Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht - Andrea Petković - E-Book
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Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht E-Book

Andrea Petković

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Beschreibung

Das Debüt der Saison 2020 – Aufmacher der Messe-Literaturbeilagen von Zeit und SPIEGEL. Tennis als Spiegel des Lebens – in ihrem literarischen Debüt schlägt Andrea Petković die Brücke zwischen Sport und Literatur, und begeistert mit zutiefst ehrlichen und anrührenden Geschichten. Andrea Petković nimmt uns mit in die Welt eines faszinierenden Sports, der so unkontrollierbar und aufregend ist wie das Leben selbst. Wie gelingt die Balance zwischen Siegesgewissheit und Selbstzweifel? Wie schafft man es, trotz Niederlagen und Verletzungen die Freude am Spiel nicht zu verlieren? Klug, poetisch und mit warmherzigem Humor erzählt sie Geschichten aus ihrer Jugend als Flüchtlingskind, von Begegnungen auf und neben dem Tennisplatz, von ihrer zerrissenen serbisch-deutschen Seele und wilden New Yorker Nächten, von weiblichen Körpern im Leistungssport – und von ihrer Liebe zu Literatur und Musik. So ist Petković' Debüt als literarische Autorin eine bewegende und witzige Hommage an das Auf und Ab des Lebens.

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Seitenzahl: 329

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Andrea Petković

Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht

Erzählungen

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Andrea Petković

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto

Lassen Sie sich keinen Bären aufbinden

Über die Kindheit

Die Sache mit der Gerechtigkeit

Danica

Dranbleiben

Durch die Nacht mit …

Wunderschönes Chaos

Furcht im Herzen

Belgrad

Kaleidoskop einer Grand-Slam-Karriere

HotDogs und Hochzeitstorten

Danielle

Über Rivalität

Fed Cup

Mut zur Hässlichkeit

Best day ever

Auf Tour

Endlicher Spaß

New York

Dank

Inhaltsverzeichnis

Hajde, Bože, budi drug pa okreni jedan krug unazad planetuNoć je kratko trajala a nama je trebala, najduža na svetu

(Bajaga)

 

Komm, Gott, sei ein Freund und dreh unseren Planeten einmal rückwärts um sich selbst

Die Nacht, sie dauerte zu kurz, dabei brauchten wir nun mal die längste aller Zeiten

Inhaltsverzeichnis

Lassen Sie sich keinen Bären aufbinden

Es gibt eine Geschichte, die mein Vater jedes Mal erzählt, wenn er ein, zwei Gläser Wein zu viel getrunken hat. Sie spielt im Jahre 2011, als ich das erste Mal das Viertelfinale eines Grand-Slam-Turniers erreicht habe. Ich musste Abend für Abend in die Nachtmatches und nach Ausdehnen, Auslaufen, Pressekonferenz und Massage war es oft drei Uhr morgens, wenn wir in unser gemietetes Appartement zurückkehrten. Ich ging direkt in mein Zimmer und lag wach auf dem Rücken, starrte die Zimmerdecke an und ging alle Spielzüge im Kopf noch einmal durch, vollgepumpt mit Adrenalin und ungläubig darüber, in der Weltspitze angekommen zu sein. Meistens fiel ich erst gegen fünf Uhr morgens in unruhigen Schlaf.

Als ich nach diesen zwei Wochen bei den Australian Open nach Hause zurückkehrte, setzte ich mich in mein Auto und fuhr zu meiner Cousine, deren Eltern ihr Schlafzimmer im Keller hatten. Sie waren zu dieser Zeit nicht da. Ich kam nachmittags an und ging hinunter. Das Zimmer war so dunkel wie die Seele des Fausts. Ich legte mich schlafen und am nächsten Tag um die Mittagszeit klopfte meine Cousine vorsichtig an die Tür und weckte mich. Ich hatte fast zwanzig Stunden durchgeschlafen.

 

Aber zurück zu meinem Vater. Mir war lange Zeit nicht bewusst, dass natürlich auch er unter Adrenalin stand. Er durchlebte in abgeschwächter Form dasselbe wie ich. Und so wurde mir vieles klar, als ich ihn das erste Mal diese Geschichte erzählen hörte.

Wenn wir nachts um drei Uhr in unserer kleinen Wohnung in Melbourne ankamen, konnte auch er nicht auf Knopfdruck einschlafen. Meistens wartete er, bis es ruhig in meinem Zimmer wurde, und ging dann in die laue Nacht hinaus. Er spazierte ziellos durch die Gegend, erforschte neue Viertel und sah den Mond auf dem Yarra River glitzern. Meistens beruhigte sich sein Gemüt in den frühen Morgenstunden, wenn diese Halbkugel der Welt in festem Schlaf lag. Eines Nachts jedoch lief er ein Stück zu weit, ein Weilchen zu lang und fand sich in einem waldartigen Park wieder, der von dschungelartigen Stellen über Eukalyptusbäume bis zu europäischen Laubbäumen alles zu bieten hatte, was ein naturverliebtes Herz sich wünschen könnte.

Mein Vater blieb stehen. Er sah sich um. So weit war er noch nie zuvor gelaufen. Er fühlte sich mulmig, aber nicht unbedingt ängstlich in diesem Moment. Er versuchte sich zu orientieren, herauszufinden, aus welcher Richtung er gekommen war. Immer und immer wieder sah er sich um. Lief ein wenig vor bis zur nächsten Lichtung und wieder zurück. Versuchte Bäume und Pflanzen auseinanderzuhalten und sich zu erinnern, welche er davon schon gesehen hatte. In dieser Nacht war der Himmel dunkel, keine Sterne, kein Mond waren zu sehen. Und auf einmal: ein Rascheln. Hinter ihm? Vor ihm? Er drehte sich um seine Achse. Noch ein Rascheln, diesmal lauter. Es schien von links zu kommen. Mein Vater beschleunigte seine Schritte. Plötzlich hörte er ein Plumpsen, ein Grunzen. Etwas kam hinter ihm auf dem Boden auf und vor ihm stand: ein großes (so groß wie er mindestens) unbekanntes Tier auf zwei Hinterbeinen, mit Fell und Zähnen, so vielen Zähnen, gelb glitzernde Raubzähne, die es fletschte.

