24 Days till Home - Alison Reese - E-Book

24 Days till Home E-Book

Alison Reese

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Beschreibung

How long does it take to heal a broken heart? Vor fünf Jahren zog Louisa für die Liebe nach New York. Nach einem Streit mit ihrem Mann fährt die junge Mutter kurzerhand nach Sugar Hill, Vermont, zurück zu ihrer Mom und den beiden Schwestern. Abstand gewinnen und über Weihnachten wieder zu sich selbst finden, das ist es, was sie will. In der verschneiten Kleinstadt mit glitzerndem Bergpanorama entdeckt Louisa neben ihrer Liebe zum Backen auch alte Freundschaften wieder. Und dann ist da noch John - witzig, unverschämt gut aussehend und der Bruder ihres Mannes. Plötzlich ist Abstand das Letzte, an das Louisa denken kann ... Lange Zeit hat John alles versucht, um Louisa zu vergessen. Doch als sie aus heiterem Himmel wieder vor ihm steht, überrollen ihn die alten Gefühle wie eine Schneelawine. Dabei ist sie seine Schwägerin und absolut tabu! Sein Kopf weiß das, aber wie soll er das seinem Herzen klarmachen? John und Louisa müssen sich entscheiden, ob sie den Mut für eine zweite Chance haben oder wieder in ihr altes Leben zurückkehren. Ein weihnachtlicher Adventskalender-Roman für alle Fans der Wohlfühl-Serie Gilmore Girls! Von alten Gefühlen, neuer Leidenschaft und der heilenden Wirkung von Heimat.

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Für dich, weil du dieses Buch liest und mich damit meinem Traum ein Stückchen näherbringst.

Playlist

The Christmas Song - The Raveonettes

Apologize - Timbaland & OneRepublic

Driving Home for Christmas - Chris Rea

Christmas (Baby Please Come Home) - Darlene Love

Christmas Memories - Loving Caliber & Jaslyn Edgar

Life is a Highway - Rascal Flatts

Magic Day - Loving Caliber, Mia Niles

Not Another Christmas Song - blink-182

You Make It Feel Like Christmas - Gwen Stefani &

Blake Shelton

Grey - Two Feet

Run Run Rudolph - Kelly Clarkson

Yesterday - The Beatles

Hometown - Sheppard

Love Me Like You - Little Mix

Let It Snow! - Frank Sinatra & B. Swanson Quartet

Wrapped in Red - Kelly Clarkson

Blue Christmas - Michael Bublé

Whiskey Glasses - Morgan Wallen

I Saw Mommy Kissing Santa Claus - The Jackson 5

Beds Are Burning - Midnight Oil

Never Say Never - The Fray

Against All Odds - Phil Collins

Love is a Bitch - Two Feet

Feels Like Home - Chantal Kreviazuk

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 1

Louisa

»Ich weiß nicht, Kat. Ich glaube, ich kann das nicht. Mit dieser Frisur fühle ich mich irgendwie nicht wie ich selbst«, murrte ich. Missmutig wischte ich mit dem Handballen über den angelaufenen Badezimmerspiegel und zupfte an den karamellblonden Haarspitzen herum, die mein Kinn in zarten Wellen umspielten. Ob ich mich jemals daran gewöhnen würde? Zeit meines Lebens hatte ich meine Haare in meinem Naturton straßenköterblond und dem liebevoll von mir getauften Haarschnitt lang getragen. Das Mutigste, was ich in der Hinsicht je gewagt hatte, waren Stufen. Der honigblonde Long Bob war einzig und allein der Verdienst meiner besten Freundin.

»Süße, genau das ist ja der Sinn der Sache! Falls du gerade im Badezimmer bist und versuchst, dir Mut anzutrinken, lass es lieber bleiben«, tönte Kats Stimme aus dem Lautsprecher des Handys. Mein Blick fiel auf das Glas Pinot neben dem Waschbecken. Verdammt! Sie kannte mich einfach zu gut.

»Du schwingst jetzt deinen hübschen Hintern in das rattenscharfe Teil, das wir vorhin gekauft haben, und dann schnappst du dir deinen Mann und lässt dich mal so richtig schön …«

»Ist ja gut! Ich hab schon verstanden!«, zischte ich in Richtung Handy, weil ich befürchtete, dass Marvin neben ihr auf der Couch saß. Augenblicklich schoss mir die Hitze ins Gesicht.

Sie musste definitiv noch üben, sich jugendfrei auszudrücken. Aber dafür hatte sie ja immerhin noch sieben Monate Zeit. Dass sie allein auf meinen fünfjährigen Sohn aufpasste, war bisher nicht oft vorgekommen. Vielleicht würde ihre überraschende Schwangerschaft nun etwas daran ändern, damit sie sich schon mal darauf gefasst machen konnte, was sie erwarten würde. Mein Blick huschte gequält zwischen dem Handy und dem roten Hauch von Nichts auf dem glänzenden Marmorwaschtisch hin und her.

»Mach schon!«, drängte Kat. Mittlerweile klang sie ein wenig genervt.

»Woher willst du wissen, dass ich es nicht schon längst trage?«

»Trägst du es?«

»Nein«, murmelte ich resigniert.

»Siehst du? Ich kenne dich einfach zu gut, Louisa.«

Ich stieß ein widerwilliges Schnauben aus und schlüpfte letztlich doch aus meinem kuscheligen Cupcake-Bademantel. Ehe ich in das luftige Spitzenteil stieg, musterte ich es noch einmal skeptisch von allen Seiten. Wie zum Henker hatte ich mich dazu überreden lassen? Kein Wunder, dass Kat im Marketing arbeitete. Sie könnte vermutlich auch einem Scheich Sand verkaufen.

