Wolfsblut - Jack London - E-Book

Wolfsblut E-Book

Jack London

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Beschreibung

Jack Londons Klassiker Wolfsblut, eine Mischung aus Wolf und Hund, muss in der Wildnis einen unerbittlichen Kampf gegen Hunger und Gefahr führen. Als er von Menschen gefangen wird, droht ihm ein grausames Schicksal. Erst durch einen jungen Goldgräber erfährt er Freundlichkeit und Güte. Jack Londons 1906 erschienener Abenteuerroman gilt als eines seiner besten Werke. Die wilde Natur und das Schicksal von Wolfsblut werden ebenso beschrieben wie eine gelungene Beziehung zwischen Mensch und Tier, die stärker ist als jeder Instinkt. 

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White Fang, eine Mischung aus Wolf und Hund, muss in der Wildnis einen unerbittlichen Kampf gegen Hunger und vielfältige Gefahren führen. Doch die größten Qualen stehen ihm bevor, als er in die Hände von Menschen gerät. Die harte Arbeit als Schlittenhund, die Gefangenschaft, die seinem Freiheitsdrang entgegensteht, und die strenge Führung seines Besitzers lehren White Fang, was die Gesellschaft der Menschen bedeutet. Als er schließlich an den grausamen Beauty Smith verkauft wird, scheint sein unglückliches Schicksal besiegelt. Jack Londons 1906 erschienener Abenteuerroman gilt als eines seiner besten Werke. Die naturgetreue Beschreibung der wilden Natur und des dramatischen Schicksals von White Fang fesseln bis zur letzten Seite.

Jack London

Wolfsblut

Roman

Neu übersetzt, mit einem Nachwort,Anmerkungen und einer Zeittafelvon Lutz-W. Wolff

Deutscher Taschenbuch Verlag

ERSTER TEILDie Wildnis

1 Die Spur des Fleisches

Dunkle Nadelwälder drohten auf beiden Seiten des gefrorenen Wasserlaufs. Vor Kurzem hatte der Wind den Reif von den Bäumen gerissen, und sie schienen sich im verblassenden Licht schwarz und unheilvoll aneinanderzulehnen. Ein gewaltiges Schweigen herrschte über dem Land. Die Landschaft selbst war eine leblose Einöde, ohne Bewegung, so einsam und kalt, dass sie nicht mal vom Geist der Schwermut erfüllt war. Es lag eher ein Hauch von Gelächter darin, aber von einem Gelächter, das schrecklicher als alle Schwermut war – ein Lachen, das so freudlos war wie das Lächeln der Sphinx, ein Lachen, so kalt wie der Frost und so grausam wie die Unfehlbarkeit. Es war die gebieterische, unerklärbare Weisheit der Ewigkeit, die über die Vergeblichkeit des Lebens und seiner Bemühungen lachte. Es war die Wildnis, die brutale Wildnis des Nordens mit ihrem gefrorenen Herzen.

Aber es gab Leben hier, das trotzig in diesem Land unterwegs war. Den gefrorenen Fluss herunter kämpfte sich eine Kette von wolfsähnlichen Hunden. Ihr federndes Fell war von Raureif bedeckt. Ihr Atem gefror in den Luft, sobald er die Mäuler in dampfenden Wolken verließ, und legte sich auf ihr Fell, wo er zu Eiskristallen erstarrte. Die Hunde waren in Ledergeschirre geschnallt und mit ledernen Leinen vor einen Schlitten gespannt, den sie hinter sich herzogen. Kufen hatte der Schlitten nicht. Er war aus kräftiger Birkenrinde gemacht, und seine gesamte Bodenfläche lag auf dem Schnee. Das vordere Ende des Schlittens war hochgebogen wie eine Schriftrolle, um die Welle von weichem Schnee herunterzudrücken, die vor ihm aufbrandete. Fest auf dem Schlitten vertäut war eine lange, rechteckige Kiste. Es waren noch andere Dinge darauf – Decken, eine Axt, eine Kaffeekanne und eine Bratpfanne; aber das Auffälligste war die lange, schmale, rechteckige Kiste. Sie nahm auch den meisten Platz ein.

Vor den Hunden kämpfte sich ein Mann auf breiten Schneeschuhen vorwärts. Hinter dem Schlitten folgte ein zweiter Mann. Auf dem Schlitten, in der Kiste, lag ein dritter, dessen Kämpfe vorbei waren – ein Mann, den die Wildnis besiegt und niedergeschlagen hatte, bis er sich nicht mehr rühren und kämpfen konnte. Die Wildnis mag keine Bewegung. Leben ist ihr ein Ärgernis, denn Leben ist Bewegung; und die Wildnis will alle Bewegung vernichten. Sie lässt das Wasser gefrieren, um es daran zu hindern, dass es ins Meer fließt; sie treibt den Saft aus den Bäumen, bis ihre mächtigen Herzen erstarren; aber am grausamsten und schrecklichsten zwingt die Wildnis den Menschen zur Unterwerfung – den ruhelosesten Teil des Lebens, der sich ständig in der Revolte gegen das Gesetz befindet, dass alle Bewegung am Ende aufhören muss.

Aber vor und hinter dem Schlitten kämpften unerschrocken und unbezähmbar die beiden Männer, die noch nicht tot waren. Ihre Körper waren mit Pelzen und weich gegerbtem Leder geschützt. Augenbrauen, Wangen und Lippen waren so mit Eiskristallen von ihrem gefrorenen Atem bedeckt, dass die Gesichter nicht erkennbar waren. Das gab ihnen den Anschein von Geistermasken, von Totengräbern in einer Geisterwelt bei der Beerdigung eines Gespensts. Aber darunter waren es Männer, die in das Land der Verlassenheit, des blanken Hohns und des Schweigens eindrangen, spät geborene Abenteurer, die Gewaltiges vorhatten, die sich gegen die Kraft einer Welt stemmten, die so weit weg, so fremd und ohne Herzschlag war wie die Tiefen des Weltalls.

Sie bewegten sich wortlos, sparten ihren Atem für die Arbeit der Körper. Auf allen Seiten war Schweigen und drückte sie mit seiner lastenden Gegenwart nieder. Es wirkte auf ihr Gemüt wie der Wasserdruck auf den Körper des Tauchers. Es erdrückte sie mit dem Gewicht unendlicher Weite und ihrem unabänderlichen Gebot. Es trieb sie in die entferntesten Winkel des eigenen Bewusstseins und quetschte allen falschen Eifer, allen Überschwang, alle Selbstüberschätzung der menschlichen Seele aus ihnen heraus wie den Saft aus der Traube, bis sie sich als kleine, endliche Flecken und Staubkörner wahrnahmen, die sich mit etwas Schläue und wenig Weisheit im großen Widerstreit der Elemente und blinden Kräfte bewegten.

Eine Stunde verging, dann noch eine zweite. Das bleiche Licht des kurzen, sonnenlosen Tages begann schon zu verblassen, als sich ein leiser, weit entfernter Ruf in der Stille erhob. Er schwoll rasch an, verharrte eine Weile auf dem höchsten Ton, angespannt und vibrierend, ehe er langsam erstarb. Es hätte die Klage einer verlorenen Seele sein können, wäre er nicht von einer gewissen traurigen Wildheit und hungriger Schärfe erfüllt gewesen. Der vordere Mann drehte den Kopf, bis sein Blick den Blick des hinteren Mannes traf. Und dann nickten sie sich über die lange, schmale Kiste hinweg zu.