Mein Vater begann gleichzeitig zu schreien und zu rennen. Er rannte so lange, bis ihm die Lunge brannte, die Beine schwer wurden und der Schweiß von der Stirn troff. Er sagt, dass er die ersten Häuser sah, als die Sonne gerade wieder aufging. Als er zurück zu unserer Wohnung fand, war ich in meinem Zimmer gerade in unruhigen Schlaf gefallen.

 

Ich glaube meinem Vater, dass er sich verlaufen hat. Ich glaube ihm auch, dass er ein Tier gesehen hat. Seiner Beschreibung nach schien es ein Braunbär gewesen zu sein. Doch ich bin mir nicht ganz sicher, ob es ein Braunbär – dazu noch so ein großer wie mein Vater – geschafft hätte, durch den Indischen Ozean zu schwimmen, dann geheimniskrämerisch und unentdeckt durch halb Melbourne zu laufen, um schließlich meinen Vater in einem Park unbekannter Größe und Botanik zu erschrecken.

Ich sah ihn von der Seite an, während er die Geschichte erzählte. Sein Gesicht glühte, leicht gerötet vom Wein. Ich sah die Menschen an, die zuhörten. Sie hingen meinem Vater an den Lippen und in mindestens einem der Gesichter konnte ich wahre Todesangst um ihn erkennen – bis alle bei der Pointe angekommen in erleichtertes Gelächter ausbrachen.

 

Geschichtenerzählen war immer Teil unserer Familie und Teil unserer Identität. Wenn meine Mutter meinen Vater abends beim Essen nach seinem Tag fragte, hörte sich jeder einzelne an wie ein Abenteuer. Wenn meine Mutter einkaufen war und zurück nach Hause kam, schien es immer, als wäre sie in letztem Moment den Fängen eines Videospiels entwischt. Hinter jedem banalen Ereignis des Alltags steckte für unsere Familie eine größere Geschichte, eine Bedeutung, eine Symbolik.

Das war der Haushalt, in dem ich aufwuchs. Denken Sie ab und zu daran, wenn Sie meine Geschichten lesen. Alles, was ich beschreibe, ist genau so passiert. Aber manchmal braucht es einen Braunbären, um der Wahrheit näherzukommen.

Inhaltsverzeichnis

Über die Kindheit

Meine beste Freundin in der Grundschule war Asli. Ich erinnere mich gut an ihre blasse, weißlich schimmernde Haut und ihre blassrosafarbenen Fingernägel, die pechschwarzen Haare und ihr breites, melancholisches Lächeln mit den in perfekter Ordnung stehenden Zähnen.

Aslis Familie stammte aus der Türkei. Sie wohnte bei mir um die Ecke in einer dieser Sozialbauwohnungen, in denen viele Migrantenfamilien untergebracht waren. Familien aus Marokko, der Türkei, Italien, Griechenland und Afghanistan. Geflüchtete, Gastarbeiter und auf besseres Leben Hoffende. Meine Eltern hatten nach vielen schwierigen Jahren in kleinsten Wohnungen mit zu vielen Leuten eines der etwas neueren Reihenhäuser mit kleinem Vorgarten mieten können, die inmitten all dieser Sozialwohnungsbauten standen. Unser Nachbar zur rechten Seite war Polizist mit Familie und das Eckhaus, aus dessen Fenstern am Nachmittag Blockflöten- und Klavierklänge drangen, gehörte einem Lehrerpaar mit zwei Kindern.

Ich mochte Asli, weil sie das komplette Gegenteil von mir war. Sie war ruhig und gütig, akzeptierte Ungerechtigkeiten mit einem Lächeln und widersetzte sich nie ihrer Mutter. Ich war laut und wütend und schmiss Dinge über den Tennisplatz. Sie war aus einer anderen Welt. Nicht weil sie Türkin war, sondern weil sie auf mich wie eine Heilige wirkte. Immer besonnen, immer geduldig. Als hätte sie bereits bei Geburt ihr Schicksal gekannt und sich ihm respektvoll ergeben; als hätte sie schon immer gewusst, wer sie war. Ich hingegen wusste nicht, wer ich war – und hatte auch gar nicht vor, es herauszufinden. Mein Ziel war es, in einem ewigen Kampf mit mir selbst etwas zu kreieren, das einem Ich glich.

Asli brachte mir die türkische Nationalhymne bei, die sich wahnsinnig traurig anhört. Irgendwann konnte ich auch ein Lied von Tarkan auswendig auf Kauderwelsch-Türkisch singen. Ich lernte, dass nicht etwa sehr viele türkische Frauen den Vornamen Anne trugen, sondern »anne« auf Türkisch das Wort für Mutter war.

Ihr Vater war nie zu Hause, ihre Mutter sprach nicht gut Deutsch. Es gab immer tonnenweise Essen – wir aßen Baklava, Gurken, Tomaten und Blätterteigkuchen gefüllt mit Käse, während wir an Referaten über den Spessart und die Lahngegend arbeiteten. Asli wusste meist mehr als ich, aber ließ mich in ihrer endlosen Geduld mit dem Kopf gegen die Wand rennen, ohne mir jemals einen Vorwurf zu machen.

Der Kontakt riss ab, als ich die Schule wechselte. Aber ich denke oft an sie und frage mich, wie sie wohl ihr Leben gestaltet. Jahrelang waren wir in einer prägenden Zeit der gleichen Umgebung – Schule, Freunde, Orte – ausgesetzt gewesen, und heute weiß ich nicht einmal mehr, wo Asli ist.

 

Ich stand zwischen zwei Welten. Ich stammte selbst aus einer Migrantenfamilie und doch wohnte ich in einem Reihenhaus mit Garten und musste schon eine Weile nicht mehr das Zimmer mit meiner Schwester teilen.

Mein Vater war 1986 als Tennistrainer nach Deutschland gekommen, um Geld zu verdienen. Sein ursprünglicher Plan war es, bald wieder nach Bosnien zurückzukehren, wo meine Mutter und ich warteten, um sich dort mit dem in Deutschland verdienten Geld ein besseres Leben aufzubauen. Tito, der langjährige diktatorische Staatspräsident des kommunistischen Jugoslawiens, der den Staatenbund mit eiserner Hand und ausgeklügelten Methoden zusammengehalten hatte, war 1980 verstorben und der Balkan versank zusehends im Chaos. Je mehr sich die Situation zuspitzte, desto nervöser wurde mein Vater in Deutschland, bis er schließlich beschloss, meine Mutter und mich zu sich zu holen. Das war 1988 – drei Jahre bevor Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit erklären würden und es infolgedessen zu den ersten von vielen kriegerischen Handlungen auf dem Balkan kommen würde. Mein Vater entging dadurch, dass er schon vorher in Deutschland war, dem Flüchtlingsstatus und konnte uns eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und sich eine Arbeitserlaubnis sichern.