»Schick mir ein Foto!«, quietschte sie aufgekratzt.

»Das kannst du so was von vergessen!«

Kat lachte auf. »Ach, Süße. Darf ich dich daran erinnern, dass du diejenige warst, die mich heute Morgen panisch angerufen hat, weil sie erst durch ein tanzendes Truthahn-GIF erfahren hat, dass heute Thanksgiving ist?«

Bei dem Gedanken an das GIF, das meine Mom mir heute früh geschickt hatte, schüttelte ich den Kopf, konnte mir ein Grinsen jedoch nicht verkneifen. Sicher hatte Soph, meine kleine Schwester, ihr bei ihrem letzten Besuch gezeigt, wie man diese verschickte – und meine Aufgabe würde es sein, ihr an Weihnachten durch die Blume zu sagen, dass ein GIF pro Tag mehr als ausreichend war. Bei dem Gedanken an Mom und Weihnachten zu Hause breitete sich ein wohlig warmes Gefühl in meiner Brust aus und ich geriet beinahe ins Schwärmen. Allerdings nur beinahe. Dank Kat.

»Hallo?« Kat riss mich aus meinen Gedanken. Ich räusperte mich, um meinen Hals von dem aufkommenden Kloß zu befreien.

»Nein, darfst du nicht!«, antwortete ich hastig. »Aber darf ich dich daran erinnern, dass du nur wegen meines panischen Anrufs festgestellt hast, dass du seit zwei Monaten überfällig bist? Also gern geschehen!«

Wie man das Ausbleiben seiner Periode über einen so langen Zeitraum hinnehmen konnte, ohne dabei stutzig zu werden, war mir immer noch ein Rätsel. Bei meiner besten Freundin sollte es mich allerdings nicht wundern. Es bestätigte nur, was ich ihr seit Monaten predigte: dass sie vollkommen überarbeitet war und dringend Urlaub brauchte. Auch wenn die Schwangerschaft ungeplant, ungewollt und überraschend für sie kam, hoffte ich, dass sie sich früher oder später über dieses kleine Wunder freuen und es ihr Leben ein wenig entschleunigen würde.

»Touché.« Ich konnte die Belustigung in ihrer Stimme hören.

»Außerdem verstehe ich nicht, was das eine mit dem anderen zu tun haben soll«, fuhr ich unbeirrt fort. »Du kannst mir lieber mal erklären, wieso ich nun wie eine gepuderte Presswurst mit neuer Frisur vor dem Spiegel stehe, obwohl ich dich nur gebeten habe, mir bei den Einkäufen für Thanksgiving zu helfen.«

»Erstens: Ich bin schockiert, dass du mich nach fünf Jahren Freundschaft gerade zum ersten Mal angelogen hast. Ehrlich gesagt bin ich schockiert, dass Louisa Carter überhaupt fähig ist zu lügen.«

Verwirrt kniff ich die Augen zusammen. Was zur Hölle …?

»Guck nicht so. Das gibt bloß Falten.«

Erneut: Was zur … Ich nahm mein Handy in die Hand und begutachtete es misstrauisch von allen Seiten. Hatte ich etwa versehentlich die Kamera angeschaltet? Nein. Da ich es mehr als beunruhigend fand, wie gut mich Kat mittlerweile kannte, nahm ich sicherheitshalber noch einen großen Schluck von meinem Wein. Vielleicht entwickelte sie in der Schwangerschaft so etwas wie Superkräfte.

»Du hast gesagt, du siehst aus wie eine Presswurst in dem Teil, was offensichtlich eine dreiste Lüge ist, da ich dich vorhin in der Umkleide gesehen habe und heilige Sch…«

»Kat!«, ermahnte ich sie.

»Beruhig dich mal. Marvin ist im Wohnzimmer und sieht fern. Ich bin ins Schlafzimmer gegangen.«

Erleichtert atmete ich auf. Nach unserer spontanen Panik-Shoppingtour hatte sie mir angeboten, heute Abend auf den Kleinen aufzupassen, damit Dean und ich – so Gott wollte – nach einer halben Ewigkeit mal wieder einen romantischen Abend zu zweit verbringen konnten. Ich hatte allerdings weder Lust, Marvin nach einem Abend bei Tante Kat schon etwas von Bienchen und Blümchen erklären zu müssen, noch ihm die wildesten Kraftausdrücke wieder abzugewöhnen.

»Zweitens«, fuhr Kat fort und griff ihre Erläuterung wieder auf, »liegt es ja wohl auf der Hand, wieso wir für Thanksgiving Dessous shoppen gegangen sind.«

Erneut zog ich die Augenbrauen zusammen, ließ dies aber sofort sein, als ich mich im Spiegel bei dieser äußerst unvorteilhaften Grimasse ertappte.

»Ich glaube, du musst mir auf die Sprünge helfen.« Verdammt, woher kamen denn jetzt die hektischen roten Flecken an meinem Dekolleté? Ich rieb über die geröteten Stellen, was das Ganze – oh Wunder – nur verschlimmerte. Wein! Ich brauchte mehr Wein, um das hier durchzustehen.

»Hallo? Thanksgiving ist definitiv der sexuellste Feiertag von allen.«

»Bitte?«, prustete ich und verschluckte mich glatt an meinem Wein.

»Na ja, der Name ist sozusagen Programm. Thanks for giving it to me … all night long«, stimmte sie in den Song von Lionel Richie ein. Spätestens jetzt konnte ich mir ein Kichern nicht mehr verkneifen. Der Wein zeigte schon Wirkung.

