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Olivia ist glücklich: Die Abschlussprüfungen sind geschafft, vor ihr liegt eine Woche voller Partys, und sie weiß genau, was die Zukunft für sie bereithält - bis sie erfährt, dass ein Lehrer es versäumt hat, ihre Note einzutragen. Wie gut, dass ihre Freunde Sophie, Charlie und Wes da sind, um sie zu unterstützen. Olivias Plan, den Kurs heimlich nachzuholen, scheint aufzugehen, wäre da nicht dieser süße Typ, der für allerhand Gefühlschaos sorgt. Aber für die Liebe hat sie jetzt nun wirklich keine Zeit - oder etwa doch?
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Seitenzahl: 317
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Sonntag, 8. Mai, Nachmittag
Montag, 9. Mai, Morgen
Montag, 9. Mai, Nachmittag
Dienstag, 10. Mai, Morgen
Dienstag, 10. Mai, Nachmittag
Mittwoch, 11. Mai, Morgen
Mittwoch, 11. Mai, Nachmittag
Donnerstag, 12. Mai, Morgen
Donnerstag, 12. Mai, Abend
Freitag, 13. Mai, Morgen
Freitag, 13. Mai, Abend
Samstag, 14. Mai
Mittwoch, 18. Mai
Danksagung
Über das Buch
Olivia ist glücklich: Die Abschlussprüfungen sind geschafft, vor ihr liegt eine Woche voller Partys, und sie weiß genau, was die Zukunft für sie bereithält – bis sie erfährt, dass ein Lehrer es versäumt hat, ihre Note einzutragen. Wie gut, dass ihre Freunde Sophie, Charlie und Wes da sind, um sie zu unterstützen. Olivias Plan, den Kurs heimlich nachzuholen, scheint aufzugehen, wäre da nicht dieser süße Typ, der für allerhand Gefühlschaos sorgt. Aber für die Liebe hat sie jetzt nun wirklich keine Zeit – oder etwa doch?
Über die Autorin
Ashley Elston lebt mit ihrem Mann und drei Söhnen in North Louisiana. Sie hat zehn Jahre als Hochzeitsfotografin gearbeitet – daher bestanden ihre Samstagabende vor allem daraus, Kuchen zu essen, schmerzende Füße zu haben und seltsam tanzenden Trauzeugen zuzusehen. Heute unterstützt sie ihren Mann in seinem kleinen Unternehmen und schreibt, so oft sie kann.
ASHLEY ELSTON
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Cherokee Moon Agnew
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der englischsprachigen Originalausgabe:»Ten Truths and a Dare«
Für die Originalausgabe:Copyright © 2021 by Ashley ElstonPublished by arrangement with Rights People, London
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, KölnUmschlaggestaltung: Jeannine SchmelzerUmschlagmotive: © mythja/shutterstock | © Zelenaya/shutterstock | © Boonchuay1970/shutterstock | © Bokeh Blur Background/shuttertsockeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-0958-3
luebbe.delesejury.de
Für die Abschlussklassen von 2020 und 2021.
Wahrheit #1: Wenn etwas passiert, deine Nonna es aber nicht herausfindet und der ganzen Familie erzählt, dann ist es nicht wirklich passiert.
OLIVIA
Beinahe jeder Meilenstein, den ich bisher erreicht habe, ist auf irgendeine Weise mit dem Haus meiner Großeltern verbunden. Meine ersten Schritte? Vier Stück, den Flur hinab. Erster verlorener Zahn? Steckte in einem der Karamelläpfel, die Nonna für uns zubereitet hatte und die in der Küche auf uns warteten, als wir an Halloween nach dem Einsammeln der Süßigkeiten nach Hause kamen. Erster Kuss? Jason McAfee, der Kumpel meines Cousins Charlie und unseres Nachbarn Wes. Es geschah in der achten Klasse, als wir auf dem Dachboden Flaschendrehen spielten.
Als es also an der Zeit war, den Schulabgänger-Fragebogen auszufüllen, bestand keinerlei Zweifel daran, wo wir uns treffen würden.
»Okay, hat jeder einen Stift?«, fragt Nonna, die am Kopf des Tisches sitzt.
Charlie neben mir tastet seinen Oberkörper ab und sucht den Boden ab. »Ich habe meinen verloren.«
Nonna schiebt mir ein paar Stifte zu. »Olivia, würdest du die bitte verteilen?«
Charlie probiert zuerst ein paar aus, bevor er sich für einen Kuli entscheidet. Die restlichen legt er zurück.
»Ist es nicht seltsam, wenn ich die Umfrage ausfülle?«, fragt unsere Cousine Sophie. »Ich meine, ich freue mich zwar, hier zu sein, aber es ist ja nicht so, als hätte ich jemanden, dem ich den Fragebogen geben könnte.«
»Du gibst ihn mir, und ich bewahre ihn zusammen mit den anderen auf«, erwidert Nonna und deutet auf die mit Stoff bezogene Kiste auf der Küchentheke. Dann zwinkert sie Wes zu, der mir gegenüber und neben Sophie sitzt. »Und deinen will ich auch.«
Strahlend schreibt Wes seinen Namen auf das Blatt und wartet gespannt darauf, dass Nonna loslegt.
Onkel Sal steht auf der anderen Seite des Raums gegen die Küchentheke gelehnt da und hält ein zerknittertes, fleckiges Blatt Papier in Händen. »Wenn die Zwillinge nicht innerhalb der nächsten fünf Minuten auftauchen, fangen wir ohne sie an.«
Nonna wirft einen Blick auf die Uhr, beäugt die Hintertür und sieht dann Sal an. »Maggie Mae meinte, sie würden kommen.«
Onkel Sal verdreht die Augen und widmet sich wieder seinem Handy.
In unserer Familie hat Nonna immer das letzte Wort – auch, was diesen Fragebogen angeht.
