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Oldenburg, Juni 1799. Die Nachricht vom Tod seiner Eltern reißt den jungen Studenten Johannes Friedrich von Marburg aus seiner feuchtfröhlichen Abschlussfeier. Zusammen mit drei Hausangestellten fielen Carl Ludwig Freiherr von Marburg und seine Frau einem äußerst ungewöhnlichen Verbrechen zum Opfer. Da die Untersuchungen der herzoglichen Polizeidragoner nicht vorankommen, beginnt Johannes auf eigene Faust zu ermitteln. Als er herausfindet, dass seine Eltern unmittelbar vor ihrem Tod eine Reisebekanntschaft aus Frankreich beherbergten, begibt er sich auf die gefährliche Suche nach der Unbekannten …
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Seitenzahl: 513
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Jörg Kohn
1799 – Die Schatten von Oldenburg
Historischer Roman
Das Geheimnis der Franzosenmorde Im Juni 1799 wird das Zweimast-Handelsschiff „Friederike“ des Oldenburger Kaufmanns Carl Ludwig Freiherr von Marburg von der französischen Marine aufgebracht und in Le Havre interniert. Er selbst kann mithilfe einer Unbekannten heim nach Oldenburg fliehen. Doch wenig später sind er, seine Frau und drei Hausangestellte tot. Nur von der Reisebekanntschaft fehlt jede Spur. Johannes Friedrich von Marburg, Sohn des ermordeten Kaufmanns und erfolgreicher Absolvent der Akademie der Handelswissenschaften, beschließt, auf eigene Faust nach dem Mörder zu suchen. Hilfe findet er bei dem weltgewandten Doktoranden Sartorius. Eine lebensgefährliche Odyssee durch den Norden Deutschlands beginnt, die zum Gold der Comtesse du Barry und in die Fänge des französischen Geheimdienstes führt. Am Vorabend der sogenannten „Franzosentied“, der französischen Besatzung Oldenburgs, beginnen die Ideale der Revolution auch das Umfeld Johannes von Marburgs zu polarisieren. Die Ereignisse eines Krieges, der Europa völlig verändern wird, werfen ihre Schatten voraus …
Jörg Kohn, geboren 1962 in Oldenburg, ist Diplom-Kaufmann und arbeitet als kaufmännischer Leiter. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaft war er für verschiedene Industrie- und Handelsunternehmen tätig. Außerdem widmete er sich der realistischen Malerei. Einer Ausstellung mit eigenen Gemälden in Acryl im Jahr 2016 folgte die Veröffentlichung zweier Bücher, bevor er mit »1799 – Schatten über Oldenburg« eine Art historisches Roadmovie, einen Kriminalroman aus der Oldenburger »Franzosenzeit«, schrieb. Kohn ist verheiratet und lebt in der Nähe Oldenburgs.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Susanne Tachlinski
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Belveze-Foulon_Ingres_1805.jpg und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:David_Aussicht_am_Stau_in_Oldenburg.jpg
ISBN 978-3-8392-7418-7
Der Mensch beurteilt die Dinge lange nicht so sehr nach dem, was sie wirklich sind, als nach der Art, wie er sie sich denkt und sie in seinen Ideengang einpasst.
Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander von Humboldt (1769–1859)
O über mich Narren, der ich wähnete die Welt durch Greuel zu verschönern, und die Gesetze durch Gesetzlosigkeit aufrecht zu halten. Ich nannte es Rache und Recht – Ich maßte mich an, o Vorsicht, die Scharten deines Schwerts auszuwetzen und deine Parteilichkeiten gutzumachen – aber – O eitle Kinderei – da steh ich am Rand eines entsetzlichen Lebens, und erfahre nun mit Zähnklappern und Heulen, dass zwei Menschen wie ich den ganzen Bau der sittlichen Welt zugrund richten würden. Gnade – Gnade dem Knaben, der Dir vorgreifen wollte – Dein eigen allein ist die Rache. Du bedarfst nicht des Menschen Hand. Freilich stehts nun in meiner Macht nicht mehr, die Vergangenheit einzuholen.
Friedrich Schiller, Die Räuber, 5. Akt, 2. Szene, 4. Aufzug, 1. Szene, 1781
Donnerstag, 30. Mai 1799, Le Havre
Die Straße vor der »Auberge Du Pont De Normandie« lag noch im tiefsten Schwarz der Nacht. Und das, dachte Carl Ludwig Freiherr von Marburg, ist auch gut so. Tief hängende Wolken drängten von See her über die Stadt und brachten feinen Nieselregen herüber, der sich auf die Kutsche und das Gepäck legte. Von Marburg ließ seinen Blick noch einmal durch das kleine, schwach beleuchtete Zimmer gleiten, das er in den letzten drei Wochen mit seiner Frau Henriette bewohnt hatte. Er griff nach den beiden Steinschlosspistolen, ließ sie in die Taschen seines dunkelblauen Rocks gleiten und warf einen Blick aus dem Fenster hinunter auf die Straße, wo die zweispännige Berline, von zwei Laternen am Kutschbock beleuchtet, wartete. Zusammen mit dem Kutscher und einem Knecht hatten sie das Gepäck auf dem Dach der Kutsche und jedem sonst verfügbaren Platz verstaut, mehrere Koffer, Hutschachteln, eine Truhe und das Nötigste an Kleidern, das sie hatten mitnehmen können. Selbst die Seekisten mit Büchern, Karten und den wenigen wertvollen nautischen Bestecken und Gerätschaften, die von Marburg von Bord der »Friederike« hatte retten können, standen fest verzurrt auf der Gepäckablage hinter dem Fond der Kutsche.
»Herr von Marburg«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihm. »Wir wären dann so weit. Wenn es Euch beliebt, können wir aufbrechen.«
Der Freiherr wandte sich um und nickte. »Ist gut, Herr Hansen, ist gut. Ich komme.« Trotz seines gefassten Äußeren konnte er die Verbitterung, die sich in den vergangenen drei Wochen immer tiefer in ihn hineingegraben hatte, nicht verbergen. Hansen war der Kapitän der »Friederike«, deren Eigner von Marburg war und die hier in Le Havre im »Avant Port« festgemacht und interniert lag, aufgebracht von der französischen Fregatte »La Renommée« auf der Höhe von Brest. Es war ein Akt der Willkür und der Piraterie, wie er immer wieder betonte, schließlich war die »Friederike« ein deutscher Handelssegler unter Oldenburger Flagge, ein neutrales Schiff also, und die Querelen, die England, Spanien oder Österreich mit den Franzosen austrugen, gingen ihn nichts an.
Zumindest hatte er das geglaubt.
Von Marburg rückte seinen Dreispitz zurecht und folgte dem Kapitän die Stiege hinunter zur Straße, warf dem Pferdeknecht eine kleine Münze zu und gab dem Kutscher das Handzeichen zum Aufbruch. Zusammen mit dem Kapitän bestieg er die Kutsche, in der bereits seine Frau und eine »Reisebekanntschaft mit bewegter Vergangenheit« saßen. Die Achsen und der Fond der Berline knarrten, dann warf der Kutscher den Schlag zu, und kurz darauf setzte sich das Gefährt mit einem Ruck in Bewegung. Von Marburg sah prüfend hinaus in den diesigen Nachthimmel. Es würde noch eine knappe Stunde dunkel bleiben. Doch bis Sonnenaufgang hatten sie Le Havre und das jakobinisch revolutionäre Pack, das sich »Volksvertreter« nannte, gewiss lange hinter sich gelassen. Für den Augenblick machten ihn jedoch das Rumpeln der Räder und das Schlagen der Hufe auf dem nassen Kopfsteinpflaster mehr als nervös. In den verwaisten Straßen schien alles zehnmal so laut, und die Stadtwachen, hieß es, patrouillierten auch nachts.
Fürs Erste aber blieben sie unbehelligt und erreichten die weniger dicht bebauten Ausläufer der Hafenstadt, das Kopfsteinpflaster wechselte zu grobem Schotter, der unter den Rädern knirschte, jedoch weit weniger Lärm machte, und als sie endlich auf die Straße nach Saint-Martin-du-Manoir abbogen, ließen sie die patrouillierenden Garden, ihre Nervosität und sogar Wolken und Niesel zurück. Stattdessen färbte sich der Himmel vor ihnen um die aufgehende Sonne violett-rot.
»Kaum Wind«, stellte Kapitän Hansen fest, der neben Carl Ludwig von Marburg saß, das Fenster seines Schlags geöffnet hatte und hinaussah. »Wird ein heißer Tag werden.«
Seemannsgeschwätz, dachte von Marburg und nickte nur. Ihm war nicht nach Konversation zumute. Er saß mit geradem Rücken auf den abgewetzten Sitzpolstern der Kutsche, die Hände auf seinen Gehstock gelegt, und sah ebenfalls aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Seine stattliche Erscheinung hatte in den letzten drei Wochen zusehends gelitten. Sein Backenbart war um Nuancen grauer geworden, die Augen tief liegend und die Wangen eingefallen. Er, der für seine fünfundfünfzig Jahre noch beinahe jugendlich ausgesehen hatte, ertappte sich seit Tagen immer öfter dabei, zusammengesunken und deprimiert auf einem der Stühle ihres Zimmers zu sitzen und aus dem Fenster zu starren. Nicht, weil ihn die Angst vor einem Umsturz plagte, wie ihn Frankreich seit einigen Jahren erlebte – mit schlimmen Konsequenzen gleichwohl für Adelige wie ihn –, sondern weil ihm klar geworden war, dass er sein Lebenswerk würde zurücklassen müssen, um sich und seine Frau Henriette in Sicherheit zu bringen. Und was Henriette erst allmählich bewusst wurde, das hatte sich für ihn schon seit ihrer Ankunft in Le Havre abgezeichnet: Ohne die »Friederike« und ihre Ladung war er insolvent. Seine Versicherung würde das verlorene Schiff nicht ersetzen, und wenn es ganz schlimm kam, war er auf Almosen und Protektion seines Bruders angewiesen. Ein gefundenes Fressen für den älteren der beiden Brüder. Er würde mit Häme und Vorwürfen nicht sparen, beruhte doch die ursprüngliche Abfindung, die es ihm vor knapp zwanzig Jahren ermöglicht hatte, nach Oldenburg zu übersiedeln und die »Friederike« zu erstehen, ohnehin nur auf familiärer Großzügigkeit.
