Wofür brennst du?! - Christian Schiffer - E-Book

Wofür brennst du?! E-Book

Christian Schiffer

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der passionierte und bei Schülern wie Kollegen sehr beliebte Gymnasiallehrer Sebastian Gericke erfährt im Alter von vierunddreißig Jahren, dass er an "Frontotemporaler Demenz" (FTD), einer besonders seltenen Form der Demenz, erkrankt ist. Sein bisheriges Leben aus Beruf, Familie und privaten Interessen gerät vom einen auf den anderen Tag völlig aus den Fugen. Wie soll er sein weiteres Leben bestreiten? Was, wenn er alles um sich herum nach und nach vergisst? Und wer hilft ihm dabei, seine Anliegen und Krisen aus der eigenen Vergangenheit zu bewältigen, bevor die jeweiligen Erinnerungen für immer erloschen sind? Sebastian muss sich auf der folgenden Reise seiner größten Furcht stellen: der eigenen Erinnerung!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



CHRISTIAN SCHIFFER

Auflage 2024

             Kapitel 1 - Sommerhitze

Sommer 2019

 

1.

Wenn man flach geradeaus über den Asphalt schaute, ganz bis zum Horizont und darüber hinaus, konnte man das sommerliche Flimmern der Luft mit bloßem Auge erkennen. Wie aufgeregte, durchsichtige Wellen schlich hier die Thermik über den von Hitze aufgeladenen Straßenbelag, der tagtäglich tausende, wenn nicht hunderttausende Autos, Lkw, Motorräder und sogar Schwertransporter aushalten musste.

Sebastians Beine fühlten sich von der sengenden erbarmungslosen Sommerhitze schon ganz schwer und ausgelaugt an, jeder Schritt ein Martyrium – jede Bewegung Auslöser eines neuen Schwalls Körperschweiß, der unaufhörlich von den Schultern kommend über den Rücken rann und sein Polohemd schon seit geraumer Zeit in einen nassen Baumwollsack verwandelte, kein Ende in Sicht.

 

„MÖÖÖÖP“, hupte ihn ein vorbeifahrendes Auto an. Es war jetzt bestimmt das zwanzigste, dreißigste seiner Art gewesen, und doch erschrak Sebastian bei jedem lauten Hupen aufs Neue. Auch die vielen „GEHT`S NOCH?!“-Ausrufe und „MEISTER, BIST DU NOCH GANZ DICHT IN DER BIRNE?!“-Schreiattacken aus den vorbei zischenden Fahrzeugen brachten ihn immer wieder für Sekundenbruchteile kurz durcheinander, kurz wieder zurück.

Wenn er auch nicht jede Wortmeldung akustisch verstand, die Gesten hinter den Autoscheiben waren teilweise deutlicher als jede Schimpftirade es hätte sein können – ein Mittelfinger oder der „Scheibenwischer“ mit der Hand vor dem Gesicht als Geste der Abfälligkeit in seine Richtung waren ja wohl eindeutig genug. War er nicht auch mit einem Auto unterwegs gewesen? Doch! Stimmt! Aber dann hatte ihn dieses ungute, dieses bedrohliche Gefühl von Platzangst und Orientierungslosigkeit schon wieder überfallen. Das passierte jetzt immer häufiger. Es schlich sich klammheimlich an und packte ihn dann im Würgegriff wie eine bösartige Kreatur mit scharfen Klauen und stinkendem Atem. Anfangs war er wenigstens tagsüber vor dem düsteren Anrauschen, der dumpfen Tumbheit in den Schläfen, dem Schwindelgefühl und der subtilen, gestaltlosen Angst sicher gewesen. Doch seit ungefähr vier Wochen – einem Monat schon! war er der Bestie rund um die Uhr willkürlich ausgeliefert.

 

„MÖÖÖÖÖÖP!“ Ein besonders tiefes und bassiges Lkw-Horn riss ihn aus seinem panischen Gedankenmatsch, der riesige Vierzigtonner fuhr demonstrativ nah und langsam an Sebastian vorbei, er konnte den kühlen Luftzug auf der Haut spüren, es schüttelte ihn richtig, da der nassgeschwitzte Rücken die plötzliche Kälte direkt multiplizierte.

„DU BLÖDER WICHSER! DAS IST DIE A3 UND KEINE LAUFSTRECKE!“, brüllte ihn der Fahrer aus der Kabine an, während die Lkw-Pneumatik bedrohlich zischte und raunzte, als würde sich selbst das massige Fahrzeug über ihn aufregen wollen.

Sebastian nahm all diese äußeren Faktoren nur schemenhaft wahr, wie durch eine Plexiglasscheibe hindurch gefiltert, ein wirres Abbild der Realität, wie er sie kannte und verstand.

Heute Morgen war noch alles in Ordnung gewesen. Er hatte sich um sechs Uhr fünfzig in sein Auto gesetzt, war zur Schule gefahren und hatte nach einem kleinen Kreislaufproblem im Lehrerzimmer wenig später den Unterricht in der 8D begonnen. „Vasallentreue des Fränkischen Reiches“ Trockener Stoff, da musste man durch! Das Mittelalter setzte den jungen Schülerinnen und Schülern zu, es war auch tatsächlich nicht sein historisches Lieblingskapitel, da Religion und Staat damals eine gemeingefährliche Symbiose der Dauergewalt und Mordlust eingegangen waren.

Tja, aber so war das nun mal mit dem Lehrplan. „Curriculum bringt Freude um!“, pflegte sein Kollege und Duz-Kumpel Raphael Schnittmann zu sagen. Raphael unterrichtete – wie er – Englisch und Geschichte an der Weibelfeldschule in Dreieich bei Frankfurt am Main. Die beiden waren zeitgleich vor zwei Jahren eingestellt worden. Für Sebastian war es bereits die zweite Schule seiner Berufslaufbahn, Schnittmann war mit seinen sechsundzwanzig Jahren frisch von der Uni gekommen. Eigentlich hätte er „locker“ noch promovieren können in Geschichte, aber seinem Vater war die Dauerstudiererei seines Juniors nach fast acht Jahren zu bunt geworden, es musste jetzt mal ein Punkt gemacht werden, beziehungsweise ein zweites Staatsexamen inklusive Referendariat. Er kam an die Weibelfeldschule und wurde Sebastian als Protegé zugeteilt, obwohl dieser lediglich sechs Jahre älter war als Schnittmann.

„Das machen Sie doch mit links, Herr Gericke! Bisschen dem Jungspund das Fliegen zeigen, jetzt wo die Nestwärme von der schönen Uni fehlt“, hatte sein Vorgesetzter, Herr Doktor Telben, gemeint und ihn unangenehm jovial in die Seite geknufft. Ekelhaft, wie zwei Gläser Sekt manche Leute aufweichten, jegliche Distanz verschwinden ließen.

„Ja, gut. Mal sehen“, hatte Sebastian peinlich berührt und unbeholfen zurückgestottert, „mit neuen Leuten kann ich ja per se ganz gut.“

Bingo, Telben zwinkerte ihm zu und Sebastian konnte sich zum ersten Mal so richtig leibhaftig vorstellen, wie er – Telben – als junger Mensch gewesen sein musste: distanzlos und widerlich! Das war er jetzt auch noch, allerdings in alt.

