Yoginis in Zeiten der Krise - Regina Esser-Palm - E-Book

Yoginis in Zeiten der Krise E-Book

Regina Esser-Palm

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Beschreibung

Dörtes Yoga-Haus an einem Montagabend im Frühsommer nach dem ersten Corona-Lockdown: Das Yogastudio ist wieder geöffnet, die elf Yoginis dürfen wieder gemeinsam Yoga mit ihrer Lehrerin Dörte praktizieren. Der zweite Teil der „Yoginis“-Romane erzählt erneut von einem Vierteljahr dieses besonderen Yogakurses, immer von einem Montagabend mit jeweils einer Yogini und einer Mudra, einer yogischen Handstellung, im Mittelpunkt. Die Auswirkungen des Pandemiegeschehens haben die Yoginis in unterschiedlicher Weise getroffen, seien es die Veränderungen in der Arbeitswelt, das Homeschooling der Kinder, die Sorgen um die vom Virus besonders betroffenen alten Eltern oder der Wegfall der sozialen Kontakte. Jede der Frauen stellt sich den Anforderungen der Krise auf ihre je eigene Weise. Die Yoginis unterstützen einander mit tatkräftiger Hilfe, klärenden Gesprächen und einfühlsamer Anteilnahme. Die gemeinsame Yogapraxis unter Dörtes fachkundiger Anleitung hilft ihnen, sich wieder selbst zu spüren, die Belastungen des Alltags zu bewältigen und Freude, Kraft und Zuversicht zu entwickeln.

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Regina Esser-Palm

Yoginis in den Zeiten der Krise

Ein Figurenroman in 13 Mudras

Prinzengarten Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright 2023 by Prinzengarten Verlag

Dr. Hans Jacobs, Am Prinzengarten 1, 32756 Detmold

Bild Umschlag: Artem Ermilov from IStock

ISBN 978-3-89918-845-5

Äußere Krisen bedeuten die große Chance, sich zu besinnen.

Viktor Frankl

1 Hakini-Mudra

Dörte durchquerte mit langsamen Schritten den Übungsraum ihres Yogastudios. Ihr entfuhr ein tiefer Seufzer. Sie freute sich zwar, dass sie nach einigen Wochen der Schließung des Studios zum ersten Mal wieder ihre Kurse halten durfte. Zugleich dachte sie mit Wehmut an die Weihnachtsfeier im letzten Jahr zurück. Ihr Montagskurs und sie waren so fröhlich gewesen, hatten gelacht, getanzt, erzählt – es war eine große Freude im Raum gewesen. Das Weihnachtsgeschenk ihrer Montags-Yoginis, ein Foto aller Teilnehmerinnen in Vrikshasana, der Baumstellung, hatte seinen Platz an einer Wand im Empfangsraum gefunden. Oft hatte sie in den letzten Tagen und Wochen vor diesem Bild gestanden und sich an das Ende des vergangenen Jahres erinnert, als das Leben noch normal war, ohne dass man sich dieser Normalität bewusst gewesen wäre, geschweige denn sie geschätzt hätte.

Wie anders war schon das Osterfest wegen der Virus-Krise gewesen! Die Pandemie war wie ein lautloses Erdbeben über das Land gekommen, unheimlich in seiner nicht fassbaren Zerstörungskraft. Das öffentliche Leben hatte ruhen müssen, die Kontakte waren auf ein Minimum reduziert. Dörte erinnerte sich genau an den Moment, als sie die Nachricht über die Anordnung des Lockdowns erfahren hatte.

Sie war gerade damit beschäftigt gewesen, die Kurse für die kommende Woche vorzubereiten. Sie hatte in ihrem Yogastudio auf der Matte gesessen und die Anleitung und Ausführung für eine neue Position geübt, als die Push-Nachricht auf dem Smartphone aufgeploppt war. Mit Bestürzung hatte sie die Meldung gelesen; nicht, dass die Entscheidung der Politik unerwartet gewesen wäre. Die steigenden Fallzahlen der mit dem Virus Infizierten verhießen schon länger nichts Gutes. Die endgültige Bestätigung hatte sie dennoch getroffen: Sie musste das Studio schließen, durfte ihre Kurse nicht mehr halten, ihre Yoginis nicht mehr sehen – eine unerträgliche Vorstellung.