Von Marburg versuchte, den Gedanken zu verdrängen und stattdessen die Chancen zu berechnen, unbehelligt durch Frankreich zu gelangen. Wenn die Behörden ihre Flucht bemerkten, würden sie ihnen Reiter nachschicken, Dragoner vermutlich, die sie zurückbringen würden, damit in einem ordentlichen Gerichtsverfahren festgestellt werden konnte, ob sie der Begünstigung des Feindes, proroyalistischer Umtriebe oder gar konterrevolutionärer Machenschaften schuldig waren. Bei seinem derzeitigen Glück würde am Ende sogar alles zusammen in der Anklage stehen. Von Marburg verzog missmutig den Mund. Konnte man ein solches Verfahren überhaupt »ordentlich« nennen? Es würde ein politisches Tribunal werden, nichts anderes. Bestenfalls unter dem Vorsitz irgendeines Commissaires des revolutionären Nationalkonvents.
Mit einem lauten »Brrr« brachte der Kutscher die Pferde zum Stehen. Hansen und von Marburg sahen sich fragend an, dann steckten sie den Kopf durch das Fenster, ein jeder auf seiner Seite. »Was zum Teufel«, begann von Marburg – dann verstummte er. Eine Rotte Dragoner versperrte die Straße. Weit früher, als er befürchtet hatte.
Einer der Reiter lenkte sein Pferd neben die Kutsche, beugte sich herab und sah in den Fond, wobei er lässig grüßte. »Wohin soll es denn gehen?«, fragte er, richtete sich auf und betrachtete das Gepäck auf dem Dach. »In die Sommerfrische?«
Von Marburg warf einen kurzen Blick auf die Uniform. Ob gut oder schlecht – es handelte sich um keinen Gemeinen, sondern einen Secondelieutenant der neuen Gendarmerie impériale, und er hoffte, dass die Reiter nicht aus Le Havre kamen. Von Marburg beschloss, es mit der Wahrheit zu versuchen, zumindest mit einem Teil davon: »Wir kommen aus Rouen«, log er in seinem besten Französisch. »Wir waren zu Besuch bei Freunden und sind nun auf dem Rückweg nach Oldenburg.«
»Oldenburg?« Der Secondelieutenant lächelte unangenehm freundlich. »Nie gehört. Wo ist das?«
»Wir sind Deutsche«, erwiderte von Marburg etwas konsterniert. Nach kurzem Überlegen erklärte er: »Das Herzogtum grenzt an das Kurfürstentum Hannover.«
»Hannover?«, fuhr ihn der Offizier an. »Dann seid Ihr mit den Engländern im Bunde!«
»Gott bewahre!«, entfuhr es von Marburg. Eine Reaktion, die so unvermittelt und entsetzt war, dass sie den Secondelieutenant belustigt auflachen ließ, aber letzten Endes von ihrer Wahrhaftigkeit überzeugte.
»Nun gut«, grinste er. »Ich will Euch glauben. Dann sagt mir, wer sind denn Eure Freunde in Rouen?«
Mit dieser Frage hatte von Marburg gerechnet, eine Antwort hatte er dennoch nicht darauf. Natürlich hatten sie keine Freunde in Rouen, aber zu sagen, dass sein aufgebrachtes Schiff in Le Havre festgehalten wurde und sie auf der Flucht vor den dortigen Behörden waren, verbat sich aus naheliegenden Gründen. Die Gendarmerie hätte sie sofort an den Vertreter des revolutionären Nationalkonvents überstellt.
»Monsieur et Madame Dubois«, sagte ihre Reisebekanntschaft. »In der Rue Saint-Sever.« Sie hatte die Augen nur zu einem Schlitz geöffnet und lehnte noch immer wie schlafend in ihrer Ecke des Sitzes. Der Secondelieutenant konnte sie vom Sattel aus nicht erkennen. Er beugte sich erneut ein wenig herab. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, und sofort ging der Dragoner die Liste der im Département gesuchten Personen durch. Er wusste, dass auch Frauen unter ihnen waren, Adlige oder Verräterinnen des Ancien Régime, Mätressen oder Bedienstete. Dann beugte sich Henriette von Marburg vor, die sich angesichts der zunehmenden Hitze des Tages mit ihrem Fächer Kühlung verschaffte. Der Secondelieutenant wischte den Gedanken an die Gesuchten beiseite und nickte zerstreut. »Soso, die Dubois’«, sagte er schließlich. Dann aber schien er es dabei belassen zu wollen und winkte sie weiter. »Seid auf der Hut, Monsieur«, sagte er zu von Marburg gewandt. »Hinter Abbeville treiben sich Briganten herum. Wenn dies Eure Route ist, so dürfte sie gefährlich werden.« Damit grüßte er und lenkte sein Pferd von der Kutsche weg.
Von Marburg atmete erleichtert aus. Das hätte schlimmer kommen können, dachte er, als ihre Equipage sich wieder in Bewegung setzte. Zumindest schien der Wirt sie nicht verraten zu haben. Und für den Hinweis auf die Briganten war er ebenfalls dankbar. Wenn er die Karte recht in Erinnerung hatte, so lag Abbeville tatsächlich auf ihrem Weg. Er wechselte einen Blick mit dem Kapitän, dessen Französisch jedoch so schlecht war, dass er kaum etwas von der Unterhaltung verstanden hatte. Als die Reiter fort waren, klopfte von Marburg mit seinem Gehstock gegen die Wand zum Kutschbock, ließ den Kutscher anhalten und besprach mit ihm, ob eine Routenänderung angezeigt wäre. Sie entschieden sich für einen kleinen Umweg.
Wenig später fuhr die kleine Gruppe weiter, die Anspannung löste sich ein wenig, und mit der Wärme des Tages, der Monotonie der Fahrt, dem Ruckeln und den Geräuschen der großen Räder legte sich Müdigkeit auf die Insassen der Kutsche. Kapitän Hansens Kopf fiel zur Seite, und leises Schnarchen ertönte aus seiner Ecke. Von Marburg verfiel wieder in die tristen Gedanken an ihre Zukunft und verfluchte sich und den Kapitän, dass sie nicht die weitere und stürmischere Route um die Orkney Inseln genommen hatten. Aber gut, sagte er sich schließlich, es war auch nicht vorhersehbar gewesen, dass die französische Fregatte ihre Neutralität missachten würde.
Natürlich lag England im Krieg mit Frankreich, seit Jahren schon. Nicht nur England, auch Österreich, Preußen, Russland und die italienischen Staaten fochten gegen die Franzosen. Koalitionen hatten sich gebildet nach der Revolution und der Ermordung König Ludwigs, Koalitionen zur Verteidigung der Monarchie.
Der Krieg hatte mit Erfolgen der Alliierten begonnen, und von Marburg, Monarchist durch und durch, war zufrieden gewesen. Es hatte den Anschein gehabt, dass die gottgewollte Ständeordnung wiederhergestellt und der chaotischen Herrschaft des gemeinen Volkes ein Ende gemacht werden würde. Dann aber war die Revolutionsarmee zur Gegenoffensive übergegangen, hatte die Niederlande, die Schweiz, die norditalienischen Staaten besetzt, sie hatte unter der Führung eines gewissen General Bonaparte die Österreicher weit zurückgedrängt und war sogar in Ägypten einmarschiert. Letzteres zum großen Verdruss der Briten. Wieder hatten die Zeitungsblätter von Erfolgen berichtet, und wieder war der Name Bonaparte gefallen. Politik, hatte Marburg gedacht. Das ging ihn nichts an, noch dazu so weit von allen deutschen Landen entfernt. Und doch hatte er plötzlich am eigenen Leibe die Macht der französischen Revolution zu spüren bekommen.
Die »Friederike« war nach Le Havre verbracht worden, wo sie unter Aufsicht mehrerer französischer Fregatten und sogar eines Linienschiffes am Binnenkai festmachen musste. Zunächst hatten der Hafenkapitän und ein ebenso schmieriger wie arroganter Vertreter des neuen Nationalkonvents den von Marburgs freigestellt, das Land zu verlassen, freilich ohne ihr Schiff. Von Marburg hatte sich geweigert und alles versucht, den Irrtum, wie er es diplomatisch nannte, aufzuklären. Ohne jeden Erfolg. Als die Situation an Bord unerträglich und kaum noch finanzierbar wurde, war von Marburg erneut zum Bürgermeister gegangen. Er wollte sein Schiff auslösen, was freilich nur mit einem Wechsel zu bewerkstelligen war. Der Bürgermeister verwies ihn auf den Commissaire des Nationalkonvents, und dieser lehnte von Marburgs Ansinnen rundheraus ab. Als er eine schriftliche Begründung forderte und damit drohte, sich in Paris beim Nationalkonvent persönlich zu beschweren, hatte der Commissaire ihm mit einer Anklage wegen Kollaboration mit dem Feind gedroht und ihn aufgefordert, den Gasthof nicht mehr zu verlassen.