 

„SAG MA, HAST DU HEUT MORGEN SCHNAPS INS MÜSLI GEKIPPT“, keifte es von irgendwoher zu ihm. Sebastian hielt kurz inne, verlangsamte aber sein Lauftempo nicht merklich. Von wo kam das denn jetzt? Es war doch nach dem Lkw kein anderes Fahrzeug mehr an ihm vorbeigerauscht. Oder doch? „EYYY! HIER OBEN, DU VOLLHORST!“ Er tat, wie ihm befohlen, und legte den Kopf in den Nacken, kniff aber alsbald die Augen kräftig zu, damit ihn die Sonne nicht frontal blenden konnte. Durch einen winzigen Spalt öffnete er sie wieder und konnte die Silhouette einer jungen Frau erahnen, die auf einer Autobahnbrücke stand und halb ängstlich, halb wütend mit den Armen in seine Richtung wedelte. Ne, jetzt wird nicht gestoppt! Besser läuft er die zehn Kilometer sicher nicht mehr so bald. Muss sie einsehen, müssen alle einsehen! Wieso kamen keine Autos mehr, gar nix mehr? Seine Gedanken wurden unscharf, der Puls schlug bis zum Hals – ach was: AUS dem Hals! Wo war er denn? Warum war sein Auto weg? Wie weit war es noch und wohin sollte er laufen, wenn er gleich nicht mehr konnte? Sebastian dachte nicht ans Aufgeben, das kam gar nicht in die Tüte!

Na schön, kurze Pause. Keuchend und am Ende seiner Kräfte drehte er sich um, nahm die Lage in Betracht. Er war seit bestimmt knapp vier Kilometern auf der rechten Fahrspur der Autobahn gelaufen, zwei weitere Spuren lagen links von ihm, eine vierte war von rot-weiß gestreiften Warnbarken und gelben Fahrbahnlinien als Baustelle kenntlich gemacht. Dann die Leitplanke und dieselbe Anzahl Fahrspuren auf der anderen Seite noch mal. Klar, für die andere Richtung halt, weiß man doch.

Dann ein Seitenstreifen und eine größere Baustelle gesäumt von einer Sandmulde, die gleichzeitig als Abstellfläche für die benötigten Baustellenfahrzeuge fungierte. Genau dort stand eine Gruppe Gelbhemden mit Schaufeln und gelben Helmen auf den Köpfen. Sichtlich besorgt winkte ihm der Mann ganz außen zu, seine Kollegen standen mit eingefrorener Miene und teilweise gezückten Mobiltelefonen daneben und wirkten geschockt bis amüsiert bei seinem Anblick. Er wollte so etwas rufen wie „Alles in Ordnung!“ Oder auch: „Wie weit ist es bis Dreieich?“ Doch seine Überlegungen wurden von einem riesigen Lärm überschattet, wobei Schatten durchaus wörtlich zu nehmen war: Ein gigantischer Schatten, von tosendem Motorengeräusch begleitet, hüllte ihn und seine nähere Umgebung in wohltuendes Dunkel. Sebastian blickte leicht auf und konnte die ausklappenden Reifen eines riesigen Flugzeugs über seinem Kopf ausmachen, die sich elektronisch surrend in die Choreografie aus Lärm, Wind und Schattenwurf einfügten. Der mitgebrachte Fahrtwind riss wie ein unsichtbares Seil an den umliegenden Sträuchern, Flatterbändern und allem, was lose am Boden existierte. Dem Flugzeug mit starrem Blick folgend, erkannte Sebastian die Gebäude des Flughafens neben der Autobahn. Die große Aufschrift „Frankfurt Airport“ in blauen Lettern verhieß wohl nichts Gutes.

Das konnte nicht sein! Er war doch eben noch auf dem Parkplatz seiner Schule gewesen, hatte die Tragetasche mit seinen Unterlagen und der Brotdose auf dem Beifahrersitz verstaut und sich über die Musikauswahl seiner Frau Stephanie aufgeregt. (Wie konnte sie nur eine Flamenco-CD im Player lassen? Jeder weiß doch, dass Flamenco nur im Spanienurlaub richtig funktionierte. Dasselbe galt für Matjes Brötchen zu Hause: schmeckt nicht! Dafür musste man schon am Hafen stehen, die Möwen über sich kreisen hören und mindestens zwei Schiffe mussten dazu am Horizont um den besseren Platz im Sonnenuntergang konkurrieren, kurz bevor die große, gelb-rote Sonne ins Meer zu fallen schien).

Aber egal, er hatte die CD in ihre Hülle zurückbefördert, ins Handschuhfach gelegt und war losgefahren. Das hier war grotesk! Flughafen? Und wieso fuhr jetzt überhaupt kein Auto mehr? Auf allen Fahrspuren in beide Richtungen herrschte gespenstisch-gähnende Leere, eine fast meditative Ruhe. Nur die Sommerhitze und ein ganz leichter Wind, gepaart mit immer wieder hörbar hochfahrenden Flugzeugturbinen, sorgte dafür, dass man sich nicht der Illusion einer Welt auf Pause-Taste, einem Dasein im Mute-Modus hingeben konnte. Sebastian atmete hektisch. Was war nur passiert? Er war vom Parkplatz der Schule gefahren, hatte sich eingereiht in die Schlange auf der Linksabbiegerspur, hatte den Gegenverkehr ordnungsgemäß durchgelassen und war dann Richtung Heimat gefahren.

Hatte ihn dieses Gefühl etwa wieder überfallen? War die große schwarze Glocke aus Angst und Hilflosigkeit schon wieder über seine Wahrnehmung gelegt worden? Aber wieso diese Blackouts, dieses Abreißen aller Erinnerung? Er hatte keinerlei Erinnerung daran, aus seinem Wagen gestiegen zu sein. Wo war der denn überhaupt? Die Panik kroch in ihm hoch. Erst ganz langsam, dann aggressiv und laut. Er konnte sein Blut in den Ohren rauschen hören, und seine Umwelt wurde dumpf und undeutlich, als wäre er unter Wasser. Aber kein angenehmes Planschen im See, sondern ein Runtergedrückt-werden, ein Gegenwirken, das ihn am Atmen und Auftauchen hindern wollte. HILFE! Das muss aufhören!

Sebastian drehte sich zu allen Seiten um, blickte von Angst bewegt in sämtliche Richtungen: Flughafen, Autobahn, Sträucher, Baumreihe, eine Wand aus Blaulichtern, die näherkam.

„NEIN! Nicht mit mir“, dachte er und lief wie von Sinnen und unter Todesangst los. „Einfach geradeaus, einfach weg hier!“ Die Wand aus Blaulicht – mittlerweile eine stattliche Verfolgerschar aus mindestens fünfzehn Einsatzfahrzeugen der Polizei und Flughafensicherung – näherte sich immer mehr und konnte nicht mehr weit von ihm entfernt sein. Hitze, Angst und Orientierungslosigkeit ließen Sebastians Kräfte trotz über zwanzig Jahren Leichtathletiktraining sehr bald schwinden, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis sich seine Lage als aussichtslos herausstellen sollte. Außer sich vor Atemlosigkeit, unter Schmerzen der Beine und des gesamten Körpers, seinem mutmaßlichen Tod durch Herz- oder Hirnschlag in greifbare, absurde Nähe gerückt, wollten ihn seine Füße nicht mehr länger tragen. Dem „BLEIBEN SIE STEHEN!“ aus den Polizei-Megaphonen hinter und neben ihm konnte er nicht mehr Folge leisten. Die Tragkraft der Beine versagte endgültig, Sebastian spürte erst sein linkes Knie unsanft den glühend heißen Asphalt treffen, dann das rechte. Mit den Handflächen konnte er sich zwar vor einem kompletten Desaster in Form eines Aufschlags mit dem Schädel bewahren, aber durch die Geschwindigkeit und Vehemenz des Sturzes waren auch die Handgelenke hinüber, zumindest verstaucht – wenn nicht sogar gebrochen.

„Mist, elender Mist! Ich will weg, ich will unsichtbar sein und wieder als Kind zu Hause bei Mama und Papa leben!“, fuhr es ihm durch den Kopf, als ihn starke Hände packten. So viele, dass er nicht auf Anhieb wusste, wer da alles an ihm zog. Er versuchte gar nicht erst, sich zu wehren, sondern genoss, dass sämtliche Körperspannung aus ihm weichen durfte und ab jetzt alles für ihn erledigt würde. Man tat ihm nicht weh, sondern gut. Er wurde jetzt repariert, das würde schon wieder.

„Danke“, wollte er sagen, aber das schlagartige Abebben der Panik machte ihn ohnmächtig.