Sie hatte mit ihrer Entscheidung gehadert, ihr sicheres Auskommen als Steuerberaterin aufgegeben zu haben, um sich in das gewagte Unterfangen eines Lebens als Yogalehrerin mit eigenem Studio zu stürzen. Ohne Arbeit, ohne Einkommen, aber mit laufenden Kosten zu sein, das war ein fremder Gedanke für sie, die finanziell immer erfolgreich aufgestellt gewesen war. Immerhin standen ihre Kinder, die Zwillinge Luisa und Lukas, auf eigenen Füßen und waren nicht von ihrer Unterstützung abhängig.

Sie fühlte sich allein mit ihrer Hilflosigkeit. Sie hatte sich auf ihrer Yogamatte ausgestreckt und ihren Tränen freien Lauf gelassen. Ihr verstorbener Mann Alex hätte gewusst, was zu tun sei, hätte sie beruhigt und ihr Mut zugesprochen. Es war lange nicht mehr vorgekommen, dass sie so zornig und verzweifelt über ihr frühes Witwendasein gewesen war. Der Sprung in das neue Leben hatte ihr geholfen, die große Lücke, die der Verlust ihres Mannes gerissen hatte, zumindest in Teilen zu füllen. Jetzt hatte sich die Lücke wieder aufgetan. Sie wollte von Alex in den Arm genommen und getröstet werden.

Das Klingeln des Handys riss sie aus ihrem Gedanken- und Gefühlswirrwarr. Luisa rief an, die die Nachricht auch gehört hatte, und anbot, direkt am Wochenende zu ihr zu kommen. Es folgten weitere Telefonate, unter anderem mit ihren Freundinnen, und in einem Gruppen-Videochat besprach Dörte sich mit Franzi, Emilia, Iris und Christina. Erst dabei war ihr das Ausmaß der Krise vollends bewusst geworden. Sie war nicht allein mit ihren Sorgen. Franzi musste ihren Friseursalon schließen, die Buchhandlung, in der Emilia arbeite, ebenfalls. Iris war noch nicht klar, was mit der Physiotherapie-Praxis geschehen würde. Die Schulen wurden geschlossen und Christina sorgte sich darum, wie sie ihre Schülerinnen und Schüler betreuen könnte. Bedrückt verabschiedeten sich die Frauen voneinander und versprachen einander, sich auf dem Laufenden zu halten und gegenseitig zu stützen.

Die ersten Tage des Shutdowns verliefen im Wechsel zwischen Erschöpfung und Tatendrang. Dörte postete auf ihren Kanälen die vorübergehende Schließung des Yoga-Hauses. Sie suchte sich Beschäftigungen, versuchte, ihre eigene Yogapraxis aufrechtzuerhalten. Zum ersten Mal fehlte ihr die rechte Lust dazu. Es war ein außergewöhnlich mildes Frühjahr, sodass sie sich mit ihren Freundinnen zum Spazierengehen oder auf ein Glas Wein im Garten oder auf der Terrasse verabredete.

Dörte war erstaunt, wie viel sie schlafen konnte. Sie hatte erwartet, dass sie sich nachts unruhig im Bett hin- und herwälzen würde. So war es in den ersten Nächten, dann erfüllte sie eine bleierne Müdigkeit. Seit Einrichtung und Start ihres Yogastudios hatte sie beständig unter Strom gestanden; sicherlich ein Eustress, dennoch kräftezehrend. Selbst in den Weihnachtsferien hatte sie viel am Schreibtisch gesessen. Die erzwungene Arbeitspause nutzte ihr Körper anscheinend, um leer gelaufene Akkus wieder aufzuladen. Dörte ließ es zu, gönnte sich sogar an manchen Tagen einen Mittagsschlaf.