»Ich bezweifle, dass das der ursprüngliche Sinn dieses Feiertags ist, Kat.«

»Denkst du. In der Schule bringen sie einem einfach nur die jugendfreie Version bei. Ich sag’s dir!«

»Apropos jugendfrei. Jetzt, wo ich weiß, was dieser Feiertag bei dir bedeutet, bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich noch möchte, dass Marvin heute bei euch übernachtet«, sagte ich und gluckste.

»Entschuldige mal bitte! Für wen hältst du mich? Ich werde heute eine Ausnahme machen und meine Libido zügeln. Sie wird zwar verwirrt sein, aber dir zuliebe nehme ich das in Kauf, Süße.«

»Danke, das weiß ich zu schätzen.« Ich schüttelte lachend den Kopf, wobei mich schon wieder einzelne kurze Haarsträhnen im Gesicht kitzelten. An dieses neue Gefühl würde ich mich erst noch gewöhnen müssen. »Wirklich, Kat. Danke für deine Unterstützung. Du wirst sicher eine großartige Mutter.« Und diese Worte meinte ich genauso, wie ich sie sagte, obwohl ich wusste, dass Kat im ersten Moment alles andere als begeistert über ihren neuen Umstand gewesen war.

Kinder waren nie Teil ihres Plans gewesen. Dass ihr Freund Allec, der gleichzeitig Deans bester Freund war, ihr damit seit Beginn ihrer Beziehung in den Ohren gelegen hatte, war mir allerdings mehr als bewusst. Wann immer Kat bereit war, es ihm zu sagen, würde er Luftsprünge machen vor Freude. Zugegeben, Dean und ich hatten bei den beiden damals ein bisschen nachgeholfen und Amor gespielt. Ich weiß nicht, ob sie sonst zusammengefunden hätten. Zunächst konnte Kat ihn auf den Tod nicht ausstehen, doch irgendwann schienen die ständigen Flirtversuche dann doch gefruchtet zu haben. Und nun erwarteten die beiden ein Baby.

Einige Sekunden lang herrschte Stille am anderen Ende und ich war kurz davor, mir diesen Tag im Kalender anzustreichen, weil ich es tatsächlich geschafft hatte, Kat Nicholson die Sprache zu verschlagen.

»Ich weiß, danke«, tönte es dann selbstbewusst wie immer durch den Hörer.

Tja, zu früh gefreut. Darf ich vorstellen? Meine beste Freundin. Schlagfertig, zielstrebig und tough. Sie war einfach unverbesserlich.

Ganz im Gegensatz zu mir.

Eine Stunde später war das romantische Thanksgiving-Dinner inklusive Kerzen auf dem Tisch vollständig angerichtet, und ich wechselte zum fünften Mal meine Position, da ich Dean jeden Moment erwartete und möglichst lasziv und sexy dasitzen wollte.

Dass es einen Unterschied zwischen normal sitzen und sexy sitzen gab, hatte ich mir erst heute Mittag beim Einkaufen von Kat erklären lassen. Natürlich hatte sie darauf bestanden, mir beide Varianten am Kühlregal zu demonstrieren. Brust raus, Bauch rein, Hintern raus. Oder war es Hintern rein und Bauch raus gewesen? Nein, das klang falsch. Lippen leicht geöffnet, Augenlider halb gesenkt. Gott! Es gab so vieles zu beachten. Meine Anspannung wuchs ins Unermessliche und verknotete mir den Magen. Als würde meine Ehe von diesen Banalitäten abhängen. Lächerlich! Und doch fühlte es sich genauso an.

Bei Dean und mir lief es schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gut. Um genau zu sein lief gar nichts. Im Bett nicht und auch sonst nicht. Wenn ich morgens aufwachte, war er schon weg. Obwohl ich mir noch so sehr vornahm, abends lange genug wach zu bleiben und den letzten Kaffee um halb acht trank, schlief ich trotzdem jedes Mal ein, bevor er von der Arbeit nach Hause kam. An manchen Tagen war ich mir nicht mal mehr sicher, ob er überhaupt heimgekommen war. Nur die benutzte Sport-Trinkflasche, die ich morgens an der Spüle vorfand, und der wachsende Wäscheberg im Badezimmer verrieten es mir. Ab heute würde sich das alles ändern. Wir hatten einen Abend für uns. Nur wir zwei. Diese Abende waren so selten, seit wir nach New York gezogen waren. Seit Marvin auf der Welt war. Seit fünf verdammt langen Jahren.

Im Internet jammerten alle Mütter darüber, wie schnell die ersten Jahre mit einem kleinen Kind doch verflogen. Wenn ich an die letzten fünf Jahre mit meinem Sohn dachte, fragte ich mich auch, wo die Zeit geblieben war. Wirklich besondere Momente mit meinem Mann gab es dagegen kaum welche. Es war fast, als wäre die Zeit stehen geblieben, aber nicht im positiven Sinne, dass wir noch so verliebt waren wie am Anfang. Nein, eher wie wenn du in einen Kaugummi trittst, und du versuchst mit aller Kraft, dich von diesem Kaugummi loszureißen, um endlich weitergehen zu können. Und doch schaffst du es nicht, weil eine leise Stimme in dir flüstert, dass das einmal dein Lieblingskaugummi war und du es nicht als Last sehen solltest, an diesem Kaugummi festzukleben. Habe ich meinen Mann gerade als Kaugummi bezeichnet? Braucht es noch weitere Erklärungen zu unserer Ehe? Ich glaube nicht.

