23 Leben - c.p.haller - E-Book

23 Leben E-Book

c.p.haller

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Beschreibung

'23 Leben' beschäftigt sich mit dem Thema, inwieweit unsere Handlungen oder Nichthandlungen Einfluss auf das Leben eines Nächsten haben. Warum läuft ein athletischer Mann in den Autoverkehr, nachdem ein sibirischer Strafgefangener einen Brief verfasst hat? Oder warum setzt eine Frau ihren Job beim Jugendamt aufs Spiel, nachdem ein Mann aus der IT-Abteilung die Rechnung im Lokal nicht bezahlt? Welche Begegnungen gibt es zwischen vermeintlich willkürlichen Ereignissen, die das eigene Leben oder die eigene Emotion existenziell bedrohen? '23 Leben' gibt uns in kurzen Sequenzen Einblick in 23 Leben verschiedener Menschen, die sich alle nacheinander berühren und teilweise lebensverändernde Entscheidungen treffen. Im zweiten Teil des Buches wird sich mit der psychologischen Frage jedes Einzelnen beschäftigt, ob der Mensch in der Lage ist, seine Muster zu durchbrechen und neue Entscheidungen zu treffen, oder ob er mit anderen Inhalten immer wieder die gleichen Erfahrungen machen wird und wieder Einfluss auf das Leben des Nächsten nimmt. Ist dies der Schmetterlingseffekt?

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Seitenzahl: 215

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für meine Tochter – Lou Malin Forndran

TEIL 1

IAndreij

Der verdreckte, ausgetretene Pfad erstreckte sich noch gute fünf Schritte vor ihm, doch er blieb stehen. Jeder Muskel seines Körpers hatte sich zusammengezogen, die Mütze mit dem dicken Fellrand nahm ihm fast die Sicht. Er blinzelte zum Horizont. Weiß traf auf helles Blau. Die Sonne ließ die Schneesteppe glitzern und ihn fast erblinden.

Er schloss kurz die Augen und folgte seinem Atmen. Die kalte Luft strömte in seine Lungen.

»Andreij.«, rief eine junge Stimme in seinem Rücken. Andreij schnaubte und rührte sich nicht. Er mochte es nicht, wenn man ihn hier draußen störte. Es war der einzige Ort, an dem er das Gefühl von Freiheit in sich heraufbeschwören konnte.

»Du hast Post!«

Andreij wandte sich um und sah am Eingang des Kiosks in hundert Meter Entfernung Igor mit einem Umschlag wedeln.

Igor war keine achtzehn Jahre alt. Und Andreij bewunderte an dem blonden drahtigen Kerl nicht das erste Mal, wie er so unerschütterlich gut gelaunt sein konnte.

Andreij spuckte aus, ging den schmalen Pfad zurück bis zur Hauptstraße und nahm die zwei schmalen Treppen hoch zum Kiosk mit einem Sprung. Er klopfte sich kurz den Schnee von den Stiefeln und riss Igor den Brief aus der Hand. Er erkannte die Schrift sofort.

Vorsichtig fuhr er mit der Hand über das Papier und steckte ihn in die Tasche.

»Du brauchst etwas auf die Rippen, mein Freund«, sagte Igor und klopfte Andreij auf die Schulter. Der Kleine drehte sich um und fuhr mit seinen Augen das Regal ab.

Der Laden maß höchstens fünf auf zehn Meter. In der Mitte stand ein selbst gezimmerter Tresen mit einer uralten Kasse. Dahinter war ein schmales dreistöckiges Regal an die Holzwand montiert, was das gesamte Sortiment des Kiosks beherbergte.

Tabak, Kerzen, Wodka, Süßes und Dosennahrung.

Links und rechts des Regals waren an der Wand unzählige Postkarten gepinnt und gaben dem Ganzen ein gemütliches Flair.

»Wie hältst du das überhaupt hier in dieser Hütte ohne Heizung aus?«, knurrte Andreij.