Anfangs las sie ständig die Nachrichten-Updates zur Pandemie und schaute in den sozialen Netzwerken nach, welche Gedanken die Menschen zur Krise kundtaten. Letzteres stellte sie nach kurzer Zeit wieder ein, zu sehr war sie angewidert von den bösartigen Kommentaren einiger Zeitgenossen gegenüber Politikerinnen und Politikern, Andersdenkenden oder Menschen in besonders betroffenen Regionen. In der näheren Umgebung war eine Karnevalssitzung zum Super-Spreader-Event geworden. Was der Freude, dem Frohsinn und der Fröhlichkeit dienen sollte, hatte sich zum Auslöser von Sorge und Trauer entwickelt. Viele Karnevalisten hatten sich infiziert, man beklagte die ersten Todesfälle. Die Menschen aus diesem Ort trauten sich kaum mehr in die Nachbargemeinden, weil ihre Autos demoliert wurden, deren Kennzeichen den Herkunftsort verrieten.

Glücklicherweise lag ihre Stadt noch im Durchschnitt der Infektionen und bisher hatte sie von keiner Teilnehmerin erfahren, die ernsthaft erkrankt war. Dennoch gab es Fälle. Dörte schloss kurz die Augen, als der Gedanke an Helene und deren Schicksal ihr als körperlicher Schmerz durch alle Glieder fuhr. Helene, die älteste und dabei munterste Teilnehmerin der Montagsgruppe, war nur noch ein Häufchen Elend. Dörte hoffte, dass Helene gleich zum Kurs kommen könnte. Die Anteilnahme der Yoginis und die Yogapraxis würden ihr vielleicht guttun.

Dörte rollte ihre Yogamatte aus und ließ sich im halben Lotussitz nieder. Es dauerte noch, bis ihre Yoginis einträfen. Zu den neuen Hygiene-Regeln zählte, dass die Teilnehmerinnen das Studio erst kurz vor Beginn betreten sollten, und umgezogen mussten sie auch schon sein. Nach Ende des Kurses sollten sie es möglichst zügig verlassen. Dies alles missfiel ihr, denn sie sah ihr Yoga-Haus nicht nur als Ort der Bewegung, sondern auch der Begegnung und Kommunikation. Um die Schärfe dieser Regeln abzumildern, hatte sie im rückwärtig gelegenen Garten einige Gartenstühle für ihre Teilnehmerinnen aufgestellt.

Vereinzelt hatte es gute Neuigkeiten der Solidarität und Unterstützung gegeben: Nachbarn organisierten sich, um für ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger Einkäufe und Besorgungen zu erledigen. Die Öffentlichkeit bedankte sich bei den Menschen in systemrelevanten Berufen, gerade im Pflegebereich. Dörte hatte sich einerseits gefreut, dass diese Werktätigen die Aufmerksamkeit und Wertschätzung bekamen, die sie längst verdient hatten. Unbehagen bereitete ihr andererseits die Einteilung, ob Menschen für die Gesellschaft von Relevanz waren oder nicht. Sie selbst gehörte zu der Gruppe der »Nicht-Systemrelevanten«, in der sie sich in guter Gesellschaft fühlen durfte: Kunstschaffende in Theatern, Museen, Konzertsälen gehörten genauso dazu wie die Betreiber von Restaurants, Kinos oder Sporteinrichtungen. Es war der Grundgedanke, der ihr nicht gefiel: Den Wert eines Menschen nach seiner Nützlichkeit zu bemessen. Und davon abgesehen: Was oder wer ist wichtig für eine Gesellschaft? Ist es die Feuerwehrfrau, die Leben rettet, eher als die Musikerin, die Menschen mit ihrer Kunst erfreut? »Kunst geht nach Brot«, hatte Lessing einst zutreffend beobachtet.