Kat hatte mir zwar bereits ihre Hilfe angeboten, als wir uns kaum gekannt hatten und Marvin noch in meinem Bauch gewesen war, doch ich hatte mich immer geziert, Hilfe anzunehmen. Ihre oder die von irgendjemand anderem. Wobei ich in New York kaum andere Kontakte hatte. Die Frauen im Geburtsvorbereitungskurs fand ich damals doof. Fast alle waren etwa zehn Jahre älter als ich gewesen und ihre Blicke ließen mich überdeutlich spüren, dass sie genau wussten, dass mein Kind ungeplant war. Und die Art, wie sie mich angesehen hatten, ließ keinen Interpretationsfreiraum, was sie davon hielten. Ich wollte keine Hilfe. Ich wollte kein Mitleid. Ich wollte es auf eigene Faust schaffen. Obwohl ich das nicht müssen sollte, allein wegen Dean. Doch seine Arbeit nahm ihn immer mehr in Beschlag. Manchmal fragte ich mich, ob er sich das nicht selbst aussuchte, um weniger zu Hause zu sein. Ich freute mich, dass es für ihn so gut lief. Auch wenn das bedeutete, dass Marvin und ich zurzeit auf der Strecke blieben.

Ich schluckte. Freute ich mich wirklich noch für ihn? Hatte ich anfangs geglaubt, dass ich in New York ebenfalls meinem Traum nachgehen könnte, wenn Marvin erst mal im Kindergarten war, war heute nicht im Entferntesten daran zu denken. Eine Großstadt war kein Ort für ein Kind. Hier würde ich ihn nie allein zur Schule laufen lassen können. Zu groß war meine ständige Sorge um ihn. Einen riesigen Freundeskreis an Müttern mit gleichaltrigen Kindern hatte ich auch nicht gerade – er ging eher gegen null.

Zudem hatte ich die letzten Monate jede freie Minute damit verbracht, mit meinem Kleinen von Arzt zu Arzt zu rennen, weil er immer schlechter aß. Zunächst dachte ich an eine Laktoseintoleranz. Der nächste Spezialist schlug vor, Weizenprodukte wegzulassen. Während meine Tage zu einem Einheitsbrei aus Sorgen verschwammen, brachte ich die Abende damit zu, meine Pinterest-Pinnwände mit Bildern von Träumen zu füttern, die vermutlich immer Träume bleiben würden. Träume von einem eigenen Café, einer Konditorei. Träume, die so bunt und rosig waren, dass sie sich irgendwann viel zu sehr von meiner grauen Realität unterschieden. Träume, von denen ich eines Abends entschied, dass sie für immer nur in meinem Kopf existieren würden.

Mit einem Mal brannte es gefährlich hinter meinen Augen. Ich versuchte das Gefühl der Enge, das sich in meiner Kehle ausbreitete, hinunterzuschlucken. Reiß dich zusammen, Louisa. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt dafür. Dieser Abend wird alles verändern! Diese Sätze wiederholte ich wie ein Mantra immer und immer wieder im Geiste. Um meine Sinne nicht noch weiter zu benebeln, schenkte ich mir sicherheitshalber ein Glas Wasser ein und trank es in drei großen Schlucken aus.

Als ich endlich ein Geräusch an der Eingangstür vernahm, fühlte es sich so an, als würde mein Magen einen Purzelbaum machen. Die halbherzig angetrunkene Sicherheit verpuffte schlagartig, um mich stocknüchtern und mit feuchten Händen zurückzulassen. Ohne ein Wort der Begrüßung betrat Dean den Essbereich. In einer Hand seine Aktentasche, in der anderen sein aufleuchtendes Smartphone.

»Was ist denn hier los?«, fragte er, während er beides auf der Marmor-Kücheninsel ablegte und sich den schwarzen langen Mantel von den Schultern streifte. Obwohl es für Ende November besorgniserregend warm draußen war, war seine dunkle Hornbrille beschlagen. Er setzte sie ab und rieb mit dem Saum seines Pullovers über die Gläser. Ich wusste nicht, ob es die überraschende Unbeholfenheit war, die er dabei ausstrahlte, aber früher hatte ich das niedlich gefunden. Früher …

Sein Tonfall war so typisch monoton, dass ich nicht sagen konnte, ob er positiv oder negativ überrascht war. Da er jedoch generell nicht viel für Überraschungen übrighatte, ging ich davon aus, dass er negativ überrascht war. Mit weichen Knien und zittrigen Knöcheln – danke, Kat, für die High-Heel-Pflicht! – wackelte ich um den großen Esstisch herum auf ihn zu.

»Hallo, schöner Fremder«, raunte ich möglichst lasziv in sein Ohr und wuschelte ihm durch die perfekt gestylten hellbraunen Haare. Irritiert blinzelte er mich an.

»Hast du was getrunken?«

Na danke! Ich verkniff mir den frustrierten Spruch, der mir auf der Zunge lag, und nahm ihm stattdessen den Mantel ab.

»Gibt es etwas zu feiern?« Seine Stimme klang nun etwas versöhnlicher, während sein Blick von der Küche zum Esstisch wanderte. Ich hatte das Gefühl, dass er so ziemlich überall hinsah, außer zu mir.

Ich nickte vielsagend, versuchte mich an einem Zwinkern und verschloss dann den Mund mit einem imaginären Schlüssel. Das hatte ich mal in irgendeinem Film gesehen. Sein Stirnrunzeln ließ mich allerdings infrage stellen, ob die Geste an dieser Stelle passend war.