Für unsere Highschool haben Traditionen einen ebenso hohen Stellenwert wie für Nonna. Als das Ganze vor achtundfünfzig Jahren anfing, bestand die Umfrage nur aus ein paar Standardfragen. Wirst du aufs College gehen? Falls ja, wo? Was ist dein Traumberuf? Aber inzwischen hat das Ganze ein Eigenleben entwickelt. Jetzt will die Schule wissen, was deine schönste Erinnerung ist. Dein peinlichstes Erlebnis. Deine liebste Wohltätigkeitsorganisation. Was du tun würdest, wenn du die Welt verändern könntest. Und so weiter und so fort. Die Antworten werden dann auf der großen Leinwand gezeigt, die von der Decke hängt, während wir in unseren Roben und mit unseren Hüten einer nach dem anderen die Bühne betreten. Nonna hat eine Kopie von jeder Umfrage, die je in dieser Familie ausgefüllt worden ist. Alle haben ihren Abschluss an derselben Highschool gemacht, von Sophie und ihrer älteren Schwester Margot mal abgesehen.
Und inzwischen ist es eben Tradition geworden. Eine Tradition, die einmal jährlich beim Familiendinner ausgeführt wird. Die aktuellen Schulabgänger füllen den Fragebogen im Beisein aller aus, und dann vergleichen wir die Antworten mit denen unserer Eltern. Und denen unserer Tanten und Onkel. Und denen unserer Cousins und Cousinen.
Ihr versteht, was ich meine.
Sophie muss die Fragen vielleicht nicht für ihre Schule beantworten, aber für Nonna. Genau wie Margot damals. Und da Wes quasi zur Familie gehört, gibt es auch für ihn kein Entrinnen.
Nicht, dass es den beiden etwas ausmachen würde. Im Gegenteil. Sie scheinen ganz aus dem Häuschen zu sein, Teil der Tradition sein zu dürfen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass sie immer aus dem Häuschen sind, wenn sie zusammen sind, ganz egal, was gerade ansteht.
Während Nonna Sophie und Wes stolz ansieht, weil sie bei den beiden ihre Finger im Spiel hatte, fürchtet sich der Rest von uns davor, sie könnte sich auch in unsere Liebesleben einmischen, sollten wir auch nur das kleinste Anzeichen von Schwäche zeigen. Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um meine Trennung von Drew vor ihr zu verheimlichen, damit sie nicht noch mal das gleiche Dating-Spiel wie letztes Jahr an Weihnachten durchzieht. Seitdem ist auch Onkel Michael nicht mehr zu Besuch gewesen. Er ist das letzte unverheiratete Kind von Nonna und Nonno und kriegt beim Gedanken, Nonna könnte versuchen, den perfekten Ehemann für ihn zu finden, Angstzustände.
Die Hintertür fliegt plötzlich auf, und herein kommt Tante Maggie Mae, dicht gefolgt von den Bösen Joes, Onkel Marcus und den jüngeren Zwillingen Frankie und Freddie. Mary Jo und Jo Lynn tragen das gleiche Leinenkleid, eins in Blassrosa, das andere in Blasslila, die Haare so glatt, als könnte ihnen die Luftfeuchtigkeit nichts anhaben.
Charlie lässt den Blick über den Tisch schweifen. Ich sehe genau, wann ihm bewusst wird, wo sich die einzigen noch freien Stühle befinden.
Er lehnt sich zu mir herab. »Tausch mit mir.« Charlie hat mit zwölf angefangen, Mary Jo und Jo Lynn die »Bösen Joes« zu nennen, nachdem sie ihm in Florida im Beisein von ein paar hübschen Mädchen einen Streich gespielt hatten. Um ehrlich zu sein war er tatsächlich schon ein wenig zu alt, um noch Star Wars-Unterhosen zu tragen. Aber da er Teil der Fantastischen Vier war, mussten Sophie, Wes und ich zu ihm halten.
Und Charlie hat recht – die Bösen Joes sind böse.
Ich schüttle den Kopf und klammere mich an die Tischkante, falls er auf die Idee kommen sollte, mich vom Stuhl zu schubsen. »Auf keinen Fall.«
»Sie haben einen Typen dabei«, flüstert Wes über den Tisch hinweg.
Wir drehen die Köpfe, sehen aber nichts, weil Onkel Ronnie im Weg steht.
»Ist es einer ihrer Freunde?«, frage ich, obwohl ich weiß, dass es nicht sein kann, sonst hätte Wes ihn erkannt. Aiden und Brent, die Freunde der Joes, waren auch eingeladen, haben aber abgesagt, was im Familienchat ziemlichen Stress erzeugt hat, denn zu Nonna sagt keiner Nein.
Als Onkel Ronnie zu Tante Patrice geht, gibt er endlich den Blick auf den Fremden frei.
Der Kerl neben Tante Maggie Mae ist groß, mit dunklen wilden Locken. Er trägt ein verwaschenes T-Shirt und noch viel verwaschenere Jeans, die ein wenig zu locker auf seinen Hüften sitzen. Er sieht aus wie ein Outdoor-Typ. Als würde er wandern oder surfen oder so was. Er scheint sich in der überfüllten Küche nicht wohlzufühlen, eingeengt zwischen meiner Tante und meinem Onkel.
Er lässt den Blick durch den Raum schweifen, und ich spüre förmlich, wie er an mir hängen bleibt. Er lächelt leicht. Ich könnte schwören, dass ich ihn kenne. Im Kopf gehe ich das Alphabet durch und hoffe, dass mir sein Name einfällt.
Aber nichts.
Mary Jo lässt sich neben Charlie auf den Stuhl plumpsen. Ihr Fragebogen segelt auf den Tisch, und sie schnappt sich seinen Stift.
Charlie atmet laut aus und greift nach einem der Stifte in der Tischmitte, die er vorhin noch als mangelhaft abgestempelt hat.