Igor winkte, ohne sich umzudrehen, ab und zog eine Dose aus dem untersten Fach. Er begutachtete sie zufrieden lächelnd und wischte dann mit dem Ärmel den Staub darauf ab.

»Wenn es mich friert, mache ich fünfzig Liegestütze, dann geht’s wieder.«

Igor grinste und stellte Andreij die Dose auf den Ladentisch.

»Hier.«

Andreij nickte knapp.

Igor wusste, dass er Andreij niemals ein ‚Danke‘ entlocken würde, doch er wusste auch, dass sich Andreij freute.

Mit der Dose in der Hand und dem Brief in der Tasche, verließ Andreij das kleine Geschäft und trat auf die schmale Straße, die zu den Baracken führte. Fünfundzwanzig an der Zahl. Aufgereiht wie Soldaten zum Appell. Andreij erinnerte sich, dass er selbst an Nummer 25 mitgearbeitet hatte. Sie hatten versucht so viel Dichtungsmaterial wie möglich zu unterschlagen, so dass die Kameraden wenigstens eine Chance hatten, in den Winternächten durchzuschlafen. Er selbst fand nie mehr als vier Stunden Schlaf am Stück.

Mit neun weiteren Gefangenen teilte er seine Baracke. Fünf Stockbetten standen zusammengepfercht auf engstem Raum. Manchmal konnte er den Atem seines Nachbarn spüren, so dicht standen sie beieinander. Was ihm bei seiner Ankunft als der größte Graus erschien, war ihm nun ein Segen. Die stinkenden, ausgemergelten Männer gaben warme Atemluft und Körperwärme von sich.

In den bittersten kalten Wochen schliefen sie manchmal sogar zu dritt auf den schmalen Pritschen und wechselten durch, damit jeder von ihnen einmal, eingehüllt in die Körperwärme der beiden anderen, etwas Schlaf finden konnte.

Andreij blickte auf seine Uhr, die nicht mehr am Handgelenk saß und legte den Kopf in den Nacken. Er hatte aufgehört darüber nachzudenken, wie er hier gelandet war. Er hatte aufgehört mit seinem Schicksal zu hadern und innerlich zerfressen vor Wut über die Ungerechtigkeit des Lebens zu sein. Er hatte seinen Bruder nicht getötet!

Aber das spielte keine Rolle mehr. Es war nicht mehr von Belang. Sechzig Jahre Zuchthaus.

»Sechzig Jahre.«, formten seine Lippen lautlos. Andreij seufzte.

Sein Anwalt hatte auf Notwehr plädiert, doch der Fall war heikel gewesen. Sehr heikel, aber nicht mehr als die zwei Tage, solange eben die Verhandlung gedauert hatte.

Denn das Problem war gewesen, dass sein Bruder für die Partei gelebt, ein hohes Amt innegehabt hatte und daher ein Schuldiger gefunden werden musste. Schnell. Ohne Aufsehen. Also kamen sie, holten ihn aus dem Bett und von einem Lidschlag zum anderen, war das Leben, wie er es bisher gekannt hatte, zu Ende. Noch immer spürte er die Fingerspitzen von Maja auf seiner Haut. Gedankenverloren strich er sich mit den Fingern über die Stelle an seinem linken Unterarm, wo ihre Hand auf ihm geruht hatte. Und als er da so stand, die Kälte in den Gliedern, den Kopf im Nacken, die Sonne im Gesicht und den Brief von Maja in der Tasche, ließ er auch den letzten Teil seines alten Lebens in sich los. Ließ ihn gehen.

Seine Liebe, Maja, das Geschenk seines Herzens, welches er nie wiedersehen würde.

Und plötzlich fühlte er sich ruhiger, freier.

IIMaja

Und deshalb musst du weiterleben. Ich werde dir nicht mehr schreiben. Lebe. Für dich. Für mich. Andreij.«

Maja ließ das Papier fallen und vergrub die Hände im Gesicht. Doch es kam keine Träne. Sie wollte den Schmerz spüren und die Wut, die sie seit über fünf Jahren begleitet hatte und sie wollte diese Gefühle jetzt über ihn stülpen, über diesen Brief, über dieses Beenden, doch es war nichts da. Kein Gefühl, keine Geschichte in ihrem Kopf, nur ein tiefes Wissen über das, was dieser Brief war. Sie stand auf und trat ans Fenster.