»Ich … ähm … mach mich mal kurz frisch, und dann können wir ja beim Essen darüber reden, ja? Ihr müsst nicht auf mich warten. Fangt ruhig schon an.« Er drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und machte sich auf in Richtung Badezimmer.

»Marvin ist heute Abend bei Allec und Kat. Damit wir Zeit für uns haben. Aber nicht zum Reden!« Meine Stimme wurde mit jedem Schritt, den er sich von mir entfernte, lauter. »Wenn du verstehst, was ich …« Die Tür zum Badezimmer knallte ins Schloss. Meine, beendete ich den Satz im Geiste. Na, das lief ja wirklich hervorragend. Einfach nur klasse.

Einen Augenblick später erklang das Rauschen unserer ach so tollen überdimensional großen Regendusche, die für Dean bei der Wohnungssuche im Sommer so ausschlaggebend gewesen war, dass sie sogar das Argument der weiteren Entfernung zu Marvins Kindergarten ausstach. Er hatte sich regelrecht den Mund fusselig geredet, um mich für die Wohnung zu begeistern. Erfolglos. Einen Monat später waren wir trotzdem eingezogen.

Ein verächtliches Schnauben entwich mir bei dem Gedanken an diese Farce. Das war so typisch für ihn. Damit hatte er mir wieder einmal gezeigt, wer am längeren Hebel saß. Nämlich derjenige, der das Geld nach Hause brachte. Ich wusste nicht, wo wir falsch abgebogen waren, aber seit wir in dieser perfekten, viel zu großen Penthouse-Wohnung im sechzehnten Stock eines Wolkenkratzers wohnten, fühlte sich jeder Tag einfach falsch an. Zumindest für mich. Als würde ich mich weiter und weiter von dem Leben entfernen, das ich mir ursprünglich erträumt hatte. Als würde ich mich immer weiter von mir selbst entfernen.

Mein Blick fiel auf das Schokoladensoufflé neben dem Herd. Gedankenverloren griff ich nach einem Löffel und tauchte ihn in den dunklen Teig. Die Geschmacksexplosion verlangsamte meinen Puls schlagartig auf eine annehmbare Geschwindigkeit. Auch wenn ich gelernte Konditorin im Zwangsruhestand war, hatte ich es verdammt noch mal immer noch drauf!

Ich würde mit Dean reden müssen. Selbst wenn Kat mir für diesen Abend Redeverbot erteilt hatte, wollte ich mich erst mit ihm aussprechen. Anders konnte bei mir gar keine Stimmung aufkommen. Keine Chance. Wir würden essen und reden und beide einer Meinung sein, dass im Moment irgendwie so einiges bei uns schieflief. Und dann würden wir darauf anstoßen, dass wir uns beide bessern wollten, und dann würden wir uns lieben.

»All night long«, sang ich leise vor mich hin. Dieser verdammte Ohrwurm, den ich dank Kat hatte, machte mich schier wahnsinnig.

Ertappt schreckte ich hoch, als sich die Badezimmertür geräuschvoll öffnete und in der nächsten Sekunde energische Schritte auf dem Holzboden zu hören waren. Als ich mich umdrehte, erblickte ich Dean mit nichts als einem Handtuch um die schlanken Hüften geschlungen. Seine blasse Haut wies hier und da ein paar rote Flecken vom heißen Wasser auf und unzählige Tropfen rannen seinen drahtigen Oberkörper hinunter. Er war gut in Form. Sehr gut sogar. Das konnte man nicht leugnen. Und doch strahlte er in dieser Sekunde eine solche Härte aus, bei der ich mich fragte, wie ich sie jemals attraktiv finden konnte. Ich versuchte, diese verwirrenden Gedanken fortzuwischen. Es war einfach lange her, dass ich ihn so zu Gesicht bekommen hatte.

»Oh, Dean«, säuselte ich, »ich hatte ja keine Ahnung, dass du es so eilig hast.«

»Ich auch nicht«, erwiderte er. Irgendetwas in seinem Tonfall sorgte dafür, dass sich meine Armhärchen aufstellten. Die knisternde Kälte, die mit diesen drei Worten zu mir herüberschwappte, fühlte sich an wie eine Welle aus Reißzwecken. Ganz ruhig, Louisa. Ihr seid eingerostet. Ihr müsst euch nur wieder aneinander gewöhnen. Das ist alles.

Ich kam um die Kücheninsel herum und löste im Gehen die Schleife meines weinroten Wickelkleids. Erst jetzt, wo ich nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, bemerkte ich, dass er komplett nass war. Seine nackten Füße hatten eine feucht glänzende Spur auf dem Holzboden hinterlassen und er wirkte angespannt. Mehr als das. Er war völlig außer sich. Seine Brust bebte förmlich. Die eine Hand krampfte um das Handtuch an seiner Mitte, die andere Hand hielt etwas Kleines in der Hand. Etwas Längliches. War das ein …?

»Dean, was …«

»Ich hatte verdammt noch mal auch keine Ahnung, dass du es so eilig hast, noch ein Kind zu bekommen, Louisa!«, blaffte er lauthals.

»W-was? Nein, du …« Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Was zur Hölle redete er da?

Demonstrativ wedelte er mit dem Teststreifen vor meiner Nase herum. »Ich habe den Schwangerschaftstest im Badezimmer unter dem Schrank gefunden!«

Verdammt, Kat musste heute Vormittag einen ihrer zehn Schwangerschaftstests hier vergessen haben, und mir war es nicht einmal aufgefallen, als ich vorhin Stunden im Bad zugebracht hatte. Wie hatte ich den bloß übersehen können?

