17 frei Tegernsee - Gerd Haufe - E-Book

17 frei Tegernsee E-Book

Gerd Haufe

0,0

Beschreibung

Mit dem Taxi kann man fahren - und gelegentlich auch sein Glück finden. Oder besser gesagt: Man könnte es finden, wenn man es nicht gleich wieder versemmelt, so wie Arkadius. Der junge Mann hat das Talent, vieles richtig zu machen, aber im entscheidenden Moment biegt er leider falsch ab. Das wäre als Taxifahrer nicht weiter schlimm, nachdem er aber endlich seine Traumfrau gefunden hat, ist es wirklich saublöd, dass er nicht ihre Telefonnummer kennt und nicht weiß, wo sie wohnt. Eigentlich hat auch nicht er sie, sondern sie ihn gefunden. Und nach dieser einen Nacht, als sie mit dem Taxi von Disco zu Disco fuhren, tanzten und redeten, lässt Linda ihn warten. Das Warten kennt ein Taxifahrer, aber das Warten auf Linda ist ein ganz anderes Warten und Arkadius sieht mit der Zeit seine Hoffnung schwinden. Aber lies selbst, ob die beiden wirklich ihr Glück finden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 238

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Popsongs, die Linda und Arkadius in der Disco und im Taxi hören, sind in einer Playlist bei Spotify arrangiert. Die Reihung der Titel folgt der Handlung im Buch. Einfach reinhören und gedanklich in die frühen Achtziger fliegen: Bei Spotify nach „17 frei Tegernsee“ suchen oder den Code scannen.

© 2022 Gerd Haufe

Lektorat: Dr. Lotte Husung

Covergrafik von Autorenfoto: Fotoatelier Mallmann, Niedernhausen

Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer

ISBN Hardcover: 978-3-347-69632-7

ISBN E-Book: 978-3-347-69634-1

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

17 FREITEGERNSEE

ZUMGLÜCKGIBT ESTAXIS!

Prolog

15. August 1981

Für Arkadius begann der Tag, indem er kurz vor 17 Uhr vom Bett ins Badezimmer schlurfte. Dieser Tag, oder genauer die kommende Nacht, würde sein Leben in einer Dimension verändern wie der Wechsel von Schwarz-Weiß auf Farbe. Doch davon ahnte er nichts. Wie sollte er auch? Der Zufall spielt keine Ouvertüre. Entweder etwas geschieht - oder es geschieht nicht. Einfach so.

Über dem Waschbecken hängend, offenbarte ihm sein Spiegelbild zwei frische rote Pickel auf einer fahlen Gesichtshaut. Zefix! Ecce homo würde mein Vater jetzt sagen, ging es ihm durch den Kopf. Hoffentlich wird es bald dunkel. Ein reflexartiges Gähnen verzögerte den Beginn des Zähneputzens. Nach drei Nachtschichten in Folge kreisten die Zeiger seiner inneren Uhr wild durcheinander und er wäre am liebsten zurück ins Bett geschlüpft, um sich im kuscheligen Bettzeug zu verkriechen. Dem setzte sein Verstand die verfügbare Willensstärke entgegen, sodass die Rituale der Körperpflege absolviert werden konnten. Danach fand Arkadius im Kleiderschrank ein frisches weißes Hemd und eine braune Cordhose, die zusammen mit seiner beigefarbenen Alcantarajacke eine Art Uniform bildeten. Zusammen mit einem Becher schwarzen Kaffee setzte er sich um halb sechs an seinen Arbeitsplatz: ein Mercedes Diesel neuester Bauart, deren schwere Qualität und üppige Formgebung der Typenreihe auch die Bezeichnung schwäbischer Barock eingebracht hatten. Der Farbton ähnelte einem Milchkaffee mit viel Milch, offiziell als „Hellelfenbein“ bezeichnet. Bevor Arkadius mit dem Vorglühen begann, schließlich konnte der selbstzündende Motor nicht ohne Weiteres angelassen werden, drückte er den Einschaltknopf des Funkgeräts. Er hegte gerade die Hoffnung, bei normalem Geschäftsbetrieb in den frühen Morgenstunden wieder in die Liegeposition zurückkehren zu können. Doch daraus sollte nichts werden. Im Gegenteil.

Unmittelbar nach seiner Anmeldung im Taxifunk hörte er Susi: »17?« Seit gestern ließ sie das Wort Wagen weg.

»Frei Tegernsee.« Seine Stimme klang belegt.

»Endlich! 17 verlangt, Linda, Hotel Bavarika, 19 Uhr. Die ganze Nacht.«

Mit offenem Mund schüttelte er den Kopf und es dauerte, bis er etwas zeitversetzt zurückfragte: »Was soll das sein, die ganze Nacht?«

»Eine Stammkundin vom Xaver.« Xaver war sein Chef.