Als der Freiherr eine offizielle Anklageschrift und eine Zwangsenteignungsurkunde forderte, ahnte er bereits, dass derlei Urkunden nicht im Sine des Commissaires waren. Er wurde von zwei Soldaten mit rot-weiß-blauer Kokarde am Tschako vor die Tür gesetzt. Der Vertreter des Pariser Nationalkonvents hatte ihn mit süffisantem Grinsen darauf hingewiesen, dass er sich schon sehr bald vor einem Revolutionstribunal zu verantworten haben würde und sich bis dahin zur Verfügung halten solle. Das war nicht viel weniger als eine Verhaftung, die aber zweifellos auch nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.
Wenig später in der Achterkajüte der »Friederike« hatte von Marburg die Situation mit seiner Frau und dem Kapitän, der als einziges Besatzungsmitglied an Bord geblieben war, besprochen. Dass die »Friederike« unter Missachtung des geltenden Prisenrechts und außerhalb der Küstengewässer aufgebracht worden war, dass sie unter neutraler Flagge fuhr und die Frachtpapiere als Zielhafen eindeutig Emden auswiesen – zumindest die Papiere, die er vorgezeigt hatte, denn ein Großteil war tatsächlich für E. W. Miller in Southampton bestimmt –, all das zähle in der gegenwärtigen Lage nicht, konstatierte der Kapitän. Im Gegenteil schien es nicht unmöglich, dass als Folge der Anklage die Guillotine auf Eigner und Kapitän warteten. »Die Guillotine?«, rief von Marburg aus, der seine Bestürzung kaum mehr verbergen konnte. »Diese gottlosen Barbaren!« Kopfschüttelnd trat er hinüber an das Kajütenfenster und sah hinaus. Noch immer lagen drei Fregatten und ein größeres Linienschiff mit mehr als sechzig Kanonen im Vorhafen vor Anker. Selbst wenn seine Mannschaft nicht in alle Winde zerstreut oder an Bord der französischen Kriegsschiffe dort drüben gepresst worden wäre, hätten sie keine Chance gehabt, mit dem Schiff hier herauszukommen …
Unter diesem Eindruck dauerte es nicht lange, bis von Marburg den Entschluss fasste, noch in derselben Nacht die »Friederike« und Le Havre zu verlassen. Auch wenn dies bedeutete, das Schiff und die Ladung zurückzulassen. Dass jede Art von Urkunde oder Quittung seitens der Franzosen ohnehin nichts wert wäre, machte ihm sein Kapitän noch am selben Abend klar. Er verglich dieses Papier mit den von der Revolutionsregierung herausgegebenen Assignaten, eine Art Papiergeld, das kaum einen Tag seinen Wert behielt, da es nicht eingelöst wurde.
Sie machten einen Bogen um Abbeville und die dort vermuteten Briganten, Gesetzlose, die eigentlich hier im Norden nur selten vorkamen. Es war warm geworden. Die Sonne brannte schon den ganzen Tag, hatte den Fond der Kutsche in einen Backofen und die Straße in eine Staubpiste verwandelt. Staub, der sich im Verlauf ihrer Reise auf alles und jeden legte, von den viel zu warmen Chemisenkleidern Henriette von Marburgs und ihrer Reisegefährtin Besitz ergriff, sich gierig auf den Musselin legte, auf das rosa Brustband oder die floralen Stickereien, auf die sie so stolz gewesen war, und sogar auf ihre Kapotte mit der modisch hohen Krempe und Schleife. Beide Schläge der Mietkutsche, die sie für einen horrenden Preis von Le Havre nach Oldenburg bringen sollte, besaßen Fenster zum Öffnen, ein Hauch von Luxus, ohne den es in der kleinen Fahrgastkabine nicht auszuhalten gewesen wäre. Auch so war es heiß und stickig, und der Wunsch nach dem bisschen Fahrtwind, der hereinkam, verbot es, die Fenster zu schließen, doch wann immer ihnen ein Gespann oder ein Reiter entgegenkam, fuhren sie durch den aufgewirbelten Dreck der Straße.
Carl Ludwig Freiherr von Marburg saß neben seiner Frau, die Hände auf den Gehstock gestützt, der Oberkörper bewegte sich ein wenig im schaukelnden Takt der Kutsche. Er machte sich Vorwürfe, seine Frau in diese Lage gebracht zu haben. Freilich, sie hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten, der üblichen Einsamkeit während seiner Geschäftsreisen überdrüssig. Und er hatte ihre Nähe genossen. Aber jetzt? Von Marburg tupfte sich von Zeit zu Zeit mit dem Taschentuch die Stirn, und immer wieder trat ihm der Schweiß unter der sorgfältig gepuderten Perücke hervor. Auch das gerüschte Halstuch und die helle Weste wiesen bald deutliche Spuren der langen Fahrt auf, und doch gestattete er es sich nicht, den Dreispitz oder seinen braunen Gehrock abzulegen.
Für einen Moment ruhte sein Blick nachdenklich auf ihrer Reisebekanntschaft, die gnädig den Schlaf gefunden hatte. Sie würden die Frau weiterhin beherbergen müssen. Das gebot seine Ehre, denn ihr Hab und Gut hatte sie in der französischen Hafenstadt zurücklassen müssen. Ein sonderbarer Umstand, der sie zu Schicksalsgefährten machte. Von Marburg vermutete, dass ihre Begleitung eine Königstreue war, vielleicht sogar adelig. Doch sie war verschlossen, und weder er noch seine Frau Henriette hatten insistiert.
In Gedanken war er ohnehin immer wieder bei seiner »Friederike«; eine stattliche Brigg, ein rahgetakelter Zweimaster, ein Frachtsegler, der nahezu Marburgs gesamtes Kapital verschlungen hatte und seine Lebensgrundlage war. Diese Grundlage hatten ihm nun die Franzosen genommen, und ob eine Versicherung ihm den Schaden unter diesen Umständen ersetzen würde, stand in den Sternen. Oder in den Büchern seines Kontorgehilfen Anton Dählheim.
Für einen Augenblick gingen seine Gedanken zurück zum Tag der Schiffstaufe.»Friederike« hatte er das Schiff genannt, »Friederike«, nach der viel zu früh verstorbenen Gattin des Oldenburger Regenten. Unwillkürlich beugte er sich vor und ergriff mit einem Lächeln die Hand seiner Frau. Sie hatten sich immerhin noch. Auch Henriette lächelte ihren Mann an. Sie war ein pragmatischer Mensch, sonst hätte sie den Schritt in das kaufmännische Bürgerleben mit ihm nicht gewagt. Doch sie ahnte, dass einschneidende Veränderungen in ihrem Leben anstanden.
Nach zwei Tagen erreichten sie das Fürstbistum Münster. Als sie die Ems überquert hatten und die Kutsche langsam von der Fähre rumpelte, da murmelte selbst Hansen, der seit Jahren keinen Gottesdienst auf dem Schiff abgehalten hatte, ein Dankesgebet. Auch von Marburg bekreuzigte sich. Ob sie den Franzosen entkommen waren oder ob der Commissaire es darauf angelegt hatte, dass sie flohen, konnte er nicht sagen. So ganz ohne Weiteres würde von Marburg die Jakobiner aber nicht davonkommen lassen. Denn sobald sie Oldenburg erreicht hatten, würde er um Intervention des Regenten ersuchen. Und ja, er versprach sich durchaus etwas davon. Peter Friedrich Ludwig, der Regierungsadministrator des Herzogtums, mochte sich aus familiären Gründen weigern, den Titel eines Herzogs anzunehmen. Doch er war eng verwandt mit der russischen Zarenfamilie, und das, so glaubte von Marburg, musste doch auch bei den Franzosen Gewicht haben.
Nach vier Tagen enervierender Fahrt in der Kutsche bei hochsommerlichen Temperaturen schien es den Reisenden, als würden sie allesamt einen langsamen und qualvollen Tod sterben. Die kleine Gesellschaft hatte den Oldenburger Zollposten bereits vor Stunden passiert, und Hitze, Trockenheit und Staub zehrten allzu stark an ihren Kräften. Seit einigen Stunden sprach niemand mehr ein Wort, ein jeder hing seinen Gedanken nach, ließ sich von Kutsche und Chaussee durchrütteln und erhoffte nur noch die baldige Ankunft.
Erst als gegen Abend die vagen Umrisse der Stadt Oldenburg in der Ferne Kontur annahmen, kehrten ihre Lebensgeister langsam zurück. Die versinkende Sonne überzog die Stadtwälle mit rötlichem Schein, ließ Dächer und Türme leuchten und nahm, als sie endlich durch das südliche Dammtor fuhren, auch die Hitze des Tages mit sich.
Sie hatten es geschafft, doch allzu große Erleichterung mochte sich bei von Marburg noch nicht einstellen. Wenn es ihm nicht gelang – ob mit oder ohne Protektion des Regenten –, die »Friederike« zurückzuerlangen, dann war er ruiniert.
In des Morgens stiller Frühe,
wenn aus Äther leicht gebildet
holde Träume uns umflattern,
sah ich einen schönen Engel
aus der Morgenröte langsam
sich zur Erde nieder senken,
ein Gewächs des Paradieses
in den Rosenarmen tragend,
um es in den Schoß der Erde
zu verpflanzen. Und der Engel,
auf das Kind des Paradieses
liebevolle Blicke heftend (…)
Christoph Martin Wieland: An Prinzessin Caroline von Sachsen-Weimar; Werke. Band 4, München 1964 ff., S. 68—69.