Ein zweites Heulen erhob sich und durchstieß die Stille wie eine spitze Nadel. Beide Männer hörten, woher es kam: Von irgendwo hinter ihnen, aus der verschneiten Fläche, die sie gerade durchquert hatten. Ein dritter Ruf erhob sich wie eine Antwort, ebenfalls hinter ihnen, nur etwas weiter zur Linken.

»Die sind hinter uns her, Bill«, sagte der vordere Mann. Seine Stimme klang heiser und unwirklich; er sprach mit offensichtlicher Anstrengung.

»Fleisch ist knapp«, erwiderte sein Gefährte. »Hab schon seit Tagen keine Spuren von Hasen gesehen.«

Danach sprachen sie nicht mehr, obwohl ihre Ohren angespannt auf die Jagdschreie hörten, die sich hinter ihnen erhoben.

Bei Einbruch der Dunkelheit ließen sie die Hunde in eine Gruppe von Weißfichten am Rande des Wasserwegs einschwenken und schlugen ihr Lager auf. Der Sarg stand neben dem Feuer und diente als Sitzbank und Tisch. Die Wolfshunde, die zusammengedrängt auf der anderen Seite des Feuers lagen, knurrten und stritten sich untereinander, zeigten aber keine Neigung, in die Dunkelheit hinauszustreunen.

»Kommt mir vor, als ob sie auffällig nahe am Lager bleiben, Henry«, stellte Bill fest.

Henry hockte am Feuer und füllte die Kaffeekanne mit Eis. Er nickte, sagte aber nichts, ehe er nicht wieder auf dem Sarg saß und zu essen begonnen hatte.

»Wissen eben, wo ihr Fell sicher ist«, sagte er. »Fressen lieber, als selbst gefressen zu werden. Sind ziemlich schlau, diese Hunde.«

Bill schüttelte den Kopf. »Ach, ich weiß nicht.«

Sein Gefährte sah ihn erstaunt an. »Das erste Mal, dass ich von dir höre, sie wären nicht schlau.«

»Henry«, sagte der andere und kaute bedächtig die Bohnen, die er gerade aß, »ist dir aufgefallen, was die Hunde für ’nen Radau gemacht haben, als ich sie gefüttert hab?«

»Ja, sie haben mehr Wirbel als sonst gemacht«, gab Henry zu.

»Wie viele Hunde haben wir, Henry?«

»Sechs.«

»Na ja, Henry …« Bill hielt einen Augenblick inne, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Genau das meine ich, Henry, wir haben sechs Hunde. Und sechs Fische hab ich aus dem Sack genommen. Ich hab jedem Hund ’nen Fisch gegeben, aber am Ende, Henry, hatte ich einen zu wenig.«

»Du hast dich verzählt.«

»Wir haben sechs Hunde«, wiederholte der andere unbewegt. »Ich habe sechs Fische rausgenommen. Aber One Ear hat keinen gekriegt. Ich musste noch mal zum Sack zurückgehen und ihm seinen Fisch holen.«

»Wir haben nur sechs Hunde«, sagte Henry.

»Henry«, sagte Bill. »Ich sag nicht, dass es nur Hunde war’n, aber es waren sieben, die Fisch gekriegt haben.«

Henry hörte auf zu essen, schaute auf die andere Seite des Feuers und zählte die Hunde. »Jetzt sind bloß sechs da«, sagte er.

»Den anderen hab ich wegrennen sehn, über den Schnee«, erklärte Bill mit kühler Bestimmtheit. »Ich hab sieben gesehen.«

Sein Gefährte sah ihn mitleidig an und sagte: »Ich werd’ mächtig froh sein, wenn der Trip hier vorbei ist.«

»Was soll’n das heißen?«, wollte Bill wissen.

»Ich meine, dass unsere Ladung da deinen Nerven schadet und dass du anfängst, komische Sachen zu sehen.«

»Hab ich auch schon gedacht«, sagte Bill ernsthaft. »Und deshalb hab ich in den Schnee geschaut, als er weggerannt ist, und hab seine Spuren gesehen. Dann hab ich die Hunde gezählt, und es war’n immer noch sechs. Die Spuren sind jetzt da im Schnee. Willst du sie sehen? Ich kann sie dir zeigen.«

Henry gab keine Antwort, sondern kaute stumm weiter, bis er den Rest der Mahlzeit mit einer letzten Tasse Kaffee hinunterspülte. Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und sagte: »Du glaubst also, es war – «

Ein lang gezogenes, jaulendes Heulen von wilder Trauer, das irgendwo aus der Dunkelheit kam, hatte ihn unterbrochen. Er hielt inne und lauschte; dann sagte er mit einer Handbewegung in Richtung des Heulens: » – einer von denen?«

Bill nickte. »Kommt mir verdammt wahrscheinlicher vor als alles andere. Hast doch selbst den Krach gehört, den die Hunde gemacht haben.«

Schrei um Schrei und Antwortschrei verwandelten die Stille jetzt in ein Irrenhaus. Von allen Seiten erhob sich das Heulen, und die Hunde verrieten ihre Furcht, indem sie zusammenrückten und sich so eng ans Feuer schmiegten, dass es ihnen die Haare versengte. Bill legte noch Holz nach, ehe er sich seine Pfeife anzündete.

»Ich glaub, du hängst einfach durch«, sagte Henry.

»Weißte …« Bill saugte eine Weile nachdenklich an seiner Pfeife, ehe er fortfuhr. »Weißte, ich hab schon manchmal gedacht, dass der da drin verdammt viel besser dran ist, als du oder ich es je sein werden.« Er stieß den Daumen nach unten und zeigte so auf den dritten Mann – den in der Kiste, auf der sie saßen. »Du und ich, Henry, wenn wir sterben, könn’ wir von Glück sagen, wenn sie genügend Steine auf unsre Kadaver tun, um die Hunde abzuhalten.«

»Aber du und ich haben ja auch keine Familie und Geld und all diese Sachen wie er«, erwiderte Henry. »Eine Fernbeerdigung ist nicht gerade das, was wir uns leisten könnten.«

»Was mich wundert, Henry, was macht so ’n Typ, der ein Lord oder so was in sei’m eigenen Land ist und der sich nie ums Essen oder um Decken hat kümmern müssen, am gottverlassenen Ende der Welt hier – das kann ich überhaupt nicht verstehen.«

»Er hätt ’n schönes Alter erreichen könn’, wenn er zu Hause geblieben wär«, bestätigte Henry.

Bill öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders. Stattdessen zeigte er auf die Wand von Dunkelheit, die von allen Seiten herandrängte. Man konnte keinerlei Form in der völligen Schwärze erkennen – nur ein glitzerndes Augenpaar wie zwei brennende Kohlen. Henry deutete mit dem Kopf auf ein zweites, dann noch ein drittes Paar.

Ein Kreis von glitzernden Augen hatte sich um ihr Lager gezogen. Ab und zu bewegte sich eins dieser Augenpaare oder verschwand kurz, um einen Moment danach wieder aufzutauchen.