Das kleine Haus stand am Rand des Dorfes und lag ihr im Schein der frischen Morgensonne wie zu Füßen. Der Schnee schmolz auch heute weiter. Tag für Tag. Langsam, aber stetig. Sie beobachtete ihre alte Nachbarin, wie sie ihre Kuh aus dem Stall führte. Sie nahm dem Tier den Schutz aus Leder vom Euter, setzte sich auf einen Holzblock und molk. Maja zog ihren Morgenmantel noch etwas fester und steckte die Hände in die Taschen, während sie weiter nach draußen blickte. Die dünne alte Frau mit den kräftigen Armen, die jeden Tag das gleiche tat. Kuh raus. Eimer drunter. Jeden Tag. Jede Woche. Jeden Monat. Jedes Jahr.

Maja wandte sich ab. Das Fenster im Rücken, ruhte ihr Blick auf dem Brief. Das weiße Papier lag still auf dem Teppich. Die Buchstaben darauf rührten sich nicht. Die Worte waren geschrieben, waren den weiten Weg gereist und in ihr angekommen. Andreij hatte die Entscheidung schon vor Wochen getroffen, während ihr Leben einfach weiter gegangen war, wie das der Frau mit der Kuh. Jeden Tag die gleichen Gedanken, die gleiche Sehnsucht. Das gleiche Warten. Und nun waren die Worte hier, vor ihr, in ihr und alles war anders. Ihre Gedanken veränderten sich. Die Sehnsucht löste sich. Das Gefühl des Wartens verschwand. Während sie den Knoten des Morgenmantels erneut festzog, durchschritt sie den kleinen Raum und öffnete den Schrank.

Auf fünf Brettern lag ihre Kleidung akkurat gefaltet und gestapelt. Es war nicht viel, denn hier in ihrem Dorf war das eingenähte Etikett nicht wichtig. Es musste praktisch sein, robust und warm. Sie holte den Koffer unter dem Bett hervor und packte alles ein. Ihr Blick schweifte umher, ihre Hand griff nach allem, was ihr nötig vorkam. Als sie schließlich sah, dass es noch etwas Platz im Koffer gab, holte sie alle Bilder mit ihren Rahmen, die sie von sich und Andreij finden konnte und bettete sie zwischen Unterhemden und Jeans.

Danach ging sie in die kleine Nasszelle neben der Küche, wusch sich das Gesicht und die Arme, und gab sich dieser eigenartigen inneren Ruhe hin, die sich immer weiter in ihr ausbreitete. Im Spiegel sah sie, dass ihre Muskulatur entspannt war und ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen lag. Maja nahm den Bus, fuhr Kilometer um Kilometer zum nächsten Bahnhof, stieg in den Zug und war am Abend in Moskau.

Überall waren Lichter in der Dunkelheit. Abertausende Lichter, egal wohin sie sah. Sie staunte. Die Basilius Kathedrale war noch eindrucksvoller als auf den Bildern, die sie in ihren Schulbüchern studiert hatte. Sie zählte die neun Kirchtürme mit ihren großen bunten zwiebelförmigen Kuppeln und lächelte. Ein kalter Wind fegte über den großen Platz. Die Menschen um sie liefen und verschwanden, die Köpfe eingezogen und mit gebeugtem Oberkörper, in alle Richtungen in die Nacht. Sie ging noch ein paar Meter zu einer Treppe, stellte ihren Koffer ab, zog ihr letztes Brot aus der Tasche, und setzte sich.

Und als sie da saß, das Brot in der Serviette in den Händen auf ihrem Schoß, und der Wind immer stärker über dem Platz blies, fühlte sie etwas in sich, was sie nicht für möglich gehalten hatte, seit Andreij weg war. Sie fühlte sich frei.