Sonntag, 16. Juni 1799, Hamburg
Es drängten sich so viele Studiosi im Gasthaus »Zum Hanseaten«, dass selbst der zur Großen Alster gelegene Biergarten keinen freien Sitzplatz mehr bot. Im Gegenteil, obwohl Kellner und Dienstboten alles an Stühlen hinausschleppten, was das Haus aufbieten konnte, waren viele der langen Biertische nicht nur umringt von sitzenden, sondern vor allem stehenden, palavernden und singenden Kandidaten und Absolventen, dazu junge Damen und reifere Herren, Letztere, um sich eingedenk ihrer eigenen Hochschulzeit unters Jungvolk zu mischen. Immer wieder erklangen Studentenlieder, »Im Schwarzen Walfisch zu Askalon« oder »Krambambuli«, meistens jedoch das »Gaudeamus igitur«, als wäre es das letzte Lied ihrer Jugend. Und vielleicht war es das auch, denn auf viele von ihnen wartete bereits jener Ernst des Lebens, für den sie jahrelang gelernt hatten.
Lasst, weil wir jung noch sind,
uns des Lebens freuen!
Denn wir kommen doch geschwind,
wie ein Pfeil durch Luft und Wind,
zu der Todten Reihen …
Gaudeamus igitur iuvenes dum sumus …1
Die Sonne brannte vom strahlend blauen Himmel, vom Hafen wehte eine leichte Brise herüber und ließ die zahllosen kleinen Wimpel über dem Biergarten – alle in den Hamburger Farben Rot und Weiß gehalten – in der Nachmittagswärme tanzen. Durch die Stadttore kamen zahllose Sommerfrischler heraus in die Vororte, die sogenannte Landlust, ein Verhalten, wie es neuerdings unter den Wohlhabenderen der Städter geläufig war. Im »Hanseaten« brummte das Geschäft. Selbst das Küchenpersonal, und dazu zählte Mariëtta Drost, musste an diesem Nachmittag der Maturitätsfeiern die jungen, übermütigen und ausgelassenen Herren mit Bier, Rundstücken und Knackwürsten versorgen. Die nicht so zahlreichen Damen wählten Tee und Rosinenbrot. Für all das war der »Hanseat« zu Recht berühmt. Freilich in diesem Durcheinander nur gegen Barzahlung. Bei Jette, so wurde Mariëtta im Allgemeinen genannt, hatte nur einer Kredit, und das war der frischgebackene Absolvent der »Handelswissenschaften sowie der Volks- und Weltwirtschaft« Johannes Friedrich von Marburg.
Bei ihrer ersten Begegnung, vor etwa zwei Jahren, an einem Wintermorgen auf dem Markt in Hamburg St. Georg, hatte von Marburg Jette noch für einen Knaben gehalten, einen jungen Mann, dem er in einem Anflug von Ehrgefühl hatte beistehen wollen – ein ungleicher Kampf, angesichts der zahlenmäßig überlegenen Gegenseite, und von Marburg verlor ihn mit einem blauen Auge und einer aufgeschlagenen Lippe. Wenige Wochen nachdem er seine Ausbildung an der Büsch-Akademie, einer Privatschule zur Ausbildung des kaufmännischen Nachwuchses, angetreten hatte, war dieser Zwischenfall kaum dazu angetan, seine geringe Meinung von Hamburg zu revidieren.
Jette war in einen dicken Mantel gehüllt gewesen, sie hatte Hosen getragen, die Haare hochgesteckt und ihr hübsches, aber schmutziges Gesicht war unter einem unförmigen Filzhut verborgen gewesen. Eine Aufmachung, in der sie offensichtlich nicht nur den jungen Studiosus täuschen konnte, sondern auch ihresgleichen. Auf dem Markt jedenfalls ging sie für ihren Bruder durch, der gewöhnlich Tuch und Stockfisch feilbot, eine Kombination, die nicht so recht florieren wollte. Der Ring, den sie an diesem Morgen aus der Auslage eines großen Marktbeschickers hatte nehmen wollen, war ihr sogleich wieder aus der Hand gerissen worden. Jemand von ihrem Aussehen, so hatte sie der Händler angefahren, würde sich ein derartiges Schmuckstück ganz gewiss nicht leisten können. Der kleine Ring war nicht von allerhöchstem Wert gewesen, ebenso wie der Charakter des Händlers übrigens, doch eines stimmte: Jette hätte ihn sich keinesfalls leisten können. Auf eine derart überhebliche Weise aber hatte sie sich auch nicht abwimmeln lassen wollen, schließlich hatte sie ihren Stolz. Dem folgenden Handgemenge – und vermutlich auch dem herbeieilenden Marktbüttel – war sie allerdings nur aufgrund von Marburgs beherztem Eingreifen entkommen. Den Händler hatte sie fortan gemieden. Nicht nur aus Angst, er könne sie trotz ihres Aufzugs erkennen. Nein, das Ringlein hatte es ihr angetan, und sie wollte nicht in Versuchung kommen. Dass es zwei Jahre dauern würde, bis jemand für sie den kleinen Silberring erstände, ahnte sie zu dieser Zeit nicht. Zumal sie nicht das geringste Interesse hatte, sich mit jungen Kerls einzulassen, schon gar nicht mit einem der jungen Herren, die Semester um Semester den »Hanseaten« bevölkerten. Die Jungen hatten nur das eine im Sinn und waren nach ein paar Monaten wieder verschwunden. Wie dieses Eine so genau vor sich ging, konnte sie nicht einmal sagen, doch sie wusste, dass man dabei eine Schwangerschaft riskierte, so, wie es ihre Vorgängerin getan hatte, und die war dafür mit dem Verlust ihrer Stellung im »Hanseaten« bestraft worden.
Auch von Marburg hatte nicht im Entferntesten gedacht, dass einmal eine Schank- oder Küchenmagd seine Aufmerksamkeit erregen könnte. Eine Woche nach ihrer ersten Begegnung hatte er Jette im »Hanseaten«wiedergesehen, einer der Büsch-Akademie am nächsten gelegenen Gastwirtschaft. Hatte er sie beim ersten Mal noch ein wenig ungläubig angesehen, so bestand auf den zweiten Blick doch kein Zweifel mehr: Ja, sie war jener Junge, für den er sich auf St. Georg Hiebe eingefangen hatte und der ebenso undankbar wie spurlos verschwunden gewesen war. Dieselbe Nase, dieselben Augen, dieselben hohen Wangenknochen, diesmal jedoch sauber, und das blonde Haar zu einem Zopf geflochten. Sie hatte in der Küchentür gestanden, im schlichten Kleid einer Schankmagd samt Schürze und Haube.
Auch sie hatte ihn längst erkannt und ein wenig erschrocken, ein wenig schüchtern, vor allem aber neugierig beobachtet. Als sich ihre Blicke kurz darauf trafen, war sie hastig zurückgewichen und zurückgekehrt zu den Töpfen, Krügen und Bechern des »Hanseaten«, die sie zu spülen hatte.
Von Marburg fühlte sich vom einen auf den anderen Augenblick besser, wesentlich besser. Sich auf ein Handgemenge unter Gassenjungen und Marktburschen einzulassen, war eine Sache. Eine dumme obendrein, wenn man unterlag. Aber sich ein blaues Auge für die Ehrenrettung einer jungen Frau einzuhandeln, das war am Ende sogar hochachtbar. Dass es nur eine Küchenmagd war, konnte man ja verschweigen …
Nach ein paar Tagen wurde ihm klar, dass er sich Jettes hübsches Gesicht nicht wie gewollt aus dem Kopf schlagen konnte, Küchenmagd hin oder her. Natürlich wollte er lernen, nur deshalb war er hier. Er hatte die »Friederike«vor Augen und das Handelskontor seines Vaters, und er wollte so schnell wie möglich seinen Abschluss erhalten, um zu beidem zurückzukehren. Denn bestand nicht der Sinn des Lebens – seines Lebens – darin, auf dem Achterdeck eines eigenen Handelsschiffes zu stehen und zu wissen, dass die Waren im Frachtraum sein Eigen waren – und auf dem heimatlichen Markt ansehnlichen Profit abwerfen würden? Hamburg mit seinen großstädtischen Verlockungen war ihm gleichgültig, und Tändeleien hatte er nicht im Sinn. Nicht hier, nicht jetzt.
So weit die hehre Absicht. Tatsächlich kam er nicht umhin, immer wieder an die Sommersprossen auf den kecken Wangen und die hellblau leuchtenden Augen des Mädchens aus dem »Hanseaten« zu denken.
»Ich muss sie wiedersehen«, stellte von Marburg nach wenigen Tagen konsterniert fest und fügte unter dem Lachen seiner vier engsten Freunde hinzu: »Aber ich kann ja kaum in die Küche gehen und ihr dort meine Aufwartung machen, oder?«
»Das wäre in der Tat Eurem Stande kaum angemessen, mein lieber Freiherr«, erwiderte Grigoleit, einer der Besonneneren der kleinen Gruppe, in gespielter Würde, nur um sachlich und mit schmalem Grinsen hinzuzufügen: »Aber was schert es dich, was das Gesinde von dir denkt?«
Nun, ganz so freimütig war Marburg dann doch nicht. Im Gegenteil, wieder und wieder fragte er sich, ob der Unterschied des Standes und der Bildung nicht doch ein ernst zu nehmender Grund sei, jeglichen romantischen Gedanken an die Küchenmagd zu verdrängen. Er war schließlich der Erbe eines bedeutenden Oldenburger Kaufmanns!
Dann aber sagte er sich, dass sein Vater weit fort war. Und den »Hanseaten« zu meiden, das kam auf keinen Fall infrage, wie er sich bei seinem nächsten Besuch und mit einem flüchtigen Blick hinüber zum Schanktresen eingestehen musste.
