommen zu lassen. Ich mochte mein Leben, und außerdem gibt es weder den perfekten Job noch den perfekten Partner. Zwischen Charlie und mir lief es bestens – wir waren glücklich und konnten miteinander lachen. Und genau deshalb passten wir hervorragend zueinander.

Auf dem Weg zu Charlies Gartenparzelle lief mir Peter, der Vorsitzende des Schrebergartenvereins, über den Weg.

»Tag, Freya«, begrüßte er mich. »Kühl heute, nicht? Nachts wird es wohl leichten Frost geben.« Er zog eine Tweed-Schiebermütze aus der Tasche und stülpte sie auf seinen kahl werdenden Schädel.

»Tag, Pete.« Ich unterdrückte ein belustigtes Grunzen. Ich kenne keinen einzigen Schrebergartenbesitzer, der sich nicht ständig Gedanken übers Wetter macht. »Ja, ist recht frisch heute.«

»Na, was ist, willst du dich nicht doch auf die Warteliste setzen lassen?«, erkundigte er sich. Das fragte er mich jedes Mal, wenn wir uns sahen. Ich hatte tatsächlich kurz mit dem Gedanken gespielt, einen Antrag auf einen eigenen Schrebergarten zu stellen, und er hatte mir auch schon die infrage kommenden Parzellen gezeigt, aber inzwischen hatte ich es mir anders überlegt. Wenn ich Charlieboy in seinem Garten zur Hand gehen konnte, hatte das zwei entscheidende Vorteile: Erstens konnte ich auf diese Weise Zeit mit ihm verbringen und mich zweitens auf die angenehmen Arbeiten wie Säen und Ernten beschränken, während er die unangenehmen erledigte. Unkraut jäten und mit Dung und Mist hantieren zum Beispiel.

Lachend schüttelte ich den Kopf. »Keine Zeit. Als Charlies Hilfsgärtnerin bin ich vollauf ausgelastet.«

Peter lächelte enttäuscht und tippte sich zum Abschied grüßend an die Mütze, und ich lief weiter.

Ich hatte regelrecht Schmetterlinge im Bauch, als ich meinen umwerfend gut aussehenden Freund in seinem kleinen Gewächshaus erspähte. Er trug seinen alten Gärtnerpulli, der an den Ellbogen schon ganz durchgewetzt und löchrig war, und dazu Jeans, ausgetretene Stiefel und eine Wollmütze.

Im Gewächshaus war es warm, und der Duft von Tomatenpflanzen hing in der Luft. Ich lehnte mich an den Türrahmen und sah ihm zu, während er mit dem Rücken zu mir ein paar Säcke mit Setzlingen in die Regale stellte.

»Hey.«

Charlie wirbelte herum. »Hallo, schöne Frau!« Lächelnd kam er zu mir, hob mich hoch und wirbelte mich herum, wobei wir prompt die Gießkanne und mehrere Pflanzen ummähten.

»Nicht! Lass mich sofort runter und küss mich!«, quiekte ich atemlos kichernd.

Er kam meinem Befehl auf der Stelle nach. »Ich mag es, wenn du mich rumkommandierst«, murmelte er und sah mir grinsend in die Augen.

Dann öffnete er den Reißverschluss meiner Jacke, schlang die Arme um mich und zog mich an sich. Ich hob den Kopf, um ihn zu küssen und seufzte leise. Seine Wangen waren von Bartstoppeln übersät, aber seine Lippen waren voll und weich. Er roch nach Erde und Lagerfeuer, mit einem appetitlichen Hauch Vanille oder irgendetwas in der Art.

Schließlich unterbrach ich den Kuss. »Na, was steht heute auf dem Programm?« Ich schob die Finger in die Gesäßtaschen seiner Jeans und lehnte den Kopf an seine Brust, und er legte das Kinn auf meinen Scheitel.

»Heute sind die Tomaten dran.« Er löste sich von mir und küsste mich auf die Nasenspitze. »Ich hab schon auf dich gewartet. Gut zwanzig Tomatenpflänzchen müssen in die Erde. Wenn du fleißig bist, spendier ich dir hinterher im Pub einen Cider.«

Ich lachte. »Du willst mich in Naturalien bezahlen?«, sagte ich und stemmte mit gespielter Entrüstung die Hände in die Hüften. »Was hast du bloß für eine Meinung von mir?«

Er zwinkerte mir zu. »Die allerbeste natürlich. Und jetzt nimm die kleine Schaufel da und komm mit, meine grünäugige Grazie.«

Er zeigte mir, wie man die Setzlinge aus den Plastikträgern befreite, ohne sie zu beschädigen.

»Kommt es mir nur so vor, oder sind das zwei verschiedene Sorten?«, fragte ich.

»Gut beobachtet, Watson.« Charlie hauchte mir einen Kuss auf den Hals, bei dem die Schmetterlinge in meinem Bauch heftig ins Flattern gerieten. »Die hier heißen Sungold und sind für Ollie. Angeblich mag er keine Tomaten, aber ich hoffe mal, dass ich ihn mit diesen süßen Kirschtomaten hier bekehren kann.« Das ist noch ein Grund, warum ich Charlie so mag. »Du bist wirklich der beste Dad der Welt.« Ich knuffte ihn spielerisch in die Rippen. »Und was für eine Sorte ist das da?«, fragte ich und deutete auf die größeren Pflanzen.

Charlie räusperte sich. »Ähm, die heißen Outdoor Girl. Als ich den Namen gelesen habe, musste ich an dich denken.«

Er wandte verlegen den Kopf zur Seite, aber mir entging trotzdem nicht, dass er rot angelaufen war.

»An mich?«, wiederholte ich entzückt, warf ihm die Arme um den Hals und küsste ihn auf die Wange.

Nun mag es nicht jedermanns Vorstellung von Romantik entsprechen, wenn ein Mann einer Frau zuliebe eine spezielle Tomatensorte anpflanzt, aber mir wurde angesichts dieser Geste ganz warm ums Herz, weil ich wusste, wie Charlie tickt. Dass er mir die gleiche Ehre zuteilwerden ließ wie seinem sechsjährigen Sohn Ollie, den er vergöttert und der für ihn quasi den Nabel der Welt darstellt, musste doch etwas zu bedeuten haben, oder?