»Ich finde, wir haben sehr wohl Redebedarf! Verdammt, Louisa. Wie kannst du nur … Das passt jetzt so gar nicht. Ich wusste nicht mal, dass du überhaupt noch ein Kind willst. Ich dachte, eins wäre mehr als genug!«

Mein Mund klappte auf. »Das hast du jetzt gerade nicht gesagt, oder?«

»Was?«, entgegnete er harsch.

»Du hast gerade gesagt, dass ein Kind mehr als genug ist«, wiederholte ich seinen Satz mit belegter Stimme.

»Was ist falsch daran? Wir haben ein Kind und das reicht mir. Dir nicht?«

Hatte sich das Blut in der einen Sekunde so angefühlt, als würde es mir in den Adern gefrieren, brodelte es nun kochend heiß und rauschte in meinen Ohren.

»O doch, Dean! Mir reicht es auch, und zwar mit dir!«, platzte es aus mir heraus, während ich den Zeigefinger in seinen nackten Oberkörper bohrte.

»Dir reicht es mit mir?«, wiederholte er ungläubig, mindestens genauso laut. »Du setzt heimlich die Pille ab und hängst mir noch ein Kind an, und ich soll der Böse sein?«

Das konnte nicht sein verdammter Ernst sein! »Rede nicht mit mir, als wäre ich eine billige Affäre, die dir ein Kind anhängt, um dich an sich zu binden! Warum sollte ich so etwas tun? Falls du es vergessen hast, wir sind bereits aneinander gebunden. Wir sind verheiratet!« Ich wedelte mit der rechten Hand vor seinem Gesicht herum, an dessen Ringfinger mein Ehering schlackerte. Nach all den Jahren hatten wir es immer noch nicht geschafft, dieses verdammte Ding enger machen zu lassen.

Für den Bruchteil einer Sekunde zuckte sein Blick zu meiner Hand, dann nach unten. Zu meinen Brüsten! Ich folgte seinen Augen. Im Eifer des Gefechts war mein Wickelkleid vollständig aufgegangen. Ohne hinzusehen, griff ich nach den Schnüren des Kleids und zog sie so energisch zu, dass sich eine Schnur verabschiedete und abriss. Verdammte Hacke! Hektisch versuchte ich, das Kleid so gut es ging zuzuhalten. Deans stahlgraue Augen trafen wieder auf meine.

»Vielleicht, weil du Angst hast, mich zu verlieren?«, tönte er aufbrausend.

Ein schrilles Lachen entfuhr mir. Das wurde ja immer besser. »Sollte ich das denn?«

Er zuckte mit den Schultern, was in dieser Situation einfach nur kindisch wirkte.

»Das ist so lächerlich«, schnaubte ich.

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ich bin lächerlich? Wer hat denn im Alleingang entschieden, dass wir ein Kind bekommen sollten? Schon wieder!«

»Ich nicht!«, schrie ich zurück.

»Was meinst du damit?«

»Ich bin nicht …«, brüllte ich und unterbrach mich im letzten Moment. Meine Brust hob und senkte sich schnell.

»Nicht was?«

»Schwanger. Ich bin nicht schwanger«, sagte ich nun wesentlich leiser.

»Was?« Seine Augen funkelten auf wie die eines Pumas in tiefschwarzer Nacht. Ich biss die Zähne fest zusammen und wiederholte bemüht beherrscht: »Ich bin nicht schwanger. Der Test war von Kat. Sie ist schwanger. Nicht ich.«

Deans Blick zuckte nervös hin und her, als bräuchte er einen Moment, um meine Worte zu verarbeiten. »Kat … nicht du?«, wiederholte er langsam. Ich nickte stumm. Mit einem Mal war alles ruhig in der Wohnung. Es war nicht wie die Ruhe nach einer Schlacht. Die Ruhe, die einen erlöste. Bei der man aufatmen konnte, weil man wusste, dass man das Schlimmste überstanden hatte. Nein, diese Ruhe, die gerade zwischen uns herrschte, knisterte und knackste förmlich vor Spannung. Es war wie die Ruhe zwischen zwei Blitzeinschlägen bei einem Gewitter. Man wusste, dass ein nächster Schlag kommen würde, aber man wusste nie, wann und mit welcher Wucht. Ich ahnte jedoch bereits, dass Deans nächster Blitz lauter und kraftvoller als jeder andere zuvor bei mir einschlagen würde. Oh, wie ich Gewitter hasste.

»Gut«, sagte er knapp. Dann sah er geschäftig über meine Schulter zum Esstisch. »Wollen wir dann essen? Wo ist Marvin eigentlich?«

Dieser Punkt war es. Genau dieser Punkt ließ bei mir die Sicherungen durchbrennen. Dieser eine Satz verkörperte alles, was bei uns schieflief. Alles, was ich hasste. An uns. An ihm. Dass er mir nie zuhörte, dass er nie da war. Nicht für Marvin und nicht für mich. Dass ihn scheinbar alles kaltließ. Dass er Probleme lieber ignorierte, anstatt über sie zu sprechen.

Aus Angst vor dem Sturz hatte ich das alles hingenommen, doch damit war nun Schluss. Lieber rannte ich ins offene Messer, als noch einen Tag länger in meinem goldenen Käfig umherzuflattern, nur um doch wieder auf Gitterstäbe zu treffen. Denn, machen wir uns nichts vor, selbst das luxuriöseste Gefängnis ist und bleibt ein Gefängnis.

»Raus«, presste ich tonlos hervor. Es kostete mich alle Mühe, dieses kleine Wort nicht aus tiefster Kehle zu brüllen.