Er wandte sich wieder dem Blatt zu, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Am 1. Februar 1797 kapitulierte die Brückenschanze von Hüningen«, stand darin. Wo war Hüningen? »Damit stehen nach dem Fall von Kehl vor drei Wochen keine französischen Truppen mehr auf dem rechten Rheinufer.« Die »Wöchentlichen Gemeinnützigen Nachrichten von und für Hamburg« sahen darin einen Grund zum Feiern. Marburg fluchte insgeheim über den Krieg. Auch er wollte selbstverständlich keine Franzosen in deutschen Landen sehen, aber diese Streitigkeiten waren Gift und Gefahr für jegliche kaufmännischen Aktivitäten, von denen auch seines Vaters Wohlstand abhing. Er seufzte und schlug die Zeitung wieder zu. Ihm stand nicht der Sinn nach Politik. Zwei Wochen waren vergangen, seit er die junge Magd in der Tür zur Küche gesehen hatte. Zwei Wochen harter schulischer Arbeit, die es ihm leicht gemacht hatte, an wenig anderes denn die Ökonomie zu denken. Verzweifelten Widerstand leistete immer nur sein Unterbewusstsein, dem es vielleicht geschuldet war, dass von Marburg in der »Hoffmannschen Verlagsbuchhandlung«, ganz in der Nähe der »Bleichen«, am Vortag ein Buch erstanden hatte, das bei ihm zu Hause für einen kleinen Skandal gesorgt hätte. Zumindest wenn sein Vater es in die Hände bekommen hätte. Das Büchlein war ein wenig älter als von Marburg selbst, hatte aber von seinem anrüchigen Renommee in den letzten fünfundzwanzig Jahren nichts verloren. Der Goethe hatte es geschrieben, und Marburg war bereits nach wenigen Seiten klar geworden, dass die »Leiden des jungen Werther« ihm aus der Seele sprachen und gegen alle Konventionen aufbrachten, die ihn versuchen ließen, die hübsche Küchenmagd zu vergessen.
»Es ist das Gefühl, das ins Zentrum der literarischen Aussage rückt«, hatte der Verkäufer in der Verlagsbuchhandlung das Buch gepriesen. Oder vielleicht war es auch Hoffmann selber gewesen, der vor ihm gestanden hatte. »Und damit ist die Stimme des Herzens ausschlaggebend für jegliche vernünftige Entscheidung.« Hoffmann, wenn er es denn war, hatte von Marburg das Buch in eine Zeitungsseite eingeschlagen und über den Verkaufstisch geschoben. »Nun ja«, gab er zu. »Es war der große Gottfried Herder, der das gesagt hat. Ob man nun jede herrschende Moralvorstellung infrage stellen muss, vermag ich nicht zu sagen, junger Herr. Aber das Buch ist ein ganz hervorragendes.«
Marburg musste dem Buchhändler recht geben. Er hatte es innerhalb von zwei Tagen durchgelesen und konstatiert, dass er zumindest nicht wie Werther enden wollte, der sich um Mitternacht vor Heiligabend erschossen hatte, weil er seine Lotte nicht bekommen konnte. »Die Leiden des jungen Werther«, das wusste von Marburg, war die Bibel der »Sturm und Drang«-Bewegung, die das Handeln des Protagonisten als Aufruf zum Protest gegen gesellschaftliche Normen sah und gegen die Unterdrückung des Individuums rebellierte. Jugend war so, dachte er. Der Buchhändler hatte das schließlich indirekt bestätigt. Und sie war stets unterdrückt und in ihrer Entfaltung eingeschränkt. Einschränken lassen aber würde er sich nicht. Nicht mehr. Nur, war die junge Magd überhaupt noch hier in Diensten? Er hatte sie so lange nicht mehr gesehen …
Mit einem Seufzer schlug Marburg das Buch zu. Er war allein, saß in der Nähe des großen Kamins, in dem ein kleines Feuer für die notwendigste Wärme sorgte, und starrte vor sich hin. Der Becher mit verdünntem Wein stand noch immer unberührt vor ihm auf dem Tisch, ebenso wie eine kalte, lange Lesepfeife. Über die Lektüre des Büchleins hatte er schließlich um sich herum kaum noch etwas wahrgenommen, und so fuhr er ein wenig zusammen, als vor ihm plötzlich eine Mädchenstimme erklang, ein wenig schüchtern, ein wenig vorwitzig. »Was lest Ihr da, werter Herr?«
Aus seinen selbstmitleidigen Gedanken gerissen, sah er verärgert auf; doch in der nächsten Sekunde machte sein Herz einen Sprung. Es war die junge Küchendeern, wie man hier wohl sagte, die, zwei Krüge und ein Tuch in den Händen, mit dem Ellenbogen auf sein Büchlein zeigte. »Es muss außerordentlich herzbewegend sein, wenn Ihr alles um Euch herum vergesst.«
»Ja«, gab von Marburg ein wenig überrumpelt zu, »ja, allerdings, das ist es auch.«
»So sehr, dass Ihr Euren Wein darüber schal werden lasst?«, lachte sie, wenn auch ein wenig befangen.
Von Marburg war eigentlich nicht auf den Mund gefallen, jetzt aber fand er keine Antwort. Er lachte nur mit, ohne allerdings die Augen von dem Mädchen nehmen zu können.
»Um was …«, begann sie und fürchtete doch im selben Augenblick, ihre Frage nach dem Inhalt des Büchleins könne ungebührlich oder neugierig sein. Eigentlich war es ihr als Küchenmagd nicht gestattet, mehr als notwendig mit Gästen zu reden. Sie deutete einen Knicks an und wandte sich mit einem leisen »Verzeiht« ab.
»Nein!« Marburg stand eilig auf und hätte dabei fast seinen Stuhl umgestoßen. »Nein, wartet …«
Nach einem fragenden Blick in Richtung Küche wandte sich Jette wieder zu ihm um.
»Es ist der ›Werther‹«, sagte er eilig. »Habt Ihr von ihm gehört? Goethe hat ihn verfasst.« Kaum jemand hatte noch nicht von den »Leiden des jungen Werther« gehört.
Jette nickte. Gehört hatte sie wohl von der traurigen Liebesgeschichte zwischen Werther und Lotte. Gelesen hatte sie sie freilich nicht. »Ich besitze keine Bücher«, erklärte sie mit schwachem Lächeln.
»Wenn Ihr wollt, leihe ich es Euch, Fräulein …«, begann Marburg und fragte sich unvermittelt, wie sie denn wohl gerufen wurde. Jette lachte auf, ein fröhliches Lachen, das seinen Fauxpas vergessen ließ und Marburg dennoch verunsicherte. »Was …?«
»Jette«, nannte sie ihren Namen. »Aber niemand nennt mich hier Fräulein. Und jeder sagt Du zu mir.«
Natürlich, sie gehörte ja zum Küchenpersonal. Sie und ihresgleichen waren ziemlich weit unten in der Hierarchie, er selbst ziemlich weit oben. Eines Tages zumindest, und solange er zahlte. Mit dem Geld seines Vaters. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. »Darf ich Ihnen das Buch überlassen?«, wechselte er automatisch in die modernere, an der Akademie gebräuchliche Anrede. Sein Vater hätte das Mädchen in der dritten Person angesprochen. »Sie können es mir ja zurückgeben, wenn …«
»Es ist sicher zu lang für mich«, umschrieb sie die Tatsache, dass sie kaum lesen konnte. »Ich habe nicht so viel Zeit.«
Doch Marburg, der mittlerweile zu seiner alten Selbstsicherheit zurückgefunden hatte, reichte ihr das Büchlein. »Wir können es auch gerne zusammen lesen«, bot er an. »Ich könnte Sie zu einem Spaziergang abholen? Natürlich nur, wenn Ihre Eltern nichts dagegen haben.«
Wieder musste Jette lächeln. Als ob sie Zeit für einen Ausflug hätte! Wenn sie nicht im »Hanseaten« arbeitete, half sie ihrer Mutter bei den Näh- und Putzarbeiten. Dennoch stellte sie nach kurzem Zögern die Gläser ab und ließ das kleine Büchlein wie einen Schatz in die Tasche ihrer Schürze gleiten. »Ich werde es in Erwägung ziehen«, sagte sie mit keckem Unterton. Dann nahm sie die Gläser und wandte sich mit gesenktem Blick ab. Sie hatte schon viel zu lange gesäumt …
Marburg sah ihr zufrieden nach, ohne wirklich sagen zu können, was er fühlte. War er sich im ersten Augenblick noch überlegen vorgekommen, ja geradezu gönnerhaft oder zumindest »erfolgreich«, so blieben nach ihrem Fortgehen nur Herzklopfen und der Drang, Jette – nun wusste er ja ihren Namen – wiedersehen zu wollen. Goethes »Werther« bot die beste Gelegenheit dazu, und er dankte ihm inständig dafür.