Nach der ersten Zeit der Schockstarre war ihr eine Idee gekommen. Genau genommen war es ein ehemaliger Steuer-Mandant, der ihr auf die Sprünge geholfen hatte. Er rief bei Dörte an und fragte, ob sie ihm helfen könne, Krisen-Hilfsgelder zu beantragen und mit Krediten und Leasing-Verpflichtungen umzugehen, die er wegen der einbrechenden Aufträge für seinen Messebau nicht mehr bedienen könne. Seine Verzweiflung war immens: wegbrechende Einnahmen, Nachwuchs im Anmarsch, das neu gebaute Haus erst Ende letzten Jahres bezogen. Er tat ihr unendlich leid. Ihr eigenes Schicksal kam ihr dagegen unbedeutend vor und sie gab ihm sofort einen Termin. Zuvor arbeitete sie sich durch die Verordnungen und Bestimmungen bezüglich der finanziellen Unterstützung von Selbstständigen oder anderen von der Pandemie wirtschaftlich Betroffenen. Ihr bereitete die Arbeit als Steuerberaterin wieder Freude, um Menschen in Not zu helfen. Sie reaktivierte ihre sorgfältig gehütete Kundenkartei aus der Zeit ihres Steuerbüros und schickte Werbebriefe und -mails, um auf ihre Unterstützung in dieser Krisenzeit aufmerksam zu machen. Die Resonanz war groß. Bald betreute sie nicht wenige Mandanten hinsichtlich der Beantragung von Steuerhilfen. Auch Franzi, ihre Schülerin und Freundin, klopfte bei ihr an, um sie bezüglich der finanziellen Situation wegen der Schließung ihres Friseursalons um Hilfe zu bitten. Dörte war froh, Franzi ein wenig von dem zurückgeben zu können, was diese nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes für sie getan hatte.

So füllten sich die Tage des Lockdowns mit neuer Arbeit. Mit der Unterstützung von Aniela, ihrer Schülerin, Angestellten und Freundin, kümmerte sie sich um ihre Yoginis. Sie stellte unterschiedlich lange Yogasequenzen zusammen, Yoga am Morgen, Yoga für einen gesunden Rücken oder Yoga für einen geruhsamen Schlaf. Manche der Sequenzen versah sie mit Fotos der Asanas, die ihre Schülerinnen vielleicht noch nicht kannten. Sie sprach mehrere Meditationen auf. Aniela lud all diese Dateien auf die Website des Yoga-Hauses. Die eingeschriebenen Mitglieder konnten sie nach Eingabe eines Codes downloaden. Auf Instagram postete sie täglich eine Asana des Tages. Ohne Aniela hätte sie es nicht geschafft, das war Dörte bewusst, und sie wusste gar nicht, wie sie ihr danken konnte. Aniela hatte selbst alle Hände voll zu tun mit der Betreuung des Homeschoolings ihrer Kinder und der Mitarbeit im Gartenbau-Betrieb ihres Mannes.

Sie hatte mit Aniela überlegt, ob sie ihre Kurse als Videokonferenz anbieten sollte, wenn die Pandemie über einen längeren Zeitraum die Wiedereröffnung des Studios verhindern würde. Für die Arbeit im Steuerbüro hatte sie auf die Möglichkeit des Videochats zurückgegriffen, wenn ein kniffeliger Fall die persönliche Besprechung mit dem Mandanten erfordert hatte. Nach einem längeren Videogespräch war sie eher ermüdet, als das früher bei Gesprächen im Büro der Fall gewesen war. Zudem ersetzten digitale Möglichkeiten nur eingeschränkt die persönliche Begegnung. Sie war erleichtert, dass ihr die Entscheidung abgenommen worden war und der Unterricht wieder aufgenommen werden durfte, wenn auch unter strengen Hygiene-Vorschriften. Sie hatte zusammen mit Iris, die aufgrund ihrer Arbeit im Physiobereich mit den Hygiene-Maßnahmen vertraut war, das Yogastudio und besonders den Yogaraum einer kritischen Überprüfung unterzogen und notwendige Veränderungen vorgenommen.

Direkt im Empfangsbereich hatte sie einen Spender mit Desinfektionsspray aufgestellt und ein Hinweisschild angebracht, dass sich jeweils nur eine Besucherin am Tresen aufhalten dürfe, der Mindestabstand eingehalten und ein Mund-Nasen-Schutz bis zum Platznehmen auf der Yogamatte getragen werden müsse. Die Umkleide musste sie schließen. Im Übungsraum hatte sie auf dem Fußboden mit Lotusblumen-Aufklebern markiert, in welchem Abstand die Yogamatten ausgerollt werden durften. Die Ausleihe von Matten und Blöcken hatte sie eingestellt, nur eine Notfall-Ausrüstung war vorhanden. Das Regal an der hinteren Wand wurde zum Aufbewahrungsort für die Schuhe der Teilnehmerinnen umfunktioniert. Den Aroma-Diffusor hatte sie schweren Herzens weggeräumt; stattdessen zündete sie während der Yogastunden Räucherstäbchen an, auch die Altarkerze durfte bleiben. Ihre Yoginis hatte sie über digitale Wege informiert, wie die Verhaltensmaßnahmen nach der Wiedereröffnung aussahen, und dabei beachtet, die Hinweise trotzdem einladend klingen zu lassen.