 

In der Werbeagentur „MainDesign“ im noblen Frankfurter Stadtteil Westend-Nord, klingelte das Telefon auf Stephanie Gerickes gläsernem Bauhaus-Schreibtisch, der das imposante Zentrum ihres bis ins kleinste Detail durchdachten Büros bildete. Das Telefonklingeln war – ebenso wie der bisher recht anspruchsvolle Arbeitstag mit einer Vielzahl kraftzehrender Projektarbeiten längst zur Nebensache geraten. Thema Nummer eins war heute zweifellos der „Irre auf der Autobahn“, eine wenig schmeichelhafte, dafür umso reißerischere Schlagzeile, die den Lokalsender seit einer guten Stunde zu immer drastischer werdenden Spekulationen über einen skurrilen Vorfall auf der A3 in Höhe des Flughafens verleitete. Immerhin war dem Sender die lückenlose und topaktuelle Berichterstattung ein eigener Helikopter wert, der knapp über den Geschehnissen kreiste.

Da lief doch tatsächlich ein erwachsener Mann bei Tageslicht und zu einer Uhrzeit, die Alkohol- und Drogenkonsum als Motivation zumindest unwahrscheinlich werden ließ, wie ein Olympionike in Bestform über eine der meistbefahrenen Strecken Deutschlands. Erneut klingelte das Telefon auf Stephanies Schreibtisch, wieder wich ihr Blick nicht vom Fernsehgerät im Büro, vor dem sich ihre gesamte Abteilung mittlerweile belustigt und wild spekulierend tummelte.

„Was geht nur in so jemandem vor?“, schoss es ihr durch den Kopf, halb besorgt um den verirrten Autobahnläufer, halb bewundernd: Da hatte also mal einer diesen modernen Mythos der „Alltagsflucht“ durchaus wörtlich genommen.

„Du wirst eine Ewigkeit nach Hause brauchen, wenn sie die Autobahn nicht freigeben“, streute ihre verhasste Kollegin Claudia Degen in Stephanies Tagtraum ein und holte sie unsanft in das Hier und Jetzt zurück.

Claudia Degen sagte alles mit dieser wohlüberlegten und diabolisch platzierten Spitzfindigkeit, jede Äußerung ihrerseits war eine subtile Attacke, virtuos verstecktes Mobbing der allerersten Güteklasse. Aus ihrem Mund klang ein ansonsten freundliches „Wow, hast du abgenommen?“ immer wie die Einleitung zu einem nonverbal folgenden „Du warst nämlich vorher zu fett und bist es eigentlich immer noch!“

Keine Frau, mit der Stephanie außerhalb des Büros zu tun haben wollte. Leider war man aber bisweilen beruflich schon häufiger aneinander gebunden gewesen. Was Stephanie in Sachen Grafikverständnis und kreativer Umsetzung ausmachte, das konnte Claudia Degen punktgenau am Markt platzieren, dem Kunden wie das eine „heiße Ding“ verkaufen, auf das dieser immer schon gewartet hatte.

Obwohl beide Frauen nicht gegensätzlicher hätten sein können, waren sie für die Zusammenarbeit wie füreinander geschaffen. Sie waren die Lennon/McCartneys der Frankfurter Werbebranche – alleine gut, im Team unschlagbar.

Erneut meldete sich mit lautstarkem, mechanischem Ton das Festnetztelefon. „Dann geh halt mal ran, Steph!“, appellierte Claudia Degen an ihre Kollegin, wieder mal ein bisschen zu bestimmt und chefig im Unterton. Stephanie schenkte ihr ein Grinsen der Marke „sieht freundlich aus, kann aber Beine brechen“ und entschied sich tatsächlich dazu, den penetranten Anrufen auf den Grund zu gehen.

Gerade, als sie zum Hörer griff, erkannte sie auf dem TV-Bildschirm ein Detail, das ihr das Blut vom großen Zeh bis in die Stirn gefrieren ließ: In einer Baustelleneinfahrt der Autobahn stand ganz ohne jeden Zweifel Sebastians dunkelblauer Skoda Octavia! Das konnte nicht sein! Er war doch noch in der Schule bis zum Nachmittag, schließlich hatte er heute nach seinen sechs Unterrichtsstunden noch die Theater AG zur Probe auf seinem Stundenplan. Unerbittlich fuhr die Helikopter-Kamera näher an das völlig konfus und rücksichtslos abgestellte Auto heran. Zwar wurde das Kennzeichen sofort aus daten- und persönlichkeitsrechtlichen Gründen ordnungsgemäß verpixelt, aber der kleine weiße Kinderaufkleber auf der linken Seite der Heckklappe mit der Aufschrift „Roman an Bord“ war gestochen scharf zu erkennen und machte den Wagen unverwechselbar zu ihrem gemeinsamen Eigentum. Roman hatte ähnliche Aufkleber an den Autos der Eltern seiner Spielkameraden entdeckt und anschließend auf seinem eigenen bestanden. Sebastian war daraufhin stolz seiner Vaterrolle nachgekommen und hatte den Aufkleber selbst am Computer entworfen, auf einer Klebefolie ausgedruckt und genau dort aufgetragen, wo er nun für Millionen Menschen in Hessen sichtbar war. Stephanies Atem stockte, die Außengeräusche wurden dumpf wie eine langsamer abgespielte Schallplatte und ihr Blick fiel auf das immer fortwährend klingelnde Telefon.

„Jetzt nimm endlich ab, Steph! Was, wenn es ein Kunde ist?“, bohrte sich Claudia Degens schrill-piepsige Nervensägen-Stimme in Stephanies Benommenheit hinein. Sie holte tief Luft und griff beherzt, aber von Angst gesteuert zum Hörer. „Das ist kein Kunde! Glaub mir!“

 

2.

Sebastian hatte unfassbar großen Durst. Wieso gab es hier eigentlich nichts zu trinken? Und wo waren bloß sein Handy, das Portemonnaie und die Autoschlüssel? Hatte er doch sonst immer alles akkurat dabei, für jeden Gegenstand einen angestammten und immer gleichen Platz. Schon immer. Er saß allein und völlig ausgelaugt in einem hell erleuchteten Raum, schätzungsweise einem Behandlungszimmer.

Das war schon mal deutlich besser als die Räumlichkeiten der Polizei, in die man ihn zuerst gebracht hatte nach seiner Verhaftung auf der Autobahn.

„O nein, Stephanie wird ausrasten, wenn sie davon erfährt!“, waren seine ersten Gedanken, während er mit ausharrenden Blicken den Raum durchforstete nach Indizien: Medikamentenliste in Form einer mehrbändigen Buchreihe? Arzt! Check! Papierschaubilder an der Wand mit Abbildungen und Querschnitten des menschlichen Gehirns: auch Arzt! Check! Ein Blick durch die großen Flügelfenster nach draußen war leider nicht möglich, da es sich offenkundig um Milchglas handelte. Nur schemenhaft ließ sich erahnen, was dahinter vor sich ging. Höchstens ein Rettungswagen war mit etwas Fantasie erkennbar, die neonroten Schriftzüge, die er draußen verschwommen identifizierte, konnten wohl kaum zu einem privaten Fahrzeug gehören.

Er fuhr erschrocken zusammen, als sich abrupt die Tür zu seinem Raum öffnete und ein großer, recht hagerer Mann um die sechzig mit einem Arztkittel bekleidet eintrat. „Arztkittel: Arzt! Check!“, komplettierte Sebastian seine Gedanken zur Indiziensicherung und wurde spürbar ruhiger. Hier würde man ihn also nicht weiter ausfragen oder sogar harsch anschnauzen, ob er wüsste, wie sehr er sich und andere in Gefahr gebracht habe da draußen. Nein, hier war jetzt sein „safespace“ und der väterlich anmutende Mediziner mit der schlauen Brille und dem strengen Haarschnitt hielt hoffentlich nur gute Neuigkeiten auf seinem mitgebrachten Klemmbrett für ihn bereit.