Rudi knarzte im Funk: »Das junge Mädel brauchst du nur ein bisserl rumfahren. Am Taxistand erzähl ich dir den Rest.«

War es das Koffein, das seine Wirkung entfaltete, oder die prickelnde Ungewissheit über den erhaltenen Auftrag? Oder beides? Jedenfalls war Arkadius plötzlich hellwach und seine Gedanken kamen in Fahrt. Das scheint kein normaler Auftrag zu sein. Allein, dass der Rudi einen Funkauftrag kommentiert, ist merkwürdig. Linda!? Wohin wird sie die ganze Nacht rumfahren wollen? Die ganze Nacht! Die ganze Nacht mit Linda!? Da muss ich mich vorbereiten.

Er steuerte die Tankstelle Tegernsee Süd an und saugte den Fußraum, wischte das dattelfarbige Kunstleder der Sitze feucht ab und orderte schließlich eine Bürstenwäsche. Im Ergebnis glänzte der ganze Wagen. Tipptopp.

Noch einmal erinnerte die über der Straße stehende Hitze an letzte Hochsommertage. In den Biergärten schwebten bayerische Sprachfetzen hörbarer als andere Dialekte, saßen Dirndl neben Latzhosen, es roch nach Grillfleisch, Schweiß und Sonnenmilch. Die Sowjetunion kündigte weitere Unterstützung für das Bruderland Polen an, das sich aktuell in einer schweren Wirtschaftskrise befand. In Deutschland wurden Einsparungen bei Sozialleistungen diskutiert. Die Nachrichten im Autoradio am heutigen Feiertag Mariä Himmelfahrt beachtete Arkadius so wenig wie das Umfallen eines Fahrrads in China.

Um drei Minuten vor 19 Uhr lenkte er den Wagen in die Hotelzufahrt. Das Panorama auf den Tegernsee, den Wallberg sowie die anderen Berggipfel gehörte für ihn zu den Selbstverständlichkeiten, die keiner besonderen Aufmerksamkeit bedurften.

An einem schattigen Platz vor dem Eingangsportal öffnete er alle Türen, um frische Luft in den Innenraum zu lassen. Nachdem er die Beifahrertür unter seine Achseln genommen hatte, ließ er beide Arme baumeln. Mit der Ruhe des Wartens überlegte er, was es mit dieser Linda auf sich haben könnte. Was würde von ihm verlangt werden, eine ganze Nacht lang? Seine Gedanken hüpften wie ein junger Wildfang umher.

Unter ein paar Fichten raschelte trockenes Laub, als zwei Eichhörnchen zu einer Rabatte mit Tagetes sprangen. Vor der orangeroten Kulisse hielten sie inne und schauten zu dem jungen Aushilfsfahrer. Arkadius gab seine versonnene Haltung auf, um eine Haselnuss, die er beim Staubsaugen gefunden hatte, zu den Fichten zu werfen. Doch die beiden Eichhörnchen waren schon auf einen Baum geflitzt. Oben auf einem Ast sitzend, sah es aus, als küssten sie sich.

Mit einem Mal riss er seine Hände hoch, um sich am Fensterrahmen der Beifahrertür festzuhalten, bevor er in eine Art Überraschungslähmung fiel. Er gaffte regungslos auf eine Erscheinung, die auf ihn zuschwebte. In den sich dehnenden Sekunden, während der Blickfang sich näherte und das Taxi erreichte, war ihm, als sei eine vierte Dimension hinzugekommen.

»Grüß dich. Ist der Xaver heute nicht da?«

Der leichte, dennoch kecke Ton ihrer Stimme drang mühelos in ihn ein und lockerte ihn so weit, dass er den Einstiegsbereich freigeben konnte.

»Mein Chef hat Urlaub. Aber das Auto ist dasselbe.«

Unter seinen Blicken nahm sie so selbstverständlich Platz, als sei die beginnende Tour reine Routine, keine Riesensache, die großer Worte bedurfte. Nachdem er ebenfalls eingestiegen war, irritierten ihn die offenen Türen am Taxi.

»Wohin fahren wir denn heute?«, fragte die Kundin.

»Wohin Sie wollen.«

»Der Xaver, der weiß das immer. Im Übrigen: Auf Dauer ist mir das Siezen zu umständlich. Ich heiße Linda.« Ihre Stupsnase zuckte.

Ich muss was sagen. Aber mir fällt nix ein. Vor allem muss ich die Türen schließen. »Ich bin Arkadius.« Na, wenigstens etwas. Danach stieg er erneut aus und warf die Türen ins Schloss. Diese Frau ist der Wahnsinn, eine Offenbarung!, dachte er und ihm war im Gegensatz zu allen anderen Umständen klar, dass diese Worte untertrieben waren.

Er startete den Diesel, um loszufahren. Ohne zu wissen, wohin.