»Unbefristete Aufenthaltsgenehmigung« und »Arbeitserlaubnis« waren vielleicht nicht die ersten deutschen Wörter, die ich als kleines Kind aussprechen konnte, aber es waren sicherlich die ersten deutschen Wörter, die ich klar als solche erkennen konnte. Meine Eltern sprachen zu Hause Bosnisch, ein ulkig klingender Dialekt des Serbokroatischen, der härter war in seinem Klang, aber weicher in seinen Verniedlichungsformen und seiner Erfindung neuer Wörter. Der Tonfall des Bosnischen klingt stets, als machte man sich über eine ernste Sachlage lustig, und bis heute habe ich manchmal Schwierigkeiten zu erkennen, ob Bosnier spotten oder reden (Enthüllung: Meistens spotten sie – und zwar über dich).

Ich wuchs in einem Potpourri von Farben auf. Es gab in meiner Nachbarschaft dunkelhäutige Kinder mit Krausehaaren, es gab schneeweiße Kinder mit schwarzen Haaren, rosarote mit blonden Haaren und umgekehrt, Frauen mit bunten Tüchern auf dem Kopf und langen Röcken um die Hüfte, den Nachbarn in seiner schneidigen Polizeiuniform und die Lehrerkinder in Pastellfarben und mit dem Teint des Häuslichen. Es gab ein Teenager-Mädchen, das zwei Häuser weiter wohnte und von seinem 14. bis zu seinem 16. Lebensjahr der Gothic-Szene angehörte. Sie trug im Sommer wie im Winter lange schwarze Lederstiefel, einen schwarzen knöchellangen Mantel und schwarz gefärbte Haare. Sie malte sich den Mund schwarz aus und die Augen schwarz an und guckte böse. Sie hieß Gudrun und ich hatte panische Angst vor ihr. Ihre Augen waren eisblau, fast farblos, und manchmal, wenn wir zufällig in der gleichen Straßenbahn saßen, starrte sich mich an, ohne zu blinzeln und ohne zu lächeln. Ich bin mir sicher, sie hat mehrere Nächte wach gelegen und Mordkomplotte gegen mich geschmiedet.

 

Unsere Grundschule lag in einem ziemlich bürgerlichen Vorort Darmstadts. Neben Asli und mir ging nur noch ein anderes Kind mit Migrationshintergrund in meine Klasse: Hakem, er war Marokkaner. Ansonsten viele Michaels, Christians, Katharinas und Hannahs.

Meine Klassenlehrerin hieß Frau Müller und hatte eine fantastisch ungezähmte Lockenpracht. Sie war sehr dünn und sehr streng und brannte für ihren Beruf, für uns. Sie schien immer an allen Orten im Klassenzimmer gleichzeitig zu sein. Mit ihren langen, feingliedrigen Fingern deutete sie abwechselnd auf uns und auf die Tafel, sie erzählte in weit ausholenden Gesten und mit wildem, intensivem Blick – und manchmal brach sie unverhofft in herzhaftes Gelächter aus. Ich hatte großartiges Glück mit der ersten amtlichen Autoritätsperson in meinem Leben.

Ich war eine Musterschülerin und benahm mich allen Regeln entsprechend – durchdrungen von der tief sitzenden Angst, aufzufallen. Einer Angst, die ich von meinen Eltern übernommen hatte und die typisch für Migrantenfamilien war. Als ich etwas älter wurde und in Berührung mit den großbürgerlichen Kindern des Tennisklubs kam, war der größte Kulturschock für mich ihre absolute Rücksichtslosigkeit gegenüber Regeln und Formen – das wahre Privileg der Privilegierten.

Das Feuer, das, seit ich denken kann, in mir loderte, manifestierte sich in Wutausbrüchen auf dem Tennisplatz, wenn etwas nicht so lief, wie ich wollte. Ich warf dann meinen Schläger weg und heulte. Schlimm war, dass die Leute dachten, ich sei traurig, dabei trat nichts als Wut aus meinen Augen.

Eines Tages nahm Frau Müller mich in einer Pause zur Seite und fragte mich aus. Meine Eltern hatten gepetzt. Was da los sei auf dem Tennisplatz? Woher diese Wut komme? Ob sie einen tieferen Grund habe?

Ich konnte mir auf diese Schlag auf Schlag kommenden Fragen keine vornehmere Antwort ausdenken als die Wahrheit. Die war schlicht und ergreifend: Ich kam nicht klar, wenn etwas nicht so lief, wie ich es wollte. In der Schule lief alles genau so, wie ich es wollte. Auf dem Tennisplatz eben manchmal nicht. Ich erinnere mich sehr gut an Frau Müllers lange Ansprache über das Leben im Allgemeinen und darüber, dass man nicht immer in allem die Beste sein könnte. Ich war vielleicht neun Jahre alt, aber war bereits sicher, dass das nicht stimmen konnte. Nicht stimmen durfte. Man konnte schon, man musste es nur stark genug wollen. Und Frau Müller, der dieses Geheimnis nicht offenbart worden war, obwohl sie älter war als ich, tat mir leid.

Wir trugen Referate vor, schrieben Diktate und lernten rechnen. Ich musste zusätzlich zweimal in der Woche nachmittags zum Serbisch-Unterricht, der von einer Kroatin gegeben wurde. (Ja, ich weiß, es ist kompliziert, aber in Kürze: Meine beiden Eltern stammen aus Bosnien und hatten dort auch gewohnt, meine Mutter ist Bosnierin, mein Vater ist ethnischer Serbe. Bei uns im Haushalt setzte sich zum großen Teil die Kultur seiner Familie durch – und nach dem Krieg zog die Familie meines Vaters nach Novi Sad in Serbien.)

Ich kannte inzwischen viele der einfachsten Vokabeln nicht mehr. Mein Gehirn begann sich anzupassen, es wandelte slawische Satzbauten in deutsche um, es ersetzte serbisch-bosnische Wörter durch deutsche – und bald waren es nicht mehr nur die Wörter »Aufenthaltsgenehmigung« und »Arbeitserlaubnis«, die in meinem Wortschatz ausschließlich auf Deutsch existierten, sondern die meisten.