III Juri

Wie kann sie mich einfach ignorieren? Was fällt diesem Weib ein? Er war ihr, seit sie in den Zug eingestiegen war, auf den Fersen, doch sie hatte ihn keines einzigen Blickes gewürdigt. Er hatte sich ihr schräg gegenübergesetzt. Er hatte sich extra laut mit dem Schaffner unterhalten und geflucht, als der Zug scharf abgebremst hatte, doch sie hatte die ganze Fahrt nicht ein einziges Mal den Blick gehoben. Dabei sah er verdammt gut aus. Die Frauen waren ihm alle erlegen. Wenn seine klaren blauen Augen auf einer Frau seiner Wahl ruhten und sie in diese tauchten, fingen sie alle an, nervös zu werden. Dann brauchte es nur noch ein Lächeln seiner vollen roten Lippen, welches seine strahlend weißen Zähne zum Vorschein brachte, und sie machten alles, was er wollte. Er war nur wegen ihr mit ausgestiegen, hatte sie angerempelt und sein bestes ‚Entschuldigung’ gehaucht, doch sie hatte es nicht einmal bemerkt.

Und nun saß da diese eigenartige Frau, die ihn so gar nicht wahrnahm, da drüben auf den Steinen, ganz allein und ohne Beschützer und schien mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Er war bestürzt und betört von dem Anblick. Um diese Uhrzeit sollte man unter keinen Umständen als Frau alleine hier draußen herumspazieren, doch sie schien sich nicht darum zu kümmern. Schlimmer noch, es wirkte, als wisse sie es nicht! Als ob es ihr nicht klar war, dass die Menschenhändler hier hin und wieder Patrouille liefen und Frauen wie sie aus den Zügen, die vom Land kamen, fischten, um sie zu umgarnen und mit Drogen gefügig zu machen. Nichts von dem schien sie zu wissen, so sicher wie sie da oben auf den Treppen saß und jeden Bissen ihres Brotes genoss.

Juri spürte, wie der Zorn in ihm hochkroch. Dieser gute alte Gefährte. Er kannte ihn seit seiner frühen Kindheit, wenn ihm seine Mutter den Zucker aus dem Schrank verwehrt, oder die Worte ‚warte einen Moment, du schöner Bub‘ gesprochen hatte.

In diesen jungen Kindheitstagen war er dann diesem Zorn erlegen gewesen, ohnmächtig und nicht mehr zähmbar, und er hatte so geschrien und wild um sich geschlagen, bis seine Mutter ihm das gegeben hatte, was ihm zustand. Diesen Zorn verspürte er nicht mehr oft, doch in diesem Augenblick, als er diese Frau da drüben auf den Treppen sitzen saß, ruhig und gelassen unter der hellen Laterne, da regte er sich in ihm wieder. Er versuchte sich abzulenken, atmete tief durch, zählte die Türme der beeindruckenden Basilius Kathedrale und folgte dann mit den Augen den Lichtern am Nachthimmel. Doch es wurde kaum besser. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, wann er diesen Zorn das letzte Mal so intensiv in sich gefühlt hatte, doch es war schon sehr lange her. Seit er groß genug gewesen war, um selbst die hohen Regale zu erreichen und seine Mutter aufgehört hatte, ihm Widerstand zu leisten, war er weniger geworden. Viele seiner Kameraden in der Schule hatten es ihn spüren lassen, dass sie es missbilligten, dass er keinen Vater gehabt hatte, der ihm mal ordentlich eine Tracht Prügel verpasste, doch Juri war froh darum gewesen. Er brauchte keinen weiteren Mann im Haus. Er selbst war der König. Und als sein Schopf bis zur Brust seiner Mutter gereicht hatte, hatte auch sie es begriffen und ihm nie wieder widersprochen. Aber weniger seine Größe war ausschlaggebend gewesen, sondern eher das, was einige Tage zuvor geschehen war. Seine Mutter hatte nicht gewollt, dass er ein Mädchen mit heimbrachte. ‚Du bist zu jung für die Liebe.‘, hatte sie gesagt und ihn milde angelächelt. Juri war außer sich gewesen. Er hatte getobt und geschrien und war dann aus dem Fenster gesprungen. Aus dem zweiten Stock.