1

Einige Monate zuvor, im April 1981, begann der Morgen für Arkadius dünn und düster. Regentropfen prasselten auf das Kupferblech des Vordachs. Er hockte am Küchenfenster. Allein. Von seiner Noch-nicht-ganz-Freundin Astrid beiläufig abserviert. Zunächst hatten seine Gedanken den Weg versperrt, später torpedierten sie seinen Schlaf, und als er erwachte, standen sie wieder dort, wo er sie nicht haben wollte. Die von Astrid ausgehenden Gravitationskräfte ließen seine Gefühle um sie kreisen, wie ein Trabant endlos Bahnen um seinen Planeten zieht. Blöd nur, dass es der falsche Himmelskörper war.

Neben dem Bier der Tegernseer Brauerei trank Arkadius gerne Kaffee. Schwarz und stark aus großen Bechern. Ohne die belebende Wirkung konnte er nur im Schritttempo denken und die vielen Lehrbuchseiten der Betriebswirtschaftslehre blieben von ihm ungelesen. Seitdem sich sein Körper an das Koffein gewöhnt hatte, konsumierte er noch mehr davon. Astrid hatte sich auf ihre Art gesorgt, dass es nicht gesund sein könne, das Zeug kübelweise wie Wasser zu saufen. Wobei in seinem Fall ein Vergleich mit dem Bierkonsum treffender gewesen wäre.

Heute ließ er seinen gelben Becher mit der Aufschrift Albatros Airways stehen. Ein kleiner Schluck hatte genügt, um an bittere Tränen zu denken.

Auf der angrenzenden Viehweide vor dem Fenster trotzten einzelne Flecken von Altschnee den ansteigenden Temperaturen. Der intensive Regen beschleunigte den Tauprozess und Arkadius überlegte, ob er geduldig genug warten könne, bis der Vorgang des Abschmelzens beendet wäre. Mit der Wiese, an deren Ende ansteigender Mischwald zur Neureuth führte, empfand er eine merkwürdige Verbundenheit. In den wärmeren Monaten graste dort Fleckvieh oder der Bauer machte Heu. Zu seiner Wiese war sie erst geworden, indem er dort Fußball spielte, im Herbst Drachen steigen ließ oder auf dem Rücken in der Sonne träumte, wenn sie frisch gemäht nach Sommer roch.

Auf der verwaschenen Holzplatte des Küchentisches lag ein Foto von Astrid. Schwarz-weiß. Sie posierte gebückt vor einer Kletterrose, hielt die Blüte mit einer Hand zur Nase, dabei verhinderten ihre Ohren, dass das Haar ins Gesicht fiel. Nach wie vor sehnte er sich, ihre rätselhafte Schönheit zu berühren.

So wie an dem Abend im Fasching, an dem er sie kennengelernt hatte. Astrids Maskerade bestand aus einem Betttuch, etwas zerrissen, entweder von Anfang an oder gerissen im Verlauf des Lumpenballs. Während vermummte Burschen mit Kübelspritzen Odel in den Raum sprühten, hatte Arkadius sie schützend in seine Arme genommen, um sie danach an der frischen Luft zu küssen. Moppelchen, so nannte er sie, empfing ihn ein paar Tage später zu Hause. Infolge der Zugluft beim Faschingstreiben lief seine Nase und mit umgewickeltem Wollschal saß er auf der Sitzbank wie ein halb fertiges Michelinmännchen. Er wollte eigentlich etwas kuscheln, bekam dagegen ein Stück brasilianische Herrentorte, angeblich eigens für ihn gebacken.

Ein unsichtbares Warum verband sich mit dem Foto. Er stand auf, stützte sich am Spülbeckenrand ab, um seinen Kaffee in den Abfluss zu schütten. Ist Astrid enttäuscht, enttäuscht von mir? Oder verfolgt mich wieder mal das Pech, mein Pech mit Frauen? Widerlich, einfach nur widerlich, war diese dunkelbraune Masse an Kuchen. Bittersüß. Hätte ich ihn trotzdem loben sollen? Nun geht Astrid mit meinem besten Freund. Händchen haltend. Kann es sein, dass sie mich nur benutzt hat? Anprobiert, dann umgetauscht? So wie bei Christiane, Barbara oder Martina? Auch diese Anläufe waren im Abseits gelandet. Alle meine Kumpels haben eine feste Freundin, nagte es an ihm, nur für mich findet sich keine.

Erneut malte er sich aus, wie es mit einer Freundin werden könnte: Auf der Balustrade einer entlegenen Sonnenterrasse zwitschert ein Rotschwänzchen, im Hintergrund glänzt der See im Morgenlicht und in den beiden Tassen duftet der Kaffee nicht annähernd so verlockend wie das Eau de Toilette von ihr, die ihm im halb offenen Morgenmantel gegenübersitzt und ihre nackten Füße in seinen Schoß legt.

Eigentlich hatte die Zeit mit Astrid ein Mehr in sich geborgen.