Das war meine Welt, in der ich als normales Kind funktionierte. Ein halbwegs normales Kind, wenn man ignorierte, dass ich mich immer irgendwie fremd fühlte mit Menschen, die nicht meine Eltern, meine Schwester und meine acht Cousinen waren. Die Kultur der deutschen Kinder, die Übernachtungspartys beieinander feierten, »Sissi« schauten und Pferd spielten, kannte ich nicht. Meine Eltern hätten mir niemals erlaubt, irgendwo anders zu übernachten, und so dachte ich mir Monat für Monat Ausreden aus und fürchtete die Geburtstage der anderen.

In ungefähr dieser Zeit trainierte ich mir auch mein rollendes, hartes R ab und versteckte es tief hinten in meiner Kehle, wo es kein Deutscher dieser Welt finden konnte. Es war keine subtile gesellschaftliche Ausgrenzung: Meistens waren die Nachfragen, wo ich denn herkomme, schlichte Neugier meines Gegenübers. Aber in meinen Augen bestätigten sie nur, dass ich anders war, dass ich nicht dazugehörte. Und ich wollte nichts mehr als dazugehören.

Vielleicht spaltet sich die den meisten Migranten inhärente Angst aufzufallen stets in ein doppelköpfiges Biest, das in derselben Erde gedeiht, sich aber in zwei verschiedenen Formen manifestiert: entweder in der Anpassung an alles, was man vermutet, deutsch zu sein, um nicht aufzufallen, oder im Verbarrikadieren in der eigenen Kultur, um nicht aufzufallen. Nicht aufzufallen ist jedoch in beiden Fällen der Zweck des Ganzen.

 

Ich habe mich dennoch wohlgefühlt in dieser Welt – nicht immer sicherlich, aber meistens. Nur an manchen Tagen, wenn ich in meinem Zimmer unterm Dach saß und auf den Parkplatz vor unserem Reihenhaus sah, fehlte mir etwas. Ich wollte mehr und wusste nicht, wo dieses »Mehr« herkommen sollte.

Ich wählte ein Gymnasium in Darmstadt, der großen Stadt außerhalb meines damaligen Radius. Fortan sollte sich mein Leben entlang der breiten Straße abspielen, die von der Innenstadt kommend am Friedhof vorbei bis hoch zum Böllenfalltor verlief. Dort lag das Gymnasium, das ich bis zu meinem Abitur besuchen sollte, 300 Meter weiter nördlich war das Lilienstadion (seit Darmstadt 98 mit einer spektakulären Geschichte, die ein eigenes Buch rechtfertigen würde, überraschend in die erste Fußball-Bundesliga aufgestiegen war, wohl deutschlandweit bekannt), direkt daneben der Tennisklub, in dem ich die Mehrheit meiner wachen Zeit verbrachte, und etwa 200 Meter weiter westlich stand das Haus meiner besten Freundin Marie. Eine deutlich größere Welt als die meines Vororts – und immer noch zu klein.

Langsam befreite ich mich aber von meinem Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, und begann mir einen Freundeskreis aufzubauen. Neben den echten Freunden, die neben mir auf den Schulbänken saßen und mit mir in pubertäres Gelächter über sinnlose Sachen einstimmten, entdeckte ich Bücher. Ich las sie, zwischen Heften versteckt, in den Stunden, die mir unwichtig erschienen, aß zerquetschte Schokoküsse in weißen Brötchen – eine Mahlzeit, die Negativnährstoffen gleichkam – und sah meinen Freunden dabei zu, wie sie ihre ersten Zigaretten rauchten.

Nach der Schule lief ich die paar Hundert Meter hoch bis zum Tennisklub. Dort blieb ich und spielte. Spielte, bis es dunkel wurde. Bis meine weißen Tennisklamotten durchnässt waren vom Schweiß und gelegentlichem Regen, verdreckt waren vom roten Sand, nach Anstrengung stanken. Bis mir die Haare im Gesicht klebten, meine Fingernägel schwarz und meine Knie mit Schrammen und Kratzern übersät waren. Ich spielte so lange und so ausgiebig, dass ich auf dem Beifahrersitz einschlief, als mein Vater seine letzte Trainerstunde gegeben und den Ballwagen in seinen kleinen Raum gerollt hatte, der nach alten Bällen, stehender Luft und jahrelangem Staub roch, sich wie ein König, der den Tanzsaal für den heutigen Abend verlässt, frisch geduscht und mit federndem Schritt verabschiedet hatte, lächelnd in dem Wissen, dass alles am nächsten Tag von vorne losgehen würde, und sich schließlich in unseren roten VW Passat setzte und nach Hause fuhr, wo meine Mutter mit dem Abendessen auf uns wartete.

Der Sommer war meine liebste Jahreszeit. Ich mochte die Freiheit, die der Sommer mit sich brachte. Keine einengenden Hallenplätze, die man Wochen im Voraus buchen musste, keine Verabredungen zum Tennisspielen vonnöten, da im Sommer sowieso alle da waren. Ich mochte die Freiheit, in kurzen Hosen und T-Shirts aus dem Haus zu gehen, keinen Gedanken daran verschwendend, wie man aussah oder ob man warm genug angezogen war.

Nach der Schule saß ich auf den grünen Bänken des Tennisvereins, noch klein genug, um meine Beine baumeln zu lassen, und wartete. Ich wartete auf meinen Vater, meine Freunde, Fremde. Wer immer gerade Zeit und Lust hatte, mit mir zu spielen. Schlimmstenfalls stand ich an der Wand, kloppte Bälle dagegen und sah, wie sie erst grün, dann grau, dann taub wurden.

Die Sommertage in Darmstadt waren lang und zahlreich. An Spätnachmittagen gingen wir ins Schwimmbad am Hochschulstadion, den Staub des Tages abwaschend, aßen Eis am Stiel von der Tankstelle, rannten im Wald auf und ab und fuhren auf unseren Fahrrädern von einer Station zur nächsten, den Fahrtwind in den Haaren.