Umgekehrt wusste Charlie auch, wie ich ticke – zum Beispiel dass ich am liebsten Tätigkeiten nachgehe, bei denen ich viel Zeit im Freien verbringen kann. Es wäre für mich die Hölle, den ganzen Tag an einem Schreibtisch zu hocken, so wie Anna, die als Webdesignerin keine zehn Schritte am Tag zurücklegt.

»Dann kann ich die also schon mal draußen einsetzen?«, fragte ich und betrachtete die Pflänzchen. »Ein bisschen frische Luft würde mir jetzt echt guttun.«

Charlie verdrehte die Augen und schnaubte belustigt. »Ich verstehe echt nicht, warum du in einem Café arbeitest, wenn du so scharf drauf bist, draußen zu sein. Du solltest Parkwächterin oder Polizistin werden oder so. Wie auch immer, ich muss dich leider enttäuschen. Den Tomaten ist es draußen noch zu kalt. Aber du kannst dich stattdessen um die hier kümmern.«

»Oh, ich liebe Erbsen!«, rief ich und nahm den Träger entgegen, den er mir hinhielt. Beim Anblick der kräftigen Erbsenpflanzen musste ich daran denken, wie ich mich früher oft in Tante Sues sonnigem Gemüsegarten versteckt und mir den Bauch mit frischen Erbsen vollgeschlagen hatte.

Schmunzelnd bugsierte mich Charlie zu den wigwamartig aufgestellten Rankstöcken aus Bambus, und wir machten uns an die Arbeit.

Im goldenen Licht der untergehenden Sonne kniete ich mich hin, hob mit dem Schäufelchen eine kleine Grube aus, bestreute den Grund mit etwas »Elfenstaub« und setzte eine der Erbsenpflanzen hinein. »Elfenstaub« ist meine Bezeichnung für ein Düngemittel, das die Pflanzen mit allerlei wichtigen Nährstoffen versorgt, aber leider zum Himmel stinkt.

Ich und Polizistin? Ich musste lachen.

»Das hast du nur wegen der Handschellen gesagt, stimmt’s?«, rief ich ihm mit einem Blick über die Schulter zu.

»Was?«

»Dass ich Polizistin werden sollte. Ich wette, du stehst auf Handschellenspielchen. Ich kenn doch meine Pappenheimer.«

Charlie tat indigniert. »Na, hör mal, wer hat denn letztes Mal darauf bestanden, den ganzen Sonntag im Bett zu verbringen und Nacktbilder von dir anzuschauen?«

Noch während er sprach, spürte ich, wie etwas die Sonnenstrahlen blockierte, die mir den Rücken gewärmt hatten, und vernahm ein diskretes Hüsteln.

Verlegen fuhr ich herum und erblickte Gemmas Mum Christine, die im Kleingärtnerverein als Sekretärin fungiert. Sie stand in Gummistiefeln, Steppjacke und Pudelmütze am Gatter zu Charlies Parzelle, und ihrem breiten Grinsen nach zu urteilen, war mein spontanes Stoßgebet, sie möge Charlies Bemerkung nicht gehört haben, auf taube Ohren gestoßen.

»Sehr hübsch, dieses Rot«, feixte sie mit ihrem breiten irischen Akzent, womit sie wohl kaum mein Haar meinte, sondern vielmehr meine Gesichtsfarbe.

»Äh, danke«, stotterte ich und schob zur Erklärung ein »Es war mein Babyalbum« hinterher. »Deswegen war ich nackt. Und auch gar nicht auf allen Fotos …« Sie prustete los, und ich verstummte verlegen.

»Ach, ihr jungen Leute … Ist schon eine ganze Weile her, dass Roy und ich den ganzen Sonntag im Bett verbracht haben.«

Ich schluckte und lachte gezwungen. Zu viel Information, wie Shirley sagen würde.

»Hallo Christine«, sagte Charlie jovial und gesellte sich zu mir. »Na, alles klar?«

»Ja, alles wunderprächtig, danke.« Sie nickte. »Ich wollte dich nur daran erinnern, dass wir am Sonntag für die Kinder in der Anlage ein paar Osternester verstecken werden. Gemma wird auch kommen. Vielleicht habt ihr ja auch Lust. Ollie hätte bestimmt einen Heidenspaß.«

Charlie und ich nickten und murmelten etwas Zustimmendes, und sie machte sich wieder vom Acker.

»Du hast doch am Osterwochenende ebenfalls frei, oder?« Ich sah uns schon irgendwo im Grünen sitzen, über uns der blaue Himmel und keine Menschen oder Häuser weit und breit.

»Ja.« Er nickte und zog ein Stück Schnur aus der Tasche, um die frisch eingepflanzte Erbse an einem der Rankstäbe festzubinden. »Vier volle Tage. Ich kann’s kaum erwarten.«

»Du hattest mir versprochen, dass du mal mit mir reiten gehst, weil ich neulich mit dir diese Fahrradtour gemacht habe, auf die ich gar keine Lust hatte, weißt du noch?«

»Äh, ja.« Er richtete sich auf, ohne mich anzusehen. Ich stand ebenfalls auf, ging zu ihm und hakte die Finger in die Gürtelschlaufen seiner Jeans. Sein warmer Atem streifte meine Wange.

»Was hältst du davon, wenn wir das dieses Wochenende machen? Ich hab neulich mit einem Reitstall in der Nähe von Kingsfield telefoniert, da könnten wir ein paar Stunden buchen.« Ich sah zu ihm hoch und hielt den Atem an. Charlie ist von Pferden alles andere als begeistert, aber versprochen ist versprochen, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als am Osterwochenende über Wiesen und Hügel zu preschen, mit dem Wind in den Haaren und Charlie an meiner Seite. Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber es geht nicht. Ollie kommt außerplanmäßig ein paar Tage zu mir. Das mit der Osternestsuche wäre ideal für ihn, meinst du nicht auch?«, fragte er und küsste mich auf die Stirn.