Bei dem Gedanken daran, rieb sich Juri gedankenverloren den rechten Knöchel und starrte wieder auf die Frau mit dem Brot in der Hand, die immer noch entspannt auf den Steinen saß. Sie schob sich den letzten Bissen in den Mund, kaute langsam und legte dann mit geschlossenen Augen den Kopf in den Nacken. Der frische Wind ließ ihr volles dunkles Haar tanzen. Wieso wollte sie ihn nicht?! Er stand auf. Wieder spürte er diese Unruhe, dieses Tosen in sich. Der Zorn trieb ihm die Röte ins Gesicht, sein Herz pochte ihm heftig in der Brust. Er setzte sich wieder. Er brauchte ein Mädchen. Ein Mädchen, welches ihm schöne Worte flüsterte und ihm den Nacken kraulte. Und er brauchte sie schnell. Er sah auf in die Nacht. Sie war klar und rein. Die Lichter der Stadt ließen die Menschen hier nie schlafen. Eilig liefen sie umher, als wäre es mitten am Tag.

Er sprang auf und lief auf die Frau zu. Doch ehe er sie erreichte, zog er scharf nach rechts und verließ den Platz. Denn er hatte Angst. Angst, dass sie den Blick wieder nicht heben würde. Bei diesem Gedanken wich der Zorn und er spürte die blanke Verzweiflung. Er konnte dieses Gefühl nicht begreifen und stürzte blind durch die Straßen, mit der Hoffnung, es würde weichen. Doch es schwoll an, schrie in ihm, übertönte das Hupen und Bremsen der Autos, und als er nicht mehr wusste, wo er war und wann er das letzte Mal geatmet hatte, blieb er abrupt stehen und sah das Auto nicht, welches nicht mehr ausweichen konnte und ihn frontal erfasste.

IVKatharina

Die Neonröhren kreischten lautlos. Hell und erbarmungslos zeichneten sie klar jede Kontur, jeden herabhängenden Hautfetzen. Der junge Mann lag reglos vor ihr auf der Liege. Katharina schnitt ihm mit der Schere längs die Hosenbeine auf. Sie erkannte, wie trainiert dieser Mann war. Jeder Muskel des Oberschenkels spannte prall und schön unter der Haut. Sie ließ den Blick zu den Füßen wandern und was sie sah, tat ihr im Herzen weh. Mehr noch, nicht nur was sie sah, sondern das Wissen darüber, was sein würde. Katharina trat einen Schritt zurück, das Desinfektionsmittel in der Rechten, die Kompresse in der Linken und studierte die Unterschenkel. Es war ein Trümmerbruch in beiden Beinen. Die Brüche waren offen und noch nicht reponiert. Sie wusste, dass der junge Mann nie wieder schmerzfrei gehen würde können, geschweige denn Sport machen.

Sie machte den Job als Krankenschwester nun schon seit 30 Jahren und natürlich nahm man das ein oder andere mit nach Hause, doch dieser Patient rührte sie. Obwohl er einen Beatmungsschlauch im Hals hatte, war nicht zu übersehen, wie schön er war. Jung und athletisch. Schwarze lange Wimpern und dichtes, goldenes Haar. Wie kam er dazu, einfach auf die Straße zu laufen und stehen zu bleiben? Wieso wollte er sterben? Der Autoverkehr in Moskau stellte keine sichere Suizidvariante dar, auch nicht in der Nacht. Und nun lag er hier, beatmet und bewusstlos und niemand wusste, warum. Passanten hatten dem Notarzt berichtet, dass der junge Mann absichtlich in den Verkehr gerannt war, zielstrebig und schnell. Eines hatte er erreicht, sein Leben wie er es bisher gekannt hatte, war vorbei. Doch was würde nun kommen? Die Ärzte glaubten nicht, dass er je wieder aufwachen würde. Und wenn doch, war nicht davon auszugehen, dass er ohne einen Hirnschaden davonkam. Er hatte ein großes Hämatom unter der linken Schädeldecke und das drückte kritisch auf sein Gehirn. Und diese Tatsache, dass er sein Ziel, den Selbstmord nicht geschafft hatte und er nun wohl körperlich behindert weiteleben musste, und vielleicht sogar so eingeschränkt, dass er nicht einmal erneut entscheiden könnte, sein Leben zu beenden oder auch nicht – diese Tatsache erschütterte sie. Und sie konnte nicht sagen, warum.