Ich mochte es, auf der etwas erhöhten Terrasse des Schwimmbads zu sitzen, von der aus man alles im Blick hatte. Ich beobachtete das Balzverhalten von Männern und Frauen. Wie die Männer ihre muskulösen Körper am Beckenrand entlang spazieren trugen, vielleicht den einen oder anderen Muskel etwas mehr anspannend, selbstbewusst und stolz. Wie die Frauen verunsichert an ihren Bikinis und Badeanzügen herumzupften, zaghaft, ängstlich und doch standhaft den Blicken trotzten. Ich mochte die steinalten Stammgäste, die täglich mit verrunzeltem Körper und von der Sonne gegerbter Stirn ihre Bahnen schwammen, unberührt von der Jugend um sie herum, immun gegen Begierden und Eitelkeiten.

Und das Eis von der Tankstelle war damals noch unschuldig, befreit von Stigmata wie Kalorien und Zucker. Das größte Problem war, das Geld dafür aufzutreiben. Wir sammelten, zählten, legten zusammen und oft reichte es trotzdem nicht für das damals neue Magnum-Eis, das wir alle gerne probiert hätten, uns aber nicht leisten konnten. Ich wählte immer die schokoladengetränkten, von Sahne überzogenen Kunstwerke in Waffeln; Kinder, die Fruchteis bevorzugten, waren mir suspekt. Bis heute argwöhne ich List bei jedem Erwachsenen, der Erdbeer- und Zitroneneis statt Schokolade und Vanille wählt. Es ist für mich, wie Salat bei McDonald’s zu bestellen.

 

Meine Eltern waren einfache, hart arbeitende, intelligente Menschen, die sich von Armut und Krieg befreit hatten, die ihre Familien, ihre Vergangenheit verlassen hatten, um für ihre Kinder der Zukunft mehr abzutrotzen, als es ihren Eltern vergönnt gewesen war. Das allein hätte gereicht für mehrere Leben in Aufruhr und Aufregung, aber für mich war es plötzlich nicht mehr genug. In Berührung gekommen mit den großbürgerlichen Kindern von Anwälten, Ärzten und Architekten eröffnete sich mir eine neue Welt, die bis dahin keine Rolle gespielt hatte: eine Welt aus Kunst und Musik, aus Design und Theater, Literatur und Sprachen. Ich war jung, ich war ehrgeizig und ließ mich von diesem Strom mitreißen. In einer Welt, in der alle Existenzängste verschwunden waren, beschäftigte ich mich nicht mehr mit dem Überleben, sondern mit dem Überschuss des Lebens, dem Mehr an Leben, das den Privilegierten der Gesellschaft vorbehalten war.

Ich versank in Büchern und Musik, rannte, hetzte, hechelte einer Elite hinterher, die uneinholbar vorne lag. Ein vergeblicher Wettlauf gegen die Zeit. Die Leidenschaft, die ich von Anfang an für Tennis aufbrachte, begann sich mit dem Ehrgeiz zu vermischen, den ich bis dahin für meine Schulnoten aufgehoben hatte. Alles, was ich wollte, war, zur Elite zu gehören.

Und plötzlich tat sich eine Tür vor mir auf, die mir erlauben würde, Jahre an Schule, Studium und Karriere zu überspringen und per Tennis-Expresszug direkt an die Spitze zu gleiten. Ich musste nur hart arbeiten, diszipliniert sein, meinen Weg gehen und niemals auf die anderen hören. Das konnte ich beileibe am besten von allen.

Der Tag, an dem ich mein neues Lebensziel ausrief, war der Tag meines ersten verlorenen Matches. Denn oft sind Niederlagen der eigentliche Auslöser für Fortschritt. Ich hatte bis dahin vor allem auf Bezirksebene gespielt. Ich muss etwa zwölf Jahre alt gewesen sein und kann mich nicht erinnern, bis dahin jemals ein Spiel oder gar einen Satz verloren zu haben. Ich war einfach so viel besser als alle anderen.

Doch dann spielte ich beim Training im Hessenkader in Offenbach einen Satz gegen Christin Bork. Sie war ebenfalls zwölf und gewann regelmäßig gegen 18-Jährige. Ich wusste, dass sie den Orange Bowl in Amerika gewonnen hatte, die inoffizielle Jugendweltmeisterschaft, und vom Deutschen Tennis Bund und den Medien für die nächste Steffi Graf gehalten wurde.

Für ein Kind waren solche Dinge jedoch nur weißes Rauschen. Ich hatte noch nie verloren. Wieso sollte ich jetzt damit anfangen? Selbst wenn mein Gegenüber auf einem Turnier in Amerika eine Kiste Orangen gewonnen hatte.

Ich verlor. Haushoch. Ich war geschockt. Als Kind ist man nicht in der Lage, mehrdimensional zu denken, und schon gar nicht, etwas in Perspektive zu setzen, und so dachte ich nur: Wow, ich hab verloren, das heißt, ich bin schlecht; es gab eine Zeit, in der ich nicht schlecht war, sondern gut, und diese Zeit war deutlich erstrebenswerter; diese neuen Gefühle in meiner Brust fühlen sich nicht gut an, nein, ganz und gar nicht gut, sogar sehr schlecht.

Diese schlichten Kausalitätsketten in meinen Gedanken führten zu einem geradezu absurden Motivationsschub. Ich fing an, Konditionstraining zu machen, zu laufen, mich zu dehnen – alles, was ich mir unter einem echten Profi-Training so vorstellte. Wie in allen guten Sportfilmen war ich in diesen Momenten allein. Ich überlegte mir, welche körperlichen Funktionen mir fürs Tennis nützen würden, dachte mir Übungen aus und machte sie so lange, bis ich nicht mehr konnte. Ich trieb meinen Vater mit dem Klicken des Sprungseils auf dem Betonparkplatz neben seinem Arbeitsplatz in den Wahnsinn. Ich schmiss Medizinbälle an die Tenniswand und machte Trockenschwünge. Ich legte Bälle in verschiedene Muster, sammelte sie im Sprint nacheinander auf und legte sie im Sprint wieder dorthin zurück, wo sie gewesen waren. Die ultimative Zusammenfassung eines Sportlerlebens: Dinge im Sprint aufsammeln und im Sprint für die Generationen nach dir wieder zurücklegen. Einander aufhebende Kraftaktionen.