Ich ließ es mit hängenden Schultern geschehen.

Da ging er hin, mein Traum vom Glück auf dem Rücken eines Pferdes.

Aber ihr hattet doch gerade erst ein Vater-Sohn-Wochenende … Beinahe hätte ich es laut gesagt. Zum Glück hatte mich die letzte vernünftige Zelle meines Gehirns davon abgehalten. Für Charlie würde Ollie stets oberste Priorität haben. Und das war auch total in Ordnung so. Ich wünschte, mein Vater hätte mir nur halb so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht, dass ich mich beschweren will … Na ja, ein bisschen vielleicht.

Ich nickte. »Das findet er bestimmt lustig. Vielleicht könnten wir ja zu dritt …« Ich schluckte und war gespannt, wie er auf meinen Vorschlag, den Ostersonntag gemeinsam zu verbringen, reagieren würde.

Charlie ist ein toller Dad. Okay, ich schätze mal, das war nicht immer so, aber jetzt machte er alle Versäumnisse von früher wett. Und Ollie ist ein richtiger Goldjunge, wohlerzogen und mit großen blauen Augen, genau wie sein Dad, den er mit seinen vielen Fragen allerdings zuweilen zur Verzweiflung treibt. Ich kann mich über seine Neugier köstlich amüsieren.

Bis jetzt waren wir uns zwei Mal begegnet; beide Male im Café.

Richtig vorgestellt hatte mich Charlie meinem potenziellen Stiefsohn aber noch nicht, es sei denn, ein »Bedank dich bei der freundlichen Lady« zählte.

Er blinzelte, dann nahm er die Wollmütze ab und kratzte sich am Kopf.

»Dafür ist es noch etwas zu früh«, sagte er sanft. »Geh du ruhig reiten. Ich komm ein andermal mit, ja?« Das nannte man dann wohl einen doppelten Korb. Kein Zweifel: Charlie wollte Ollie nicht sagen, dass wir ein Paar waren, und das kränkte mich. Schämte er sich etwa für mich?

Ich versuchte, mir meine Gefühle nicht anmerken zu lassen.

Immer schön lächeln, Freya!

»Wir sind jetzt seit vier Monaten zusammen, Charlie. Habe ich mir nicht allmählich den offiziellen Freundinnen-Status verdient?«

»Komm her.« Er umarmte mich, und ich vergrub das Gesicht in seinem Pulli. »Ich weiß, dass du dir das wünschst. Und glaub mir, ich würde das Wochenende gern mit dir und meinem Sohn verbringen, aber ich bin doch selbst erst seit ein paar Monaten so richtig in Ollies Leben präsent und will ihn nicht verwirren, indem ich gleich eine Freundin mit ins Spiel bringe. Ich möchte ihm ein wirklich guter Dad sein.«

Ich biss mir auf die Unterlippe.

Vier Monate! Etliche meiner Beziehungen hatten weniger lang gedauert, aber es wäre wohl nicht hilfreich gewesen, das jetzt zu erwähnen, also hielt ich lieber den Mund.

»Okay, aber Tilly und Aidan sind auch noch nicht viel länger zusammen als wir und verbringen schon zusammen den Urlaub auf einer Insel am anderen Ende der Welt.«

Und sie sind wie füreinander geschaffen.

Charlie blies die Backen auf. »Das ist was ganz anderes«, sagte er mit gerunzelter Stirn.

Allerdings. Ich errötete und hätte mir auf die Zunge beißen können.

Tilly hatte ihren ersten Mann vor ein paar Jahren bei einem Autounfall verloren und war bereit für etwas Neues; Charlie dagegen war, nachdem er schlechte Erfahrungen in puncto Ehe gemacht hatte, auf der Hut, was ich durchaus nachvollziehen konnte. Ich war die erste Frau, mit der er sich nach der Trennung von seiner Ex eingelassen hatte. Trotzdem fragte ich mich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis er sich auch vor Ollie zu mir bekannte.

Ich seufzte tief und lächelte matt, als er mein Kinn anhob und mich zwang, ihn anzusehen.

»Hey! Was ist denn los? Wir haben doch Spaß miteinander, oder?«

Mein Lächeln erstarb. »Ist das alles, was ich für dich bin, Charlie?«, fragte ich ernüchtert, mit heftig pochendem Herzen. »Eine Frau, mit der du ein bisschen Spaß hast?« Vor ein paar Minuten hatten wir noch über Handschellen und Nacktfotos geredet, und jetzt das!

Man konnte die Spannung zwischen uns förmlich knistern hören. Ich musterte ihn prüfend, und mir entging nicht, wie er mit sich rang, darum bemüht, die richtigen Worte zu finden, doch ehe ihm eine passende Entgegnung eingefallen war, begann mein Handy zu dudeln.

Ich liebe den Song Happy von Pharrell Williams, deshalb habe ich ihn zu meinem Klingelton auserkoren, und normalerweise klatsche ich mindestens eine halbe Minute lang mit, bis ich rangehe. Diesmal jedoch kramte ich hastig das Telefon aus der Jackentasche und drückte umgehend auf den grünen Knopf.

»Hallo?«

»Freya, bist du das?« Ich erkannte die Stimme meiner Tante Sue sofort, obwohl sie höher klang als sonst und ein wenig zitterte. Jetzt pochte mein Herz noch heftiger als vorhin.

»Ja, ich bin’s. Ist alles in Ordnung?«

»Leider nicht, nein. Onkel Arthur hatte einen Unfall.«

Ich schnappte nach Luft. »Ach herrje.« Charlie musterte mich besorgt und legte mir eine Hand auf den Arm.