Er ging zum Fenster und meinte, ihr Gegluckse noch einmal zu hören, als sie sich über die tollpatschige Landung des Albatros Orville aus dem Zeichentrickfilm Bernard und Bianca – Die Mäusepolizei amüsierte. Astrid hatte den Vogel so komisch gefunden, dass sie im Kinosaal erst unterdrückt, dann hemmungslos gelacht hatte. Ein paar Tage später, als ihre dunkle Stimmung im Weg gestanden hatte, versuchte Arkadius eine solche Albatros-Landung zu imitieren, was ihm zwar missglückte, aber trotzdem zur Erheiterung beitrug. Immer noch lachend fragte Astrid, ob er wisse, dass bei einem guten Orgasmus die Erde beben könne. Das hätte sie bei Hemingway gelesen.

Ein Blick auf die Uhr lenkte seine Gedanken zu der Vorlesung in München, die um elf Uhr c. t. angesetzt war. Das wird knapp mit Parkplatzsuche, dachte er, da hilft neben dem akademischen Viertel nur noch Vollgas auf der Autobahn.

Während Arkadius weit oben in den ansteigenden Reihen des Hörsaales einen ihm genehmen Platz ansteuerte, erläuterte der Professor bereits die fünfte Overhead-Folie. Die Überschrift Der grüne Grenzausgleich holte Arkadius nicht gleich ins Thema. Ohne auszupacken, setzte er sich und sah zum Rednerpult. Der Professor stand dort mit trister Krawatte auf weißem Hemd und wechselte gelegentlich die Seiten auf dem Projektor. Nach drei weiteren Folien verstand Arkadius, dass die Bürokratie der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bestimmten Landwirten Geld wegnahm, um es anderen Landwirten zu geben. Zu diesem Umverteilungsmechanismus erklärte der Professor: »Diesbezüglich kennen sich nur sechs Experten aus. Drei können ihn erklären und die anderen drei haben ihn verstanden.«

Ob mein Professor einer davon sein könnte? Falls ja, zu welcher der beiden Gruppen zählt er sich? Egal. Bis zur Prüfung bleibt noch genug Zeit. Deshalb beschloss Arkadius, nur noch mit halbem Ohr zuzuhören, und holte die Tageszeitung aus seiner Schweinsledertasche. Er hielt das Exemplar an seine Nase, um den druckfrischen Duft zu inhalieren. Für einen längeren Augenblick ließ er sich vom flutenden Wohlbehagen ablenken, um danach die Süddeutsche Zeitung vor sich auf das Pult zu legen, genug Platz war vorhanden, weil rechts und links von ihm niemand saß. Mit der linken Hand strich er die Oberfläche zärtlich glatt. Danach las er die aktuellen Börsennotierungen im Wirtschaftsteil. Die Aktienkurse von Contigummi, Siemens und VEBA entwickelten sich in seinem Sinne und er hob zufrieden den Kopf in Richtung Tafel. Hierbei bemerkte er eine zwei Reihen vor ihm sitzende, munter mitschreibende Brünette. Sie trug eine graue Strickjacke mit norwegischem Zopfmuster, die perfekt zu ihren Rundungen passte. Hierdurch hingen seine Gedanken aufs Neue da, wo er sie nicht haben wollte.

Für ihn ging es darum, vorbereitet zu sein. Bereit zu sein, damit das Glück bei ihm andocken konnte. Party, Disco oder Partnerschaftsanzeige, alles war bisher vergeblich gewesen. Das Problem bestand nicht darin, dass er keine Mädchen kannte. Im Gegenteil. Für einen besseren Überblick erfasste er alle ihm bekannten weiblichen Wesen seiner Altersgruppe in einem Ringbuch und sortierte sie in vier verschiedene Kategorien ein:

Kategorie 1: vergeben, liiert, verlobt, verheiratet

Kategorie 2: zu dick, zu dünn, zu hübsch, hässlich, quatscht zu viel, nikotinsüchtig

Kategorie 3: nicht an mir interessiert, abweisend, unerreichbar

Kategorie 4: alle anderen Mädels.

Weil Astrid in die Kategorie 1 der Mädelsliste verschoben werden musste, führte die Kategorie 4 keinen Namen mehr. Dieser Befund beschäftigte seine Hirnwindungen, ohne dass es im riesigen Hörsaal auffiel. So wird das nichts mit meinem Gspusi-Projekt. Die Mädels der Kategorien 1, 2 und 3 kommen nicht infrage, jedenfalls zurzeit nicht. Die 4. Kategorie ist interessant, da liegt die Zielgruppe. Theoretisch zumindest. Wobei Gruppe als Bezeichnung für nichts, für gähnende Leere nicht passte. Es müsste eher Zielvakuum heißen. Na ja, fest steht, ohne einen einzigen infrage kommenden Namen ist kein Potenzial da und ohne Potenzial gibt es keine Freundin. Das ist so weit logisch, oder?