Tatsächlich sahen sie sich von jenem Tag im Februar 1797 an regelmäßig. Jette und er nutzten jede der seltenen Gelegenheiten, um beisammen zu sein. Am häufigsten gelang ihnen dies in der Schankwirtschaft, in der Jette arbeitete. Sie war nicht auf den Mund gefallen, was ihm besonders an ihr gefiel. Nun, das durfte sie auch nicht sein, wenn sie im »Hanseaten« Bier ausschenkte und bediente. Ihr Hamburger Dialekt machte sie zu dem, was man hier wohl als »patente Deern« umschreiben mochte. Jettes hellblaue Augen, das hatte er bald erkannt, schienen stets vorbei an den Gästen und in die große Welt zu blicken, die für sie an den Kais des Hafens begann. Oder endete, je nachdem. Melancholie oder Fernweh, es war nur der Blick des jungen von Marburg, den sie mit einer beinahe frivolen Vorwitzigkeit erwiderte. Wenn sie zusammen waren, sog sie alles von ihm auf, seine Sprache, sein Wissen und seine Liebe für Bücher. Manchmal aber fragte sie sich, ob der Kaufmannssohn es ihr nur deshalb so angetan hatte, weil seine Eltern ein Schiff besaßen, die »Friederike«, ein Handelsfahrer. Eine Brigg mit geteilten Marsrahen, einfachen Bramrahen und Royalrahen in schwindelnder Höhe, dazu mit Bugspriet, Innen- und Außenklüverbaum und angedeuteten Geschützpforten. Als Johannes begann, ihr von dem Schiff zu erzählen, von seinen Fahrten, von Stoffen aus Ligurien, Wein aus Apulien, Olivenöl aus Griechenland oder Tuch aus Flandern, da überkam sie eine Sehnsucht, die beinahe schmerzte. Er selbst würde eines Tages darauf fahren, hatte er gesagt, so wie sein Vater es manchmal tat, wenn es galt, bei wichtigen Geschäften persönlich zugegen zu sein. Wenn ich es richtig anstelle, dachte Jette, dann kann ich eines Tages dabei sein, als seine Frau, Frau von Marburg …
Nun, das war unwahrscheinlich, als Tochter einer Näherin war sie in den Augen seiner Familie gewiss nicht die richtige Partie. Aber man durfte ja träumen. Durfte man das wirklich?
Oh, es war keineswegs die Aussicht auf Wohlstand, derenthalben sie sich mit von Marburg eingelassen hatte. Es war sein natürliches Wesen, seine offensichtliche Klugheit – schließlich studierte er ja –, seine unkomplizierte Art, ihr alles beizubringen, was sie aufnehmen konnte, und zweifellos auch seine dunkelgrünen Augen, ob sie nun durch die kleine runde Brille in die Welt sahen oder ohne. Nein, Johannes von Marburg war keiner der üblichen Kaufleute, wie sie den »Hanseaten« in Scharen aufsuchten, und wenn ihr Vater von ihrer stillen Schwärmerei gewahr geworden wäre, so hätte er sie wahrscheinlich aus ihr herausgeprügelt. Ihr Bruder tat es manchmal, wenn sie seine Sachen anzog. Oder zu wenig auf dem Markt verkaufte.
Auch sonst war von Marburg anders als die meisten Studenten. Er schien wirklich nur lernen zu wollen. Manchmal überlegte Jette, ob sie sich ihm verweigern würde, wenn er mehr wollte. Denn hatte man schon jemals gehört, dass diese Herren aus besserem Hause etwas anderes von einer Schankmagd wollten, als es mit ihr zu treiben? Bei diesem einen wäre es ihr beinahe egal gewesen, er war durchaus stattlich, mit kräftigen Schultern und wirrem, dunklem Haar. Er war groß und stets gut gekleidet, trug häufig einen blauen, eng anliegenden Marinerock, unter dem die Kragen einer Weste und des weißen Hemds bis zu den Ohren aufragten, die beigefarbene Leinenhose steckte in schwarz-braunen Stiefeln nach englischer Art, und selbst der Zweispitz, den er bevorzugte, wirkte maritim. Zwar wollte diese Kopfbedeckung nicht ganz zu einem Studenten passen, für einen Reederssohn mochte es sich freilich ziemen. Und sie war allerneueste Mode.
Allem Hohn und Spott seiner Kommilitonen zum Trotz hatte Marburg nie versucht, sie in sein Bett zu ziehen. Was Madame Prell, die Offizierswitwe, die ihm ein Zimmer vermietete, auch wohl dazu gesagt hätte? Zärtlichkeiten hatte es gegeben, das schon. Ein wenig Poussieren, denn hin und wieder waren sie ja allein auf ihren langen Spaziergängen. Weiter waren sie nie gegangen.
Es mangelte Jette nicht an Selbstvertrauen, doch manchmal, wenn sie einen Blick in den fast blinden Spiegel der Garderobe des »Hanseaten« warf, glaubte sie, dass mit ihrem Aussehen kein Staat zu machen war. Vermutlich taugte sie in diesen Kleidern nicht einmal für eines dieser kurzen, gefährlichen Abenteuer. Nun, vielleicht war das auch gut so.
Es war Johannes’ Sprache, die sie lernte, und auch das Lesen und Schreiben, das sie nur im Ansatz beherrschte. Oftmals saßen sie am Außendeich, mit Büchern, Kladde und Federkiel, im Winter dann in einem der kleinen Räume des »Hanseaten«, für den er heimlich bezahlte.
Leicht war es nicht für Jette, all das aufzunehmen, was sie für wichtig erachtete, in der wenigen Zeit, die ihnen blieb, zu lernen, zu verstehen, wenn Johannes von Politik erzählte, von Sturm und Drang und den Ereignissen jenseits ihrer eigenen Welt oder dem Tratsch im »Hanseaten«. Doch es gelang, sei es aus Verzweiflung, Liebe oder Willenskraft, denn in ihrem Leben, das von steter Armut und der Strenge eines zum Glück in die hannoverschen Armeedienste getretenen Vaters geprägt war, hatte es fortwährend andere Prioritäten gegeben. Die Literatur hätte er ihr mit dem Stock ausgetrieben. Die einzige Aussicht, dies zu ändern, lag darin, einen Mann zu heiraten. Eine erschreckende Perspektive, zumindest bis zu dem Tag, an dem sie Johannes kennenlernte.
Jette liebte es zu lernen, und sie liebte es, in Johannes’ Nähe zu sein. Hatte er sie bei ihrer ersten Begegnung tatsächlich noch für einen Jungen gehalten, so vollzog sich mit Jette im Verlauf der zwei Jahre, die Marburg nun in Hamburg war, eine so deutliche Veränderung, dass ihr im »Hanseaten« immer häufiger Avancen gemacht wurden. Freilich jene von der üblichen, rein kurzweiligen Natur, was Marburg, so oft er sich in der Gastwirtschaft aufhielt, zum Einschreiten nötigte. Doch Jette verstand sich mit ihren mittlerweile siebzehn Jahren durchaus zu wehren. Schließlich wurde sie nach Ausschank bezahlt und hatte keine Zeit für Tändeleien.
An diesem Juninachmittag der Maturitätsfeiern bekam das sogar von Marburg zu spüren, der um ihre Taille gegriffen und sie mitsamt den zwei großen Biergläsern auf seinen Schoß gezogen hatte. Schließlich hatte sie zu tun. »So eine bin ich nicht«, sagte Jette keck. »Keine wie die drüben auf St. Pauli. Wenn Ihr mich küssen wollt, Herr von und zu, dann müsst Ihr mich schon heiraten!«
Von Marburg lächelte sie an und zog sie fester an sich. »Ob ich ein Frauenzimmer mit derart losem Mundwerk heirate«, flüsterte er ihr ins Ohr, »das weiß ich noch lange nicht.« Nach einem Kuss auf die Wange ließ er sie gehen. Jette sah sich um und lachte. Aber es war nicht mehr das unbeschwerte Lachen, das er kannte. Sie beide wussten, dass ihnen ein Abschied bevorstand. Und sie beide hofften, dass er nicht für immer wäre.
»Sollte ich einmal heiraten«, sagte er leise zu sich, »dann stehst du ganz oben auf der Liste, mein Liebchen.« Er fühlte nach dem kleinen silbernen Ringlein in der Tasche, das er vor Langem schon als Abschiedsgeschenk auf dem Markt erstanden hatte. Es war noch dort und wartete auf den rechten Moment, um als Eheversprechen über Jettes Finger gesteckt zu werden. Ein Versprechen, dass er in seiner Lage nicht einmal geben konnte.
Melancholisch gestimmt löste Marburg seinen Blick von der forteilenden Jette und wandte sich seinen Kommilitonen zu, die einen Wettstreit im Biertrinken ausfochten. Für einen Augenblick hatte Marburg die Vision, dass dieser Wettstreit mit Degen und Muskete ausgetragen wurde. Nun, vielleicht war der Gedanke ein wenig sonderbar, doch wie bald konnte das geschehen? Das revolutionäre Frankreich lag mit vielen Mächten im Krieg. Napoleon, von dem man immer wieder hörte, hatte Italien besiegt, das linke Rheinufer war annektiert, die Mameluken in Ägypten geschlagen und damit die britische Vormachtstellung im Mittelmeerraum beendet. Selbst die Niederländer, deren Grenze nicht allzu weit entfernt lag, waren unterworfen worden. Seine Heimatstadt Oldenburg war noch sicher, darum fürchtete er nicht. Sie stand unter dem Schutz des Zaren. Aber aus Briefen seiner Mutter wusste er, dass das Herzogtum durch Truppendurchzüge und Einquartierungen von Hannoverschen, englischen und preußischen Truppen zu leiden hatte. Wie schnell würde es Partei ergreifen müssen? Und auf wessen Seite? Was sie an der Schule geeint hatte, würde sie dann vielleicht trennen. Er nahm seinen Bierkrug auf und betrachtete die vier, mit denen er die letzten zwei Jahre verbracht hatte. Henning Faber aus Bremen, schlank, blond, Scheitel, Nickelbrille, dichterisch veranlagt. Mit ihm verband ihn nicht nur die Nickelbrille, sondern auch die Seefahrt. Im Gegensatz zu Marburg war Faber jedoch schon bei seinem Vater, Kapitän auf einer Bark der Reederei »Johann Lange Sohn’s Wwe. & Co.«, mitgefahren. Während seiner zwei Pflichtjahre war er bis in die neu gegründeten Vereinigten Staaten gefahren.
Heinrich Jacobi kam aus dem Mecklenburgischen, er trug meistens einen weißen Schal, war jüngster von fünf Brüdern, hatte schmale Lippen und einen melancholischen Blick. Und er sympathisierte mit den Idealen der Französischen Revolution. Im Grunde lag ihm die Ökonomie nicht besonders. Sein Steckenpferd war die Geschichte, vornehmlich die des Mittelalters. Doch derlei brotlose Kunst ließ ihm sein Vater nicht durchgehen.