Immer, wenn ich trainierte, stellte ich mir vor, wie Christin auf der anderen Seite stand und ernst zu mir herüberguckte, konzentriert, bereit, mich aufs Neue zu demütigen. In meinen Träumen hatte sie sechs Arme und mehrere Zungen, die mich auslachten, und hinter ihrem Kopf wirbelte ein Kreis von Tennisbällen, die sich so schnell bewegten, dass sie nur einen verschwommenen Streifen ergaben. Ich wusste nie, welchen der Bälle sie abschlagen würde. Aber ich hielt dagegen, ließ mir den Schneid nicht abkaufen und triumphierte am Ende gegen alle Widerstände. Die Himmelstore öffneten sich, ein heiliges Licht schien auf mein Haupt herab und alles war wieder gut. Das unangenehme Ziehen in Brust- und Bauchgegend wie weggeblasen, ersetzt durch Euphorie und Zufriedenheit.

 

Zwei Jahre später bei den deutschen Hallenmeisterschaften in Essen bekam ich meine Chance in der Realität. Im Viertelfinale traf ich auf meine Angstgegnerin. Ich hatte erst ein halbes Jahr zuvor meinen deutschen Pass erhalten, und dies war der allererste bundesweite Wettbewerb, an dem ich teilnahm. Vor dem Match übergab ich mich auf der Spielertoilette vor Nervosität.

Ich gewann relativ glatt in zwei Sätzen und die nationale Tenniswelt war entsetzt. Christin Bork hatte bis dahin gegen niemanden verloren, der jünger war als 18, geschweige denn gegen eine Gleichaltrige. Für mich war es jedoch nichts weiter als ein natürlicher Prozess gewesen. Ich hatte beschlossen, gegen Christin Bork zu gewinnen, und mein Sieg war nur eine Folge meines Beschlusses. Ich dachte an meine alte Klassenlehrerin Frau Müller, die behauptet hatte, dass man nicht immer die Beste sein könnte, und schüttelte den Kopf. Es wunderte mich, dass Erwachsene so wenig vom Leben verstanden.

Ich gewann die deutschen Hallenmeisterschaften und ein Jahr darauf auch die deutschen Meisterschaften auf Sand. Mein Leben nahm Fahrt auf und ich saß auf der Beifahrerseite, vielleicht sogar auf der Rückbank. Ich wurde plötzlich zu Lehrgängen eingeladen und auf Turniere in fernen Ländern geschickt. Manchmal weinte ich heimlich in die Ärmel meiner Sweatshirts, weil ich meine Eltern und meine Schwester vermisste. Ich verpasste Wochen meiner Schulzeit und jeglichen pubertären Wirrwarr. Ich hatte immer irgendwo zu sein. Ich aß auf dem Weg zum Training, machte Hausaufgaben auf dem Weg zum Training, schlief auf dem Weg zurück vom Training. Jahrelang. Ich hatte nie eine Wahl. Es war okay, denn ich wusste, dies war mein Ticket raus, mein Ticket in den Himmel, mein Ticket in die Hölle, mein Ticket in die Welt, wo Wasserhähne golden sind und Vögel immer den Ton treffen.

 

Als ich mein erstes Turnier auf der Profitour gewonnen hatte – nachdem ich fünf Matches in der Qualifikation und fünf Matches im Hauptfeld überstanden hatte –, saß ich auf der Bank mit dem Handtuch über dem Kopf, 16 Jahre alt, allein im Niemandsland der Türkei, und weinte. Es war Glück und Trauer zugleich. Ich hatte etwas gewonnen, das ich nicht für möglich gehalten hatte, aber vielleicht wusste ich schon damals unbewusst, dass ich auch etwas verloren hatte. Meine Kindheit sicherlich und vielleicht mit ihr auch meine Unschuld. Der Weg zu Ehre und Ruhm war geebnet und er würde steinig und vermessen werden.

Inhaltsverzeichnis

Die Sache mit der Gerechtigkeit

Die Berge ragten drohend zum Himmel empor. Schnee bedeckte die Kuppen. Die Felsen fielen dramatisch in alle Richtungen und dort, wo man es am wenigsten vermutete, trotzten kleine Grünflächen ihrem Schicksal. Ich jedoch hatte weder Zeit noch Blick für Naturwunder. Meine russische Gegnerin machte mir zu sehr zu schaffen.

Sie war kleiner als ich, dünner als ich, schwächer als ich. Sie trug ihr Haar in einem palmenartigen Gebilde am höchsten Punkt ihres Kopfes und hohe dicke Tennissocken wie früher. Immer wieder schob ich meine linke Hand in die Hosentasche meiner Shorts, um an einer Münze zu reiben, die ich zu Hause im Freibad gefunden hatte. Sie sollte mir Glück bringen. Über den Shorts trug ich ein überdimensioniertes T-Shirt meines Vaters und eine Mütze auf dem Kopf, um meine Haare zu bändigen. Meine Tennisschuhe waren ein bis zwei Nummern zu groß – genügend Platz, um noch einige Jahre hineinzuwachsen. Der Schweiß lief mir an den Schläfen hinab und immer wieder schaute ich nach Antworten suchend zu den Berggipfeln hinauf.

Zunächst war alles glattgelaufen. Ich war größer als sie, stärker als sie, besser als sie. Ihr Vater, ein großer, bulliger Mann mit Oberarmmuskeln, die in einem anderen Leben Bäume stemmten, Goldketten um den Hals und ohne Haare, aber dafür mit vielen Schweißperlen auf der weißen Kopfhaut, die wie eine Billardkugel glänzte, lief am Platz auf und ab und redete ununterbrochen auf Russisch auf uns beide ein. Seine Tochter schien unbeeindruckt, wahrscheinlich über Jahre an ihren Vater gewöhnt und entsprechend abgehärtet. Ich war irritiert und versuchte, mich ganz auf das Spiel zu konzentrieren. Aber je länger es dauerte und je mehr ich im Resultat davonzog, desto lauter und drohender wurde sein Ton. Meine Gegnerin zog immer mehr den Kopf zwischen ihre dürren Schultern. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Seine Halsschlagader pulsierte und er schüttelte die Fäuste. Seine Tochter begann, Mondbälle zu spielen. Das heißt, sie spielte sehr hohe, sehr langsame Bälle in die Mitte des Feldes – ohne Tempo, ohne Winkel, die ein erwachsener Mensch gnadenlos bestrafen würde, aber ein Kind mit Minusmuskeln wie mich überforderten.

Wir waren elf oder zwölf Jahre alt. Sie sah süß aus in ihrem weißen Faltenrock und dem Hemd mit Kragen – wie aus einem anderen Jahrhundert. Ich sah aus wie ein Junge.