Es gibt doch Mädels, die nett zu mir sind. Inga zum Beispiel hat mich gefragt, ob ich sie mit meinem Polo mitnehmen könnte. Bei der Fahrt hat sie ohne Punkt und Komma gequasselt, dadurch musste ich weniger sagen. Ihre Hände haschten, als gälte es, ein Insekt in der Luft zu fangen. Während er an dem inneren Bild von Inga hing, schnuffelte er an seinem linken Zeigefinger. Der Geruch erinnerte ihn an Schnittlauch, der schon einige Zeit grob geschnitten vor sich hinwelkt. Ernüchtert griffen seine Hände nach der Zeitung und falteten sie wieder auf Taschenformat. Mit abgestütztem Kinn hüpften seine Augen durch den Hörsaal, um jeweils kurz bei einer der Kommilitoninnen zu verweilen. Für gewöhnlich waren sie nur von der Seite oder von hinten zu sehen, außer ihr Kopf drehte sich zufällig in seine Richtung.

Mit Mädels fühlt es sich gut an. Sitzt eine Unbekannte in meiner Nähe, in der Mensa, in der U-Bahn oder im Seminar, möchte ich wissen, wer sie ist, wie ihre Stimme klingt, wozu ihr Herz schlägt, wonach ihr Haar riecht oder was sie unter ihrem Rock trägt. Freilich bleibt alles Theorie, solange keines der vielen Mädchen für mich bestimmt ist. Groucho Marx soll einmal gesagt haben, dass er keinem Club angehören möchte, der ihn als Mitglied akzeptiert. Übertragen auf das Gspusi-Projekt bedeutet dies: Ich werde in der verkehrsberuhigten Zone stecken bleiben! Leise entwich ihm ein tiefer Seufzer.

Im Hörsaal kam der Professor zum Ende seiner Ausführungen. Die Studentin vor ihm packte ihre Unterlagen ein, dabei wackelte ihr Pferdeschwanz. Arkadius überlegte, ob er sie ansprechen könnte. Einerseits interessierte ihn ihre Mitschrift, denn er selbst hatte nur das Datum und das Thema notiert, andererseits … bevor sich sein zweiter Gedanke entwickeln konnte, stellte sich ein Student mit Wildlederblouson und nach hinten gekämmtem Haar dicht neben sie, um mit ihr zu scherzen.

2

Höchste Zeit, am Abend mit seinem Freund Simmerl ein paar Halbe im Bräustüberl zu zischen. Es galt, die trüben Gedanken loszuwerden. Die beiden fanden einen Platz im hinteren Teil des Kreuzgewölbes. Dort zog es weniger von der Tür her. Vier Herren unterschiedlichen Alters saßen schon an einem runden Tisch. Es bedurfte keines Wortes und zwei frisch gezapfte Tegernseer Spezial standen auf den bereitgelegten Bierfilzen. Schließlich zählten sie sich zu den Stammgästen.

Am Tisch ging es zunächst wortkarg zu. Erst als die Bierdeckel mit etlichen Strichen markiert waren, entwickelte sich ein Gespräch in der Runde.

»Seid ihr öfter hier?«, fragte der Herr mit Miesbacher Trachtenjacke.

»Ja, wenn’s passt, schon.« Simmerl konnte das – etwas reden, ohne was zu sagen. »Und es passt schon mal, wenn die Sechzger und die Bayern gewonnen haben.«

»Des war sauber! Aber die Löwen - denen fällt das Gewinnen immer schwerer. Wenn die so weiterspielen, hoffentlich steigen die nicht noch ab. Darauf müssen wir halt eine Halbe stemmen, oder?« Nach den Worten des Herrn mit Trachtenjacke trafen sich die Bierkrüge zum ersten Mal in der Tischmitte zum allgemeinen Zuprosten.

»Es gibt nix Besseres wie was Gutes«, sagte Simmerl, den Schaum noch auf der Oberlippe.

»Passt! Hier schmeckt das Bier einfach besser wie daheim«, ergänzte ein Sonnengebräunter im weißen Hemd.

»Zumal, wenn die Alte alleweil dazwischenredet«, sagte der Erste mit einem Schmunzeln.

Rechts beugte sich ein Herr mit Vollbart und Latzhose mit dem Oberkörper nach vorne: »Dann musst eben deine Frau mal mitbringen.«

»Fehlt grade noch, dass du ihr schöne Augen machst.«

Arkadius ahnte, dass das Bräustüberl kein idealer Ort zum Anbändeln war. Die Mädels, denen er hier begegnet war, ordnete er den ersten beiden Kategorien seiner Liste zu: vergeben oder uninteressant. »Wo kann man denn im Tal am besten Dirndl aufreißen?«, klinkte sich Arkadius ins Gespräch ein. Er hätte auch Simmerl direkt fragen können, verfügte der doch über einen besonderen Draht zu Frauen. Dem stand allerdings das Vorkommnis mit Astrid im Weg.

»Wer’s mag, daheim zumindest nicht«, sagte der Herr in Tracht, die Runde lachte und er hob den Bierkrug, prostete einladend, sodass sich wieder alle Gläser in der Tischmitte klirrend trafen. »Auf die Weibsbilder.«

»Im Ernst jetzt«, setzte Arkadius nach, »ihr habt eure Frauen doch auch nicht auf dem Friedhof kennengelernt.« Die Mienen wirkten schlagartig irritiert.