Franz von Auburg hingegen entstammte wie von Marburg einem alten Adelsgeschlecht – Landadel aus dem Osnabrücker Raum. Er war stämmig, hatte langes, glattes Haar und ließ keinen Händel aus. Heinrich neckte er, doch trotz aller weltanschaulichen Divergenzen waren sie unzertrennlich.
Und schließlich Jochen Grigoleit, Kaufmannssohn aus Königsberg, der Älteste unter ihnen, groß, schlaksig, ruhig. Eben ein Preuße. Wenn die Franzosen kämen, würde er sich ganz sicher freiwillig melden, um gegen sie ins Feld zu ziehen …
Grigoleit war es denn auch, der von Marburgs Trübsal als Erster bemerkte. Er wusste um die Ursache, legte den Arm auf die Schulter des Kommilitonen und beugte sich ein wenig vor. »Da hilft nur eines, mein Bester: Du musst sie heiraten und deinen Vater vor vollendete Tatsachen stellen.«
»Vollendete Tatsachen?«, prustete Faber. »Ihr seid also schon zu weit gegangen?«
»Gar nichts bin ich!«, entrüstete sich Johannes.
»So was kommt von so was«, lachte Jacobi und prostete von Marburg zu.
Der warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Unsinn!«, fuhr er seinen Freund an. »Ob oder ob nicht«, sagte er dann zu Grigoleit gewandt, »mein Vater würde mich enterben. Oder mich umbringen. Oder er verkauft mich gleich an die Engländer.« König Georg suchte immer Soldaten für die Britische Marine. Marburg sah sich um, ob nicht vielleicht Jette wieder in der Nähe war. Sie war nirgends zu sehen. »So oder so, ich kann sie nicht mitnehmen …«
»Auch dein Vater kann sich nicht gegen den neuen Geist der Zeit stemmen«, mischte sich Jacobi mit alkoholverklärter Stimme ein. »Die Französische Nationalversammlung hat den Erbadel abgeschafft und alle Adelstitel verboten. Da ist die Gräfin nicht mehr wert als deine Küchenmagd.« Er verkniff sich ein: Und das ist auch gut so! Aber jeder in der Runde wusste auch so, was Jacobi dachte. Betretenes Schweigen machte sich breit, während um sie herum das Stimmengewirr umso lauter wurde. Sie hatten zwei Jahre lang nicht gestritten, überlegte Marburg, sie würden nun damit nicht anfangen. Gewiss, Jette war eine Küchenmagd, nur eine Küchenmagd, aber sie war hübsch, sie war klug und ihr Vater war Korporal im Dienste des Hannoverschen Kurfürsten. Wenn es denn stimmte, was man sich erzählte. Und wenn er denn ihr Vater war. Jette erzählte nie etwas von ihm. Von Marburg lächelte nachdenklich. Seinen Vater aber würde das niemals überzeugen. Ein Korporal war eben kein Major.
»Wir sind aber nicht bei den vermaledeiten Franzosen«, hörte er plötzlich von Auburg sagen, leise, aber mit der Dignitas eines Grafensohnes. Entgegen Marburgs Hoffnung schien er den Affront gegen den Adel nicht unkommentiert lassen zu wollen.
»Wären wir’s nur!« Jacobi atmete tief ein. »Der Alltag im Heiligen Römischen Reich ist doch noch immer derselbe wie im Mittelalter«, sagte er voll Inbrunst. »Handwerker beugen sich den Gesetzen der Zünfte, Bauern müssen den Grundherren Abgaben leisten und die Untertanen ihren Fürsten gehorchen. Und die Leibeigenen? Ist es nach deinem Dünkel, dass sie nicht einmal ihren Brotherrn wechseln dürfen?«
»Das dürfen sie schon«, erwiderte von Auburg trocken. »Aber warum sollten sie?«
»Warum sie das sollten?«, brauste Jacobi auf und machte Anstalten, über den Tisch zu klettern, um sich auf seinen Kommilitonen zu stürzen.
Grigoleit bekam seinen Arm zu fassen und drückte Jacobi zurück auf die Bank. »Ich gebe euch beiden ja recht«, sagte er ruhig, aber bestimmt, und bemüht, das Thema in eine andere Richtung zu lenken. »In deutschen Landen gibt es doch nicht einmal etwas, das man Straße nennen könnte. Es sind bestenfalls unbefestigte Sandpisten, die von Stadt zu Stadt führen. Und jedes Königreich, Fürstentum oder Bistum kocht sein eigenes Süppchen.« Ein schwacher Versuch, denn er spürte nur zu deutlich, dass Streit in der Luft lag.
»Sandpisten, die sich nach dem ersten Regenguss in tiefen Morast verwandeln«, bestätigte Faber mit flehendem, an von Auburg gewandten Blick. »Die Heimreise wird für jeden von uns Tage dauern.«
Von Auburg winkte ab. Ihm stand nicht der Sinn nach Deeskalation. Er fühlte sich und seinen Stand gekränkt. »Dann fahr doch mit dem Schiff.«
Das werde ich, dachte Marburg für sich. Das werde ich schon sehr bald … Jetzt, nach seinem Studium, konnte sein Vater ihn nicht mehr von seinen Geschäften – und viel mehr noch von seinen Seereisen – fernhalten. Jetzt würde er sich als Mann, als Geschäftsmann, beweisen können. Jacobis wütende Stimme drang in sein Bewusstsein: »Weißt du, wie viele Zollstationen es von hier bis Mainz gibt?«
»Nein, und es interessiert mich auch nicht.«
»Weil du und deinesgleichen daran verdienen!«
Von Auburg wollte etwas sagen, doch Jacobi fuhr unbeirrt fort: »Das Leben hat sich hier doch seit Jahrhunderten nicht verändert. Wir beackern ein Stück Land wie eh und je, säen Roggen, Gerste, Weizen oder Hafer, pflanzen Kohl, Möhren und diese Kartoffeln. Viele sind sogar noch ihrem Grundherrn dienstverpflichtet und müssen die Hälfte ihrer Zeit auf dessen Feldern schuften. Es bleibt ihnen nichts, rein gar nichts. Oder vielleicht gerade genug, um die Familie durchzubringen. Ist das nach deinem Sinne?«
»Bei Gott«, brummte Marburg, »so gib doch Ruhe. Wir sind hier in Hamburg und nicht in Paris.«
»Paris!« Jacobi lachte auf und wandte sich ihm zu. »Du solltest nicht abfällig über Frankreich sprechen«, sagte er aufgebracht, aber etwas undeutlich. »Paris – mon dieu, Paris, das ist unsere Zukunft!«
»Man könnte meinen, dir steht der Sinn nach Revolution?«, sagte von Auburg lauernd. »Aber Gott bewahre, Jacobi! Wenn es so weit kommt, greife ich zur Waffe und schieße dich eigenhändig nieder!«
»Versuch es doch nur!« Jacobi schlug krachend den Becher auf den Tisch. »In Kursachsen sind die Bauern aufrührig geworden«, rief er. »Die Tage der Adelsherrschaft sind gezählt, Franz! Ihr werdet Euch umgewöhnen müssen! Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist die Losung der neuen Zeit. Der sächsische Aufstand ist nur der Anfang.«
»Immerhin haben die Franzmänner die Salzsteuer abgeschafft«, machte Faber einen schwachen Versuch zu schlichten. Doch es war zu spät. Der Alkohol und das Ende der gemeinsamen Studentenzeit, die Standesdünkel und politische Ansichten romantisch verklärt hatte, zeigten ihre Wirkung. Von Auburg griff nach dem Kragen des Kommilitonen. So viel zur Unzertrennlichkeit. Jacobi war zu betrunken für ernsthaften Widerstand, er versuchte, sich abzustützen, wobei er ein paar Bierkrüge umstieß. Schon wurden die Umstehenden aufmerksam und begannen zu jubeln angesichts des Spektakels, das ihnen in Aussicht gestellt wurde. Doch Franz von Auburg war niemand, der sich prügelte. Er ließ Jacobi los. »Ich verlange Genugtuung«, sagte er beherrscht, gerade so laut, dass der Kommilitone ihn verstehen konnte. »Pistole oder Degen. Er darf es sich aussuchen.«
»Franz … Du willst doch nicht …« Heinrich Jacobi wurde blass und wieder einigermaßen nüchtern. Sein Stolz ließ es nicht zu, dass er sich entschuldigte, und der Zeitgeist schon gar nicht. Ein Duell aber kam einem Todesurteil gleich, denn er war weder im Umgang mit der Pistole geübt noch ein guter Fechter. Ganz zweifellos war Franz von Auburg beides.
»Entschuldige dich«, hielt von Marburg dazwischen, der sich plötzlich an der Entwicklung mitschuldig fühlte. »Entschuldige dich, und Franz vergisst deinen Scherz …«
»Nein.« Von Auburg sah regungslos auf den bleichen Jacobi. »Dieser ›Scherz‹, wie du ihn nennst, lässt sich nicht verzeihen. Es ist ein Angriff auf meine Ehre. Und im Übrigen auch auf deine, von Marburg.«
Grigoleit, der bis jetzt versucht hatte abzuwägen, ob der Händel gespielt war oder ob von Auburg es ernst meinte, seufzte. Mit der Ehre trieb man nun mal keine Späße. Er trat neben Jacobi. »Ich werde Heinrich sekundieren«, sagte er ernst und unter dem Beifall der Umstehenden. »Ich hoffe, du hast keine Einwände, Franz, wenn mein …«, er überlegte, wie er Heinrich in diesem Zusammenhang nennen sollte, »… wenn mein Mandant Zeit und Ort festlegt?«
Von Auburg hatte keine Einwände.