Er lachte auf. »Was?«

»Raus!«, brüllte ich nun doch und deutete mit beiden Händen in Richtung Wohnungstür. Dass sich mein Kleid dabei wieder verabschiedete und die uneingeschränkte Sicht auf das bescheuerte neue Dessous darunter freigab, war mir in dem Moment so was von egal.

»Du weißt schon, dass die Wohnung auf meinen Namen läuft, oder?«, sagte er mit einem leicht süffisanten Lächeln auf den Lippen. Mein Mund klappte auf. Und wieder zu. Jedes Mal, wenn ich glaubte, er hätte den Vogel bereits abgeschossen, setzte er tatsächlich noch einen drauf.

»Schön, dann gehe ich eben. Hauptsache, ich muss dich nicht mehr sehen!«

»Ich dachte, das wäre es, was du die ganze Zeit wolltest? Du beschwerst dich doch immer, dass ich kaum zu Hause wäre!«

»Da wusste ich aber noch nicht, dass mein Ehemann ein komplettes Arschloch geworden ist!«

»Findest du das nicht ein bisschen …«

»Ein bisschen was?«, schrie ich und schnitt ihm das Wort ab. »Ich mein’s ernst, Dean! Hörst du dir eigentlich manchmal selbst zu? Mir scheinst du jedenfalls nicht zuzuhören. Ich habe dir nämlich vorhin gesagt, dass Marvin bei Allec und Kat ist!«

»Darum geht es dir? Du tickst gerade ernsthaft so aus, weil ich dir einmal nicht zugehört habe?«

»Nein! Ich ticke gerade so aus, weil du mir nie zuhörst! Wie könntest du auch, wenn du kaum zu Hause bist?«

»Entschuldige, dass ich so hart arbeite, um meiner Frau dieses luxuriöse Leben zu ermöglichen.« Er machte eine allumfassende Handbewegung.

»Entschuldigung nicht angenommen! Ich habe dich verdammt noch mal nie um dieses Leben gebeten!«

»Ach nein?«

»Nein!«

»Ich habe dich auch nicht darum gebeten, mit neunzehn schon Vater zu werden! Scheiße, ich habe dich nicht mal darum gebeten, mit nach New York zu kommen!« Energisch fuhr er sich durch die feuchten Haare, bis sie zu allen Seiten abstanden, und wandte sich von mir ab. Und das war der Moment, in dem ich spürte, wie tief in mir etwas zerbrach.

»Das ist nicht fair, Dean«, flüsterte ich mit zittriger Stimme.

»Ich weiß«, entgegnete er mit kratziger Stimme, das Gesicht in seinen Händen vergraben.

»Du hast mich gebeten, mit dir nach New York zu kommen.«

Dean blickte hinter seinen Händen hervor und in seinem Blick konnte ich all den Schmerz sehen, den auch ich fühlte. »Habe ich?«

»Ja«, krächzte ich ein wenig unsicher.

Er drehte sich wieder zu mir und sah mich an. Seine stahlgrauen Augen waren glasig und kündigten den letzten Blitz an. Den Blitz, der mich bis ins Mark traf und mir gänzlich den Rest gab. »Vielleicht war das ein Fehler.«

Ich schluckte hart, doch der bittere Geschmack in meinem Mund blieb. »Ja … vielleicht war es das.«

Eine unendliche Sekunde lang starrten wir uns einfach nur an. Angespannt, verzweifelt, ängstlich. Was hatten wir nur getan? Dean sah an sich hinunter und schien erst jetzt zu bemerken, dass er noch immer nur in einem Handtuch vor mir stand. Auch mir wurde meine Nacktheit in diesem Moment wieder bewusst. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinem gesamten Körper aus, während ich abermals versuchte, mein Wickelkleid mit den Überresten des zerrissenen Bands zuzuknoten. Dass wir diesen Streit bei so viel nackter Haut geführt hatten, machte es für mich nur schlimmer. Kein Schutzpanzer, in dem man sich einhüllen konnte. Wir waren in unserer pursten Art gegenübergetreten. Rein. Verletzlich. Mir war vorher nicht bewusst gewesen, dass man sich verletzbarer fühlte, wenn man sich halb nackt anschrie. In Filmen kam dann der Versöhnungssex. Dass es in der Realität manchmal anders aussah, sagte einem vorher niemand.

Mein Atem ging schwer und ich war erschöpft. Von diesem Streit und von allem anderen zuvor. Am liebsten hätte ich meine Hand nach Dean ausgestreckt und ihn gebeten, mich zu halten, doch es ging nicht. Etwas in mir sträubte sich dagegen. Vielleicht mein Herz?

Er räusperte sich und kehrte mir wortlos den Rücken zu. Hellbraune Sommersprossen zierten seine blasse Haut, als er sich von mir entfernte, Richtung Schlafzimmer ging und mich allein in der Küche zurückließ. Wie eine Schlafwandlerin taumelte ich langsam zum Ofen, schaltete ihn aus und holte den Braten heraus, der noch immer vor sich hin schmorte. Ein leicht verbrannter Geruch stieg mir in die Nase. Normalerweise hätte ich mich darüber geärgert, doch jetzt stellte ich es vollkommen wertfrei fest.

Aus dem Schlafzimmer hörte ich, wie Deans Handtuch zu Boden fiel, sich die Schranktür öffnete und wieder schloss. Schnell und energisch. Ich stand mit dem Rücken zu ihm, als ich ihn zurück in die offene Küche kommen hörte. War nicht fähig, ihn anzusehen. Seinen Blick spürte ich jedoch überdeutlich auf mir. Heiße Tränen füllten meine Augen, als ich unser unbenutztes Geschirr wegräumte und einen Blick auf das Fenster über der Spüle riskierte, ohne meinen Kopf zu heben. Ich hatte recht, er sah mich an. Kurz öffnete er den Mund, schloss ihn wieder, schnappte sich seinen Mantel und die Schuhe und verließ damit die Wohnung.