„Herr Gericke, ich mache dann jetzt weiter mit der Untersuchung, wenn es recht ist. Sollten Sie aber ein weiteres Mal Gegenstände nach mir werfen, dann schließen wir Sie für heute weg! Okay?“

Was?! Was hatte das alles zu bedeuten? Sebastian hatte doch soeben die Lage sondiert und nichts Ungewöhnliches dabei ausmachen können. Der Doktor legte in einer routinierten Art von überlegener, weil wissender und professionell erlernter Geduld Sebastians Sachen auf den hölzernen Schreibtisch, an dem sie sich gegenübersaßen. Handy, Autoschlüssel, Portemonnaie. Auf ihn war eben Verlass.

„Mit dem Schlüssel haben Sie mich am Arm getroffen, das wird sicher dick und blau. Und das Handy war schon kaputt bei Ihrer Ankunft“, murmelte der Doc, etwas in seine Unterlagen schreibend in Sebastians Richtung.

„Wo bin ich?“, fragte dieser kleinlaut – die Sache mit seinen persönlichen Gegenständen als Wurfgeschossen tat ihm sehr leid. „Was genau untersuchen wir jetzt? Ich fühl mich ganz gut, Herr Doktor.“ Fragend suchte er nach einem Namen auf dem Kittel, konnte aber partout keinen finden.

„Quandt. Ich bin Doktor Quandt von der psychiatrischen Ambulanz der Uniklinik Frankfurt. Das hatten wir aber alles bereits, also notiere ich hier Orientierungslosigkeit und Gedächtnislücken, Herr Gericke“, äußerte Doktor Quandt in seiner sonoren, aber vertrauenserweckenden Stimmlage.

„Ich … äh … ich bin eigentlich fit, Herr Doktor!“, setzte Sebastian nach und versuchte leicht vorgebeugt, ein Auge auf den ärztlichen Bericht zu werfen, was Doktor Quandt mit einem Seufzen und dem demonstrativen Umdrehen der Seite quittierte. Der Mediziner blickte Sebastian tief in die Augen und fuhr fort.

„Dass Sie körperlich in beeindruckender Form sind, das haben die Polizisten auf der A3 zu spüren bekommen! Donnerwetter, da sind ja auch sportliche Leute am Werk, aber Sie waren ihnen weit überlegen. Sportabzeichen in Gold wär heut’ drin gewesen, Herr Gericke!“

Sebastian lächelte kurz, dann verfinsterte sich Doktor Quandts Miene zu einem neugierigen und besorgten Wissenschaftlerblick, der jegliche Empathie zugunsten reiner Wissenserkenntnis zurückstellte. Sebastian kannte diesen Blick aus seiner Zeit an der Uni und von sich selbst, dem Historiker Sebastian Gericke, der auch fast Doktor geworden wäre.

„Körperlich stimmt da so weit alles bei Ihnen, aber geistig ist einiges im Argen. Und wir finden jetzt raus, was genau!“, schob Quandt vor, während seine knochigen Hände über das Papier vor ihm strichen und weitere Notizen machten. Sebastian schluckte hörbar und schaute sich nervös um. Das Ticken der Wanduhr wurde gefühlt von Sekunde zu Sekunde lauter, unerträglich. Der Sekundenzeiger schnellte passend dazu wie ein dünnes rotes Schwert über das Ziffernblatt, zerlegte den Tag unaufhörlich in Miniportionen aus vierundzwanzig Stunden, die jetzt alle dem Anschein nach gegen ihn waren.

 

Endlich war Stephanie in der Uniklinik eingetroffen. Sie hatte ihre Schwester angerufen und darum gebeten, den kleinen Roman von der Kita in Dreieich abzuholen und vorübergehend zu sich nach Hause mitzunehmen. Es war immerhin nicht wirklich absehbar, wie lange die Prozedur hier dauern würde und vor allem, was denn jetzt tatsächlich mit Sebastian los war.

„Sicher, überhaupt kein Problem“, hatte Susanne am Telefon gesagt und noch „alles gut bei dir?“, als sie den verzweifelten Unterton in der vertrauten Stimme ihrer kleinen Schwester heraushörte.

Gut? Gar nichts war mehr gut!

Die Polizei hatte ihr am Telefon mitgeteilt, man habe Sebastian stark konfus und verstört aufgegriffen und Sanitäter hätten ihn medikamentös ruhigstellen müssen. Nun sei er – nachdem Alkohol-, Drogen- und Sicherheitschecks nichts Besonderes ergeben hatten – in die Uniklinik verfrachtet worden. Außerdem hatte mit Sicherheit ihre halbe Nachbarschaft das Lokalfernsehen verfolgt und natürlich das Auto ihres Mannes ebenfalls haargenau identifiziert. Jedenfalls quoll ihr Handy vor SMS, WhatsApp-Nachrichten und Anrufen in Abwesenheit geradezu über, als wäre die Situation noch nicht erdrückend und unangenehm genug für sie. Mit zittrigen Händen und von Tränen verlaufener Schminke war sie vor der Werbeagentur in ihren Wagen gestiegen und hatte sich, einem blinden Automatismus folgend, den Weg zur Klinik gebahnt. Hätte ein Moment der Gefahr oder generell etwas Unvorhersehbares ihre Geistesgegenwart und rasches Handeln erfordert, dann wäre es zum zweiten Verkehrsdelikt für Familie Gericke an diesem ansonsten so tadellosen Sommertag gekommen.

An der Schranke zur Krankenhauseinfahrt hatte Stephanie eine Parkkarte gezogen, das Auto auf einem Parkplatz in der unmittelbaren Nähe zum Eingang abgestellt und sich an der Rezeption der psychiatrischen Ambulanz nach dem Verbleib ihres Ehemannes erkundigt. Psychiatrische Ambulanz! Einer dieser Orte, von deren Existenz man irgendwann mal aus Zeitungsartikeln oder Fernsehberichten erfahren hatte. Klapsmühle! Da kamen die Kaputten hin, die Verrückten. Leute wie Bodo, der Schreihals-Obdachlose aus ihrer Siedlung. Dort wurden sie dann aufgenommen, sediert und nach kurzer Zeit aus Kosten- und Rechtsgründen wieder entlassen. Keine zwei Tage später war Bodo dann wieder an seinem Stammplatz zwischen dem Drogeriemarkt und der Kirche zu finden gewesen, lauter und verwirrter als bereits zuvor. Wenn man so war, dann kam man hier hin, dann kannte man sich hier aus. Aber ihr Sebastian doch nicht!

 

„Stephanie?“ Sebastians erstes Wort der Begrüßung lag emotional zwischen ungläubiger Frage und erleichterter Feststellung: Sie war da! Seine Frau stand zu ihm und würde ihn nicht einfach hier verrotten lassen. Egal, was Doktor Quandt da alles aufschrieb und murmelte, egal, was die Instrumente, Geräte und Untersuchungen noch ans Tageslicht befördern würden: Auf Stephanie war Verlass. Immer schon. Er stand von dem unpersönlich klobigen Untersuchungstisch auf, lief ihr wie ein Kind in die Arme und konnte nicht mehr an sich halten; die Tränen mussten jetzt raus und Angst und Kummer mit sich reißen, einfach raus aus dem System, aus dieser trockenen Panikhülle, die sich nicht mehr nach ihm anfühlte. Ihm ging es augenblicklich besser.

Stephanie zog ihn sehr fest an sich, spürte, wie seine Tränen ihre Bluse an der Schulter einweichten und hielt ihn einfach stumm fest, während Sebastians Körper unter der Last bebte und wimmerte, die sich nun explosionsartig von ihm löste.

„Das ist alles nur der Anfang. Und es könnte grausam werden“, dachte sie still. Aber jetzt musste sie zunächst Anker sein, musste ihn festhalten.

 

3.