»Alles klar, wir sind komplett!«, ruft Nonna. »Ich glaube, so viele Schulabgänger hatten wir noch nie auf einmal!«
Meine Familie ist riesig. Und laut. Mein Großvater wurde auf Sizilien geboren, lernte aber meine Großmutter kennen, als er hier studierte. Eigentlich hätte er nur ein Jahr lang in den USA bleiben sollen, doch sie verliebten sich, heirateten und bekamen acht Kinder. Er ist nie nach Sizilien zurückgekehrt. Nun ja, außer, um dort Urlaub zu machen. Vor ein paar Monaten haben sie ihren fünfzigsten Hochzeitstag gefeiert. Tante Patrice und Onkel Ronnie haben getanzt, als würde keiner zusehen, obwohl alle zugesehen haben. Sie sind ein wenig seltsam. Nonna und Nonno sind das absolute Traumpaar. Aber Tante Patrice und Onkel Ronnie? Eher nicht.
Sechs von uns machen dieses Jahr ihren Abschluss: Charlie, Sophie, Wes, die Bösen Joes und ich. Ich lasse den Blick über den Tisch schweifen. Mit seinen blonden Haaren sticht Wes als Einziger aus der Masse heraus. Er wohnt schon sein ganzes Leben lang neben Nonna und Nonno und ist mit uns aufgewachsen. Die Küche ist vollgestopft mit über zwanzig Mitgliedern der Messina-Familie. Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen. Manche von ihnen haben das, was wir hier tun, schon längst hinter sich, während andere noch folgen werden. Ach ja, und dann ist da noch dieser Fremde.
Wieder spähe ich zu dem Kerl hinüber, der neben Tante Maggie Mae steht. Er lehnt auf der anderen Seite der Küche gegen die Wand, die Arme vor der Brust verschränkt. Als er mich beim Starren erwischt, drehe ich schnell den Kopf weg. Wie peinlich.
Nonna zieht die Aufmerksamkeit aller auf sich. »Okay, dann lasst uns anfangen.«
Jo Lynn richtet sich auf ihrem Stuhl ein wenig gerader auf und blickt zu ihren Eltern. »Willst du mitmachen?«, fragt sie den Kerl, bei dem ich mir die größte Mühe gebe, ihn nicht ständig anzusehen. Vielleicht will sie wiedergutmachen, dass uns ihre Freunde so haben abblitzen lassen.
Nonna dreht sich auf ihrem Stuhl um. »Oh! Wer ist das denn?«, fragt sie freudig. »Ja, natürlich macht er mit!«, fügt sie hinzu, ohne auf eine Antwort zu warten.
Tante Maggie Mae schlingt die Arme um den Fremden. »Könnt ihr euch noch an Leo erinnern? Den ältesten Sohn von Caroline und Alonso Perez?« Sie schiebt ihn ein Stück nach vorn, um ihn allen zu präsentieren.
Leo Perez.
»Oh«, sagt Sophie.
Charlie raunt etwas, wofür Nonna ihm bestimmt am liebsten sofort den Mund mit Seife auswaschen würde.
Jetzt hat ihn auch der Letzte im Raum bemerkt. Einige Familienmitglieder heißen ihn im Chaos willkommen. Die Laustärke nimmt immer weiter zu – wie immer, wenn wir alle zusammengepfercht sind. Leo schüttelt Hände, beantwortet Fragen zu seinen Eltern und was er so macht. Doch leider bin ich zu weit weg, um etwas mitzubekommen.
Natürlich ist es Leo. Aber mit dem langen lockigen Haar habe ich ihn nicht erkannt. Als wir noch klein waren, hat er es immer raspelkurz getragen. Sein Gesicht ist schmaler geworden, und er ist mindestens dreißig Zentimeter gewachsen.
Die Perez-Familie hat direkt neben den Bösen Joes gelebt, bis Leos Vater, kurz bevor wir in die achte Klasse kamen, versetzt wurde. Leos Eltern standen Tante Maggie Mae und Onkel Marcus sehr nahe. Ihre Kinder waren unzertrennlich, und im Sommer machten sie immer gemeinsam Urlaub. Wir wussten, dass die Bösen Joes lieber mit ihnen Zeit verbrachten als mit uns.
»Leo«, sagt Nonna nun erneut. »Jo Lynn hat recht. Willst du mitmachen? Du machst doch auch dieses Jahr deinen Abschluss. Erzähl uns von deinen Plänen.«
Mary Jo rückt mit ihrem Stuhl ein Stück beiseite. »Du kannst dich hier dazwischenquetschen.« Mit dem Kopf deutet sie auf den freien Platz zwischen sich und Jo Lynn.
Für jeden Zentimeter, den Mary Jo an Charlie herangerückt ist, ist er ebenso an mich herangerückt.
Obwohl wir Leo von früher kennen, ist es schon lange her, und unsere Familie kann einem schnell zu viel werden. So, wie er guckt, scheint er sich nicht mehr an all unsere Namen erinnern zu können oder daran, wer zu wem gehört. Bestimmt geht gleich die Raterei los.
»Ich, ähm, nein, danke«, erwidert Leo schließlich.
Charlie schnaubt.
»Es ist Jahre her. Lass es gut sein«, flüstere ich Charlie zu.
Er sieht mich komisch an. »Alles okay.«
Charlie und Leo sind nicht im Guten auseinandergegangen. Ich glaube, das letzte Mal haben sie sich im Park gesehen, als wir nach der siebten Klasse das Schuljahresende feierten. Charlie war unausstehlich – wie jeder andere Siebtklässler auch. Er und sein Kumpel Judd warfen sich einen Football zu, und Charlie lief viel zu schnell rückwärts und rannte Jo Lynn über den Haufen. Ihre weißen Jeans bekam einen Grasfleck, und sie fing an zu heulen. Und da Leo wie ein Bruder für sie war, schubste er Charlie, bevor er sich entschuldigen oder Jo Lynn aufhelfen konnte. Und natürlich schubste Charlie zurück. Wahrscheinlich bilden sich beide ein, es wäre ein richtiger Kampf gewesen, dabei waren es nur schlackernde Arme und Beine.
Beide wurden nach Hause geschickt, ehe die Party vorbei war.
Und anscheinend ist Charlie noch nicht darüber hinweg.