Unvermittelt stand Jette bei ihnen. »Was ist geschehen?«, fragte sie Johannes.
»Ein Duell«, antwortete er. »Franz fordert Satisfaktion.«
»Das können Sie nicht!«, fuhr sie von Auburg an. »Sie sind Freunde!« Im Übrigen war es verboten. Doch das war eher ein theoretischer Grund.
»Misch dich nicht ein, Mädchen«, erwiderte von Auburg kühl. »Das geht dich nichts an.« Er wandte sich um und ging. »Ich erwarte deine Antwort bis morgen Mittag«, rief er, bevor er außer Hörweite war.
»Das müsst ihr ihm ausreden!«, sagte Jette aufgebracht. Als keiner der verbliebenen Freunde etwas sagte, presste sie die Lippen zusammen. »Schöne Freunde seid ihr! Auf euch kann man sich so recht verlassen!« Dann schien ihr etwas einzufallen. Sie zog ein Kuvert aus der Tasche ihrer weißen Schürze und reichte es von Marburg. »Das habe ich gerade bekommen. Einer der Eleven des ersten Jahrgangs hat den Brief für dich abgegeben.«
»Ein Brief? So eilig, dass er gebracht wird?« Von Marburg sah Jette fragend an, betrachtete ihre Sommersprossen, ihre Lippen, ihre Schultern. Er begehrte sie. Er liebte sie. Nein, er durfte sie nicht hier zurücklassen!
Und doch würde er es tun. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, um ihr den Ring zu schenken?
Als ihm bewusst wurde, dass Jette, Heinrich, Jochen und Henning ihn beobachteten, wandte er sich wieder dem Brief zu. Er war aus Oldenburg. Nicht aber sein Vater war als Absender vermerkt, sondern Peter Friedrich Ludwig hatte ihn gezeichnet, Koadjutor, also designierter Fürstbischof von Lübeck und Regierungsadministrator des Herzogtums Oldenburg.
Jette wurde gerufen, von irgendwo, und verschwand zögernd und widerwillig in der Menge. Von Marburg sah ihr nach. Ein persönliches Schreiben, fuhr es ihm durch den Kopf, war außergewöhnlich. Obwohl sein Vater mit Peter I. bekannt war. Aber aus welchem Grunde sollte er ihm direkt – und nicht über die Eltern – schreiben? Eine Gratulation etwa? Hastig brach er nun das Siegel und entfaltete das Kuvertblatt. Dann las Marburg die wenigen Zeilen, die ohne Schmuck und Umschweife auf das Wesentliche zu sprechen kamen. Schon vor der Schlussformel ließ er den Brief sinken.
»Was ist?«, fragte Faber, immer noch unter dem Eindruck des bevorstehenden Duells. »Gute Neuigkeiten?«
»Nein«, sagte von Marburg tonlos. Das Gelächter und der Gesang, das Zuprosten und Palavern, die Rufe der Dienstboten und die Geräusche der wenigen Kutschen auf der nahen Straße, all das erstarb, als er das Schreiben ein zweites Mal las. Diesmal bis zum Ende. »In Anbetracht der drängenden Umstände lasse ich Ihm dieses Schreiben durch einen Boten meiner Polizeidragoner zustellen. Der Mann wird auf Ihn warten und für Seine zügige Rückkehr nach Oldenburg Sorge tragen.«
Unschlüssig sah sich von Marburg nach Jette um, doch das Mädchen war nirgends zu sehen. »Ich …«, murmelte er abwesend, »ich muss abreisen.« Der Herr Regierungsadministrator hatte ihm eine Kutsche geschickt. Vermutlich zur Akademie. Er durfte keine Zeit verlieren.
Von Marburg warf einen kurzen Blick auf die drei verbliebenen Freunde, die verstummt waren und ihn fragend ansahen. Er trat auf sie zu, umarmte jeden Einzelnen von ihnen, wandte sich nach kurzem Zögern ab und hob im Gehen fahrig die Hand zum Gruß.
»Johannes!«, rief ihm Grigoleit nach. »Johannes, was ist?«
Doch Marburg schüttelte nur den Kopf. »Alle tot«, sagte er. Dann bahnte er sich ohne ein weiteres Wort den Weg durch die Scharen von Studenten und Sommerfrischlern. Im Eilschritt und ohne auf seine Umgebung zu achten, lief er durch die Vorstadt St. Georg, passierte das Ferdinands Thor und hastete an der Alster entlang zum »Hamburger Schul- und Arbeitshaus«, seiner Heimat in den vergangenen zwei Jahren. Tatsächlich wartete dort jemand am Eingang, doch nicht die erhoffte Kutsche, sondern zwei Pferde standen neben den Sockeln mit den Namen bedeutender Sozialpädagogen, die das Grundstück begrenzten. Von Marburg verzog den Mund. Reiten war nicht seine Passion, und ganz bestimmt nicht nach drei Krügen Starkbier. Aber wenn er am nächsten Abend in Oldenburg sein wollte, dann war eine dieser zweispännigen »Walkmühlen«, wie man die Kutschen mit Fug und Recht nennen durfte, gewiss nicht die richtige Wahl. Die Landstraßen waren schlecht und, anders als die Hauptstraßen in den großen Städten, unbefestigt.
Von Marburg begrüßte den Boten, einen Dragoner in den Oldenburger Farben, fahrig und führte ihn in die Küche des Schulgebäudes, wo die Hausmamsell noch etwas zu essen und zu trinken aus dem Fundus für die Herren Lehrkräfte fand. Derweil eilte Marburg ein paar Straßen weiter, wo er sich bei der Offizierswitwe Marianne Prell ein Zimmer genommen hatte. Er packte, was er auf dem Ritt mitnehmen konnte, und hinterließ seiner Wirtin ein paar Schillinge, damit sie ihm das restliche Gepäck nachschickte.
Kurz darauf ritten sie aus der Stadt hinaus, überquerten auf einer Fähre die Norderelbe und folgten der Landstraße nach Bremen.
Zweiundzwanzig Landmeilen lagen vor ihnen, oder – wie Heinrich Jacobi vielleicht sagen würde – hundertsechzig kilomètres, denn das war per Dekret das neue Längenmaß der Franzosen. Es würde sich nicht durchsetzen, dachte Marburg. Bei den mehr oder minder blutigen Idealen der Revolution hingegen war er sich nicht so sicher.
Ach, Jacobi … Er versuchte, an Heinrich zu denken, an den nichtigen Zwist mit Franz, der vermutlich das Fass des zweijährigen Zusammenlebens zum Überlaufen gebracht hatte. Stubenkoller. Er versuchte, an das Schicksal zu denken, das dem Kommilitonen bevorstand, wenn Franz ernst machte. Wenn Jochen Grigoleit es nicht schaffte zu vermitteln …
Marburg konnte den Gedanken nicht weiterführen. Es hatte keinen Zweck. Der Stich in seinem Magen, die Klammer um sein Herz, das betäubende Gefühl, der unbändige Wunsch zu schreien … Er konnte es kaum länger unterdrücken und ritt schneller. Schon rief der Dragoner hinter ihm her, den sein Regent, der Fürstbischof – er nannte ihn einfach so – gesandt hatte. Und er hatte recht. Wenn sie überhaupt ankommen wollten, mussten sie die Pferde schonen.
Seine Eltern, formulierte er den Gedanken endlich, seine Eltern waren tot. Marburg hatte die Vorstellung dessen, was geschehen war, verdrängen wollen, in der Hoffnung, alles würde sich als übler Streich herausstellen, als geschmacklose Posse, List eines Konkurrenten im Seehandel oder gar als Alb.
Wieder zog er das Schreiben hervor, las es, faltete es zusammen und steckte es zurück in seine Jacke. Von Marburg ließ sich zurückfallen, bis er neben dem Oldenburger ritt, einem Mann aus dem Polizeidragonerkorps des Herzogtums.
»Ihr habt gehört, was geschehen ist?«, fragte er vorsichtig.
Der Dragoner, ein Mann namens Lürssen, nickte. Er ritt in Uniform, einem dunkelblauen Rock mit rotem Kragen, roten Rabatten und weißen Knöpfen, wie es der selige Herzog seinerzeit eingeführt hatte. »Einzelheiten weiß ich natürlich nicht«, erklärte er entschuldigend, nachdem Marburg ihn auffordernd angesehen hatte. Er sprach Oldenburger Platt. »Der Herr Regierungsadministrator hat mich ja unverzüglich nach Euch ausgesandt.«
»Schon gut«, erwiderte Marburg. »Aber zweifellos wisst Ihr mehr als ich. Also, ich bitte Euch, erzählt!«
Der Dragoner rückte seinen Dreispitz zurecht, was ihm offensichtlich beim Nachdenken half, denn einige Details der betreffenden Nacht wusste er nun doch zu berichten.
»Eure Eltern«, begann er langsam, »Eure Eltern sind im Esszimmer Eures Hauses tot aufgefunden worden. Zusammen mit der Dienerschaft. Zumindest drei von ihnen. In der Nacht zu Freitag muss es passiert sein.« In dem vergeblichen Versuch zu relativieren, was geschehen war, fügte er hinzu: »Es sah aus, als wären sie ganz friedlich eingeschlafen.«
»Eingeschlafen?«, rief von Marburg ungläubig aus. »Gleichzeitig? Alle?«
»Wenn ich es doch sage. Alle starben auf die gleiche Weise.«
»Heißt das, es war Mord?«
»Muss dann ja wohl, Herr …«
»Und alle Dienstboten wurden ebenfalls …« Marburgs Vorstellungsvermögen geriet an seine Grenzen.