In den nächsten Stunden durchlief Sebastian unter der strengen Aufsicht Doktor Quandts eine Vielzahl diverser Untersuchungen. Den Anfang machte ein Testverfahren, dessen Ziel es war, Sebastians kognitive Fähigkeiten genauestens zu analysieren und aufzuzeigen. Teil eins der Untersuchung stellte der klassische „Uhren-Test“ dar, bei dem der Proband lediglich die Aufgabe erhält, aus dem Gedächtnis und mit freier Hand – ohne die Zuhilfenahme einer tatsächlichen Uhr – eine ebensolche aufzumalen, inklusive aller Ziffern und Zeiger. In Sebastians Fall wurde die Uhrzeit Viertel vor eins zur Abbildung erbeten und er begann eifrig mit der Zeichnung.

Währenddessen wartete Stephanie auf dem endlos langen Klinikflur und versuchte ihr Bestes, sich selbst von den immer wiederkehrenden, düsteren und angsteinflößenden Gedanken abzulenken, die sie seit heute Vormittag in hartnäckigen Schüben heimsuchten. Wie hatte es so weit kommen können? Sie hatte Sebastian schon sehr lange dazu geraten, beruflich und auch in seinen zahlreichen Ehrenämtern kürzerzutreten. Er schien oft geistig abwesend zu sein, nicht ganz da und überhaupt nicht richtig involviert in die vielen verschiedenen Prozesse und Abläufe, die ein Familien- und Elternleben nun mal erforderte.

Seit ungefähr einem Jahr ging das schon so. Zunächst hatte Stephanie Sebastians Veränderungen auf Überarbeitung in der Schule geschoben, hatte seine oft unerklärlichen Stimmungsschwankungen und Launen als Stressreaktionen und Abwehrhaltung interpretiert – unerfreulich, aber noch lange kein Krankheitsbild. Dann aber, im letzten Herbst, hatte er urplötzlich angefangen, sich ständig zu wiederholen, vergaß wichtige Termine und die dazugehörigen Absprachen. Hinzu kamen mittlere bis starke Wesensveränderungen, wenn er etwas getrunken hatte. Das war früher nie vorgekommen, und nun war jedes Glas „zu viel“ eine gefährliche Partie Russisch Roulette mit seinem Temperament.

Früher hatte Sebastian alle Dinge genauestens abgewogen, gerade finanzielle Anschaffungen vorab immer wieder unter die Lupe genommen, sorgfältigst durchgerechnet und sich dann nach Rücksprache mit Stephanie dafür oder – viel öfter – dagegen entschieden. Aber auf einmal kaufte er sich aus heiterem Himmel und ohne einen besonderen Anlass Surfbretter, eine teure Kaffeemaschine, lauter Zubehör für eine Cocktailbar im Keller (die er dann aber doch nicht aufbaute), meldete sich für einige Kurse an der Volkshochschule an, ging aber kaum zu einem hin.

Auch seine Marotten, die sich zu regelrechten Spleens ausgeweitet hatten, wurden häufiger und gipfelten in Tobsuchtsanfällen, wenn er sie nicht ausleben oder nur in abgedämpfter Form anbringen durfte. So war es ihm beispielsweise ein besonderes Anliegen, jeden Abend sämtliche Hauptleitungen in ihrem kleinen Reihenhaus zuzudrehen und sich auf regelmäßigen Erkundungstouren in den Keller davon zu überzeugen, dass sie auch wirklich zugedreht waren und blieben. Eines Nachts hatte sie ihn um zwei Uhr auf der Kellertreppe erwischt, die Taschenlampe in der einen, den Notizzettel mit allen Leitungen und Hähnen in der anderen Hand. Das war zwar mehr als seltsam, aber leichte Kontrollzwänge hatte er von frühester Jugend an gehabt. Sie kannten sich seit der Grundschule, hatten ihre gesamte Schulzeit miteinander verbracht und waren dann in der gymnasialen Oberstufe ein Paar geworden. Er war immer so ruhig gewesen, so zurückhaltend und freundlich. Ein zufriedener Mensch, der in seiner Intelligenz und Besonnenheit ruhte, nie impulsiv ausbrach und alles, einfach alles gründlich überdachte.

Doch seit Kurzem war das oft anders, er neigte jetzt manchmal zu Theatralik in der Öffentlichkeit und begann auf der Straße, anderen Menschen ungefragt Komplimente zu machen oder lauthals das Wetter zu kommentieren. Auch wenn er Hunger oder Durst hatte, ließ er dies seither sein näheres Umfeld lautstark wissen. Die Leute reagierten oftmals amüsiert bis verblüfft auf seine Ausführungen zum „ach so schönen Sonnenschein“, dem „Himmel, der heut gar nicht weiß, was er will“ oder dem „Bääärenhunger“, den er bereitwillig verkündete. Das war zwar komisch, aber keine Gefahr für ihn oder andere. Selbst ihr Sohn Roman hatte Gefallen an Papas witzigen Momenten und Ansprachen gefunden, lachte und klatschte vergnügt in die kleinen Hände, wenn sein Vater die Laterne an der Bushaltestelle erklomm, um von dort aus das Geschehen für die unten Stehenden zu berichten. Stephanie hatte sich immer gewünscht, er würde mal mehr aus sich herauskommen, würde mal die Initiative in einigen Dingen ergreifen – auch im Bett. Selbst in ihrem Intimleben hatte sich eine willkommene Kehrtwende ereignet: Sebastian war vom Missionarsstellungs-Verfechter zum Akrobaten avanciert, studierte nächtelang mit glühendem Verlangen ihren Körper und das ebenfalls neu angeschaffte Kamasutra. Oft musste sie ihn jetzt bremsen und mit besorgtem Blick auf die Uhr und den schon früh klingelnden Wecker das nächtliche Liebesspiel abkürzen. Sie wollte sich auch nicht beschweren über diese neue, gar nicht mal unangenehme Situation, doch in der Gesamtheit kamen ihr die vielen Veränderungen an Sebastian jetzt immer häufiger seltsam vor. Wer war er? Und wie viel früher sicher geglaubtes Charaktergut durfte ein Mensch im Laufe seiner Entwicklung und seines Lebens ablegen oder ändern, bis man von einer Komplettveränderung sprechen konnte?

 

Sebastian saß Doktor Quandt genau gegenüber. Während dieser jedoch leise murmelnd und mit kluger Brille auf der Nasenspitze seine Mitschriften durchsah, blickte Sebastian ihn hilfesuchend und abwartend an.

Er hatte den mehrseitigen Kognitionstest absolviert, einen ewig langen Katalog zu seiner Krankengeschichte beantwortet, erfolgreich die Lumbalpunktion{1} umgangen und soeben frisch die MRT{2} verlassen.

Seine Platzangst, ein Relikt aus frühester Kindheit, hatte ihn diesmal merkwürdigerweise verschont und ihm die unglaublich laute und beengte Prozedur dadurch massiv erleichtert. Geradezu befreit saß er nun vor dem betagten Mediziner und wartete wie einer seiner Schüler aus der 8D auf die „Notenvergabe“.

Doktor Quandt ließ sich durch nichts und niemanden aus der gottgegebenen Ruhe bringen – „bewundernswert!“, dachte Sebastian anerkennend. Er würde ihn im Anschluss nach seinem Geheimnis für eine solche Contenance befragen, davon konnte man bestimmt als Lehrer auch profitieren.

Endlich: Quandt legte seine Notizen beiseite, setzte sogar die ihm scheinbar angewachsene dünne Nickelbrille ab und sah ihn mit ernster Miene an.

„Und?“, fuhr Sebastian fort, „bin ich verrückt?“

Der Arzt hob einen Mundwinkel an, seufzte tief und sagte dann ohne jeglichen Unterton oder Wertungsversuch:

„Nun, Herr Gericke, ich bin dafür, dass wir an dieser Stelle ihre Frau dazu holen.“

Schade, Sebastian hätte ein einfaches „Nein“ als Antwort auf seine Frage genügt. Doktor Quandt rückte seinen Stuhl quietschend nach hinten, schlurfte in seinen weißen Plastik-Croques Richtung Zimmertür, drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür nur einen Spaltbreit, sodass er einem Priester im Beichtstuhl gleich durch die kleine Öffnung auf den Flur rufen konnte:

„Frau Gericke? Würden Sie bitte zu uns kommen?“

Er beließ die Tür in ihrer Position, kehrte an den Tisch zurück und wies mit seiner rechten Hand Sebastians eintretender Frau den freien Stuhl neben ihm zu. Stephanie nahm angespannt und sichtlich sorgenerfüllt dort Platz.