Die Unruhe der Hunde hatte zugenommen. In einem Anfall von plötzlicher Panik stürmten sie auf die Seite des Feuers, wo die Männer saßen, und drängten sich an ihre Beine. Bei dem Gerangel war einer der Hunde am Rand des Feuers gestolpert und hatte vor Schmerz und Angst gejault, während der Gestank des versengten Fells die Luft füllte. Der Tumult führte dazu, dass der Ring der Augenpaare sich einen Moment lang nervös verschob und sogar ein wenig zurückzog, aber sobald die Hunde wieder ruhiger wurden, zog er sich wieder zusammen.

»Henry, es ist ein verdammtes Unglück, dass die Munition alle ist.«

Bill hatte seine Pfeife zu Ende geraucht und half jetzt seinem Gefährten, das Bett aus Decken und Pelzen auf den Fichtenzweigen auszubreiten, die er vor dem Abendessen in den Schnee gelegt hatte.

Henry grunzte und fing an, seine Mokassins aufzuschnüren. »Was hast du gesagt, wie viel Schuss du noch hast?«, fragte er.

»Drei«, war die Antwort. »Und ich wünschte, es wären dreihundert. Dann würde ich’s denen zeigen, verflucht!« Bill schüttelte wütend die Faust in Richtung der glitzernden Augen und stellte vorsichtig seine Mokassins vor dem Feuer auf. »Außerdem wünschte ich, diese Kälte würde aufhören«, fuhr er fort. »Ist jetzt schon seit zwei Wochen fünfzig Grad unter null. Ich wünschte, ich wäre nie auf diesen Trip gegangen, Henry. Die Sache gefällt mir nich’. Kommt mir irgendwie nich’ richtig vor. Und wenn ich schon dabei bin zu wünschen: Ich wünschte, der Trip wär vorbei und erledigt, und du und ich säßen jetzt in Fort McGurry am Feuer und spielten Cribbage – das isses, was ich mir wünsche.«

Henry grunzte und kroch ins Bett. Als er gerade eindöste, wurde er von der Stimme des Gefährten erneut aufgeschreckt.

»Sag, Henry, dieser andre, der gekommen ist und sich den Fisch geschnappt hat – warum ham den die Hunde nich’ weggebissen? Das macht mich ganz kribbelig.«

»Du denkst zu viel nach, Bill«, kam die schläfrige Antwort. »Du bist doch früher nich’ so gewesen. Jetzt halt einfach die Klappe und schlaf, dann bist du morgen früh wieder hunky-dory. Dein Magen ist zu sauer, das macht dich kribbelig.«

Die Männer schliefen unter einer Decke, nebeneinander, schwer atmend. Das Feuer brannte herunter, und die glitzernden Augen zogen den Kreis um das Lager noch enger. Die Hunde drängten sich ängstlich zusammen; ab und zu knurrten sie drohend, wenn sich ein Augenpaar näherte. Einmal wurde der Aufruhr so laut, dass Bill aufwachte. Er stand vorsichtig auf, um nicht den Schlaf des Gefährten zu stören, und warf frisches Holz in die Glut. Als die Flammen aufzüngelten, zog sich der Kreis der Augen zurück. Bill warf einen beiläufigen Blick auf die zusammengedrängten Hunde. Er rieb sich die Augen und schaute noch einmal genauer hin. Dann kroch er unter die Decken zurück.

»Henry«, sagte er. »Du, Henry.«

Henry stöhnte, als er vom Schlafen zum Wachen überging, und fragte: »Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Nix«, war die Antwort. »Aber jetzt sind es schon wieder sieben. Hab gerade gezählt.«

Henry quittierte den Empfang der Mitteilung mit einem Grunzen, das zum Schnarchen wurde, als er in den Schlaf zurückglitt.

Am Morgen war es Henry, der als Erster aufwachte und seinen Gefährten aus dem Bett trieb. Das Tageslicht war noch drei Stunden weit weg, obwohl es schon sechs war. Henry machte sich in der Dunkelheit an die Zubereitung des Frühstücks, während Bill die Decken zusammenrollte und den Schlitten zum Anspannen fertig machte.

»Sag mal, Henry«, fragte er plötzlich, »wie viele Hunde ham wir, hast du gesagt?«

»Sechs.«

»Falsch«, erklärte Bill triumphierend.

»Sind’s wieder sieben?«, fragte Henry.

»Nee, fünf. Einer iss weg.«

»Zur Hölle!«, schrie Henry zornig, ließ die Kocherei sein und kam, um die Hunde zu zählen.

»Hast recht, Bill«, sagte er schließlich. »Fatty iss weg.«

»Wie ein geölter Blitz iss er gelaufen, als er mal losgelegt hatte. Man hat nix mehr von ihm gesehen.«

»Na, wie auch?«, sagte Bill. »Die ham ihn lebendig gefressen. Ich wette, er hat noch gejault, als er ihnen den Rachen runtergerutscht iss, verdammt.«

»Der war schon immer ein dummer Hund«, sagte Bill.

»Aber kein dummer Hund sollte so dumm sein, einfach wegzurennen und auf diese Art Selbstmord zu begehen.« Henry musterte den Rest der Meute mit prüfendem Blick, als wolle er die Besonderheit jedes einzelnen Hundes erfassen. »Ich wette, von den andern würd’ das keiner machen.«

»Die könnteste nich’ mal mit dem Knüppel vom Feuer vertreiben«, bestätigte Bill. »Ich hab schon immer gedacht, dass bei Fatty etwas nich’ stimmt.«

Und das war der Nachruf auf einen toten Hund auf dem Nordland-Trail – weitaus weniger knapp als der Nachruf auf manchen anderen Hund oder Mann.

2 Die Wölfin

Als das Frühstück gegessen und ihre magere Ausrüstung wieder auf den Schlitten geschnallt war, kehrten die Männer dem freundlichen Feuer den Rücken und machten sich auf in die Dunkelheit. Sofort erhoben sich wieder die Schreie voll trauriger Wildheit, Schreie, die sich durch die Kälte und Dunkelheit zuriefen und antworteten. Die Gespräche versiegten. Das Tageslicht kam um neun. Gegen Mittag erwärmte sich der Himmel im Süden zu einer rosigen Farbe und bezeichnete den Ort, wo die Wölbung der Erde sich zwischen den höchsten Punkt der Sonne und die nördliche Welt schob. Aber die Rosenfarbe verblasste rasch. Das graue Tageslicht, das zurückblieb, hielt noch bis drei Uhr vor, bis es ebenfalls verblasste und das Sargtuch der arktischen Nacht sich über das einsame, stille Land legte.

Als sich die Dunkelheit wieder herabsenkte, kamen die Jagdrufe links, rechts und von hinten näher – so nahe, dass die schwer arbeitenden Hunde von Wellen der Angst erfasst wurden, was mehrfach zu kurzen Panikattacken führte.

Nach dem Ende einer solchen Panik, als er und Henry die Hunde wieder in den Zugleinen hatten, sagte Bill: »Ich wünschte, sie würden irgendwo Wild finden, abhauen und uns in Ruhe lassen.«

»Sie gehn ei’m schrecklich auf die Nerven«, stimmte Henry ihm zu.

Sie redeten nicht mehr, bis sie das Lager aufschlugen.

Henry bückte sich gerade, um noch etwas Eis in den Topf mit den brodelnden Bohnen zu werfen, als er von einem Schlag, einem Ausruf von Bill und einem scharfen, knurrenden Schmerzensjaulen unter den Hunden aufgeschreckt wurde. Er richtete sich gerade noch rechtzeitig auf, um eine schattenhafte Gestalt zu sehen, die sich über den Schnee in den Schutz der Dunkelheit flüchtete. Dann sah er Bill, der zwischen den Hunden stand, halb triumphierend, halb deprimiert. In der einen Hand hielt er einen kräftigen Knüppel, in der anderen den Schwanz und einen Teil des Körpers von einem sonnengetrockneten Lachs.