»Ist ihm etwas passiert?«

»Er wurde schon wieder aus dem Krankenhaus entlassen, aber er hat ein paar ordentliche Schrammen abbekommen, und es wird eine Weile dauern, bis er wieder voll einsatzfähig ist. Meinst du, du könntest ein paar Tage zu uns kommen und uns helfen? Ich weiß, es ist sehr kurzfristig …«

Charlie betrachtete mich noch immer mit gerunzelter Stirn, doch ich wich seinem Blick aus. Wie es aussah, würden wir ohnehin keinen »Spaß miteinander haben«, solange sein Sohn hier war, und außerdem hatte ich das Osterwochenende sowie die nächste Woche frei. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Jetzt war es fünf. Die Fahrt würde ein paar Stunden dauern, und ich musste noch packen …

»Ich nehme den nächsten Zug«, sagte ich. Blieb nur zu hoffen, dass es um diese Zeit überhaupt noch eine Verbindung nach Oxenholme gab.

Ich versprach ihr, mich noch mal zu melden, sobald ich Näheres wusste, dann legte ich auf.

»Ich muss nach Hause«, verkündete ich.

»Nach Paris?«, fragte er.

Meine Eltern wohnen nämlich in Paris. Zurzeit jedenfalls. Davor haben sie in Brüssel, Johannesburg, Singapur, Sydney, Kuala Lumpur und in Washington D.C. gelebt. Soweit ich mich entsinne, sind sie insgesamt siebzehn Mal umgezogen.

Doch der einzige Ort, an dem ich mich je richtig zu Hause gefühlt habe, ist der Hof von Tante Sue und Onkel Arthur.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde auf der Appleby Farm gebraucht.«

Kapitel 3

Es war kurz nach zehn, als der Zug mit kreischenden Bremsen in Oxenholme hielt. Nur eine Handvoll Passagiere stieg aus, und bis ich endlich mit meinem sperrigen Tramperrucksack aus dem Waggon geklettert war, lag der kleine Bahnhof bereits völlig verlassen da.

Suchend sah ich mich um. Keine Menschenseele weit und breit. Dafür erblickte ich ein Schild mit der Aufschrift »Willkommen im Lake District«, bei dem mein Herz, dem unerfreulichen Anlass meines spontanen Besuchs zum Trotz, einen Sprung machte.

Ich sog tief die frische Abendluft ein. Ich war wieder in meinem heiß geliebten Lake District! Mit federnden Schritten marschierte ich zum Ausgang und begab mich zu dem kleinen Taxistand, der jedoch, genau wie der Bahnhof und der Parkplatz, leer war. Eigentlich sollte mich jemand abholen und zur Farm bringen. Ich konnte es kaum erwarten. In etwa einer halben Stunde würde ich endlich Tante Sue und Onkel Arthur wiedersehen. Ich ließ meinen Rucksack auf den Bürgersteig plumpsen und nahm darauf Platz.

Während ich, an die Steinmauer gelehnt, wartete, ließ ich die vergangenen Stunden noch einmal Revue passieren. Nach Tante Sues Anruf hatten Charlie und ich uns lange umarmt, dann war ich nach Hause gerast und hatte gepackt, während mir Anna übers Internet ein Zugticket gebucht und mir ein Sandwich mit Käse und Essiggurken gemacht hatte. Sie erinnerte mich auch daran, die Gummistiefel einzupacken und fuhr mich zum Bahnhof. Sie ist wirklich eine tolle Freundin. Das Gespräch mit Charlie habe ich ihr gegenüber trotzdem mit keinem Wort erwähnt, weil … Na ja, weil sie vermutlich der Ansicht gewesen wäre, dass ich aus einer Mücke einen Elefanten mache und weil sie, mal abgesehen von mir, Charlies größter Fan ist und sich womöglich auf seine Seite geschlagen hätte.

Die Angelegenheit bereitete mir immer noch Magenschmerzen, aber auf der Zugfahrt war es mir gelungen, meine Sorgen zu verdrängen und mich auf das zu konzentrieren, was vor mir lag. Wie versprochen hatte ich Tante Sue von unterwegs noch einmal angerufen und erfahren, dass Onkel Arthur am Vormittag mit dem Traktor verunglückt war und sich dabei das Handgelenk gebrochen hatte. Außerdem hatte er eine Wunde am Kopf und ein paar geprellte Rippen davongetragen. Der arme Kerl. Er war zwar nicht lebensgefährlich verletzt, aber die ganze Sache hatte ihn dem Vernehmen nach trotzdem ziemlich mitgenommen.

Ich lauschte angestrengt nach Motorengeräuschen und zog, da nicht das Geringste zu hören war, bereits in Erwägung, mir ein Taxi zu rufen, da klingelte plötzlich mein Handy. Mein Herz setzte einen Takt aus, als ich Charlies Name auf dem Display erblickte.

Lächelnd ging ich ran. »Hey.«

»Bist du schon angekommen?«

»Ich bin gerade aus dem Zug gestiegen und warte jetzt darauf, dass ich abgeholt werde.«

»Ganz allein? Sei bloß vorsichtig, es ist doch bestimmt schon dunkel, oder?«, fragte er besorgt.

Sieh an, ich war ihm also doch nicht ganz egal.

Ich schnaubte belustigt. »Ich bin hier in Oxenholme, Charlie. Das gefährlichste Wesen, das mir in diesem Kaff über den Weg laufen könnte, ist ein verirrtes Schaf.«

»Trotzdem. Ähm, Freya?«

Ich schluckte. Bei seinem sanften Tonfall flatterten die Schmetterlinge in meinem Bauch mit den Flügeln. Ich umklammerte das Telefon und schluckte. »Ja?«

Schweigen. Ich hörte Leder knarzen, was wohl bedeutete, dass er daheim auf seinem Sofa saß. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich sehr glücklich mit dir bin.«

»Gleichfalls.« Ich lächelte. Mein Freund konnte ein richtiger Softie sein.

»Und dass es für mich weit mehr ist als ein bisschen Spaß.«

Ah, das ging runter wie Öl.

Ich lehnte den Kopf an die kalte Steinwand. »Du bedeutest mir auch sehr viel«, sagte ich leise.

Ein Auto näherte sich mit dröhnendem Motor und schepperndem Auspuff; Scheinwerfer blinkten mich an.

»Vielleicht könnten wir, wenn du wieder zu Hause bist …« Zu Hause. Na ja. Obwohl ich schon ein halbes Jahr in Kingsfield wohnte, fühlte ich mich dort noch immer nicht zu Hause.