 

„Ganz ruhig, gleich wissen wir wenigstens Bescheid“, sagte sie sich in Gedanken. Es kam ihr alles wie eine aufgestaute Ewigkeit vor, wie sich dieser Tag jetzt schon zog und höchst wahrscheinlich noch weiter ziehen würde. Sie konnte sich beinahe in Vogelperspektive selbst von außen sehen, wie sie da zusammensaßen, der grausigen Nachrichten harrend, verloren, aber auf merkwürdige Weise auch so vereint wie lange nicht mehr.

Doktor Quandt erhob sich von seinem Stuhl, nahm eines der MRT-Bilder in die Hand und heftete es an den hell erleuchteten Röntgenbildverstärker. Die Aufnahme zeigte zweifelsohne Sebastians Gehirn im Profil, beide Hirnhälften waren gespiegelt worden und der Doktor nahm einen schwarzen Marker zur Hand, der als Zeigestock fungieren sollte.

„Also“, er räusperte sich energisch, „dann wollen wir mal!“

 

 

4.

Das Feld der „neurodegenerativen Erkrankungen“ sagte Sebastian und Stephanie nichts. Erst beim Begriff „Frontotemporale Demenz“ ging dem Paar ein Licht auf – und ein kalter Schauer über den Rücken! Demenz? Das war doch bei alten Menschen üblich und nicht mit Mitte dreißig, wie in Sebastians Fall!

„Von üblich kann auch keine Rede sein“, berichtigte der erfahrene Neurologe. „Von insgesamt 1,4 Millionen Demenzkranken in Deutschland sind lediglich um die 33.000 Patienten an dieser seltenen Form der Degeneration erkrankt. Das große Problem ist, dass wir nach wie vor nicht viel über die FTD{3} wissen und eine Behandlung, respektive eine Eindämmung ihres Verlaufs nur begrenzt möglich ist.“

Zur genaueren Bestimmung wollte Doktor Quandt noch eine weitere Untersuchung mit bildgebenden Verfahren unter Zugabe eines radioaktiven Kontrastmittels durchführen lassen.

„Aber eine ganz genaue – hundertprozentige – Diagnose ist auch auf diesem Wege nicht gewährleistet, Herr Gericke! Die absolute Gewissheit, dass es sich um FTD handelt, die ergibt sich nur aus der Gehirngewebeuntersuchung post mortem.“

Post mortem! Stephanie hatte im Gegensatz zu Sebastian nicht täglich im Beruf mit der lateinischen Sprache zu tun, aber für die Übersetzung von „post mortem“ reichte es noch aus: nach dem Tod!

 

Sebastian saß mit leerem Blick, wild pochendem Herzen und diffus umhergeisternden Gedanken in seinem Stuhl, war regelrecht darin versunken und klammerte sich wie ein kleiner Junge an die schützende Hand seiner Frau, drückte sie bei jedem Wort des Arztes immer fester. Es herrschte jetzt eine bedrückende Stille in dem Untersuchungszimmer, das Sebastian doch ursprünglich so viel Heil und Erleichterung bescheren sollte. Aber nun hatte er hier mehr oder weniger sein Todesurteil erhalten, zumindest sein Geist, und damit aber eben auch er komplett als Mensch.

Die für ihn als medizinischem Laien verständliche Erklärung für die Wirkungsweise der Krankheit war eine Vielzahl von Proteinveränderungen – Verklebungen, vereinfacht ausgedrückt – die Nervenzellen im Frontal- und Schläfenlappen des Gehirns in großer Zahl absterben ließen und somit eine radikale Veränderung des Sozialverhaltens und der allgemeinen mentalen Funktionen nach sich zog.

„Aha, das sind ja tolle Aussichten für uns“, dachte Sebastian resignierend und malte sich ein wüstes Horrorszenario nach dem anderen aus.

„Also verliere ich jetzt nach und nach mein Gedächtnis und sterbe dann als leere, stumpfe Hülle in ’nem Heim?“ Endlich machte sich seine Angst mit einem hilfesuchenden Blick in Richtung des weisen Arztes verbal Luft, der sichtlich mitfühlend noch an dem erleuchteten MRT-Bild stand.

Quandt schüttelte den Kopf und ließ wieder den Marker über die Aufnahme von Sebastians Gehirn kreisen. „Nein, Herr Gericke, Ihre Erinnerungen sind nicht das primäre Ziel des Nervenzellensterbens. Da sind kaum Beeinträchtigungen spürbar – zunächst. Es geht bei der FTD vielmehr um Wesensveränderungen. Wenn Sie beispielsweise mit Apathie, also Abgeschlagenheit zu kämpfen haben oder sich alte Gewohnheiten urplötzlich ändern.“

Stephanie senkte den Kopf Richtung Erdboden. Da war es also: plötzliche Änderung alter Gewohnheiten! Wie ein grausamer, schwerer Sargdeckel passte diese Schilderung zu ihren Beobachtungen der jüngeren gemeinsamen Vergangenheit, und ebendieser Deckel legte sich in ihrer Vorstellung sogleich passgenau auf Sebastians Sarg, hüllte ihn in völlige Dunkelheit und machte ihren Mann für sie unerreichbar. Die Tränen liefen ihr jetzt lautlos über beide Wangen, kein Schluchzen und kein Beben begleitete die beiden nassen Strecken, die sich gleichmäßig ihren Weg über das Gesicht zur herunterhängenden Nasenspitze suchten, sich kurz dort sammelten und schließlich in einem gemeinsamen Strom in ihren Schoß tropften. Ein leiser, trauriger Prozess des Abschieds von dem alten Leben von früher, von eben, von heute Morgen. Es war jetzt gerade die Stunde null eingetreten, und rund um dieses Zimmer schien sich ein finsteres Unwetter zusammenzubrauen, dessen Ende für keinen der Beteiligten absehbar war. Für sie beide nicht, für ihre Familien nicht und noch nicht mal für Doktor Quandt, der sich beruflich mit dieser ganzen Tristesse tagtäglich auseinandersetzen musste.

Stephanie gelang das Unmögliche, das Undenkbare: Sie fing sich und fasste die unbedingt nötigen, klaren Gedanken, die es jetzt brauchte. Sie durfte ab heute nicht mehr durchhängen, es galt, Dinge zu planen, Vorkehrungen zu treffen.

„Wie sieht Ihre Prognose aus, Herr Doktor?“, fragte sie schließlich, als sie sich einigermaßen sicher war, dass ihre Stimme nicht brechen und die Trauer nicht die Oberhand gewinnen würde. Zumindest für jetzt gerade, für die Momente der Klarheit, den nüchtern-emotionslosen Teil dieses insgesamt sehr tragischen und kraftraubenden Prozesses.

Quandt zog seine Nickelbrille von der Nase, fuhr sich mit der Handfläche über das Gesicht und bis hinauf in den strengen Haaransatz, dann begann er mit ruhiger, sonorer Stimme zu sprechen. „Die Frontotemporale Demenz verläuft sehr unterschiedlich. Sie wird meist zwischen dem vierzigsten und sechzigsten Lebensjahr diagnostiziert und ist grundsätzlich in drei Bereiche zu unterteilen: die behaviorale FTD, die ich bei Ihrem Mann vermute, die primär progressive Aphasie, bei der die Kognitions- und Koordinationsfähigkeiten erheblich gestört werden, und die bitemporale Athropie, eine vordergründige Störung des Sprachzentrums, auch häufig als semantische Demenz betitelt.“

Sebastian schluckte, wobei ihm sein Hals wie zugeschnürt erschien. Ihm wurde schwindelig, das konnte und durfte alles nicht wahr sein! Dement! Mit vierunddreißig Jahren, einer Unmenge an noch offenen und unerfüllten Wünschen, Projekten, Bedürfnissen, Plänen, Lebenswegen. Er war am Ende!