»Die Hälfte hat das Vieh erwischt«, verkündete er. »Aber ich hab ihm kräftig eins übergezogen. Hast du ’s quieken hör’n?«

»Wie hat es denn ausgesehen?«, fragte Henry.

»Hab ich nich’ seh’n könn’. Aber es hatte vier Beine, ein Maul und Fell und sah aus wie ’n gewöhnlicher Hund.«

»Dann muss es ein zahmer Wolf sein, schätze ich.«

»Wie auch immer. Muss verdammt zahm sein, wenn er zur Fütterung kommt und sich einen Brocken Fisch schnappt.«

An diesem Abend zog sich der Kreis der glitzernden Augen noch enger um sie, als das Essen vorbei war und sie auf der langen Kiste saßen, um ihre Pfeifen zu rauchen.

»Ich wünschte, sie würden ’n paar Elche hochjagen und abhauen und uns in Ruhe lassen«, sagte Bill.

Henry grunzte in einem Tonfall, der nicht im Mindesten mitfühlend war, und dann saßen sie eine Viertelstunde lang schweigend da. Henry starrte ins Feuer und Bill auf den Kreis von Augen, der in der Dunkelheit jenseits des Feuerscheins brannte.

»Ich wünschte, wir würden jetzt in McGurry einlaufen«, fing Bill wieder an.

»Hör mit deinem Gewünsche und Gejammere auf«, brach es wütend aus Henry heraus. »Dein Magen ist übersäuert. Das macht dir zu schaffen. Schluck einen Löffel Natron, dann wirst du wunderbar süß und bist eine bessere Gesellschaft.«

Am Morgen wurde Henry von heißen Flüchen geweckt, die aus Bills Mund kamen. Er stützte sich auf die Ellenbogen und sah seinen Gefährten neben dem wieder genährten Feuer zwischen den Hunden stehen. Seine Arme waren verzweifelt erhoben, sein Gesicht vor Wut verzerrt.

»Hallo!«, rief Henry. »Was ’n jetzt wieder los?«

»Frog iss weg«, kam die Antwort.

»Nein.«

»Wenn ich’s doch sage.«

Henry sprang aus den Decken und zu den Hunden. Er zählte sie sorgfältig, dann schloss er sich den Flüchen seines Partners auf die Mächte der Wildnis an, die sie erneut eines Hundes beraubt hatten.

»Frog war der stärkste Hund im Gespann«, erklärte Bill schließlich.

»Und er war auch kein dummer Hund«, fügte Henry hinzu.

Und das wurde der zweite Nachruf innerhalb von zwei Tagen.

Das Frühstück wurde in düsterer Stimmung verzehrt und die vier verbleibenden Hunde vor den Schlitten gespannt. Der Tag war eine Wiederholung der vergangenen Tage. Die Männer quälten sich wortlos über das Gesicht der gefrorenen Welt. Das Schweigen wurde nur von den Schreien ihrer Verfolger durchbrochen, die ungesehen in ihrem Rücken blieben. Als am frühen Nachmittag die Dämmerung kam, klangen die Schreie näher, weil die Verfolger wie gewohnt enger aufschlossen; die Hunde waren aufgeregt und voller Angst, und ihre Panik führte dazu, dass sich die Zugleinen verhedderten und die zwei Männer noch deprimierter wurden.

»So, das wird euch lehren, ihr blöden Viecher«, sagte Bill voller Zufriedenheit, als er in der Dunkelheit aufrecht neben seinem vollendeten Werk stand.

Henry verließ seinen Kochtopf, um es sich anzusehen. Sein Partner hatte die Hunde nicht nur angebunden, sondern sie nach Art der Indianer mit Stöcken gesichert. Er hatte jedem Hund einen Lederriemen umgebunden und daran einen kräftigen Stock von vier bis fünf Fuß so dicht am Hals befestigt, dass der Hund ihn mit den Zähnen nicht erreichen konnte. Das andere Ende des Stocks war an einem Pflock festgeknotet, aber der Hund konnte weder den Lederriemen an seinem Hals noch den Riemen am anderen Ende des Stockes durchnagen.

Henry nickte beifällig. »Das ist die einzige Methode, wie man One Ear festbinden kann«, sagte er. »Der beißt Leder so sauber durch wie ein Messer und braucht nur die Hälfte der Zeit. Die werden morgen früh alle noch da sein, in bester Verfassung.«

»Da kannst du drauf wetten«, bestätigte Bill. »Wenn sich herausstellt, dass einer fehlt, dann verzichte ich auf meinen Kaffee.«

»Die wissen genau, dass wir sie nicht abknallen können«, stellte Henry fest, als sie ins Bett gingen, und zeigte auf den glitzernden Augenkreis, der sie einschnürte. »Wenn wir ihnen ein paar auf den Pelz brennen könnten, hätten sie mehr Respekt. Sie kommen jede Nacht näher. Versuch mal das Feuerlicht aus den Augen zu kriegen und schau genau hin – da! Hast du den gesehen?«

Eine Zeit lang amüsierten sich die Männer damit, die Bewegung der unbestimmten Gestalten am Rand des Feuerscheins zu beobachten. Wenn man die Stelle, wo ein Augenpaar in der Dunkelheit brannte, genau und beharrlich genug anstarrte, nahm der Umriss des Tieres allmählich Gestalt an. Manchmal sahen sie sogar, wie sich diese Gestalten bewegten.

Ein Geräusch bei den Hunden weckte ihre Aufmerksamkeit. One Ear winselte in schnellen, gierigen Stößen und warf sich am Ende des Stocks in die Dunkelheit. Nur ab und zu unterbrach er sich, um mit seinen Zähnen einen verzweifelten Angriff auf seinen Stock zu versuchen.

»Schau dir das an, Bill«, flüsterte Henry.

In den Lichtschein des Feuers glitt mit verstohlenen, schrägen Schritten ein hundeähnliches Tier. Es bewegte sich mit einer Mischung aus Kühnheit und Misstrauen, beobachtete aus den Augenwinkeln die Männer, hielt den Blick aber fest auf die Hunde gerichtet. One Ear strebte der Erscheinung entgegen, so weit es die Riemen nur zuließen, und winselte vor Begierde.

»Der verrückte Hund scheint nicht viel Angst zu haben«, sagte Bill leise.

»Es ist eine Wölfin«, flüsterte Henry zurück. »Und das erklärt auch das Ende von Fatty und Frog. Sie ist für das Rudel der Köder. Sie lockt einen der Hunde heraus und dann kommen die anderen und fressen ihn auf.«

Das Feuer knisterte. Ein Ast explodierte mit lautem Zischen. Bei diesem Geräusch sprang das fremde Tier zurück in die Dunkelheit.

»Henry, ich denke«, verkündete Bill.

»Und was denkst du?«

»Ich denke, das war das Biest, dem ich mit dem Knüppel eins übergezogen habe.«

»Daran gibt’s nicht den geringsten Zweifel auf der Welt«, war Henrys Antwort.