Er räusperte sich. »Ich meine, dann könnten wir ja mal was zu dritt unternehmen; du, Ollie und ich.«

»Total gern!« Ich sprang auf und vollführte einen Fünf-Sekunden-Freudentanz.

Inzwischen hatte das Auto, ein verbeulter roter Pritschenwagen, vor mir angehalten.

»Ich muss auflegen, Charlie. Mein Taxi ist da.«

Ich schickte ihm einen Kuss, wünschte ihm Gute Nacht und steckte mit einem seligen Lächeln das Telefon weg. Jetzt ging es mir schon bedeutend besser. Schade, dass er nicht hatte mitkommen können. Zu gern hätte ich ihn Onkel Arthur und Tante Sue vorgestellt. Vielleicht nächstes Mal.

Die Fahrertür des Pritschenwagens schwang quietschend auf, und Eddy Hopkins stieg aus. Eddy ist die rechte Hand meines Onkels – jetzt, nach dessen Unfall, im wahrsten Sinne des Wortes.

»Eddy! Was für eine schöne Überraschung.«

Ich hopste zu ihm, warf ihm die Arme um den Hals und küsste ihn auf die überraschend glatte Wange.

»Da bist du ja.« Er machte sich von mir los und trat einen Schritt zurück, um mich zu betrachten. Eddy mag es nicht sonderlich, wenn man ihn anfasst. Unter einem seiner Nasenlöcher klebte ein Stück Papiertaschentuch, und der intensive Duft seines Rasierwassers trieb mir die Tränen in die Augen.

»Gut siehst du aus, Eddy.« Ich strahlte ihn an.

»Und du bist nicht mehr ganz so flach wie früher«, erwiderte er mit einem schiefen Lächeln.

Ich verdrehte die Augen angesichts des zweifelhaften Kompliments.

»Na, vielen Dank auch, du Charmebolzen.«

Er nahm meinen schweren Rucksack, schulterte ihn mühelos und deponierte ihn hinten auf der Ladefläche.

Ich betrachtete ihn und unterdrückte ein belustigtes Schnauben. Seine Tweedjacke war an den Ellbogen schon ganz durchgewetzt, und seine Stiefel wurden vorn nur noch von zwei breiten Gummibändern zusammengehalten, ohne die sich die Sohlen garantiert längst verabschiedet hätten.

Eddy ist Ende fünfzig und hat nie geheiratet, und sein minimalistischer Ansatz in Haushaltsdingen erstreckt sich auch auf den Bereich Bekleidung.

»Ich könnte schwören, dass du diese Stiefel schon anhattest, als ich das letzte Mal hier war«, sagte ich kopfschüttelnd.

»Die tun’s noch ’ne Weile«, erwiderte er mit einem Blick auf seine Füße und zuckte die Achseln. »Ich hab extra deinetwegen neue Gummibänder drangemacht. Steig ein, du wirst erwartet. Normalerweise liegen Sue und Arthur um diese Zeit ja schon im Bett.« Er zupfte das Stück Taschentuch unter seinem Nasenloch weg, inspizierte es mit einem Grunzen und stopfte es in die Jackentasche.

»Hast du dich verletzt?«

»Beim Rasieren geschnitten. Musste mich schicken, damit ich nicht zu spät am Bahnhof bin.«

Ach, richtig. Um morgens Zeit zu sparen, rasiert sich Eddy immer schon abends vor dem Zubettgehen. Am späten Nachmittag ist er dann meist schon wieder ziemlich stoppelig.

»Ich weiß es zu schätzen, danke.«

Der Stoffbezug der Sitzbank war auf der Beifahrerseite schon reichlich durchgewetzt, was wohl auch dem kleinen Terrier mit dem drahtigen schwarzen Fell zu verdanken war, der sich dort mit hängender Zunge mehrere Male aufgeregt im Kreis drehte.

»Mach Platz, Buddy«, brummte Eddy, der bereits eingestiegen war, und zog den Hund am Halsband ein Stück zu sich rüber.

Ich setzte mich, schloss die Tür und schnallte mich an. Buddy setzte sich ebenfalls – auf meinen Schoß, die Schnauze nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt.

Eddy ließ den Motor an, und dann ging es auch schon los.

Wir fuhren, ein paar Minuten schweigend, auf der dunklen Landstraße dahin in Richtung Lovedale (so heißt das Kaff, in dem sich die Farm von Tante Sue und Onkel Arthur befindet), ehe Eddy wieder den Mund aufmachte.

»Bin froh, dass du da bist.«

Ich spähte zu ihm hinüber, wobei ich versuchte, Buddys Hundefutterfahne nicht einzuatmen. Es war dunkel, und Eddys Gesicht wurde nur von den Anzeigen auf dem Armaturenbrett erhellt, aber die tiefen Runzeln auf seiner Stirn waren trotzdem zu erkennen.

»Onkel Arthur ist doch nicht allzu viel passiert, oder? Mal abgesehen von ein paar Schrammen und blauen Flecken und dem gebrochenen Handgelenk, meine ich.«

Eddy gab ein zischendes Geräusch von sich. »Ich weiß nicht recht. Vielleicht seh ich ja Gespenster, aber den Traktor in einen Graben zu fahren, sieht Arthur gar nicht ähnlich. Er kennt sein Land genauso gut wie ich mein Gesicht.«

Das sagt der Mann, der sich vorhin beim Rasieren selbst verstümmelt hat, dachte ich schmunzelnd, sprach es aber nicht aus.

»Wahrscheinlich besser«, fuhr er fort.

»Meinst du, es steckt mehr hinter diesem Unfall, Eddy?«

»Will ich nicht hoffen. Nicht nur um seinetwillen, sondern auch wegen Sue und dir. Landwirt zu sein, ist ein hartes Brot. Ich helfe Arthur zwar, wo ich kann, aber es gibt trotzdem viel zu tun.«

Ich nickte. Ich habe viele glückliche Sommer auf der Appleby Farm verbracht, aber ich weiß auch noch, dass Tante Sue und Onkel Arthur immer den ganzen Tag auf den Beinen waren. Mittlerweile nutzen sie den Großteil ihres sechzig Hektar großen Anwesens als Kuhweide; nur auf den einigermaßen ebenen Feldern bauen sie Futter an, um das Vieh über den Winter zu bringen.