Katharina merkte, dass sie seit einigen Minuten die Arbeit hatte ruhen lassen. Sie wusste nicht, wo sie hätte beginnen sollen. Der junge Mann war mit unzähligen Schnitten, Risswunden und Dreck übersät, und es hätte Stunden gedauert, sie alle zu reinigen. Sie hatte bisher die Beine freigelegt und es gab kein Stück Haut mehr, welches seine ursprüngliche Farbe hatte. Sie ließ ihren Blick den Körper wieder hinaufwandern und selbst die Rippenbrüche konnte man unter der gespannten Haut sehen. Der Brustkorb war verschoben und einige Knochen waren so gebrochen, dass sich die Enden unter der Haut wölbten.

Plötzlich sank sein Blutdruck. Die Apparate piepsten laut und eindringlich. Katharina sah, wie zwei Ärzte in den Raum gestürzt kamen, Atmung und Puls kontrollierten und dann eine Herzdruckmassage begannen. Weitere Menschen strömten herein, sie wurde beiseitegeschoben, fühlte die kalte Wand im Rücken. Sie verlor das Gefühl für Zeit und Raum und alles begann vor ihr zu verschwimmen. Ihre Beine gaben etwas nach. Um Halt zu finden, musste sie sich gegen die Wand drücken. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, so war es ihr noch nie ergangen. Die helfenden Hände vor ihr wurden immer hektischer in ihren Bewegungen, laute Rufe hallten durch den Raum und schnelle Beine liefen hin und her.

Und dann war es auf einmal ruhig. Die Szene vor ihr erstarb. Die Bewegungen der Ärzte und Helfer wurden langsamer. Jemand sagt knapp

»3:06 Uhr«

Dann war es totenstill. Nur einige letzte, den Raum verlassende, Schritte waren zu hören. Die Geräte waren aus. Über dem schönen jungen Mann lag ein weißes Tuch.

Katharina hatte Mühe, den Weg in die Umkleide und die Meter zum Bahnhof zu laufen. Ihr Körper war schwer wie Blei. Die Gedanken hingen wie unbewegte Klumpen in ihrem Kopf. Benommen nahm sie im Abteil den freien Platz gegenüber einem Herrn ein, und als der Zug losfuhr und sich in der Nacht verlor, spürte sie Tränen auf ihren Wangen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt geweint hatte.

VRainer

Emotional instabil, lautete Rainers Diagnose, als er von seiner Zeitung aufblickte. Er hatte am Abend zuvor einen Vortrag in Moskau über die Abwehrmechanismen von Sigmund Freud gehalten und war nun mit dem ersten Zug auf dem Weg zurück zum Flughafen, um von da die erste Maschine nach Deutschland nehmen zu können.

Er hatte sich sehr geärgert, dass ihm wieder kein Fahrer zur Verfügung gestellt wurde und er hier in aller Herrgottsfrühe durch die Gegend hetzen musste. Und nun saß er zu allem Unglück auch noch genau in dem Abteil, wo sich eine Frau ihm gegenübersetzte, die definitiv psychisch labil war! Es war zum verrückt werden. Rainer griff in die Hosentasche und zog sein Handy heraus.

»Bist du wach?«, schrieb er und ging auf ‚senden‘. Er wartete kurz, doch nichts geschah. Dieses Miststück. Er hatte ihr doch gesagt, wie früh er raus musste und dass er es gern hatte, wenn sie erreichbar war.