»Und ich möchte auch sagen«, erklärte Bill, »dass es höchst verdächtig und unmoralisch ist, wie vertraut dieses Tier mit Lagerfeuern zu sein scheint.«

»Es weiß mit Sicherheit mehr, als ein anständiger Wolf wissen sollte«, stimmte Henry ihm zu. »Ein Wolf, der genug weiß, um sich zur Fütterungszeit unter die Hunde zu mischen, hat gewisse Erfahrungen.«

»Der alte Villain hatte mal ’nen Hund, der mit den Wölfen weggerannt ist.« Bill dachte jetzt laut nach. »Das weiß ich genau. Ich selbst hab ihn drüben bei Little Stick auf einer Elchwiese aus dem Rudel herausgeschossen. Und der alte Villain hat wie ein Baby geheult. Er hätte ihn drei Jahre lang nicht gesehen, hat er gesagt. Der ist die ganze Zeit bei den Wölfen gewesen.«

»Schätze, das siehst du richtig, Bill. Dieser Wolf ist ein Hund, und er hat oft genug Fisch aus den Händen der Menschen gefressen.«

»Und wenn ich eine Chance dazu kriege, dann mache ich Hackfleisch aus diesem Wolf, der ein Hund ist«, erklärte Bill. »Wir können ’s uns nich’ leisten, noch mehr Tiere zu verlieren.«

»Aber du hast nur noch drei Patronen«, widersprach Henry.

»Ich werd’ auf ’nen todsicheren Schuss warten«, war die Antwort.

Am Morgen fachte Henry das Feuer an und machte, vom Schnarchen seines Partners begleitet, das Frühstück.

»Du hast so schön geschlafen«, sagte Henry, als er ihn zum Frühstücken wachrüttelte. »Ich hatte nicht das Herz, dich zu wecken.«

Bill begann schläfrig zu essen. Er merkte, dass seine Tasse leer war und griff nach der Kanne. Aber die war außerhalb seiner Reichweite und stand neben Henry.

»Sag mal, Henry«, schalt er milde, »hast du nicht was vergessen?«

Henry sah sich sorgfältig um, dann schüttelte er den Kopf. Bill hielt seine leere Tasse hoch.

»Du kriegst keinen Kaffee«, verkündete Henry.

»Ist er alle?«, fragte Bill ängstlich.

»Nö.«

»Du denkst doch nicht etwa, er schadet meiner Verdauung?«

»Nö.«

Ein Schwall von zorniger Röte überlief Bills Gesicht. »Dann erwarte ich aber ganz dringend, dass du mir das erklärst.«

»Spanker iss weg«, sagte Henry.

Ohne Eile, mit der Resignation eines Mannes, der Unglück gewohnt ist, drehte Bill langsam den Kopf und zählte von seinem Platz aus die Hunde.

Apathisch fragte er: »Wie ist es passiert?«

Henry zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Außer, wenn One Ear ihn losgenagt hat. Selbst hätte er’s nicht gekonnt, das ist sicher.«

»Verdammter Kerl«, sagte Bill ernsthaft und langsam, ohne die Wut zu zeigen, die in ihm tobte. »Bloß weil er sich selbst nicht losbeißen konnte, hat er’s bei Spanker gemacht.«

»Tja, Spankers Leiden sind vorüber. Ich schätze, der ist mittlerweile verdaut und hüpft in den Mägen von zwanzig verschiedenen Wölfen irgendwo in der Landschaft herum.« Das war Henrys Nachruf für den letzten Hund, den sie verloren hatten. »Komm, trink ’nen Kaffee, Bill.«

Aber Bill schüttelte den Kopf.

»Na, komm schon«, bat Henry und hob die Kanne.

Bill schob seine Tasse beiseite. »Ich lasse mich lieber hängen, als dass ich was trinke. Ich hab gesagt, ich trink nichts, wenn noch ’n Hund verschwindet, und ich werde nichts trinken.«

»Ist verdammt guter Kaffee«, lockte ihn Henry.

Aber Bill blieb stur, verzehrte ein trockenes Frühstück und spülte es mit gemurmelten Flüchen herunter – über One Ear und den üblen Streich, den er ihnen gespielt hatte.

»Heute Abend bind’ ich sie so fest, dass sie sich nicht erreichen können«, sagte er, als sie ihren Weg wieder aufnahmen.

Sie waren kaum hundert Meter gegangen, als Henry, der vorne ging, sich bückte und etwas aufhob, das an seinen Schneeschuh gestoßen war. Es war noch dunkel, und er konnte nicht sehen, was es war, erkannte es aber durch die Berührung. Er warf es hinter sich, wo es auf den Schlitten prallte, dann weitersprang und in einem der Schneeschuhe Bills stecken blieb.

»Vielleicht kannst du den ja noch brauchen«, rief Henry.

Bill stieß einen Schrei aus. Es war der Stock, mit dem er Spanker angebunden hatte – alles, was von ihm übrig war.

»Sie ham ihn gefressen mit Haut und Haar«, sagte Bill. »Der Stock iss blank wie ’ne Pfeife. Sogar das Leder an beiden Enden ham sie abgefressen. Sie sind verdammt hungrig, Henry, und sie werden dich und mich schnappen, ehe der Trip hier vorbei iss.«

Henry lachte trotzig. »Ich bin noch nie so von Wölfen verfolgt worden, aber ich hab schon viel schlimmere Sachen erlebt und bin noch bei bester Gesundheit. Es braucht schon etwas mehr als eine Handvoll von diesen lästigen Biestern, um meine Wenigkeit zu erledigen, Söhnchen.«

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, murmelte Bill ahnungsvoll.

»Na, wenn wir nach McGurry reinfahren, wirst du es wissen.«

»Ich bin nicht so optimistisch«, beharrte Bill.

»Du bist nicht ganz gesund, das ist es«, belehrte ihn Henry. »Was du brauchst, ist Chinin, und ich werde dich bis oben hin damit vollstopfen, sobald wir in McGurry sind.«

Bill grunzte seinen Widerspruch gegen die Diagnose und verfiel dann in Schweigen. Der Tag war wie alle anderen Tage. Das Licht kam um neun. Um zwölf Uhr mittags wurde der südliche Horizont von der unsichtbaren Sonne erwärmt; und dann begann das kalte Grau des Nachmittags, das drei Stunden später zur Nacht werden würde.

Es war kurz nach dem vergeblichen Versuch der Sonne aufzugehen, als Bill das Gewehr unter der Vertäuung des Schlittens hervorzog und sagte: »Geh du mal weiter, Henry, ich schau mal, ob ich was sehen kann.«

»Bleib lieber beim Schlitten«, protestierte sein Partner. »Du hast nur drei Patronen, und man weiß nie, was passiert.«

»Ach, und wer jammert jetzt ’rum?«, fragte Bill triumphierend.

Henry gab keine Antwort, sondern stapfte allein weiter, obwohl er oft genug voller Besorgnis zurück in die graue Einsamkeit schaute, wo sein Partner verschwunden war. Eine Stunde später war Bill wieder da; er hatte eine Abkürzung genommen, als der Schlitten um eine Biegung des Flusses musste.

»Sie sind ausgeschwärmt und haben sich weit verteilt«, sagte er. »Sie bleiben an uns dran und suchen gleichzeitig nach Wild. Sie sind sich unserer ganz sicher, weißt du, aber sie wissen, dass sie noch warten müssen, um uns zu erwischen. In der Zwischenzeit wollen sie alles Essbare schnappen, was ihnen über den Weg läuft.«

»Du meinst, sie denken, sie hätten uns sicher«, widersprach Henry scharf.