Sie verzichtete auf die Stimmungskärtchen und das Ritual, dass die Yoginis sich eine Asana wünschen und auf die Kreidetafel schreiben durften. Der Übertragungsweg des Virus war nicht klar, es sollte möglichst wenig von mehreren angefasst werden. Sie hatte lange gegrübelt, welche Alternative sie den Frauen bieten könnte. Die Lösung war ihr durch Zufall gekommen. Als sie eines Abends die Bundeskanzlerin im Fernsehen sah, bemerkte sie, wie die Kamera vom Gesicht auf die Hände der Politikerin schwenkte und diese heranzoomte. Die bekannte Kanzlerin-Raute war groß im Bild zu sehen. Diese Geste hatte Dörte beeindruckt. Sie verlieh der Regierungschefin einen Anschein von Kompetenz und zugleich von Gelassenheit. ‚Macht sie da eigentlich eine Mudra?‘, hatte Dörte sich gefragt und noch während der Sendung googelte sie dazu im Netz. Tatsächlich, es gab einige Treffer, sie war nicht die Erste und Einzige, die sich diese Frage gestellt hatte. Einige vermuteten, dass es sich um die Hakini-Mudra handeln könnte. Dörte hatte ihr neues Ritual gefunden. Wenn diese Mudra oder Handgeste der erfolgreichen Politikerin dienlich war, konnte es auch für ihre Yoginis gut sein. Dörte hatte sich bisher kaum mit Mudras beschäftigt. Also rief sie ihre Freundin, Kursteilnehmerin und Buchhändlerin Emilia an, ob diese ihr ein Buch über Mudras besorgen könne. Emilia war begeistert, als Dörte ihr von der Idee berichtete, und versprach, nach einem guten Werk zu recherchieren und für sie zu bestellen. Einige Tage später hatte Dörte eine Liste von Mudras zusammengestellt, die sie jeweils während der Yogastunde einführen wollte.

Für den heutigen Montag, dem ersten Kurstag nach der Beendigung des Lockdowns, hatte sie natürlich »Hakini« ausgewählt und auf die Kreidetafel geschrieben. Sie freute sich, dieses neue Ritual mit den Montags-Yoginis zu erproben. Zudem war sie gespannt, wer gleich kommen würde. Zu vielen aus der Gruppe hatte sie während der Schließung Kontakt gehalten; zu den Freundinnen Iris, Emilia, Franzi und Christina ohnehin. Dilara, Aniqa, Fabienne und Klara hatten gelegentliche Lebenszeichen per Messenger von sich gegeben. Von Birgit hatte sie eine Mail erhalten, dass private und berufliche Veränderungen anstünden und sie deshalb nicht wisse, ob sie weiterhin zum Kurs kommen könnte. Aniela tat ihren Dienst im Studio – sie könnten also heute vollzählig sein, wenn auch Helene den Weg ins Yoga-Haus schaffen würde.

Für die Einführung der Mudras hatte Dörte für jede Teilnehmerin ein kleines Buddy-Book mit Bleistift auf die Lotusblumen-Aufkleber am Boden gelegt. In dieses könnten ihre Yoginis den Namen der Mudra des Tages, eine kurze Anleitung und die energetische Wirkung notieren. Bis zur Sommerpause würde eine Sammlung von rund zehn Mudras entstehen, die sie im Vorfeld zusammengestellt hatte.

Beginnen wollte sie mit der Hakini-Mudra, die einführenden Worte hatte sie sich genau überlegt. Gegen ihre Gewohnheit hatte sie die Erklärung zunächst wortwörtlich und dann in Stichpunkten auf einer Karteikarte festgehalten, vor dem Spiegel erprobt, mit dem Diktierprogramm ihres Handys aufgezeichnet, dann abgehört und überlegt, wo Verbesserungen notwendig wären. Auch auf die Zeit hatte sie geachtet. Frei nach Tucholsky darf eine gute Rednerin über alles reden, aber nicht über zehn Minuten. Nach einigen Kürzungen und Umstellungen war sie auf eine Rededauer von vier Minuten gekommen. Viel Aufwand, hatte sie zwischendurch gedacht, aber dann überwog der Gedanke, dass der erste Kurs nach dem Lockdown für ihre Montagsgruppe ein gelungener Abend werden sollte. Die Frauen würden sicherlich mit Freude ins Studio kommen.