Und Eddy ist ihr einziger Angestellter. Zum ersten Mal, seit ich in Kingsfield losgefahren war, ging mir auf, dass mich eine ganze Menge Arbeit erwartete.

Auf einer Farm gibt es ständig etwas zu tun, tagein, tagaus, sieben Tage die Woche. Freizeit ist ein seltenes Gut, das Geld ist knapp, und jeder Tag bringt neue Herausforderungen, von Wetterkapriolen bis hin zu erkrankten Tieren. Trotzdem sind Tante Sue und Onkel Arthur die zufriedensten Menschen, die ich kenne, und sie vermitteln einem das Gefühl, dass sie sich selbst nach ich weiß nicht wie vielen Jahren Ehe immer noch lieben wie am ersten Tag.

»Wie kann ich helfen?«, fragte ich.

Es war Jahre her, dass ich meine letzte Kuh gemolken hatte, und damals tat ich es nur zum Spaß. Eddy hat es mir beigebracht, als ich acht war. Klar konnte ich einen Traktor fahren, wenn es sein musste, aber ehrlich gesagt riss ich mich nicht gerade darum, schwierigere Aufgaben wie das Ausbringen von Saatgut zu übernehmen. Bedrückt musste ich mir eingestehen, dass ich den beiden wohl keine große Hilfe sein würde.

Eddy gluckste. »Keine Sorge, Sue wird dich sicher ordentlich auf Trab halten. Ihr Knie macht Probleme. Wahrscheinlich teilt sie dich für den Hühnerdienst ein.«

»Gut. Das hab ich drauf.« Ich hatte schon als Kind immer die Eier einsammeln dürfen.

»Und dann ist da noch der Gemüsegarten.« Wie gut, dass ich in Charlies Schrebergarten ein bisschen Erfahrung gesammelt hatte.

»Und nicht zu vergessen das Büro.«

Ich schauderte. »Bürokram gehört zwar nicht gerade zu meinen Stärken, aber ich werd mir Mühe geben.«

Kurz darauf hatten wir Lovedale erreicht. Gleich hinter dem White Lion, dem Dorfpub, bog Eddy rechts ab und drosselte netterweise das Tempo, denn ab hier war die Straße nur noch ein holpriger Feldweg.

Das Gatter zur Farm stand sperrangelweit offen, an der obersten Stange konnte ich im Vorbeifahren das Schild mit der Aufschrift »Appleby Farm« erkennen.

Vor uns, am Ende des Wegs, lagen der Pferde- und der Kuhstall, und etwas weiter hinten war im mondlosen Dunkel der Nacht undeutlich die Fassade des Hauses mit seinen neun Fenstern auszumachen. Der Anblick ließ mein Herz höherschlagen. In meinem ganzen Leben habe ich kein einziges Gebäude gesehen, das dermaßen heimelig und einladend wirkte.

»Ich hatte ganz vergessen, wie schön es hier ist«, murmelte ich und drückte den überraschten Buddy an mich.

Sobald wir angehalten hatten, sprang ich aus dem Auto und schnappte mir meinen Rucksack.

Aus dem Stallfenster drang Schnauben und das Rascheln von Stroh an meine Ohren. Der Motorenlärm hatte die Kühe geweckt, zwei oder drei muhten unwillig.

Eddy war sitzen geblieben und hatte das Fenster auf der Fahrerseite heruntergekurbelt, und ehe er es sich versah, hatte ich mich auch schon zu ihm reingebeugt und ihn umarmt.

»Danke für’s Bringen, Eddy. Ich schätze, wir sehen uns dann morgen. Gute Nacht.«

»Mist, dank dir hat es wieder angefangen zu bluten«, brummelte er nur und fischte das Stück Zellstofftuch von vorhin aus der Jackentasche.

Ich winkte ihm zum Abschied, und während ich noch nach dem Riegel des schmiedeeisernen Gatters zum Vorgarten tastete, schwang die Tür auf, und ein Lichtstreifen erhellte den Hof.

»Willkommen daheim, Freya«, sagteTante Sue und wischte sich die Hände an der Schürze ab.

Dann breitete sie die Arme aus, und ich rannte zu ihr und warf mich hinein.

Kapitel 4

Tante Sue duftete nach frischem Brot und Niveacreme, genau wie früher, und ihre Umarmung weckte eine Vielzahl an Kindheitserinnerungen. Ich atmete ein und seufzte zufrieden.

»Du hast mir so gefehlt, Tante Sue«, murmelte ich und kam mir albern vor, weil ich plötzlich feuchte Augen hatte.

Sie lehnte sich etwas zurück und betrachtete mich prüfend. Zwei dicke Tränen liefen ihr über die Wangen. »Wie schön, dass du da bist. Das nenn ich wirklich Glück im Unglück. Und du bist noch hübscher geworden in den drei Jahren, die wir uns nicht gesehen haben.«

»Drei Jahre?«, wiederholte ich ungläubig. »Das kann doch nicht sein.«

Tante Sue nickte ernst. Sie ist jetzt Mitte siebzig und hat weißes Haar, strahlend blaue Augen und die Figur einer Frau, die sowohl das Backen als auch das Essen liebt.

Von Schuldgefühlen übermannt, überlegte ich, wann genau ich zuletzt hier gewesen war. Es musste in dem Sommer gewesen sein, in dem meine Eltern nach Paris gezogen waren. Damals hatte ich ein paar Tage auf der Farm verbracht, ehe ich meinen neuen Job antrat. Welcher war das noch gleich gewesen? Ach richtig, die Stelle als Kellnerin in einem Pub in Cornwall. Im gleichen Jahr hatte ich an Weihnachten dann zwei Tage in der eleganten Pariser Wohnung meiner Eltern verbracht und mir anschließend vorgenommen, künftig die Feiertage über zu arbeiten. Und in den letzten Sommerurlauben war ich mit Freunden irgendwo im sonnigen Süden unterwegs gewesen.