»Aufwachen Liebling«, tippte er. Er faltete seine Zeitung zusammen, die er noch vom Flug vom Vortag bei sich hatte, und steckte sie in seine neue Aktenledertasche von Louis Vuitton.

Die Frau ihm gegenüber weinte lautlos. Tränen liefen ihr über die Wangen, doch aus ihrer Kehle drang kein Wort. Wie sie es perfektioniert hatte, dachte er bei sich und war abgestoßen und fasziniert gleichzeitig. Die am heftigst Gestörtesten sind die, die ihre Störung dezent leben. Das hatte er unzählige Male schon in seiner Praxis auf dem Stuhl gehabt. Sie tut so, als ob sie seit Ewigkeiten nicht geweint hätte, ist aber eigentlich zu perfektioniert, sodass ihr kein Laut aus der Kehle dringt. Und dann setzt sie sich jemandem gegenüber, um zu demonstrieren, wie arg ihr Elend ist und nimmt dabei sogar in Kauf, von einem Fremden beim Weinen gesehen zu werden. Ganz großes Kino.

Rainer blickte unruhig auf sein Handy. Die Häkchen waren noch grau. Sina hatte es noch nicht gelesen. Er wählte ihre Nummer und ließ es klingeln, nichts. Sie hatte eigentlich einen leichten Schlaf, also wieso ging sie nicht ran? Vielleicht lag sie nicht allein im Bett? Er hatte sich sowieso gewundert, dass sie nicht mitgekommen war. Alle seine bisherigen Freundinnen waren immer ganz aus dem Häuschen gewesen, wenn er, Doktor der Psychologie, sie gefragt hatte, ob sie mit zu seinen Auftritten kommen wollten. Nur Sina nicht. Sie war unabhängig und stark. Und sie hatte einen eigenen Kopf. Sie war seinem Charme nicht sofort erlegen gewesen. Er hatte ganz schön an ihr graben müssen, bis sie ihn gewollt hatte. Das gefiel ihm, doch machte es ihm auch Angst. Das mochte er nicht.

»Wieso ignorierst du mich?!«, tippte er wieder. Er spürte, wie er sehr unruhig wurde. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und seine Kiefermuskulatur spannte sich an. Die Frau ihm gegenüber weinte noch immer. Du brauchst nicht glauben, dass ich darauf reagiere, dachte er bei sich. Auf solche Psychos fiel er nicht herein. Rainer merkte, dass in ihm ein starker Groll gegen die Frau anschwoll. Sie forderte ihn hier heraus mit ihrem Geheule, obwohl er echt andere Probleme hatte. Wütend drückte er auf Wahlwiederholung und ließ es klingeln, bis sich die Mailbox einschaltete. Doch er sprach nichts drauf, sondern schrieb erneut eine Nachricht

»Du hast sonst immer einen leichten Schlaf und wirst bei jedem Klingeln wach und heute nicht, wo ich einmal nicht da bin?! Bist du bei diesem Martin?«

Rainer wusste nicht wohin mit sich. In ihm brannte und tobte alles. Wieso ignorierte sie ihn?! Er hatte alles für sie getan; ihr einen Kontakt für einen Job verschafft, ihr alle seine Tricks und Kniffe im Umgang mit Menschen erklärt und das war nun der Dank! Es schüttelte ihn. Ohne ihn wäre sie eigentlich nichts. Er atmete hörbar aus und merkte, wie ihm die Hand schmerzte, die das Handy krampfhaft umklammert hielt. Er versuchte tief durchzuatmen, doch es half nichts.

»Sina, du bringst mich noch ins Grab. Wie kann dir meine Liebe und unsere Beziehung so egal sein?«, schrieb er und schickte die Nachricht fort.