Dennoch hatten die letzten Wochen seit dem Ausbruch des Virus bei allen deutliche Spuren der Sorge und der Verunsicherung hinterlassen. Hinzu kämen die Gefühle der Fremdheit durch das Tragen der Maske und der Wahrung des Abstands. Auch Dörte musste sich umstellen: Verzicht auf Adjustments, den korrigierenden Berührungen, oder auf Assists, wenn eine Übung von der Yogalehrerin unterstützt werden sollte. All dem wollte sie etwas Schönes entgegensetzen. So hatte Dörte auf jedes Buddy-Book eine Maske mit dem Aufdruck »Namaste – Dörtes Yoga-Haus« als Geschenk gelegt, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu erzeugen. Die Masken hatte sie bei der Ehefrau des Mandanten bestellt, der mit seiner Messebau-Firma in Schieflage geraten war. Um ein wenig Geld in die Haushaltskasse zu spülen, hatte sie sich aufs Nähen verlegt, während sie auf die Ankunft des Nachwuchses wartete. Und der Mund-Nasen-Schutz war in der Krise ein Verkaufsschlager.

Ihre eigene Maske lag neben ihr auf der Yogamatte. Sie würde sie anziehen, sobald die ersten Yoginis einträfen. Die gute Viertelstunde bis zum Beginn wollte sie nutzen, um ein letztes Mal ihre aufgesprochenen Worte abzuhören und dabei auf die Karteikarten mit den Stichpunkten zu blicken, die sie sich zu ihren Kursunterlagen neben die Matte bereitgelegt hatte. Sie streckte den Rücken, lockerte kurz den Nacken, atmete tief aus und ein und startete dann die Wiedergabe auf ihrem Handy. Konzentriert lauschte sie dem Klang ihrer eigenen Stimme, während ihre Augen auf die Karteikarten in ihrer rechten Hand gerichtet waren.

»Liebe Yoginis, heute beginnen wir mit einem neuen Ritual – it‘s Mudra-Time! Ich möchte euch ab heute jeden Montag eine Hand-Mudra zeigen und mit euch durchführen. Was sind eigentlich Hand-Mudras, werden sich vielleicht einige fragen. Vereinfacht gesagt handelt es sich um eine Handgeste, um bestimmte Fingerhaltungen. Mir ist die Idee gekommen, als ich in den Nachrichten unsere Regierungschefin sah, die ihre Hände zu der berühmten Kanzlerin-Raute zusammengebracht hatte. (Anweisung für mich selbst: jetzt die Raute zeigen!) Ihr kennt sie bestimmt, sie ist fast zu einem Markenzeichen der Kanzlerin geworden.

Nun könnte man denken, die Politikerin mache diese Geste, um die Hände zu beschäftigen. Das mag sein, aber ich finde, dass diese Handstellung ihr den Anschein von Kompetenz, von Konzentration und gleichzeitig von Besonnenheit verleiht. Also Zufall ist das bestimmt nicht. Man spekuliert, dass diese Handgeste eine Mudra darstellt, die Hakini-Mudra. Dieser Mudra schreibt man die Wirkung zu, dass sie die rechte Gehirnhälfte aktiviert, so die Gedächtnisleistung anregt, die Aufnahmefähigkeit steigert und auch die Entspannung fördert.