Ich hatte die beiden Familienmitglieder vernachlässigt, die ich am meisten liebte, und meinen spontanen Besuch jetzt verdankte ich auch nur der Tatsache, dass Onkel Arthur mit dem Traktor verunglückt war.

»Ich bin eine grauenhafte Nichte«, murmelte ich beschämt.

»Unsinn«, erwiderte sie brüsk und tupfte sich mit dem Schürzenzipfel die Wangen trocken. Letztes Mal waren wir noch gleich groß gewesen, doch inzwischen war sie geschrumpft und musste zu mir hochsehen.

»Jetzt bist du ja da, und ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar wir dir sind. Es wird deinen Onkel bestimmt aufheitern. Der Unfall hat ihn seelisch doch recht mitgenommen. Ich hoffe nur, wir haben dir keine allzu großen Unannehmlichkeiten bereitet.«

Ich schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, ich hab das ganze Osterwochenende frei und bin sowieso nirgends lieber als bei euch.«

»Freya, bist du das?«, ertönte die raue Stimme meines Onkels durch die offene Tür.

»Jep!«, rief ich lachend, drückte Tante Sue einen Kuss auf die weiche Wange und machte mich von ihr los.

Ich schulterte meinen Rucksack und marschierte ins Haus.

Durch die Haustür gelangt man geradewegs in die warme, gemütliche Küche, in der es nach Rauch und frisch gebackenem Brot roch.

Neben dem glänzenden schwarzen AGA-Herd in der gemauerten Ecke auf der einen Seite der Küche lagen zwei Katzen in einem Korb und genossen die Wärme. Ein riesiger Kiefernholztisch mit Bänken zu beiden Seiten und je einem Stuhl an den schmalen Enden dominierte den Raum, und in der hintersten Ecke standen drei gemütliche Lehnsessel vor einem Kamin, in dem ein Feuerchen prasselte.

Ich steuerte auf das mittlere Fauteuil zu, über dessen Rückenlehne ein Büschel grauer Haare hervorragte. Onkel Arthur hatte die Füße auf einem gepolsterten Schemel abgelegt, und unter seinen Beinen hatte sich seine grauschwarz gescheckte Mischlingshündin Madge ausgestreckt, die nun schon gute fünfzehn Jahre alt sein musste.

»Du lieber Himmel, man möchte meinen, du hast einen Boxkampf hinter dir!« Ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange und ließ mich dann auf dem Schemel nieder, um ihn eingehend zu betrachten. Madge schmiegte die Nase an mein Bein, und ich kraulte sie hinter den Ohren.

Früher war Onkel Arthurs dichtes Haar rabenschwarz gewesen, genau wie die buschigen Augenbrauen, von denen nun eine von einem Verband bedeckt war. Sein linker Arm war eingegipst, und am Kinn hatte er ein paar Schnittwunden und blaue Flecken, aber die dunklen Augen hinter seiner Brille funkelten.

Er grinste. »Sieht schlimmer aus, als es ist. In ein paar Tagen bin ich wieder ganz der Alte.«

»Hast du große Schmerzen?«, fragte ich.

»Nein, nein«, erwiderte er eine Spur zu schnell. »Schon, weil ich bis oben hin mit Schmerztabletten vollgepumpt bin. Aber erzähl das mal nicht meiner Holden, ich finde es nämlich ganz schön, von vorn bis hinten bedient zu werden.« Er gluckste und verzog sogleich vor Schmerz das Gesicht.

Tante Sue schnalzte tadelnd mit der Zunge.

»Tee, Liebes?«, fragte sie, bereits im Begriff, den Wasserkessel aufzusetzen.

»Ähm …« Der Gedanke war verlockend, obwohl ich ziemlich erledigt war. Andererseits wusste ich, dass die beiden nur noch meinetwegen auf waren. Onkel Arthur hatte schon den Schlafanzug und den Morgenmantel an.

»Oder lieber eine heiße Milch?«

»Au, ja, gern.« Mein Blick glitt über die Kommode, der sie soeben zwei Tassen entnahm. An einer Reihe Haken hingen mehrere hübsche Milchkrüge, das Regal darüber füllte Tante Sues »Werktagsgeschirr«, in einem weiteren stand das Sonntagsservice, und ganz oben hatte sie ihre eklektische Teekannen-Sammlung geparkt, mit der ich schon als kleines Mädchen gespielt hatte. Da gab es Kannen in sämtlichen Formen und Farben, angefangen von modernen katzenförmigen bis hin zu altmodischen aus Porzellan.

»Das Süße-Träume-Spezialmenü?«

»Das wäre himmlisch, Tante Sue«, seufzte ich.

Sie lächelte in sich hinein, während sie mir mein Lieblingsabendessen zubereitete: getoastetes hausgemachtes Brot mit Butter und gezuckerte heiße Milch mit einer Prise Muskat.

»Danach schläfst du wie ein Murmeltier«, hatte sie mir früher immer prophezeit.

Als sie die Milch aus dem Kühlschrank holte, kletterten die beiden Stubentiger aus ihrem Körbchen und begannen ihr um die Beine zu streichen.

»Ja, ist ja gut, ihr zwei. Aber nur ein kleines Schälchen«, murmelte sie.

»Welche ist noch mal Benny und welche Björn?«, fragte ich.

Tante Sue ist ein großer ABBA-Fan.

»Björn hat zwei weiße Söckchen, Benny drei«, erwiderte sie.

»Und er spielt Klavier«, murmelte Onkel Arthur, und wir lachten leise, während Tante Sue erneut mit der Zunge schnalzte.