Aber Bill ignorierte das. »Ich hab ein paar von ihnen gesehen. Sie sind mächtig dünn. Ich schätze, sie haben seit Wochen nichts mehr zu beißen gehabt, außer Fatty und Frog und Spanker; und es sind so viele, dass die nicht lange gereicht haben. Sie sind auffällig mager. Die Rippen sind wie Waschbretter, und die Mägen hängen gleich unter dem Rückgrat. Die sind ziemlich verzweifelt, das kann ich dir sagen. Wenn die verrückt werden, wer’n wir uns umgucken.«

Ein paar Minuten später stieß Henry, der jetzt hinter dem Schlitten ging, einen leisen, warnenden Pfiff aus. Bill wandte sich um und hielt dann leise die Hunde an. Hinter ihnen erschien eine fellbedeckte Gestalt. Sie kam aus der Biegung, die sie gerade passiert hatten, klar in Sicht und bewegte sich direkt auf der Spur, die sie hinterlassen hatten. Ihre Nase war dicht auf der Fährte, und sie trottete mit einem unverkennbaren, gleitenden, unangestrengten Gang. Wenn sie anhielten, blieb sie ebenfalls stehen, warf den Kopf hoch und betrachtete sie. Mit zuckenden Nasenflügeln fing sie ihre Witterung auf und prüfte sie sorgfältig.

»Das ist die Wölfin«, flüsterte Bill.

Die Hunde hatten sich in den Schnee gelegt, und er ging an ihnen vorbei zu seinem Partner hinter dem Schlitten. Gemeinsam betrachteten sie das seltsame Tier, das sie seit Tagen verfolgte und schon die Hälfte ihrer Hunde getötet hatte.

Nach eindringlicher Prüfung machte die Wölfin ein paar Schritte vorwärts. Das wiederholte sich mehrfach, bis sie keine hundert Meter mehr von ihnen entfernt war. Bei einer kleinen Gruppe von Nadelbäumen blieb sie stehen und studierte mit erhobenem Kopf den Geruch und den Anblick der Männer und ihrer Ausrüstung. Auf eigenartig sehnsüchtige Weise sah sie die Männer an, ganz nach Art eines Hundes; aber in dieser Sehnsucht lag keine Zuneigung wie bei einem Hund. Diese Sehnsucht wurde vom Hunger erzeugt, sie war so grausam wie ihre Fangzähne und so gnadenlos wie der Frost.

Für einen Wolf war sie groß, ihr magerer Körper zeigte einen Knochenbau, der zu den größten ihrer Art zählte.

»An den Schultern ist sie fast zweieinhalb Fuß hoch«, bemerkte Henry. »Und ich wette, sie ist nicht weniger als fünf Fuß lang.«

»Merkwürdige Farbe für einen Wolf«, war Bills Kommentar. »Einen roten Wolf hab ich noch nie gesehen. Sieht fast aus wie Zimt.«

Das Tier war mit Sicherheit nicht zimtfarben. Sein Fell war ein echtes Wolfsfell. Die vorherrschende Farbe war grau, aber es gab einen leichten rötlichen Schimmer – einen erstaunlichen Glanz, der kam und ging wie eine Sinnestäuschung. Was eben noch eindeutig grau war, schien plötzlich auf eine Weise rötlich zu glänzen, die mit den Begriffen gewöhnlicher Wahrnehmung gar nicht bestimmt werden konnte.

»Für das normale Auge sieht sie wie ein großer Schlittenhund aus«, sagte Bill. »Würd’ mich nicht wundern, wenn sie gleich mit dem Schwanz wedeln würde.«

»Hallo, du Husky!«, rief er. »Komm her, wie immer du heißen magst!«

»Hat kein bisschen Angst vor dir«, lachte Henry.

Bill schwenkte drohend die Hand und stieß laute Rufe aus, aber das Tier zeigte keine Furcht. Die einzige Veränderung, die sie bemerkten, war eine steigende Wachsamkeit. Die Wölfin betrachtete sie mit der gnadenlosen Sehnsucht des Hungers. Sie war hungrig, und sie waren Fleisch; und wenn sie sich traute, würde sie kommen und würde sie auffressen.

»Hör zu, Henry«, sagte Bill und senkte unbewusst seine Stimme wegen des Inhalts seiner Gedanken. »Wir haben nur drei Patronen. Aber es ist ein sicherer Schuss. Ich kann sie gar nicht verfehlen. Sie hat sich drei unserer Hunde geholt, und wir müssen das stoppen. Was meinst du?«

Henry nickte zustimmend. Bill zog vorsichtig das Gewehr aus dem Schlittensack. Der Kolben war auf dem Weg zu seiner Schulter, langte aber niemals dort an. Denn im selben Augenblick war die Wölfin zur Seite gesprungen und im Fichtendickicht verschwunden.

Die beiden Männer sahen sich an. Henry stieß einen langen verständnisinnigen Pfiff aus.

»Hätt’ ich mir denken können«, sagte Bill laut zu sich selbst, als er das Gewehr wieder wegpackte. »Ein Wolf, der schlau genug ist, um zur Fütterungszeit zu den Hunden zu kommen, kennt sich natürlich mit Schießeisen aus. Ich sag’s dir, Henry, dieses Vieh ist die Ursache all unserer Probleme. Wenn die nicht wäre, hätten wir jetzt noch sechs Hunde statt drei. Und ich sag’s dir, Henry, ich werd sie erledigen. Im freien Gelände kann man sie nicht erwischen, dazu ist sie zu schlau, aber ich werde ihr auflauern. Ich werde sie abknallen, so wahr ich Bill heiße.«

»Du darfst nicht weit weg gehen«, ermahnte sein Partner. »Wenn das Rudel über dich herfällt, sind deine drei Patronen nicht mehr wert als drei Seufzer in der Hölle. Die Biester sind verdammt hungrig, und wenn sie auf dich losgehen, dann kriegen sie dich auch, Bill.«

An diesem Abend schlugen sie frühzeitig das Lager auf. Drei Hunde konnten den Schlitten nicht so schnell und so lange ziehen wie sechs, und man sah deutlich, dass sie erschöpft waren. Auch die Männer gingen früh schlafen,  wobei Bill darauf achtete, die Hunde so weit voneinander entfernt anzubinden, dass sie sich nicht losbeißen konnten.

Doch die Wölfe waren dreister geworden, und die Männer wurden mehr als einmal aus dem Schlaf gerissen. Die Wölfe kamen so nahe, dass die Hunde vor Angst panisch wurden und das Feuer immer wieder angefacht werden musste, um die waghalsigen Räuber in sicherem Abstand zu halten.

»Ich hab Matrosen davon reden hören, dass Haie ein Schiff verfolgen«, sagte Bill, nachdem er das Feuer wieder einmal mit Nahrung versorgt hatte und unter die Decken zurückkroch. »Und diese Wölfe sind Landhaie. Die wissen genau, was sie tun, wahrscheinlich besser als wir, und sie bleiben nicht deshalb auf unserer Spur, weil sie Sport treiben wollen. Die werden uns holen. Die werden uns bestimmt holen, Henry.«

»Sie haben dich ja jetzt schon halb, so wie du redest«, erwiderte Henry scharf. »Wenn ein Mann sagt, er wäre geschlagen, dann ist er schon halb erledigt. So wie du redest, bist du schon fast gefressen.«

»Die haben schon bessere Männer geholt als dich oder mich«, erwiderte Bill.