Schön und gut, werdet ihr vielleicht denken, und was hat das mit Yoga zu tun? Wir machen unsere Asanas, Atem- und Meditationsübungen, das reicht doch vollkommen! Tatsächlich ist es so, dass Mudras auch als »Mini- oder Finger-Yoga« bezeichnet werden, als wirksame Yoga-Übungen, die mit den Händen ausgeführt werden. Man kann sie überall ohne großen Aufwand praktizieren. Ihr kennt vielleicht die Fußreflexzonen-Massage, die durch Druck auf gewisse Stellen an den Füßen bestimmte Körperpartien aktiviert. Auch in den Händen gibt es Reflexbereiche. Mithilfe eines sanften Drucks bestimmter Stellen der Hände können Körperpartien und Organe erreicht und angeregt werden. Häufig werden Mudras mit Meditationen verbunden. Ihr habt sicherlich schon einmal gesehen, dass Meditierende Daumen und Zeigefinger zusammenbringen, die Chin-Mudra (Anmerkung an mich selbst: kurz vormachen), damit wird ein Kreis gebildet, der die Energie im Körper halten soll.

Also, es ist ein weites und spannendes Feld mit den Hand-Mudras. Was für die Regierungschefin gut ist, egal ob es eine Hakini-Mudra ist oder nicht, kann auch für uns nicht schlecht sein.

Ihr seht auf eurem Platz ein Heftchen liegen und einen Bleistift. Ihr seid herzlich eingeladen, jeden Montag die neu gelernte Mudra darin zu notieren. Nach einigen Wochen habt ihr eine schöne Übersicht, könnt eure Lieblings-Mudra auswählen oder nachschlagen, wenn ihr eine Mudra sucht, der eine bestimmte Wirkung zugeschrieben wird. Wir werden von nun an jeden Montag ungefähr nach der Hälfte der Kurszeit die Mudra-Time ausführen. Ich bin sehr gespannt, ob es euch gefällt.«

Dörte schaltete ihr Smartphone wieder aus. Hoffentlich würde die Idee bei ihren Yoginis Anklang finden. Es war einen Versuch wert. Aber vielleicht würden einige Yoginis die Zeit, die für die Mudra-Einführung geplant war, lieber mit Asanas verbringen. Oder es könnte als Spinnerei angesehen werden.

Prompt meldeten sich die negativen Stimmen in ihrem Kopf. Warum musste sie etwas Neues einführen, obwohl es nach den vielen Wochen der Schließung ungewohnt war, die Kurse zu leiten? Sie fühlte sich selbst aus der Übung, hatte sich mehr um das Steuerbüro gekümmert als um das Yogastudio.

»Schluss jetzt«, sagte sie sich. Sie legte die Fingerspitzen für die Hakini-Mudra aneinander, schloss die Augen und atmete langsam ein und aus. Sie wurde ruhiger, hörte mit halbem Ohr, dass Aniela die Eingangstür des Yoga-Hauses aufschloss. Ein Sonnenstrahl legte sich auf ihr Gesicht, fühlte sich warm und sanft an, so als wolle er sie ermutigen. Es würde wieder losgehen und Dörte erlaubte sich, dieses Gefühl für einen Moment auszukosten. Sie öffnete die Augen, zog ihre Maske an und wandte ihr Gesicht der Tür zu. Zumindest erkennbar mit den Augen lächelnd wollte sie die Teilnehmerinnen begrüßen.

2 Shakti-Mudra

Helene räumte mit gesenktem Kopf ihre Schuhe in das Regal an der hinteren Wand. Sie fürchtete den Moment, in dem sie ihre Maske mit dem Aufdruck »Dörtes Yoga-Haus« ausziehen könnte, sobald sie auf ihrer Matte Platz genommen hätte. Ihre Mit-Yoginis würden ihr verhärmtes Gesicht, die tiefen Augenringe und hängenden Mundwinkel sehen. So lästig ihr das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes war, ermöglichte es ihr bei den wenigen Gelegenheiten, an denen sie das verwaiste Haus verließ, ein wenig Anonymität und Schutz vor mitleidigen Blicken. Eine Nachbarin hatte sie beim Einkauf im Supermarkt nicht erkannt und Helene hatte sich nicht zu erkennen gegeben, um den mitfühlenden Fragen, wie es ihr gehe, wie sie nun allein zurechtkomme, zu entgehen.