Als er wieder aufblickte, sah er, dass die Frau mit den grauen kurzen Haaren aufgehört hatte zu weinen. Sie starrte durch die Scheibe und rührte sich nicht. Ha, dachte er, gewonnen! Mich bekommst du nicht klein. Er wusste, dass er sie besiegt hatte. Sie hatte ihn herausgefordert, dass er auf ihr Geheule reagierte, doch sie hatte verloren. Verloren! Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Er wusste ganz genau, was er tat und wie er die Menschen rannehmen musste. Und das würde ihm auch bei Sina noch gelingen.

»Hey Liebes. Sorry für meine SMS. Du schläfst bestimmt noch. Ich vermisse dich zu arg, da gehen die Pferde mit mir durch. Ich freue mich schon, wenn du mich am Flughafen abholst. Bis später. Dein unzähmbarer Hengst«

Dann machte er sein Handy aus und schloss die Augen.

VISina

Der Wecker gellte schrill durch die 75 m² große Altbauwohnung mit den dünnen Pappwänden, doch Sina tauchte nur langsam aus ihren Träumen auf. Sie musste sich strecken, um das Handy greifen und es zum Schweigen bringen zu können. Sie fühlte sich wie erschlagen. Langsam zog sie ihren rechten Arm wieder unter die Decke und blinzelte aus dem Fenster. Wolkenlos und klar war der Himmel da draußen. Der Himmel über München. Der Himmel über einer Stadt, die tausende Geschichten erzählte und nur ihre eigene schien stillzustehen. Seit vielen Wochen hatte sie keine heiße Story mehr in die Redaktion gebracht und sie spürte, dass ihr Chef sie absägen wollte. Er hatte sowieso nur Rainer einen Gefallen getan und sie reingeholt, obwohl er nichts von ihr und ihrem Talent gehalten hatte. Sie gähnte laut bei dem Gedanken und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Sie genoss die Wärme, sie fühlte sich geborgen und ertappte sich bei dem Wunsch, dass sie gern noch eine weitere Nacht alleine geschlafen hätte. Ohne Rainer. Als sein Bild vor ihren Augen Form annahm, schreckte sie hoch und griff nach ihrem Handy. Ihr Herz sank, als sie die Anzahl der Nachrichten und Anrufe auf dem Display sah. Der Tag war definitiv jetzt schon gelaufen. Seufzend scrollte sie durch den Chat-Verlauf und war wieder einmal auf eine eigenartige Weise bestürzt und irritiert, was sie da las. Sie konnte nicht begreifen, was an den Sätzen nicht stimmte, aber es fühlte sich nicht gut an. Naja, so war er eben. Impulsiv und leidenschaftlich.

Während Sina sich aus den Laken quälte und langsam ins Bad zum Duschen tapste, begleitete sie eine Frage. Und zwar, warum sie ohne ihn so viel besser schlief, und warum sie das Gefühl hatte, besser atmen zu können, wenn er auf seinen Vortragsreisen war. Doch sie wollte sich eigentlich nicht damit beschäftigen. Es waren Lappalien und sie tadelte sich, so arrogant und anmaßend zu sein. Und umso mehr sich diese Frage in sie brannte, umso mehr schrubbte sie die Seife auf ihrem Körper, damit sie wieder verschwand. Sie hatte genug andere Probleme. Das Wasser stand auf 41 Grad und sie spürte, wie sich ihre Härchen aufstellten. Doch sie rührte sich nicht. Genoss das Nass, welches aus der Leitung über ihren Körper strömte. Sie hätte ewig so stehen können.

Ihr Telefon läutete, als sie den Kaffeebecher aus ihrem Vollautomaten zog. Der Klingelton war nicht der von Rainer, sodass sie schnell danach griff.

»Sina, komm sofort zur Schwanthalerstraße.«, brüllte eine männliche Stimme und legte auf. Es war Hans gewesen. Der einzige Freund und Kollege, der sie mochte und sie immer wieder mit Tipps versorgte. Sie glaubte zwar, dass er ein wenig verliebt in sie war, doch gab es nie einen Annäherungsversuch von seiner Seite. Sie spürte, dass er einfach zu anständig war und es respektierte, dass sie in einer Beziehung lebte.