Das Match drehte sich. Ich machte immer mehr Fehler und wurde nervöser. Ihr Vater aufgebrachter. Als ich den zweiten Satz schließlich verlor, machte ich eine Toilettenpause, um mich zu sammeln.

Auf dem Weg in das Klubhaus hielt mich der Oberschiedsrichter an: »Stört dich der Mann da, Andrea?«

Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte leicht den Kopf. Zu plastisch stand mir das Bild einer Trainingseinheit seiner Tochter mit meinem Kopf als Tennisball vor Augen. Doch ich muss absolut verängstigt ausgesehen haben, denn als ich die Toilette verließ, sah ich, wie zwei der Schiedsrichter den Russen, der zeterte und brüllte, am Ellbogen festhielten und gen Klubhaus abtransportierten. Ich nahm den Hinterausgang und vermied tunlichst, ihm in die Arme zu laufen.

Am Platz angekommen, sah ich meine Gegnerin mit Tränen in den Augen auf der Bank sitzen. Sie kaute auf ihrem Schweißband herum und tat mir in diesem Moment unendlich leid.

Der dritte Satz begann. Ich kam mit den Mondbällen jetzt besser zurecht, nahm sie manchmal in der Luft, wenn ich sie früh genug erkannte, und hatte mehr Energie übrig, um mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Angst davor, in der Achselhöhle des Vaters meiner Gegnerin in einem russischen Schwitzkasten zu landen, war für eine Weile zur Seite getreten. Die Berge ragten weiterhin zum Himmel empor.

 

War diese Art Vater eine Ausnahme im Tennis? Leider nein. Ich selbst habe keine Kinder und kann nicht genau sagen, was es ist. Aber nach meiner Beobachtung sahen die verrücktesten Tenniseltern ihre Kinder als eine Art Verlängerung ihrer selbst und den Tennisschläger als eine Verlängerung derer selbst. Und somit wurde jeder Sieg und jede Niederlage zu einer Bewertung ihrer (menschlichen?) Qualitäten.

Nicht immer mussten Eltern in Klubhäuser abtransportiert werden, aber nicht selten sah ich sie an den Seitenlinien toben, ihre Kinder anschreien, deren Gegner einschüchtern und sich in Platzangelegenheiten einmischen. Aber das soll nicht das Thema dieser Geschichte sein. Das Thema dieser Geschichte ist die Frage, ob es so etwas wie Karma gibt. Und falls ja, wie genau dieses Karma-Ding eigentlich hinschaut, um Intentionen in all ihrer Komplexität aufzuschlüsseln. Jedenfalls wäre es mir im Nachhinein lieber gewesen, der russische Vater wäre geblieben, um sich so heftig in Platzangelegenheiten einzumischen, wie nur gute Tenniseltern es vermögen.

 

Damals mit zwölf ging es vor allem darum, den eigenen Aufschlag zu halten. Mir gelang das bei 4:4 im dritten Satz zum 5:4 für mich. Beim darauffolgenden Seitenwechsel war ich so nervös, dass ich die wenigen Schlucke Wasser, die ich versuchte, zu mir zu nehmen, in den roten Sand vor mir spuckte, weil jemand einen eisernen Ring um meine Kehle geschnürt hatte, durch den nichts durchkam. Ich stellte mich zum Return auf. Es war ein ewiges Hin und Her. Meine Gegnerin machte keinen einzigen Fehler und spielte mir die Bälle mit sehr geringer Geschwindigkeit und übermäßiger Höhe in die Mitte des Feldes. Jedes Mal, wenn meine Augen den hohen Bällen folgten, nahm mein Blick die bedrohliche Spitze des höchsten der Berge wahr. Ich haute drauf, so hart ich mit zwölf Jahren und nicht vorhandenen Muskeln draufhauen konnte. Manchmal machte ich Gewinnschläge, pfeilschnell und präzise, wie an der Schnur entlanggezogen, und manchmal machte ich Fehler, pfeilschnell und in die Mitte des Netzes hineingebogen. Ich war ein bisschen stolz, dass ich wenigstens versuchte, das Schicksal in meine eigenen Hände zu nehmen.

In dem Moment, in dem es darauf ankam, entschied das Schicksal, mich in seine eigenen Hände zu nehmen. Damals wurde für die Jugend eine neue Regel getestet. Beim Stand von 40:40 entschied der nächste Punkt das Spiel direkt. Bei 5:4 im dritten Satz und Einstand hatte ich also einen Matchball und meine Gegnerin gleichzeitig einen Spielball zum 5:5. Um nicht zu sagen: Die Nerven lagen blank.

Ein weiterer, niemals enden wollender Ballwechsel nahm seinen Lauf. Man stelle sich die vier Zuschauer an der Seitenlinie vor, die ihren Kopf von rechts nach links in einem gebogenen Halbkreis bewegten, um den Mondbällen zu folgen, und zurück von links nach rechts in einer geraden Linie, um meinen Angriffsschlägen zu folgen. Zwei der vier Zuschauer waren Schiedsrichter, ein weiterer der Klubpräsident – und einer war beim Spaziergang zufällig dazugestoßen und sah reichlich verwirrt aus. Ich rückte auf und versuchte immer mehr in den Platz hineinzugelangen, um bei günstiger Gelegenheit, Rückenwind und Heimweh einen der hohen Bälle meiner Gegnerin aus der Luft zu erwischen und möglichst uneinholbar in eine der Ecken zu dreschen. Dieser war’s doch! Ich rannte nach vorne, bemerkte im letzten Augenblick, dass ich mich gnadenlos verschätzt hatte, rannte wieder zurück, machte einen letzten verzweifelten Versuch, den Ball noch mit der Schlägerspitze zu erwischen, und … wurde an der Grundlinie überlobbt. Der Ball sprang vor mir auf, über mich drüber – ich warf den Kopf in den Nacken, die vier Zuschauer folgten der Flugkurve mit den Augen – und landete mit einem kaum vernehmbaren Plumpsen im Zaun.