»Falls du dich doch umentscheiden solltest, dann steig einfach noch mit ein«, ermutigt ihn Nonna und dreht sich wieder um. »Wo waren wir?« Ohne nach hinten zu blicken fügt sie hinzu: »Dallas, wenn du noch ein Stück Hühnchen klaust, gibt’s was auf die Finger.«
Als ihm sein Bruder Denver den Ellbogen in den Bauch rammt, winselt er. Alles nur, weil er ihm die Chance genommen hat, auch ein Stück Hühnchen zu stibitzen. Ich fühle mit ihnen. Die Düfte, die Nonnas Küche erfüllen, machen selbst den Unschuldigsten zum Dieb. Dallas und Denver gehören zu Tante Patrice und Onkel Ronnie. Obwohl ihre Eltern merkwürdig sind, sind die Jungs ziemlich cool – trotz der Tatsache, dass sie nach den Städten benannt wurden, in denen sie gezeugt wurden.
Wir wissen alle, dass Nonna nur blufft, aber Denver lässt trotzdem von dem Hühnchen ab. Sie schafft es nur, uns hier als Geiseln zu halten, weil das Essen erst nach der Umfrage serviert wird.
Nonna setzt ihre Lesebrille auf und betrachtet den leeren Fragebogen, den sie Anfang der Woche für sich selbst ausgedruckt hat. »Okay, erste Frage. Wer geht aufs College?« Ihr Blick wandert von einem zum anderen. »Ich glaube, dieses Jahr sind es alle!« Ihr Enthusiasmus ist das Einzige, was diese Tradition am Leben hält.
Wir alle heben die Hände und rufen LSU, während wir die Buchstaben in der Zeile mit der Frage »Wenn ja, wo?« eintragen. »Übereinstimmung«, raunt es durch den Raum.
Ich überfliege den Bogen und hoffe, dass das Essen nicht schon längst kalt ist, bis wir fertig sind. So viele Fragen.
»Nächste Frage!«, verkündet Nonna. »Was ist dein Hauptfach?«
Obwohl ich die Antwort am liebsten herausschreien würde, damit wir die Sache schneller hinter uns bringen, muss ich warten, denn Nonna beginnt auf der anderen Tischseite.
»Sophie, was hast du geschrieben?«
Sophie räuspert sich. »Krankenpflege.« Charlies Mom, Tante Ayin, hebt die Hand und ruft: »Übereinstimmung!« Sophie strahlt, und Nonna klatscht.
Habe ich schon erwähnt, dass Nonna alle, die in die Familie einheiraten, zwingt, nachträglich einen Fragebogen auszufüllen, damit sie sich an dem Spaß beteiligen können? Teil dieser Familie zu sein ist wirklich nichts für schwache Nerven.
Als Nächstes ist Wes an der Reihe. Als er »Business« sagt, rufen vier Onkel und zwei Tanten: »Übereinstimmung!«
Und so geht es weiter, bis wir einmal um den ganzen Tisch sind und Charlie dran ist.
Kurz zögert er, und alle Augen sind auf ihn gerichtet. Auf den Rand seines Blatts hat er dreidimensionale geometrische Formen gezeichnet, die einfach perfekt sind. Schule ist nicht sein Ding. Ich weiß, dass er darunter leidet, dass seine Eltern erwarten, dass er in ihre Fußstapfen tritt und Medizin studiert. Aber das wird er niemals tun. Den Anblick von Blut kann er nicht ertragen. Charlie gehört zu den Menschen, die Großes bewirken können – wenn sie die Chance dafür bekommen.
»Unentschlossen«, verkündet er und bekommt mit Abstand die meisten Übereinstimmungen.
»Du hast noch genug Zeit, um dir zu überlegen, was du machen willst!« Nonna macht eine Handbewegung. »Sie scheinen es alle herausgefunden zu haben.«
Er grinst und beginnt, am unteren Rand seines Blatts eine Steinmauer zu zeichnen.
»Jetzt ist Olivia dran«, sagt Nonna.
Ich bin das genaue Gegenteil von Charlie. Ich liebe die Schule. Ich liebe den Unterricht. Ich habe bereits den Kursplan für nächsten Herbst auswendig gelernt und kann es kaum erwarten, meinen Stundenplan zusammenzustellen.
»Ich habe zwei Hauptfächer. Rechnungswesen und Politikwissenschaft. Und Spanisch als Nebenfach«, antworte ich.
Bei Politikwissenschaft hätte ich mit meinen Eltern eine Übereinstimmung gehabt, aber sie sind diese Woche auf Geschäftsreise. Es ist schwer, in einer so großen Familie herauszustechen. Deshalb freue ich mich umso mehr, als der ganze Raum schweigt.
Bis Jo Lynn sagt: »Das ist aber eine seltsame Kombination.«
»Überhaupt nicht«, protestiere ich. »Ich will die rechtswissenschaftliche Fakultät besuchen und internationales Steuerrecht studieren.«
Die Bösen Joes wechseln einen Blick. Bestimmt halten sie mich für hochnäsig. Dabei weiß ich einfach nur, was ich will. Ich habe Ziele. Und ich habe es satt, mich ständig dafür entschuldigen zu müssen.
Nonna tätschelt mir die Hand. »Und du wirst das großartig machen! Alle wissen, wie fleißig du bist! Ich fasse nur nicht, dass du nicht Jahrgangsbeste geworden bist.«
»Der zweite Platz ist für mich auch in Ordnung«, erwidere ich schnell. Teilweise stimmt das tatsächlich, aber ein Teil in mir ärgert sich darüber, den ersten Platz um Haaresbreite verpasst zu haben.
Nonna wendet sich wieder Sophie zu und widmet sich der zweiten Frage. Doch ich bin von der Mitteilung abgelenkt, die gerade auf meinem Handy aufgeploppt ist. Es ist eine E-Mail vom Konrektor meiner Schule.
Ich nehme das Handy vom Tisch, lege es auf meinen Schoß und öffne die Nachricht.
An: Olivia Perkins
Von: Dwayne Spencer
Betreff: Bescheinigung Sportunterricht
Miss Perkins,
mir wurde mitgeteilt, dass unserem Büro noch die Bescheinigung fehlt, dass Sie am Sportkurs teilgenommen haben. Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie dafür verantwortlich sind, die benötigten Stunden zu absolvieren und das korrekt ausgefüllte Formular einzureichen. Damit Sie mit Ihrer Klasse graduieren können, benötigen wir das unterschriebene Formular bis spätestens Montag, 16. Mai, 08:00 Uhr.