»Danke, dass du gekommen bist«, flüsterte er und ergriff meine Hand, und ich drückte sie mir an die Wange. Er roch wie immer, nach Gras mit einem Hauch Kuhstall, was nicht so unangenehm ist, wie es vielleicht klingt. »Nicht, dass wir nicht auch ohne dich klarkommen würden. Aber deine Anwesenheit wird sie bestimmt aufmuntern«, sagte er und deutete mit dem Kopf in Richtung Tante Sue. »Sie braucht ein bisschen weibliche Gesellschaft.«

Ich biss mir auf die Unterlippe. »Ich hoffe es.« Ungefähr dasselbe hatte Tante Sue vorhin auch gesagt. Klang ja fast, als wäre sein gebrochenes Handgelenk nicht das einzige Problem. Okay, Treckerfahren war für ihn in nächster Zeit unmöglich, aber das konnte doch sicher auch Eddy übernehmen, oder sie konnten für ein paar Wochen eine Aushilfe einstellen …

Sollte ich nachhaken? Ich öffnete den Mund, klappte ihn jedoch wieder zu, als Onkel Arthur mit weit aufgerissenem Mund gähnte. Der Ärmste, er war bestimmt total erledigt nach diesem unschönen Tag.

»Ab ins Bett mit dir, Artie«, befahl Tante Sue, die am Küchentisch stand, wie auf ein Stichwort und schwenkte das Buttermesser.

»Ich durfte nur so lange aufbleiben, bis du kommst«, feixte er und zwinkerte mir zu, nur um sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die bandagierte Stirn zu fassen. »Autsch. Ich vergesse immer, dass ich das besser bleiben lassen sollte.«

Er stellte die Füße auf den Boden, und ich half ihm beim Aufstehen. »Dabei hast du mir noch gar nicht erzählt, was es bei dir Neues gibt.« Er griff erneut nach meiner Hand. »Aber wie ich sehe, trägst du noch keinen Ehering.«

»Das Plaudern holen wir morgen nach«, vertröstete ich ihn und küsste ihn auf die Wange, wobei ich mich wohlweislich von seinen Rippen fernhielt. »Hast du irgendwelche besonderen Anweisungen für mich?«

»Dafür ist in den nächsten Tagen noch genügend Zeit«, winkte er ab und schlurfte in Richtung Flur. »Gute Nacht.« Er erklomm die Treppe, und ich sah ihm nach, bis er verschwunden war, ehe ich mich an den Küchentisch setzte und mich über mein Butterbrot hermachte.

»Ach, danke«, seufzte ich, als sich Tante Sue mit zwei Bechern dampfender, herrlich duftender Milch zu mir gesellte.

Sie schraubte eine Flasche Brandy auf und goss einen ordentlichen Schuss in beide Tassen. »So, dann erzähl mal«, sagte sie und setzte sich. »Und zwar alles.«

❊ ❊ ❊

Ich weiß nicht, ob es am Brandy lag, an den schweren Wolldecken (bei Tante Sue gibt es keine Federbetten) oder an der besonders sauerstoffreichen Landluft, jedenfalls schlief ich tief und fest bis zum nächsten Morgen.

Gegen neun kletterte ich aus meinem schmalen Bett und zog die Vorhänge auf.

Nun würde ich gern behaupten, dass das Wetter traumhaft war und sich mir ein herrlicher Blick durchs Tal bis hinunter zum Lake Windermere eröffnete, doch das wäre gelogen gewesen.

Kaum waren Tante Sue und ich gestern ins Bett gegangen, hatte heftiger Regen eingesetzt, und obwohl es jetzt wieder einigermaßen trocken war, hingen dicke graue Wolken am Himmel, so tief, dass es den Anschein hatte, als müssten sie die Baumspitzen und die Dächer der auf den umliegenden Hügeln und Wiesen verstreuten Häuser streifen.

Ich duschte, zog mich an und band mir die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, dann ging ich in die Küche und genehmigte mir eine Tasse Tee aus der Kanne, die auf dem Herd stand. Das Haus war leer, also schlüpfte ich in Jacke und Gummistiefel und begab mich mit meiner Tasse nach draußen.

Ich folgte dem moosbewachsenen gepflasterten Gehweg durch den Garten, in dem überall Frühlingsblumen blühten, und trat auf den mit Pfützen übersäten Hof.

Puh! Was für ein Gestank! Der war mir gestern gar nicht aufgefallen. Ich nippte an meinem Tee und ließ den Blick über die diversen Gebäude schweifen, die mich umgaben.

Die meisten waren um den Hof gruppiert: Das zweistöckige alte Wohnhaus, ein gedrungener Bau aus verwittertem taubengrauem Stein, bildete das Herzstück der Farm und wurde flankiert von Scheunen auf der einen und Tante Sues Gemüsebeeten und dem riesigen Obstgarten auf der anderen Seite.

Gegenüber befanden sich der Kuhstall, der Melkstand und die alte Molkerei, die aus dem gleichen grauen Stein erbaut worden waren wie das Haus. Beim Überqueren des Hofs fiel mir auf, dass die Dächer mehrere Löcher hatten. Dennoch tat der Umstand, dass alles etwas baufällig wirkte, dem charmanten Gesamteindruck keinen Abbruch. Es war schön, wieder hier zu sein.

Neben der alten Hundehütte blieb ich stehen und spähte über den Zaun des Auslaufs hinüber zum Hühnerstall, einer aus rauen Holzplanken zusammengezimmerten mobilen Hütte auf Stelzen mit Fenstern, Rampe, Spitzdach und allem Drum und Dran. Zwischen den Rädern erspähte ich inmitten der etwa dreißig gut genährten Hennen, die geschäftig auf dem Boden herumpickten, ein Paar Gummistiefel.

»Morgen! Wie geht’s Onkel Arthur denn heute?«

»Hallo, Liebes.« Tante Sue richtete sich auf und spähte über die Nistkästen hinweg zu mir rüber. »Artie schmollt, weil ich ihn ins Büro verbannt habe.«

»Oje.« Ich verzog das Gesicht. Im Erdgeschoss des Wohnhauses befindet sich ein Esszimmer, das nie benutzt wird, sowie ein kleines Büro, in dem Onkel Arthur immer möglichst wenig Zeit verbringt. Er ist eben ein Naturbursche, genau wie ich.

Tante Sue schwenkte einen Weidenkorb. »Rate mal, was es zum Frühstück gibt!«

»Frische Eier! Lecker. Soll ich das übernehmen? Was pochierte Eier angeht, muss ich noch etwas üben, aber weich gekochte bekomme ich allemal hin.«