»Hör endlich auf mit deinem Gejammer. Du machst mich ganz fertig.« Henry rollte sich ärgerlich auf die Seite, aber er war überrascht, dass Bill keinen ähnlichen Temperamentsausbruch zeigte. Das passte gar nicht zu ihm, denn scharfe Worte ärgerten ihn schnell. Henry dachte lange darüber nach, ehe er einschlief, und als er eindöste und seine Lider sich endgültig senkten, kam ihm der Gedanke: »Kein Zweifel, Bill ist total fertig. Morgen werd ich ihn aufheitern müssen.«

3 Der Hungerschrei

Der Tag begann hoffnungsvoll. Sie hatten in der Nacht keine Hunde verloren, und als sie in die Spur schwenkten und in die Stille, die Dunkelheit und die Kälte aufbrachen, waren sie relativ leichten Herzens. Bill schien seine bösen Ahnungen vom Tag zuvor vergessen zu haben und scherzte und schimpfte im Spaß mit den Hunden, als sie auf einer schlechten Wegstrecke mittags den Schlitten umkippten.

Es war ein schreckliches Durcheinander. Der Schlitten lag auf dem Rücken und hatte sich zwischen einem Baumstamm und einem großen Felsen eingeklemmt. Um das Chaos wieder zu ordnen, mussten sie die Hunde abschirren. Die beiden Männer waren gerade über den Schlitten gebeugt und versuchten, ihn zurück in die Spur zu bringen, als Henry sah, dass sich One Ear verdrücken wollte.

»Hier geblieben, One Ear!«, schrie er, richtete sich auf und wandte sich zu dem Hund um.

Aber One Ear fing jetzt an zu rennen, während die Gurte hinter ihm durch den Schnee schleiften. Und da, draußen im Schnee auf der Spur, wartete auch schon die Wölfin auf ihn. Als er sich ihr näherte, wurde One Ear plötzlich vorsichtig, verlangsamte seine Schritte zu einem gezierten, wachsamen Gang und blieb schließlich ganz stehen. Er betrachtete sie sorgfältig und zweifelnd, und doch voller Begehren. Sie schien ihm zuzulächeln, zeigte ihre Zähne nicht auf drohende, sondern auf schmeichelnde Weise. Spielerisch machte sie ein paar Schritte auf ihn zu und blieb stehen. One Ear näherte sich ihr, Ohren und Schweif in der Luft, aber immer noch wachsam, mit hocherhobenem Kopf.

Er versuchte vorsichtig, an ihrer Schnauze zu schnuppern, aber sie zog sich spielerisch und kokett zurück. Jede Annäherung von seiner Seite wurde mit einem entsprechenden Rückzug von ihr beantwortet. Schritt für Schritt lockte sie ihn aus der Sicherheit der menschlichen Begleitung fort. Einmal, als ob eine verstandesmäßige Warnung durch seinen Schädel geblitzt wäre, drehte One Ear sich um und blickte auf den umgestürzten Schlitten, seine Teamgefährten und die beiden Männer zurück, die ihn riefen.

Aber welcher Gedanke auch immer sich in seinem Kopf geformt haben mochte, er wurde von der Wölfin zerstreut, die sich ihm jetzt näherte, für einen flüchtigen Moment ihre Schnauze an seiner rieb und dann wieder ihren koketten Rückzug vor seinen weiteren Annäherungsversuchen begann.

Inzwischen war Bill das Gewehr eingefallen. Aber das war unter dem umgestürzten Schlitten eingeklemmt, und als Henry ihm geholfen hatte, die Last wieder aufzurichten, waren One Ear und die Wölfin schon zu nahe beieinander und die Entfernung zu groß, um einen Schuss zu riskieren.

Zu spät bemerkte One Ear seinen Fehler. Noch ehe sie den Grund erkannten, sahen die Männer, wie er sich umwandte und zu ihnen zurückzulaufen begann. Dann sahen sie im rechten Winkel zu seiner Spur ein Dutzend magere, graue Wölfe über den Schnee springen, die ihm den Rückweg abschnitten. Augenblicklich war die spielerische Koketterie der Wölfin verschwunden. Mit einem Knurren sprang sie den Hund an. One Ear stieß sie mit seiner Schulter beiseite, und da ihm der direkte Weg abgeschnitten war, versuchte er auszuweichen und im Halbkreis zum Schlitten zurückzukehren. Aber jetzt erschienen jeden Augenblick mehr Wölfe und beteiligten sich an der Jagd. Die Wölfin war nur einen Sprung hinter One Ear und fiel auch nicht weiter zurück.

»Wo willst du hin?«, fragte Henry plötzlich und legte seinem Partner die Hand auf den Arm.

Bill schüttelte sie ab. »Ich lass das nicht zu«, sagte er. »Die werden sich nicht noch einen von unseren Hunden holen, wenn ich es verhindern kann.«

Mit dem Gewehr in der Hand stürzte er sich in das Unterholz neben dem Trail. Seine Absicht war nur zu deutlich. Wenn man den Schlitten als Mittelpunkt des Halbkreises ansetzte, den One Ear beschrieb, wollte Bill diesen Halbkreis an einem Punkt vor der Hetzjagd erreichen. Mit dem Gewehr und bei hellem Tageslicht konnte es ihm vielleicht gelingen, die Wölfe abzuschrecken und den Hund noch zu retten.

»He, Bill!«, rief Henry ihm hinterher. »Sei vorsichtig! Geh bloß kein Risiko ein!« Er setzte sich auf den Schlitten und wartete ab. Er konnte nichts anderes tun. Bill war schon außer Sicht; aber ab und zu tauchte One Ear zwischen dem Unterholz und den Baumgruppen auf. Henry hielt den Fall für aussichtslos. Der Hund war sich der Gefahr zwar bewusst, aber er lief auf der Außenbahn, während das Wolfsrudel auf dem inneren, kürzeren Kreis lief. Es war eine vergebliche Hoffnung, dass One Ear seine Verfolger so weit hinter sich lassen könnte, dass er ihre Kreisbahn vor ihnen kreuzen und den Schlitten erreichen könnte.

Rasch näherten sich die verschiedenen Linien einem kritischen Punkt. Irgendwo da draußen im Schnee, abgeschirmt vor seinen Blicken durch Bäume und Dickicht, würden das Wolfsrudel, Bill und One Ear zusammentreffen, das wusste Henry. Es geschah viel rascher, als er erwartet hatte. Er hörte einen Schuss, dann zwei weitere Schüsse in rascher Folge, und er wusste, dass Bill keine Munition mehr hatte. Dann hörte er einen Ausbruch von Knurren, Kläffen und Jaulen. Er erkannte One Ears Angst- und Schmerzensschrei, und er hörte den Wolfsschrei eines getroffenen Tieres. Das war alles. Das Knurren und Jaulen verebbte. Schweigen senkte sich wieder über das einsame Land.

Er blieb lange auf dem Schlitten sitzen. Es war nicht nötig, nachzusehen, was geschehen war. Er wusste es, als wäre es direkt vor seinen Augen geschehen. Einmal fuhr er erschrocken hoch und holte hastig die Axt aus dem Schlittensack. Aber dann blieb er doch sitzen und grübelte, während die beiden letzten Hunde sich zitternd an seine Füße drängten.