Mit freundlichen Grüßen
D. Spencer
Ich lese die E-Mail ein zweites Mal, um sicherzugehen, dass ich sie richtig verstanden habe. Unser Sportcoach meinte, er würde alle Formulare einreichen. Anscheinend ist meine Bescheinigung irgendwie verloren gegangen. Aber ist durch einen einzigen fehlenden Zettel jetzt mein Abschluss in Gefahr? Ich bin die Zweitbeste meines Jahrgangs. Ich habe sieben Leistungskurse belegt. Den Sportkurs hatte ich nur gemacht, um alle Kurse belegen zu können, die ich auf meinem Zeugnis haben wollte. Ich wollte Golf oder Tennis nehmen. Charlie meinte, ich hätte für beides zu wenig Koordination. Wir einigten uns darauf, dass ich beim Tennis total versagen würde. Golf war da schon eher geeignet, weil man dabei nicht rennen muss.
Heute ist der achte Mai. Also habe ich ab morgen noch eine Woche Zeit, um die Sache zu klären. Es ist nur ein Fehler, es ist nur ein Fehler, sage ich mir immer wieder.
»Olivia?«, fragt Nonna und reißt mich aus meinen Gedanken.
Charlie lehnt sich zu mir. »Lieblingsclub«, flüstert er.
Mein Kopf ist wie leer gefegt, die letzten vier Jahre wie weggeblasen. Ich kann nur noch an die E-Mail denken.
»Wahrscheinlich derselbe wie bei mir«, platzt Charlie heraus. Ich spähe auf seinen Zettel.
Tischtennisclub
Ich wusste nicht mal, dass es an unserer Schule einen Tischtennisclub gibt, aber ich nicke und erwidere: »Ja. Das macht so viel Spaß.«
Mein Blick wandert wieder zu Mr Spencers E-Mail. Ich spüre eine Enge in der Brust. Ich kann nicht richtig atmen.
»Nächste Frage!«, verkündet Nonna.
»Wir sollten uns ein bisschen beeilen«, meint Onkel Charles. »Sonst gibt es das Essen erst zum Frühstück.«
»Übereinstimmung!«, schreit Onkel Marcus.
Nonna ignoriert ihre beiden Söhne und sieht mich an. »Diesmal drehen wir die Reihenfolge um und fangen bei Olivia an.«
Ich lese die nächste Frage laut vor. »Wo wirst du in zehn Jahren leben?«
In meinem Kopf lautet die Antwort: In einem Karton, weil ich arbeits- und obdachlos sein werde, weil ich nie die Highschool abgeschlossen habe.
Stattdessen hole ich Luft und sage: »Unentschlossen.«
Ein Chor aus »Übereinstimmung« klingt durchs Zimmer. Fast alle sind früher oder später wieder hier in Shreveport gelandet – nur ein paar Blocks von Nonnas und Nonnos Haus entfernt.
Noch zwanzig Fragen. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.
»Mir geht’s nicht so gut«, flüstere ich, aber es ist laut genug, dass Nonna es hört.
Sie blickt besorgt drein. »Was ist los?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Mir ist schlecht.«
Ich schnappe mir meinen Fragebogen, schiebe den Stuhl zurück und arbeite mich durch die Menge hindurch zur Hintertür.
»Wir haben jemanden verloren. Heißt das, wir sind jetzt fertig und können essen?«, fragt Onkel Sal.
Ich stürme die Einfahrt hinab, bleibe aber abrupt stehen, als ich jemanden auf der vorderen Veranda entdecke. Leo.
Er sitzt auf der Treppe und starrt auf sein Handy. Doch als er mich bemerkt, steht er auf.
»Alles okay?«, fragt er.
Bestimmt spürt er die Panik, die von mir ausgeht.
Ich schüttle den Kopf und setze meinen Weg fort. Er springt die Stufen herunter und schließt zu mir auf.
»Ich wusste nicht, dass jemand hier draußen ist«, sage ich und hoffe, meine Stimme klingt ruhig und fest.
»Ich habe mich wie ein Eindringling gefühlt. Ich weiß nicht mal, was da drin vorgeht, aber es wirkt wie ein Familiending.«
Eigentlich wohne ich nur zwei Blocks von Nonna entfernt, aber jetzt kommt es mir vor wie eine Meile. Ich bin kurz davor, vollkommen durchzudrehen – und das will ich nicht vor Leo.
»Warum bist du gegangen? Es hätte doch bestimmt noch mindestens eine Stunde gedauert«, bemerkt Leo.
»Mir geht’s nicht so gut«, erwidere ich und schlinge die Arme um meinen Oberkörper. Vielleicht wirke ich so glaubhafter.
»Oh«, macht er. »Brauchst du irgendwas?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein. Das waren mir eben nur zu viele Menschen.«
Er nickt verständnisvoll. Wahrscheinlich ging es ihm genauso, sonst hätte er sich nicht draußen auf der Veranda versteckt.
Vor meinem Haus bleiben wir stehen. »Danke, dass du mich begleitet hast«, sage ich. Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen. Ich sollte ihn fragen, wie es ihm geht und was er so macht, aber stattdessen gehe ich in meinem Kopf immer wieder die E-Mail durch.
»Gern geschehen«, erwidert er und deutet auf Nonnas Haus. »Dann gehe ich mal wieder zurück.«
Eine seltsame Situation. Für uns beide.
Ich drehe mich um und gehe den Weg zur Haustür entlang.
»Gute Besserung«, ruft Leo in dem Moment, als ich die Tür öffne.
Ich lächle ein wenig und winke zum Abschied, bevor ich im Haus verschwinde.
In unserem Gruppenchat türmen sich die Nachrichten von Charlie, Sophie und Wes. Ich antworte, dass es mir gut geht, ich aber einen Moment für mich brauche, damit sie mir nicht folgen.