Doktor Quandt pausierte seinen Monolog, sah sich im Behandlungszimmer um und fuhr fort. „Bei der behavioralen FTD sind es vor allem die Wesens- und Charakterveränderungen, die Patienten und Angehörigen die größten Probleme bereiten. Diese nehmen im Laufe der Zeit zu und können erhebliche Ausmaße annehmen, bis zu dem Eindruck …“ Er stockte, selbst von der Situation und dem Einzelfall in Form eines jungen Paares direkt vor sich überfordert.

„Bis zu dem Eindruck? Bitte reden Sie weiter, Herr Doktor!“, flehte ihn Stephanie förmlich an, die Hand ihres Mannes nach wie vor felsenfest in der ihren.

Doktor Quandt seufzte tief, aber es musste raus, er musste seiner Verpflichtung nachkommen. „Bis zu dem Eindruck, man habe eine völlig andere Person vor sich. Einen Fremden. Die Lebenserwartung mit FTD ist nicht einheitlich vorhersehbar, wir gehen momentan von bis zu acht Jahren aus, von denen die letzten häufig in dauerhafter Hospitalisierung mit entsprechend lückenloser Pflege verbracht werden. Nur die wenigsten Angehörigen sind dem seelischen und körperlichen Druck gewachsen, den eine Pflegesituation in den eigenen vier Wänden bedeutet. Frau Gericke“, er stockte abermals, „es tut mir aufrichtig leid für Sie beide!“

Quandt legte ihr väterlich eine Hand auf die Schulter.

Stephanie bekam von all dem nicht mehr viel mit. Ihre Gedankenwelt hatte sich ab den Worten „bis zu acht Jahren“ rigoros eingetrübt. Hinter den Flügelfenstern des Raumes ging ein reges und turbulentes Treiben vor sich, ein Rettungswagen fuhr mit großer Geschwindigkeit und lärmendem Martinshorn davon. Direkt vor der Tür auf dem endlosen Flur der Klinik kamen stöckelnd unzählige Schritte näher und entfernten sich wieder, eingehüllt in den Widerhall der gekachelten Wände und Decken. Von irgendwo aus der Ferne drang Vogelgezwitscher in die stickige Krankenhausluft herein. So viel Leben, so viele Geräusche, so ein wunderschöner Sommertag.

Nur ihr altes Leben, das war jetzt vorbei.

Sommer 1993

 

1.

„Mensch, was hat Anna doch für wunderschöne Haare! Sie fallen ihr in üppigen dunkelbraunen Strähnen so lässig und wellig um die schmalen Schultern, dass man sich darin verlieren könnte, wenn man ein kleiner Zwerg wäre, der darin auf Wanderschaft ginge.“

Dinge wie diese dachte Sebastian immer, wenn er in Annas Nähe war.

Es war ein besonders heißer Sommertag im Juli und beide saßen an den wahrscheinlich letzten Hausaufgaben dieses Schuljahres. Nur noch eine Woche, dann hätten sie es endlich geschafft und müssten für sechs ganze Wochen nicht morgens früh in die Schule gehen. Fantastisch! Ausschlafen, dann eine Kleinigkeit frühstücken – aber auch nur, weil Mama und Papa darauf bestanden – und dann mit dem Rad den ganzen Tag durch die Nachbarschaft flitzen und Abenteuer erleben, jenseits von sämtlichen Ausgehzeiten und bis lange nach der abendlichen Dämmerung. Na ja, jedenfalls so lange, wie es für zwei fast Neunjährige vertretbar war, deren Eltern voll berufstätig waren und die eben noch keinen Urlaub hatten. Sebastian und Anna liebten die großen Ferien über alles, dieses unbeschreibliche Gefühl aus nie enden wollenden Tagen, die zwar auch ungefähr ab Woche drei einen gewissen Trott entwickelten, aber aufgrund ihrer schier unendlichen Nutzungsmöglichkeiten den meisten Kindern als heilig galten.

Wow, war das toll! Man freute sich ein ganzes Jahr darauf und zählte die letzten Tage an eisverklebten Fingern ab, als wäre es anschließend Weihnachten mitten im Sommer. Klar, Weihnachten war schon auch klasse mit den Geschenken und der Gemütlichkeit „zwischen den Jahren“, aber eben kein Vergleich zu der XL-Zeitspanne der Sommerferien.

Mama und Papa ließen dann alles ein wenig lockerer angehen, „fünfe gerade sein“, wie Sebastians Opa immer sagte, wenn er im Sommer zu Besuch war und auf der Gartenliege am Teich Platz nahm; dieser Platz war seit jeher seiner gewesen, und er würde hier sitzen, „bis er nicht mehr ist!“ – auch Opas Worte, die Sebastian zwar lustig fand, aber auch ein bisschen gruselig. Eine Welt ohne seinen Opa wollte er sich gar nicht erst vorstellen müssen. Musste er aber auch erst mal nicht, und gerade an Tagen wie dem heutigen – mit Anna an seiner Seite – war doch nun wirklich alles gut.

„Ich möchte so gern jeden Tag ein Eis essen! Alle Sorten durch, bis wir wieder von vorn anfangen müssen, weil nix mehr übrig ist“, rief sie freudig, während die Sonne durch das Wohnzimmerfenster fiel und ihre Haare noch engelsgleicher erscheinen ließ.

„Das machen wir! Find ich eine super Idee, Anna“, sagte Sebastian so leise, dass es fast geflüstert aus seinem Mund klang. Er wollte einfach diese Atmosphäre nicht stören, diesen Moment nicht „zerlabern“, wie Mama es schon mal nannte, wenn Papa zu viele Worte für Situationen fand, die sich meistens selbst besser erklärten: Sonnenuntergänge, liebevolle Gesten, gute Vorschläge und eben auch solche besonderen Momente der Zweisamkeit. Sebastian brauchte nicht viel, wenn Anna bei ihm war. Ihre Anwesenheit und Ausstrahlung reichten ihm vollkommen, um alles andere zu vergessen.

Leider durften sie die Sachkunde-Hausaufgaben nicht vergessen, die mussten noch gewissenhaft erledigt werden. Die Schönschreibfüller im Anschlag brüteten sie über den vier Fragen im Sachkundebuch zum Thema Fische und deren Umwelt. Neben einigen Arbeitsblättern voller schwarz-weiß abgedruckter Fische, die sie noch mit Buntstiften auszumalen hatten, gab es diese kniffeligen Fragen, die sich Frau Tuhrun – ihre Klassenlehrerin – hatte einfallen lassen. Typisch Frau Tuhrun! In den Parallelklassen hatten einige ihrer Mitschüler gar nichts mehr auf. Das musste man sich mal vorstellen. Immerhin waren es nur noch zwei reguläre Schultage, und dann stand von Donnerstag bis Sonntag die Klassenfahrt an. Sie freuten sich beide schon riesig auf den Ausflug zu einem Stausee, an dem dann für die vier Tage gezeltet und gebadet werden sollte. Ein paar Eltern hatten sich als Begleitpersonen eintragen lassen, und natürlich waren Sebastians Eltern erwartungsgemäß mal wieder nicht darunter.

„Ne, da krieg ich keinen Urlaub“, hatte sein Vater lapidar als Antwort gegeben, den von seinem Sohn gereichten DIN A4-Zettel nicht mal näher betrachtet. Und Mama? Allein ging die maximal in den Supermarkt, aber auch das nur höchst ungern und unter gemurmelten Beschwerden, wie „rücksichtslos und gleichgültig“ alle doch zu ihr seien.

Trotzdem oder gerade deshalb freute er sich sehr auf das kleine Abenteuer, die Einleitung der großen Ferien durch diesen Ausflug.