Bevor der Herr im Trachtenjanker fertig Luft geholt hatte, kam vom Tischnachbarn in Latzhose: »Normal gehen die doch gern zum Tanzen, oder?« Sein Blick kreiste Zustimmung heischend in der Runde und der Herr in Tracht atmete aus. Die Latzhose wurde konkreter: »Da gibt’s das Spinnradl am Spitzingsee oder die Tuften-Alm in Rottach, da musst einfach mal schauen.« Nach einem Schluck Bier wischte er sich mit dem Handrücken den Schaum vom Bart.

»Geh, so ein Schmarrn, die Tuften-Alm! Weinstad’l mit Tanz. Wer geht da denn hin?«, war der Herr mit Miesbacher Jacke zu hören.

Am Tisch wurde nun lebhaft diskutiert. Einigen konnten sich die Trinkgenossen allein auf die Bestellung einer neuen Runde Bier.

»Der Schwager vom Bruder«, begann der Herr mit Halbglatze, der bisher noch nichts gesagt hatte, »der fährt Taxi und erzählt von Fahrten mit einsamen Nachtschattengewächsen, die von der Tanzbar heimwollen. Da wäre er auch mal mit einer auf den Ringseeparkplatz gefahren.«

»Und der Taxameter läuft mit?« Simmerl lachte.

»Freilich, Tarif 3, für Bergstrecke.«

In gelöster Stimmung wurde eine letzte Runde Bier verteilt, und Arkadius sah sich bereits mit dem Taxi eine hübsche Blondine heimfahren.

3

Es kam ihm vor wie mitten in der Nacht, als Arkadius zwei Monate später um Punkt sieben Uhr am Tegernseer Bahnhofsplatz stand. Mit mehreren Packungen Taschentüchern, Wollschal und einem Liter schwarzen Kaffee wartete er auf den Beginn seiner AushilfsfahrerKarriere. Ein grippaler Infekt, den er sich wohl irgendwo im Durchzug geholt hatte, erschwerte den Start. Der Rotz lief und die Augen schimmerten rot wie bei einem Säufer.

Schließlich rollte ein dunkler Mercedes auf den breiten Fußgängerbereich vor der Funkzentrale. Der lange, breitschultrige Taximogul hievte sich vom Fahrersitz in das helle Licht des Junitages und übergab dem Novizen den Fahrzeugschlüssel. »Schau, dass du immer am Auto bist, besonders, wenn ein Zug aus München ankommt. Die Taxiuhr läuft, wenn ein Fahrgast im Wagen sitzt. Ohne Ausnahme – kapiert?« Ergänzend schwabbelten seine dunklen Tränensäcke.

Arkadius nickte und wandte sich der Nummer 2 zu, die am Taxistandplatz gegenüber wartete. Ein Ford Granada 1.7. Er stand da wie ein alter Gaul, dem man sein Gnadenbrot gewährte. Die Fahrertür knarzte wie eine rostige Kerkertür und für den Kontakt zur Fahrbahn war eine in den äußeren Profilreihen vollkommen abgefahrene Mischbereifung zuständig. Arkadius nahm vorsichtig hinter dem Lenkrad Platz. Trotz seiner Schnupfennase fühlte er sich im Innenraum in ein Tierheim versetzt, das von Kettenrauchern heimgesucht worden war. Arkadius schnäuzte lieber nicht, kurbelte ein Fenster herunter und schaute sich weiter um.

In der Mittelkonsole von Nummer 2 hing locker ein blinkendes Gerät. Ab und zu rauschte es und schließlich hörte er eine Frauenstimme, die in oberbayerischer Mundart fragte: »Wagen frei Rottach?« oder »Wagen 15?« Es antworteten unterschiedliche männliche Stimmen: »Frei Rottach«, »15 gleich frei Rottach«, oder »7 belegt nach Wiessee.« Tegernsee kam im Funkverkehr nicht vor.

Ein älterer Kollege mit Schnauzbart, der daneben an seinem Mercedes lehnte, sah ihn durch das offene Fenster von oben herab an: »Oh mei, das kannst du vergessen. Wie bist du denn auf die Idee gekommen?«

»Wie meinen Sie das jetzt?«

»Na, das Taxifahren in Tegernsee am Tag, das TTT steht auch für Trauertal, Trübsal und Totolotto.«

»Totolotto?«

Der Schnauzbart beugte sich zu Arkadius herunter und lachte. »Eine Fernfahrt so selten wie ein Lotteriegewinn.«

Das hatte er sich anders vorgestellt. In der Hoffnung, mit dem Job beim Gspusi-Projekt voranzukommen, hatte er sich auf die Stellenanzeige Aushilfsfahrer in Tegernsee gesucht, Tages- oder Nachtschicht beworben. Nebenbei wollte er auch ein paar Mark für zusätzliche Aktienkäufe verdienen. Bereits in dem kurzen Vorstellungsgespräch war die Zusage erfolgt. Der schmierige Typ meinte lediglich, dass Arkadius einen Zusatz-Führerschein zur Fahrgastbeförderung bräuchte. Für das amtliche Dokument musste er einen Ortskundetest und die medizinisch-psychologische Untersuchung, auch Depperltest genannt, absolvieren.