Ich stürme die Treppe hinauf und in mein Zimmer. Dann schnappe ich mir eine Kopie des Formulars, das ich zu Beginn des Semesters meinem Golftrainer gegeben habe. Der Coach hätte ankreuzen müssen, ob ich die erforderlichen Stunden absolviert habe oder nicht. Ich weiß noch genau, wie er gesagt hat, er würde die Formulare einreichen, damit keiner nachträglich etwas ändern könne.
Ich zücke mein Handy, um auf Mr Spencers E-Mail zu antworten.
An: Dwayne Spencer
Von: Olivia Perkins
Betreff: RE: Bescheinigung Sportunterricht
Mr Spencer,
da muss ein Fehler vorliegen. Ich habe den Kurs erfolgreich absolviert. Coach Cantu sagte uns zu Beginn des Semesters, er würde Ihnen die Bescheinigungen zukommen lassen. Es gibt also keinen Grund, warum meine Unterlagen fehlen sollte. Ich werde Coach Cantu kontaktieren, um herauszufinden, was passiert ist. Was würde im schlimmsten Fall – ich glaube zwar nicht, dass dieser eintreten wird, aber ich versuche, Ruhe zu bewahren – geschehen, falls er sich aus irgendeinem Grund weigern sollte, das Formular zu unterschreiben? Bekomme ich dann meinen Abschluss nicht?
Mit freundlichen Grüßen
Olivia Perkins
Immer wieder klicke ich auf »Aktualisieren«. Und noch mal. Erst nach fünfzehn Minuten bekomme ich eine Antwort.
An: Olivia Perkins
Von: Dwayne Spencer
Betreff: RE: Bescheinigung Sportunterricht
Miss Perkins,
sollten Sie das unterschriebene Formular, das bestätigt, dass Sie am Kurs teilgenommen haben, nicht nachreichen können, erfüllen Sie nicht die Voraussetzungen für das Erlangen eines Highschool-Abschlusses. Da wir eine staatliche Einrichtung sind, kann ich keine Ausnahmen machen. Das ist das Risiko, das man eingeht, wenn man sich dazu entschließt, einen Kurs außerhalb des Campus zu belegen.
Mit freundlichen Grüßen
D. Spencer
Mein Gott, wie kann man nur so herzlos sein? Jetzt habe ich wirklich Panik. Ich springe ins Auto und fahre zum Golfplatz, auf dem wir uns während des Semesters dienstags und donnerstags getroffen haben. Er befindet sich mitten in einem älteren Stadtteil, der nicht weit von meinem entfernt ist.
Der Himmel ist strahlend blau. Im Moment ist es noch angenehm warm, ohne die hohe Luftfeuchtigkeit, die einem das Gefühl gibt, in eine nasse, heiße Bettdecke gelaufen zu sein. Es ist also kein Wunder, dass der Parkplatz komplett voll ist. In den nächsten Wochen wird der Golfplatz von früh bis spät überlaufen sein.
Der Platz hat schon bessere Tage gesehen, aber die Lage ist toll. Will man die moderneren, schickeren Golfplätze besuchen, wie zum Beispiel den einen, der letztes Jahr am Stadtrand gebaut wurde, braucht man eine Mitgliedschaft und muss einer gewissen sozialen Schicht angehören, um sich dort wohlzufühlen.
Lockerer als auf diesem hier wird es nicht.
Da ich eh nur für ein paar Minuten hier sein werde, stelle ich mich auf den Mitarbeiterparkplatz.
Ein Platzwart steht in der Garage, in der sich die alten, kaputten Golfmobile befinden. Er ist damit beschäftigt, Gartengeräte in einen Anhänger zu laden. Der Geruch von Benzin und frisch gemähtem Gras liegt in der Luft. Auf dem Namensschild auf seiner fleckigen Uniform steht Mitch geschrieben.
»Entschuldigung, ich bin auf der Suche nach Coach Cantu.«
Der Mann runzelt die Stirn, als wüsste er nicht, von wem ich spreche.
»Der Golftrainer. Coach Cantu«, wiederhole ich.
Mitchs Gesicht erhellt sich. »Ach, du meinst John! Der ist nicht hier«, erwidert er und dreht mir den Rücken zu.
Ich versuche, meinen Ärger im Zaum zu halten. »Wissen Sie, wann er wieder da ist?«
Mitch hält inne und richtet den Blick nach oben, als würde die Antwort an der mit Spinnweben überzogenen Decke stehen. »Nun ja, ich glaube, er ist weg.«
»Weg? Was meinen Sie mit weg?«, frage ich panisch.
»Er arbeitet nicht mehr hier. Am Freitag gab es Kuchen zum Abschied. Schokolade.«
Ich habe das Gefühl, der Boden würde mich verschlucken. »Wissen Sie, wo er hin ist? Ist er noch in der Stadt?«
»Frag mal Susie. Sie weiß es vielleicht.« Mit dem Kopf deutet er auf die Bürotür, zuckt mit den Schultern und widmet sich wieder seiner Arbeit.
Ich stürme hinein und direkt auf die Frau hinter dem Tresen zu. Bereit, alles zu tun, um die Sache aufzuklären, stelle ich ihr die gleiche Frage.
Susie zuckt zusammen, als hätte sie Schmerzen. »Ich sitze doch hier. Kein Grund, so zu schreien. Er arbeitet jetzt bei Ellerbe Hills. Aber ich weiß nicht, wann er dort anfängt.«
»Können Sie mir seine Telefonnummer geben?« Ich glaube, meine Knie geben gleich nach.
Sie schüttelt den Kopf. »Tut mir leid. Ich kann keine Telefonnummern von Mitarbeitern herausgeben.«
»Aber Sie haben gesagt, er würde nicht mehr hier arbeiten.«
Anscheinend passt es ihr nicht, dass ich sie daran erinnere. »Aber er hat hier gearbeitet.«
Wir starren einander so lange an, bis klar ist, dass sie nicht nachgeben wird. Also verlasse ich das Büro und gehe wie betäubt zurück zu meinem Auto.