Er mochte generell alle außerschulischen Aktivitäten, bei denen man den Mitschülern, Lehrern und Eltern zwar begegnete, aber eben ausnahmsweise mal nicht im strengen schulischen Rahmen, sondern fast schon privat. Ob Frau Tuhrun auch einen Schlafanzug hatte? Und selbst wenn, würde sie ihn vor den Kindern tragen? Solche Fragen beschäftigten ihn immer im Vorfeld.

„Sitzen wir im Bus nebeneinander?“, fragte Anna mit abwartendem Gesichtsausdruck, die Augenbrauen bereits kritisch angehoben, so als würde sie sich auf eine Absage vorbereiten. Häh? Drehte sie jetzt völlig am Rad? Er freute sich auf die Hin- und Rückfahrt beinahe mehr als auf das tatsächliche Zelten und Schwimmen!

„Logo! Wo soll ich denn sonst sitzen? Neben Carlo Schäubel vielleicht?“

Sie mussten beide spitzbübisch lachen.

„Ihhh!“, stieß Anna angewidert aus. Nein, Carlo Schäubel mit seinem verschwitzten Rücken und den immerfort nach Schinken riechenden Pausbacken wollte nun wirklich niemand neben sich haben – auch oder vor allem nicht im Bus! Sebastian war im Sportunterricht sogar mal schlecht geworden, als er Carlo beim Seilklettern assistieren musste und dessen Schinkenfahne zu nah gekommen war. Seither wurde Carlo von ihm strikt gemieden.

„Ob Frau Tuhrun überhaupt einen Badeanzug hat?“, ließ Sebastian vernehmen. Eine Frage, die ihn, ähnlich wie die nach dem Schlafanzug, nicht ruhen ließ.

Es waren überhaupt die praktischen Fragen des Alltags, die ihn oft und gern beschäftigten: Wo schliefen die ganzen Tiere nachts? Ging ein Doktor selbst zum Doktor, wenn er krank war? Wusste eine Ente, dass sie eine Ente war? Hatte jemand irgendwann mal alle Bäume in ihrer Stadt gezählt? Im ganzen Land sogar? Und falls ja: Wo konnte man nachlesen, wie viele Bäume es in Deutschland gab?

Sebastian fand, dass einem die Schule diese wirklich wichtigen Fragen nicht oder nur unzureichend beantwortete. Wenn er mal Lehrer würde, dann wäre es an ihm, diese schlimmen Defizite auszubessern. Das wären ihm die liebsten Fragen seiner Schüler und keine – ja, keine einzige! – bliebe in seiner Klasse je unbeantwortet! Bis dahin galt es natürlich, noch viel zu lernen, zu lesen und zu wissen. Auch in den großen Ferien würde er nicht untätig bleiben, was seine Erkenntnisse anging: Jeder Tag und jede Begegnung bargen unzählige Möglichkeiten, neues Terrain zu erkunden und neue Dinge in Erfahrung zu bringen. Vorerst blieb den beiden Kindern aber nur die mühselig vor sich hintropfende Sachkunde-Hausaufgabe.

„Frage drei: Haben Knochenfische Kiemendeckel oder Kiemenspalten?“ Anna legte theatralisch ihre Stirn in Denkerfalten, was ziemlich ulkig und albern aussah. „Ich bin ein Knochenfisch! Frag mich mal, welche Kiemen ich habe“, prustete es aus ihr heraus.

Sebastian musste laut lachen, es war ihm einfach kein gründliches Nachgrübeln möglich, wenn seine Freundin solche Faxen machte am Tisch. Dafür mochte er sie so gern. Anna war unbeschwert, nichts an ihr war zu verkopft oder theoretisch. Wenn sie wissen wollte, wie viele Wasserballons ein Kilo ergaben, dann füllte sie eben kurzerhand Ballons mit Wasser und wog sie sorgfältig ab, bis das Ergebnis feststand. Wenn ihr jemand erzählte, es habe direkt vor ihrem Haus in den Fünfzigerjahren eine Bushaltestelle gegeben, die später einer Verlegung und Ortserweiterung zum Opfer gefallen war, dann fragte Anna so lange Eltern, Großeltern und Bekannte der Familie im entsprechenden Alter, bis man ihr die Information entweder bestätigte oder sie als falsch abweisen konnte. Mit ihren acht Jahren war Anna somit schon eine kleine Wissenschaftlerin, hatte sich alle Werkzeuge bereits zu eigen gemacht, die man da draußen in der Welt der Forschung brauchte: Neugier, Geduld, Hartnäckigkeit und Fleiß. Sie wollte nicht so gern glauben, wenn man doch viel lieber wissen konnte.

Sebastian beneidete sie oft um genau diese Fähigkeiten und befand sich selbst im Vergleich regelmäßig als bestenfalls ausbaufähig, wenn auch meilenweit unterlegen. Das konnte er Anna selbstverständlich nicht so offen zeigen oder sogar erzählen! Er war immer noch ein Junge und musste die Ehre der Jungs hochhalten und nötigenfalls verteidigen gegen die Mädchen. Freundschaft hin oder her, es musste Zusammenhalt herrschen unter Jungs.

Ihrerseits hielten schließlich auch die Mädchen zusammen, wie Sebastian fand. Sie führten akribische Listen zu sämtlichen Kategorien, die eben auch (und vorrangig) die Jungs betrafen: der Coolste, der Dümmste, der Schlaueste, der Hässlichste, Schönste und selbstredend auch der peinlichste Junge waren hier – schwarz auf weiß – für die Nachwelt festgehalten. Als „Nachwelt“ wurden in den meisten Fällen die Parallelklasse oder sogar die Mädchen aus der Vierten angesehen, zu denen Anna und ihre Freundinnen in den großen Pausen einen zweckmäßigen Austausch unterhielten. Über Einzelheiten dieser Treffen und Absprachen durfte kein Junge, nicht mal Sebastian, unterrichtet werden! Von der Existenz dieses Geheimbundes wussten die Jungs auch nur, weil Jessica aus der 3C mal gepetzt hatte, nachdem eine der ominösen Listen bei ihr gefunden werden konnte.  Sowohl die Verfasserin als auch der Suchende hatten anschließend die Gelegenheit erhalten, sich im Zuge des nachmittäglichen Nachsitzens genauer mit den Stauräumen der Turnhalle vertraut zu machen, die sie gemeinsam aufzuräumen hatten. Aber das war nun mal der Preis, wenn man wissen wollte, was der „Feind“ im Schilde führte und welche Arten der Korrespondenz es unter ihnen gab.

Immerhin wusste Sebastian seitdem, dass er in den Positiv-Kategorien der Mädchen im oberen Drittel lag und höchstens als „eher normal süß“ und „wenig witzig“ angesehen wurde. Tja, sollten sie ihn doch ruhig bewerten, er legte auf eine Verbesserung in keiner Kategorie besonderen Wert. Wenn überhaupt, dann wollte er als „Schlauester“ gelten, und dort lag Arne Frederiksen uneinholbar weit vorn auf der eins.

„Willst du ein Glas Saft?“, fragte Anna und riss ihn damit aus seinem sommerlichen Tagtraum.

„Klar, warum nicht? Ich guck mal, was wir dahaben.“ Sebastian rückte seinen Stuhl zurück und trottete Richtung Küche. Sie wollte Saft und er holte daraufhin welchen. „Alle Achtung“, dachte er, „diese Art der Kommunikation hat sie voll drauf!“

Er schlurfte auf seinen blauen Plastiksandalen über die dunklen Fliesen des Hausflurs. Direkt vor ihm zur rechten Seite ging eine Wendeltreppe hinauf ins obere Stockwerk seines Zuhauses und eine eher gedrungene und noch immer unverputzte Treppe führte in den Keller. Hoffentlich war noch Saft im Kühlschrank vorrätig. Ansonsten müsste er sich auf den von ihm so verhassten, weil gefürchteten Weg hinab in den Horrorkeller machen.