An diesem Sonntag saß Arkadius nun schließlich in der lotterigen Droschke und fühlte sich beschäftigungslos. Und krank. Obwohl er lieber in der Nachtschicht gefahren wäre, hatte sein Chef abgewunken. Anfänger dürften bei ihm nur am Tag fahren, wobei Arkadius inzwischen zweifelte, ob fahren das richtige Tätigkeitswort sei und nicht treffender durch stehen ersetzt werden sollte.

Wie befohlen blieb er für zwölf Stunden im oder am Wagen, zwei Abstecher ausgenommen. In der Wartezeit auf Kundschaft trank er schwarzen Kaffee aus der Isolierflasche. Von seiner Mutter gekocht, die ihm auch eine Semmel mit kaltem Leberkäse und geschnittener Gewürzgurke mitgegeben hatte.

Zwei Stunden später rief ihn die Funkerin: »Wagen 2?«

Beinahe hätte er Seit sehr langer Zeit frei geantwortet, aber an seinem ersten Arbeitstag entschied er sich für eine korrekte Meldung: »Frei Tegernsee.«

»Krankenhaus, Pforte.«

»Wo geht das hin?«

»Das siehst dann schon.«

In der Hoffnung auf einen lukrativen Auftrag fuhr Arkadius los. Am Funk riskierte er keine Debatte, schließlich wusste er noch nicht, wer dort mithörte. Außerdem vermutete er, dass auch im Taxifunk die Regeln der Funkdisziplin galten, ähnlich wie bei der Bundeswehr.

Sein erster Tag als Aushilfsfahrer entwickelte sich weiter, wie er begonnen hatte. Nach der ersten kurzen Fahrt, keinen Kilometer weit, musste er erneut auf den nächsten Auftrag warten. Er warf sich eine weitere Aspirin-Tablette ein und spülte sie mit Kaffee herunter. Als Reaktion auf das unsympathische Kleinklima im Innenraum kurbelte er alle vier Fenster nach unten und setzte sich mit einer Ausgabe des Nachrichtenmagazins Der Spiegel auf die Motorhaube. Das sonnige Wetter begünstigte sein Vorhaben. Auf dem Titelbild prangte eine fett durchkreuzte, brennende Zigarette und darunter stand Aufstand der Nichtraucher. Gelangweilt wendete er die Seiten, nahm einmal den aufgeschlagenen Innenteil an seine Nase und schnupperte am Papier. Aber er roch nichts und blätterte weiter, bis seine Aufmerksamkeit auf einen Titel der Bestsellerliste gelenkt wurde: Die Kunst des Liebens von Erich Fromm. Platz 1 - wie das Gspusi-Projekt seiner Prioritätenliste. Diese Liste ergänzte seine Mädelsliste seit 271 Wochen. Seit Beginn hatte das Gspusi-Projekt höchste Priorität, weshalb er seine Energie auf das Projekt fokussieren wollte. Daher beschloss er, nachher die Funkerin aufzusuchen.

Gegen Mittag rückte er auf die erste Stelle des Standplatzes vor, die Poleposition für den nächsten Zug aus München. Und tatsächlich löste sich aus der Menschenmenge, die vom Bahnsteig auf die bereitstehenden Busse zustrebte, ein hagerer Mann, um bei Arkadius in den Fond einzusteigen.

»Zum Bräustüberl«, nuschelte dieser und strömte eine Dunstwolke aus, als ob er bereits von dort käme. »Kannst auch ohne Uhr fahren«, ergänzte der Fahrgast. Damit meinte er vermutlich den geeichten und plombierten Fahrpreisanzeiger. Gemäß Paragraf 37 der Verordnung über den Betrieb von Kraftfahrunternehmen im Personenverkehr wie auch der Weisung seines Chefs ließ Arkadius die eingeschaltete Taxiuhr einfach weiterlaufen.

Der Fahrgast schüttelte den Kopf. »Bist neu im Gewerbe, was? Da musst du noch viel lernen.« Die kurze Fahrt endete ohne Trinkgeld.

Seine nächste Standzeit nutzte Arkadius, um die Funkerin zu besuchen. Er betrat das dunkle Dienstzimmer direkt neben dem Bahnhofskiosk. Auf einem verblassten Biedermeiertisch schrillte ein grünes Wählscheiben-Telefon und ein Funkgerät blinkte. Hinten an der Wand, gegenüber dem Eingang, stand eine ranzige Couch mit Feincord-Bezug, darüber musste früher einmal ein Bild gehangen haben. Der ganze Raum wirkte improvisiert.