* * *
Ich sitze am Küchentisch und starre aus dem Fenster, mit Blick auf die Einfahrt und die Seite des Nachbarhauses. Das Haus ist still. Leer. Zum ersten Mal gefällt es mir nicht.
Meine Eltern wurden damit beauftragt, einem großen Unternehmen in New Orleans einen Überraschungsbesuch abzustatten und dort eine unangekündigte Wirtschaftsprüfung durchzuführen, was wahrscheinlich die ganze Woche dauern wird. Ich habe den Deal mit ihnen geschlossen, dass ich mir die Life360-App herunterlade, damit ich allein zu Hause bleiben darf und nicht zu Nonna gehen muss. Jetzt bereue ich es ein bisschen. Es ist zu still. Nichts, was mich ablenkt. Ununterbrochen denke ich über dieselbe Frage nach: Was, wenn ich nicht meinen Abschluss machen kann? Gleichzeitig bin ich aber auch froh, dass Mom nicht hier ist, denn ich würde ihr sofort alles erzählen. Und dazu bin ich gerade noch nicht bereit.
Denn wenn sie es weiß, wissen es auch meine Großeltern. Und wenn es meine Großeltern wissen, dann wissen es auch alle Tanten und Onkel. Dann bin ich nicht mehr Olivia, die alles unter Kontrolle hat und die Welt erobern wird, sondern Olivia, die nicht ihren Highschool-Abschluss machen konnte, obwohl sie die Zweitbeste des Jahrgangs war – und alles nur wegen eines dummen Golfkurses, den ich nicht mal hätte machen müssen. Dieser eine Vorfall wird all meine Errungenschaften überschatten. So darf ich nicht untergehen.
Ich werde das in Ordnung bringen, und meine Eltern werden niemals davon erfahren.
Ich könnte meinen Bruder Jake anrufen, aber was kann er schon tun? Er wird diesen Sommer nicht mal nach Hause kommen, mit Ausnahme von meiner Abschlussfeier. Jake und unser Cousin Graham jobben in Gulf Shores, wo sie jeden Morgen den Strand mit Liegen und Sonnenschirmen bestücken und sie abends wieder einsammeln. Wahrscheinlich wollen sie den Sommer gut gebräunt und mit den Taschen voller Trinkgeld verbringen.
Als auf dem Tisch mein Handy vibriert, zucke ich vor Schreck zusammen.
MOM: Anscheinend hat die Umfrage dieses Jahr nicht so lange gedauert! Das überrascht mich, schließlich machen doch so viele von euch ihren Abschluss. Ich habe gesehen, dass du kurz auf dem Golfplatz warst. Dad hofft, dass du inzwischen eine Leidenschaft fürs Golfen entwickelt hast!
Ich seufze. Seit ich Life360 auf meinem Handy habe, ist es Moms neueste Lieblingsbeschäftigung geworden, mich zu beobachten. Sie hat sogar eingestellt, dass sie eine Benachrichtigung bekommt, sobald ich das Haus verlasse oder nach Hause komme. Es ist nicht so, als wollte sie mich bei irgendwas erwischen. Ich glaube, es fasziniert sie einfach, dass sie jede meiner Bewegungen verfolgen kann. Ich kann nicht mal an einem Supermarkt vorbeigehen, ohne dass sie mir schreibt, dass ich Milch oder sonst irgendwas kaufen soll, das ich brauchen könnte, während sie weg sind.
ICH: Ich dachte, ich hätte meinen Pullover dort vergessen. Doch er war nicht da.
MOM: Oh, okay. Den blauen? Ich glaube, den habe ich in deinem Schrank gesehen. Ich hoffe sehr, dass du nicht den rosafarbenen verloren hast. Der steht dir so gut.
MOM: Bete zum Heiligen Antonius. Fünf Dollar. Dann taucht der Pullover wieder auf.
Das sagt sie immer, wenn wir etwas verlieren – zum Heiligen Antonius beten und fünf Dollar in die Opferkasse stecken. Ihrer Meinung nach ist diese Methode perfekt.
ICH: Jawohl, Ma’am.
Ich lege das Smartphone beiseite, klappe meinen Laptop auf und suche nach E-Mails, die uns der Coach im Laufe des Semesters geschrieben hat. Vielleicht kann ich ihn so kontaktieren. Ich finde eine, die er von seiner Schuladresse aus geschrieben hat und klicke auf »Antworten«.
Coach Cantu,
hallo. Hier ist Olivia Perkins. Was meine Bescheinigung für den Golfkurs angeht, muss es zu einem Fehler gekommen sein. Sie ist nicht im Schulbüro angekommen. Gern lasse ich Ihnen ein neues Formular zukommen. Bitte geben Sie mir Bescheid, wann und wo es Ihnen passt.
Vielen Dank
Olivia Perkins
Ich klicke auf »Senden« und starre auf meinen Posteingang, als könnte ich eine sofortige Antwort erzwingen. Doch das kann ich nicht. Also starte ich einen Gruppenchat mit ein paar Freunden, die mit mir den Kurs belegt haben.
ICH: Hey. Ich versuche, Coach Cantu zu erreichen, habe aber nur seine E-Mail-Adresse von der Schule. Hat jemand von euch seine Nummer?
Wenigstens kommen ihre Antworten schnell.
STEWART: Nein. Nur seine Mail-Adresse.
BRIDGET: Sorry, nein.
HECTOR: Hast du mal auf dem Golfplatz angerufen?
CASSIE: Uff, bin ich froh, dass dieser Kurs vorbei ist! Ich hasse Golf! Warum willst du mit ihm sprechen????
ICH: Ich brauche noch mal meine Bescheinigung. Das Schulbüro hat sie verlegt.
Okay, eine kleine Lüge. Ich will herausfinden, ob sie auch vom Konrektor kontaktiert wurden.
BRIDGET: Oh! Das tut mir leid! Aber er wird sie bestimmt noch mal unterschreiben. Er ist so nett!
HECTOR: Cassie, wir wissen, dass du Golf hasst. Das hast du oft genug erwähnt.
CASSIE: Wenn wir die Golfmobile benutzen dürften, würde ich es nicht hassen. Warum sollte ich die Tasche über den ganzen Platz schleppen, wenn es doch die Mobile gibt?!