An der Grundlinie überlobbt! Mit hängenden Schultern machte ich mich auf den Weg zum Netz, um einen der Bälle einzusammeln. Mein Blick war auf meine Schuhspitzen gerichtet (vielleicht leicht von Tränen verhangen) und deshalb bemerkte ich erst dort angekommen, dass auch meine Gegnerin zum Netz gegangen war und mir jetzt die Hand entgegenstreckte. Ich blinzelte konfus. In Zeitlupe sah ich meiner Hand dabei zu, wie sie zu einem Fremdkörper mit Eigenleben wurde und sich zitternd nach oben streckte – wie magnetisch angezogen von der ausgestreckten kleinsten Hand der Welt. Ich begriff, dass meine russische Gegnerin mit den hohen Socken und dem weißen Faltenrock die Wahrscheinlichkeit, jemanden an der Grundlinie zu überlobben, in ihrer Welt für ausgeschlossen hielt und überzeugt war, ihr Ball müsse im Aus gelandet sein. Wir schüttelten Hände, sie heulte, ich heulte, sie fühlte sich elend, weil sie verloren hatte, ich fühlte mich elend, weil ich geschummelt hatte – wenn auch unfreiwillig –, und die vier Zuschauer fühlten sich elend, weil sie ihre Zeit verschwendet hatten. Es war meine erste schlaflose Nacht nach einem Tennismatch – es sollte nicht die letzte sein – und nur die Berge waren unverändert in ihrem Starrsinn und unberührt von menschlichen Nichtigkeiten.

 

Am nächsten Tag reisten meine Eltern an. Sie waren Richtung Serbien unterwegs und wollten mich auf dem Weg auflesen. Ich stand unverhofft und wahrscheinlich auch unverdient im Finale. In der Nacht zuvor hatte ich kein Auge zugemacht. Wieder und wieder sah ich den hohen Ball direkt auf mich zufliegen. Sah mich ausweichen und nach hinten rennen, meinen Schläger ausstrecken, unbeholfen hopsen und an dem Ball vorbeischlagen. Vor allem aber sah ich, wie der Ball gute fünf Zentimeter vor der Linie aufkam, also eindeutig gut war, und wie meine Gegnerin mit auf den Wangen zerlaufenden Tränen das palmenartige Gebilde auf ihrem Kopf wippend Richtung Netz marschierte, um mir zu gratulieren. Ich hatte nicht aktiv versucht zu schummeln. Aber ich hatte passiv hingenommen, was passierte, und meinen Mund nicht aufbekommen.

 

Auch meine Gegnerin im Finale war eine Russin. Sie war weniger niedlich als die vorherige, mit finsterem Blick und – ich bin mir ziemlich sicher – zusammengewachsenen Augenbrauen. Sie machte diese Sache mit den Füßen, die fast alle Tennisspielerinnen aus dem ehemaligen Ostblock draufhatten, eine Art auf der Stelle Laufen zwischen geschlagenen Bällen, ohne jedoch die Knie anzuheben. Sie war absolut Furcht einflößend und ich verlor den ersten Satz in weniger als zwanzig Minuten.

Ich lag auch im zweiten hinten, als meine Eltern endlich auftauchten. Sie zu sehen, erleichterte mich. Ich fühlte mich weniger allein, weniger hilflos, und außerdem sah ich mich bereits im Auto gen Novi Sad sitzen, wo meine acht (!!!) Cousinen auf mich warteten – mit Schabernack im Sinn und Liebe im Herzen, meine Lieblingskombination. Wir würden Fangen spielen im Garten, die Vorder- und Hintertür offen, sodass man auch durchs Haus rennen konnte. Wir würden die Nachbarskinder mit diesen kleinen weißen Knallerbsen der Schneebeerensträucher, die es überall in Europa zu geben schien, bewerfen. Und wenn unsere Eltern uns Taschengeld gaben, würden wir für zehn Cent mit dem Bus in die Stadt fahren, an alte Frauen mit Alte-Frauen-Geruch gedrückt, an Jugendliche in Trainingshosen und Mädchen mit Zöpfen. Im Zentrum angekommen, würden wir uns zwanzig Pfannkuchen beladen mit Nutella, Eis und Sahne bestellen, diese auf der Terrasse essen und die Skateboarder dabei beobachten, wie sie sich vor dem Theater auf die Schnauze legten. Ich konnte mir mit zwölf Jahren kein besseres Leben auf der Welt vorstellen und alleine der Gedanke daran setzte bei mir neue Energien frei.

Auf einmal sah ich Muster im Spiel meiner Gegnerin und stand bereits frühzeitig dort, wo der Ball aufkam. Ich erwischte sie immer häufiger auf dem falschen Fuß und die zusammengewachsenen Augenbrauen machten bedrohliche wellenförmige Bewegungen. Ich holte auf. Manchmal schlägt Tennis wirklich berauschend unverständliche Kapriolen. Etwa eine Viertelstunde zuvor hatte ich kaum eine Möglichkeit gesehen, überhaupt nur ein Spiel zu gewinnen, der Tennisball zu klein, die Geschwindigkeit zu groß und ich immer außer Balance. Und wie aus dem Nichts, dank eines erfrischenden Gedankens und neuen Mutes, bewegte ich mich plötzlich in einem wahrsagerischen Rausch zu jedem Spielzug, noch bevor er als Gedanke in meiner Gegnerin überhaupt aufgeploppt war.

Ich führte 5:1 im dritten Satz und sah meine Eltern auf der Terrasse ungeduldig auf die Uhr schauen. »Je später wir loskommen, desto mehr Verkehr« stand in Großbuchstaben über ihren Stirnen geschrieben. Ich rief ihnen zu, sie sollten mir doch bitte schon einmal einen Salat mit Putenbrust und eine Apfelsaftschorle bestellen.

Im Nachhinein möchte ich für mich reklamieren, dass es nichts mit Arroganz zu tun hatte. Dass es eher einer jugendlichen Naivität geschuldet war, die mit positiver Erfahrungslosigkeit einhergeht, bei der einem entweder die Kapazität fehlt, Worst-Case-Szenarien zu erkennen, oder die Fantasie, sich diese auszumalen. Ich hielt mich schlechterdings für emotional wahnsinnig stabil – und bei 5:1 im dritten Satz konnte doch wahrlich nichts mehr schiefgehen, oder?

Um den geplagten Leser nicht länger auf die Folter zu spannen, mache ich es kurz: Ich verlor. 7:5 im dritten Satz, nachdem ich 5:1 vorne gelegen und gefühlt 347 (in Wahrheit waren es vier) Matchbälle gehabt hatte. Doch Arroganz? Oder Naivität? Einen Moment.