Schließlich stand er so müde auf, als wäre alle Kraft aus seinem Körper gewichen, und machte sich daran, die Hunde an den Schlitten zu spannen. Er legte sich ein Seil über die Schulter und zog mit den Hunden zusammen. Er ging nicht sehr weit. Bei der ersten Ahnung von Dunkelheit beeilte er sich, das Lager aufzuschlagen, und sorgte dafür, dass er einen großen Vorrat an Feuerholz hatte. Er fütterte die Hunde, kochte sich sein Abendessen, aß es und machte sein Bett dicht am Feuer.

Aber es war ihm nicht vergönnt, das Lager zu genießen. Noch ehe er die Augen geschlossen hatte, waren die Wölfe so nahe herangekommen, dass er sich nicht mehr sicher fühlte. Er brauchte sich nicht länger anzustrengen, um sie zu sehen. Sie waren überall um ihn und das Feuer herum, in einem engen Kreis, und er konnte sie im Feuerschein ohne Weiteres sehen: Sie legten sich hin und setzten sich auf, sie krochen auf dem Bauch heran oder wichen wieder zurück. Sie schliefen sogar. Hier und da sah er einen von ihnen, der sich wie ein Hund im Schnee zusammengerollt hatte und sich den Schlaf gönnte, der ihm jetzt verwehrt war.

Das Feuer ließ er hell brennen, denn er wusste, dass es das Einzige war, was zwischen seinem Fleisch und den hungrigen Fängen der Wölfe stand. Seine beiden Hunde blieben dicht bei ihm, einer auf jeder Seite. Sie lehnten sich zu ihrem Schutz bei ihm an, winselnd und jaulend und nur manchmal verzweifelt knurrend, wenn ein Wolf ein wenig näher als sonst kam. Bei diesen Gelegenheiten geriet der ganze Kreis in Erregung, die Wölfe sprangen auf und drängten probeweise nach vorn, während sich ein Chor von gierigem Jaulen und Knurren erhob. Dann legte sich der Kreis wieder, und der eine oder andere Wolf setzte seinen unterbrochenen Schlaf fort.

Aber der Kreis hatte eine kontinuierliche Tendenz, sich immer enger um Henry zu schließen. Zentimeter um Zentimeter kroch mal hier, mal da ein Wolf etwas näher, bis sie fast in Sprungweite waren. Immer wieder musste er ein brennendes Scheit aus dem Feuer ziehen und in das Rudel hineinwerfen. Das führte stets zu einem hastigen Rückzug, oft von wütendem Jaulen und ängstlichem Knurren begleitet, wenn ein gut gezielter Feuerbrand ein allzu wagemutiges Tier traf und versengte.

Am Morgen war der Mann erschöpft und müde, mit Augen, geweitet vom Schlafmangel. Er kochte sich noch im Dunkeln sein Frühstück, und als um neun Uhr das Tageslicht kam und sich das Wolfsrudel etwas zurückzog, setzte er den Plan um, den er sich in den langen Nachtstunden ausgedacht hatte. Er hackte ein paar junge Bäume ab und band sie, so hoch er konnte, zwischen stämmigen Bäumen fest. Mit Hilfe der Hunde und ihrer Leinen, die er als Seilzug benutzte, hievte er den Sarg auf das so entstandene Gerüst.

»Bill haben sie erwischt, und mich erwischen sie vielleicht auch noch, aber dich kriegen sie garantiert nicht, junger Mann«, sagte er zu der Leiche in ihrem Baumgrab.

Dann kehrte er zurück auf den Trail. Der leichter gewordene Schlitten sprang hinter den willigen Hunden her, die genauso wie Henry wussten, dass sie erst in Sicherheit waren, wenn sie Fort McGurry erreichten. Die Wölfe verfolgten sie jetzt ganz offen; sie trabten gemächlich hinter ihnen her, auf beide Seiten verteilt; die roten Zungen hingen heraus, und ihre mageren Flanken zeigten bei jeder Bewegung die pumpenden Rippen. Sie waren sehr mager, nur noch Haut und Knochen und dünne Muskelstränge – so dürr, dass Henry beinahe staunte, dass sie sich noch auf den Beinen hielten und nicht einfach in den Schnee kippten.

Er wagte es nicht, bis in die Dämmerung zu fahren. Mittags wärmte die Sonne nicht nur den südlichen Horizont, sondern stieß sogar ihren oberen Rand, blass und golden, ein Stückchen darüber hinaus. Henry nahm es als Zeichen. Die Tage wurden länger. Die Sonne kehrte zurück. Aber kaum war ihr helles Gesicht wieder fort, schlug er sein Lager auf. Es standen noch ein paar Stunden graues Tageslicht und düsteres Zwielicht bevor, und die nutzte er, um einen enormen Vorrat an Feuerholz anzulegen.

Mit der Dunkelheit kam der Schrecken. Die hungrigen Wölfe wurden kühner, aber auch der Schlafmangel machte Henry zu schaffen. Er hockte am Feuer, die Decken um die Schultern gezogen, die Axt zwischen den Beinen, auf beiden Seiten einen Hund, der sich dicht an ihn drückte, und nickte wider Willen immer wieder ein. Einmal wachte er auf und sah direkt vor sich, kaum vier Meter entfernt, einen großen grauen Wolf, einen der größten des Rudels. Noch während er ihn ansah, streckte sich das Tier wohlüberlegt wie ein träger Hund und gähnte ihm mit einem besitzergreifenden Blick voll ins Gesicht, als wäre er nur eine aufgeschobene Mahlzeit, die bald verzehrt werden sollte.

Diese Gewissheit trug auch das übrige Rudel zur Schau. Nicht weniger als zwanzig Stück zählte er, die ihn hungrig anstarrten oder ruhig im Schnee schliefen. Sie erinnerten ihn an Kinder, die sich um einen gedeckten Tisch versammelt hatten und auf die Erlaubnis warteten zu essen. Und die Nahrung, die sie verzehren würden, war er! Er fragte sich, wie und wann die Mahlzeit beginnen würde.

Während er Holz auf das Feuer stapelte, entdeckte er bei sich eine ganz neue Wertschätzung für seinen Körper. Er sah zu, wie sich seine Muskeln bewegten, und beobachtete mit Interesse das sinnreiche Spiel seiner Finger. Im Licht des Feuers krümmte er sie langsam und wiederholt, mal einzeln und dann wieder alle zusammen, spreizte sie weit auseinander oder machte rasche, greifende Bewegungen. Er studierte die Form der Nägel und presste sie auf die Fingerkuppen, mal sanft und mal scharf, um die verschiedenen Reaktionen der Nerven zu prüfen. Es faszinierte ihn, und er empfand eine plötzliche Zuneigung für sein kluges Fleisch, das so glatt und schön und köstlich zusammenarbeitete. Dann wieder warf er einen scheuen Blick auf die Wölfe, deren Kreis sich erwartungsvoll um ihn zusammenzog, und ihn traf die Erkenntnis, dass dieser wunderbare, lebendige Körper für die gierigen Wölfe nur eine Beute sein würde, die sie mit ihren hungrigen Zähnen zerfetzen und aufschlitzen würden, damit sie ihnen als Nahrung diente, so wie ihm bisher Elche und Hasen zur Nahrung gedient hatten.