Ich bedanke mich kurz und verlasse den Chat, obwohl die Unterhaltung noch weitergeht. Verzweifelt beginne ich, Coach Cantu auf Social Media zu suchen, um ihm eine Nachricht zu schreiben, kann ihn jedoch nicht finden. Als nächstes google ich Ellerbe Hills Country Club. Es erscheint ein Artikel von vor ein paar Jahren, als das Grundstück gekauft wurde, direkt darüber der Name des Clubs, die Adresse und die Telefonnummer. Coach Cantu klettert auf der Karriereleiter ganz schön nach oben, wenn er jetzt beim neuesten Golfclub der Gegend arbeitet.
Ich wähle die Nummer und hoffe inständig, dass ich ihn ans Telefon bekomme.
»Ellerbe Hills Country Club«, meldet sich eine Dame.
»Hi, ja, ähm, ich würde gern Coach Cantu sprechen?«
Bevor ich noch etwas fragen kann, erwidert sie: »Diese Leitung ist nur für das Clubhaus. Falls Sie einen der Spieler oder einen Coach sprechen wollen, müssen Sie ihn direkt anrufen.«
Dann ist die Leitung tot.
Ich schüttle mein Handy, als würde das etwas nützen. »Aber ich weiß nicht, wie ich ihn direkt kontaktieren kann«, presse ich hervor.
Ich öffne die Website des Clubs, um die Öffnungszeiten zu checken. Doch bis ich dort bin, haben sie bereits geschlossen.
Dann also morgen.
Morgen werde ich hinfahren.
Auf einmal ploppt eine E-Mail-Benachrichtigung auf dem Bildschirm auf. Vom Coach. Zum Glück bin ich allein daheim, sodass niemand mein lautes Quietschen mitbekommt.
Ich öffne sie.
Vielen Dank für Ihre E-Mail. Nach dem 5. Mai bin ich den Sommer über leider nicht zu erreichen. In dringenden Fällen kontaktieren Sie bitte Konrektor Spencer.
Danke
Coach Cantu
Eine verdammte automatisch generierte Abwesenheitsnotiz. Und ich soll mich an die Person wenden, mit der ich gerade am wenigsten sprechen will.
Großartig. Einfach großartig.
Es gibt also nur eine Möglichkeit. Ich werde morgen einfach zum Golfclub fahren. Sobald ich ihn gefunden habe, wird der Coach das Formular unterschreiben. Dann werde ich es Mr Spencer persönlich überreichen, damit es kein zweites Mal verloren geht.
In diesem Moment bekomme ich eine weitere Nachricht von Mom.
MOM: Ich kann es nicht erwarten, von Baileys Party morgen zu erfahren. Rhonda hat Tiffany heute Morgen beim Floristen getroffen. Kyle von Colony House hat die Blumen gemacht. Sie meinte, sie seien UNGLAUBLICH. Ich brauche unbedingt Fotos. Viele Fotos!
Ich werfe einen Blick auf die gegenüberliegende Wand. Mom hat zwischen Kühlschrank und Vorratsschrank eine Schnur gespannt, an der zig Einladungen zu Abschlusspartys hängen, die mit Wäscheklammern befestigt sind.
Wie konnte ich nur vergessen, dass diese Woche die Abschlusspartys stattfinden? Darauf habe ich schließlich vier Jahre lang gewartet.
Die Senior Party Week ist die Woche zwischen den Abschlussprüfungen und der Zeugnisvergabe. Wir haben die Schule beendet, aber noch nicht offiziell. Und wie kann man die Zeit besser rumkriegen als mit Partys? Keine Ahnung, wann diese Tradition angefangen hat, aber inzwischen ist sie außer Kontrolle geraten. Genau wie die Umfrage von Nonna. Die Partys werden von den Familien und Freunden der Schulabgänger organisiert – und alle haben ein bestimmtes Motto. Und die Mottos werden jedes Jahr extravaganter. Nicht jeder Schulabgänger bekommt seine eigene Party, aber die Chancen stehen gut, dass man jeden Tag zu mindestens einer eingeladen ist. Manchmal sogar zu zwei.
Ich glaube nicht, dass es üblich ist, so viele Abschlussfeiern zu geben und ich habe keine Ahnung, ob man das in anderen Teilen des Landes auch so macht. Aber wenn wir uns schon seltsam verhalten müssen, dann bin ich froh, dass es nur um Partys geht.
Meine Familie schmeißt uns sechs Schulabgängern zu Ehren am Freitag eine große Langusten-Party. Wir sind also Teil des Wahnsinns. Seit drei Jahren sehe ich auf Social Media die Posts von den Schulabgängern vor mir und kann es nicht erwarten, bis ich an der Reihe bin.
Ich zupfe die Einladung zu Baileys Party von der Schnur. Sie ist rosa und lila. In großen Buchstaben steht darauf Pyjamas und Pfannkuchen! geschrieben. Es geht schon um 9:30 Uhr los, und wir sollen in unseren Schlafanzügen kommen. Bailey ist eine gute Freundin von mir. Kurz denke ich darüber nach, Coach Cantu erst nach der Party aufzusuchen, aber ich weiß nicht, wie ich heute Nacht schlafen soll, wenn ich weiß, was morgen ansteht und ich bis nachmittags warten muss. Ich überlege, wie ich mich vor der Party um die Golfsache kümmern kann. Ich muss gleich morgen früh zum Club fahren, die Angelegenheit mit dem Coach klären, wieder nach Hause fahren und meinen Schlafanzug anziehen, um dann zur Party zu gehen. Die Bescheinigung kann ich Mr Spencer danach vorbeibringen.
Keine große Sache. Ich schaffe das schon. Wieder vibriert mein Handy.
MOM: Vergiss nicht, Baileys Geschenk abzuholen. Ich schicke dir die Adresse. Es sollte bereits verpackt sein. Du musst nur noch auf der Karte unterschreiben. Plan dir aber genug Zeit ein, da die Party so früh anfängt. Du willst doch nicht zu spät kommen!