Während sie zu ihrer Matte zurückkehrte – sie hatte absichtlich einen äußeren Platz in der Nähe der geöffneten Terrassentür gewählt – nahm sie den Zirbelkiefer-Geruch der Räucherstäbchen, den sanften Windhauch, der getränkt von Frühlingsdüften von draußen hereinwehte, und die leise im Hintergrund erklingende Harfenmusik nur wie durch einen Filter wahr. Sie dachte an ihre Schwiegertochter Annette, der sie zu verdanken hatte, dass sie letzten Montag und auch heute zum Yoga gegangen war. Früher war ihr Verhältnis zur Frau ihres Sohnes eher unterkühlt gewesen. Helene hatte sie in die Kategorie der nicht gerade hellsten Kerze auf der Torte eingeordnet. Aber in der Zeit der Trauer um Georg, ihren kürzlich verstorbenen Mann, hatte Annette sich als unverzichtbare Stütze erwiesen. Sie machte, wie es ihre Art war, nicht viel Worte, sondern packte mit an. Sie kümmerte sich um die Beerdigung, die aufgrund der Pandemie-Auflagen so ganz anders ablaufen musste, als es Helenes Vorstellungen entsprach. Sie nötigte Helene, abends bei ihnen mitzuessen, wohl wissend, dass Helene und Georg das gemeinsame Kochen des Abendessens zu einem wichtigen Hobby erkoren, nahezu als Ritual zelebriert hatten und wie sehr es Helene fehlen musste. Die Schwiegertochter schob eigene Termine vor, um Helene einen Grund zu geben, auf Enkelkind Mia, der Tochter von Annette und ihrem Sohn Ben, aufzupassen.

Sie war es gewesen, die Helene darauf aufmerksam gemacht hatte, dass Dörte den Yoga-Unterricht wieder aufnehmen durfte. Annette hatte, nachdem sie in den Nachrichten von der erlaubten Wiedereröffnung von Sporteinrichtungen gehört hatte, direkt auf Dörtes Website nachgeschaut und gelesen, dass am nunmehr vergangenen Montag der Yogakurs wieder stattfinden könne, und Helene angerufen.

»Helene«, hatte sie am Telefon gesagt, »du darfst wieder zum Yoga gehen. Dörte startet nächsten Montag.« Nur das, und Helene war dankbar, dass sie auf Floskeln wie ‚Das wird dir guttun. Das wird dich auf andere Gedanken bringen. Georg hätte gewollt, dass du Yoga weiter machst.‘ verzichtet hatte. Diese schlichte Äußerung ließ ihr Zeit zum Nachdenken. Der Verzicht auf jedwede betuliche Aussage hatte sie schließlich bewogen, zum Yoga zu gehen. Nur die Einladung, nach dem Yoga zu ihnen zum Essen zu kommen, schlug Helene aus.

»Lass mal, Liebes«, hatte sie gesagt. »Das wird für euch zu spät, gerade auch für Mia. Dann dreht sie noch mal auf und ihr bekommt sie danach nur schwer ins Bett. Vielleicht ist es auch für mich besser, wenn ich nach dem Yoga direkt nach Hause gehe. Ich glaube, da muss ich ein wenig für mich sein. Als ich das letzte Mal zum Yoga gegangen bin, wartete Georg daheim auf mich. Ich muss lernen, im Alltag allein zu sein, wenn ich aufwache, wenn ich nach Hause komme, wenn ich ins Bett gehe.« Helene musste schlucken, schaffte es gerade noch »Aber danke für die Essenseinladung« zu sagen, dann legte sie nach einem Abschiedsgruß auf.

Nun nahm Helene zum zweiten Mal nach dem Tod ihres Mannes an Dörtes Yogakurs teil. Sie hatte, gewissenhaft wie sie war, ihr Heftchen und den Bleistift für die Mudra-Notizen eingepackt, obwohl sie Dörtes Erläuterungen letzte Woche nur halbherzig gelauscht und nicht wirklich verstanden hatte, was das sollte. Es hatte sie Kraft gekostet, in die Gruppe zurückzukehren, die anteilnehmend-forschenden Blicke der Mit-Yoginis zu ertragen, nicht zu weinen und Dörtes Anweisungen für die Asanas zu folgen. Sie hatte gespürt, dass die Yogafrauen und besonders Dörte sie gern getröstet, in den Arm genommen und gemeinsam mit ihr geweint hätten. Doch die Krise hielt sie im wahrsten Sinne des Wortes auf Abstand und Helene war dankbar dafür.