»Hallo, ich bin der Neue, Arkadius.«

»Weiß schon, ich heiße Susi.« Sie musterte ihn erwartungsvoll. Bevor die Plauderei Schwung aufnahm, musste sie den Telefonhörer abnehmen. Da Wirrwarr die nutzbare Länge des Spiralkabels deutlich reduzierte, hielt sie den Kopf in der Nähe des Apparates. Arkadius setzte sich. Während sie mit dem Kunden sprach, wippte ihr rechtes Bein, das über das linke geschlagen war. Ihr kurzer Jeans-Rock hatte am Saum einen hellen Kunstfell-Besatz. Um den neuen Auftrag per Funk weiterzuleiten, beugte sie sich über die Tischplatte und drückte den roten Knopf am Mikrofon. Arkadius konnte den rekordverdächtigen Ausschnitt ihrer knapp geschnittenen Schlupfbluse nicht übersehen. Nachdem der Auftrag abgearbeitet war, begann sie, etwas zu suchen. Vermutlich wegen der besseren Übersicht stellte sie sich mittig in den Raum und ließ ihren Blick durch das rosa Kassengestell mit den dicken Gläsern kreisen. Ihre Haare fielen exakt so weit in ihr rundes Gesicht, dass sie ihre Sicht nicht behinderten.

Beiläufig fragte Arkadius: »Bist du jeden Tag hier?«

»Nein, normal nehme ich die Nachtschicht, da kann ich so ab zwei oder drei Uhr ein paar Stunden schlafen – wenn die Kollegen mich lassen.« Sie blickte unter den Tisch.

»Ist denn am Telefon viel zu tun?«

»Manchmal schon, ich muss nur immer sakrisch aufpassen, dass ich genau aufschreibe, was der Kunde sagt und wo er abgeholt werden will.« Ihr Oberkörper lag nun auf dem Tisch und die Augen suchten dahinter. »Wenn ich den Fahrer zum Hinterhof der Adrian-Stoop 31 schicke, der Kunde aber im Vorderhof der Adrian-Stoop 13 wartet, dann ist das Geschrei hinterher groß.«

Das Telefon läutete abermals, sodass Susi sich wieder ihrer Aufgabe widmete. In der Zwischenzeit konnte Arkadius über ihr Beispiel der Adrian-Stoop-Straße nachdenken. Seine Ortskenntnis reichte aber nicht, dessen Realitätsnähe zu beurteilen. Immerhin bemühte sich die Funkerin, alles richtig zu machen. Ihr deftiges Oberbairisch unterdrückte sie allenfalls bei offensichtlichen Verständigungsproblemen. So wie im Moment. Susi setzte in diesem Fall ein gefärbtes Deutsch ein, Hochdeutsch wäre nicht das treffende Wort gewesen, ein Art Deutsch jedenfalls, das sie wie eine Fremdsprache benutzte. Nach wie vor telefonierend richtete sie ihre Augen auf Arkadius. Als sie endlich auflegen konnte, erhob sie sich. »Du hast nicht zufällig Zigaretten dabei?«

»Nein.«

Als ob sie die Antwort erwartet hätte, schenkte sie übergangslos einem anderen Thema ihre Aufmerksamkeit. »Deine Jacke gefällt mir.

Was ist das für ein Leder?« Während sie sich näherte, fixierte ihr Blick seinen Oberkörper.

»Das ist Alcantara, wärmt im Winter und kühlt im Sommer.«

Mit ihrer Zuwendung waberte eine Geruchsmischung aus altem Schweiß und einem aus dem Fernsehen bekannten Deodorant heran und umhüllte ihn.

»Das sieht so echt aus. Darf ich mal?« Auf sein zögerndes Nicken hin strich Susi an seinem Oberarm einmal zärtlich von oben nach unten über das Material. Ihre Augen strahlten durch die Brille und sie beugte sich noch näher zu ihm herab. Er erstarrte kurz und wurde erlöst, als sie auf dem Boden neben der Couch etwas entdeckte. Die folgende Handlung glich einer Darbietung auf einer Theaterbühne: Susi bewegte sich in Zeitlupe und bückte sich mit einem von unten rückwärts zu ihm gewandten Blick, um eine Packung Zigaretten aufzuheben. Auf Brusthöhe fischte sie mit ihren Fingern umständlich eine Peter Stuyvesant heraus und ließ sich anschließend zurück auf ihren Stuhl fallen, ganz so, als sei sie nun erschöpft von der Performance. Da das Exemplar verknittert war, strich sie am Tisch den Stängel zärtlich glatt und zog ihn anschließend der Länge nach an ihrer befeuchteten Zunge vorbei. Mit dem Ergebnis unzufrieden, wiederholte die Funkerin den Vorgang, schmatzte nach mehr Speichel, um danach mit ihrer Zungenspitze die Zigarette spielerisch zu liebkosen. Dazu legte Susi ihren Kopf leicht nach hinten, lachte durch den offenen Mund und betrachtete ihren Besucher.