Kapitel 2

Louisa

In der Sekunde, in der Dean die Wohnung verlassen hatte, legte sich ein Schalter in meinem Inneren um. Plötzlich sah ich die Lösung ganz deutlich vor mir. Ich musste hier weg! Keine Sekunde länger würde ich es in diesem goldenen Käfig aushalten. Während ich den großen Koffer unter dem Kingsize-Bett hervorzog, um wahllos irgendwelche Klamotten aus meinem Kleiderschrank zu zerren und sie in den Koffer zu stopfen, fragte ich mich, wie ich es überhaupt jemals so lange in dieser Welt hatte aushalten können. In einer Welt, die offensichtlich nicht meine war.

Als Nächstes schnappte ich mir Deans Sporttasche, kippte den Inhalt fluchend an Ort und Stelle aus und hastete in Marvins Zimmer. Marvin! Verdammt, er war noch bei Kat.

Für einen Moment hielt ich inne und biss mir auf die Unterlippe. Ob ich um diese Uhrzeit noch bei Kat und Allec antanzen konnte, um meinen Sohn abzuholen? Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass wir gerade mal halb zehn hatten. Ach ja, richtig. Das geplante romantische Dinner mit anschließendem Versöhnungssex war in einem riesigen Streit ausgeartet, noch bevor überhaupt an die Vorspeise zu denken war. Schmerzerfüllt verzog ich das Gesicht. Meine Miene veränderte sich schlagartig, als eine Nachricht von Mom mein Display erhellte:

Hallo, Spatz, ich hoffe, du hattest ein schönes Thanksgiving. Ich freue mich schon darauf, wenn ihr in zwei Wochen anreist. Das wird bestimmt das beste Weihnachten aller Zeiten!

Meine Augen füllten sich mit dicken Tränen, mein Herz zog sich zusammen. Das beste Weihnachten aller Zeiten …

Ach, Mom. Wenn du nur wüsstest, wie weit ich in dieser Sekunde davon entfernt bin, das beste Weihnachten aller Zeiten zu haben.

Wie ferngesteuert packte ich Marvins und meine Tasche fertig und stellte sie im Eingangsbereich ab. Neben der Wohnungstür strahlte mich eine jüngere Version von Dean und mir von einem Bilderrahmen aus an. Eine jüngere und glücklichere Version. Das Bild war im Winter vor vier Jahren entstanden. Wir standen auf den Treppen vor dem New York Supreme Court – dem obersten Gerichtsgebäude New Yorks. Dean in Abschlussrobe und mit seinem Staatsexamen in der Hand, ich mit Baby Marvin auf dem Arm. Damals hatte ich noch Hoffnung gehabt, dass ich mich in dieser großen, gesichtslosen Stadt irgendwann zurechtfinden würde.

Mein Blick fiel auf die gepackten Taschen zu meinen Füßen. War es ein Fehler, abzuhauen? Davonzulaufen wie ein feiges Kind? Auf der anderen Seite: Ich war nicht einfach aus der Wohnung gestürmt! Das war Dean gewesen. Ich wusste nicht, wieso nun doch er derjenige war, der gegangen war. Vielleicht wollte er Abstand. Nachdenken. Spazieren gehen. Sich in einer Bar bis zur Besinnungslosigkeit betrinken. Ich wusste es nicht. Doch ich wusste, dass ich nicht mehr da sein würde, wenn er zurückkam. Und irgendetwas sagte mir, dass er das ebenfalls vermutete.

Dass er die Wohnung trotz allem verlassen hatte, zeigte mir, wie egal ich ihm war. Mit zittrigen Fingern strich ich über den kühlen Metallrahmen. Jetzt nicht einknicken, Louisa. Er war zuerst davongelaufen. Hatte mir den Rücken zugekehrt. Außerdem hielt ich diesen Zustand der Ohnmacht einfach nicht mehr aus. Deans Worte hatten mir ein für alle Mal die Augen geöffnet.

Ich habe dich nicht gebeten, mit nach New York zu kommen.

Was hatte das zu bedeuten? Natürlich hatte er mich gebeten.

Vielleicht war das ein Fehler.

Ich legte die Hand an meine zugeschnürte Kehle und hatte Mühe, ruhig zu atmen. Ich blinzelte die aufsteigenden Tränen fort.

Sollte ich wenigstens einen kurzen Abschiedsbrief schreiben? Ich hüpfte ungelenk zurück in die Küche, während ich versuchte, mir im Gehen die Ankle Boots anzuziehen. Dann schnappte ich mir Zettel und Stift und schrieb … nichts. Was zum Henker sollte man seinem Ehemann schreiben, wenn man ihn verließ? Ich schluckte. War ich wirklich gerade dabei, Dean zu verlassen? In jedem Fall wollte ich New York verlassen.

Ich atmete einmal tief durch und hielt die Luft an. Alles, was ich wollte, war doch nur, mich wieder zu spüren. Ich selbst zu sein. Das war ich viel zu lange nicht mehr gewesen. Ich war mir nicht einmal mehr sicher, ob die wahre Louisa noch irgendwo tief in mir schlummerte, oder ob ich sie damals bei meiner Abreise einfach in Sugar Hill vergessen hatte. Ich trommelte ein paarmal angespannt mit den Fingern auf der Marmorplatte herum. Schließlich griff ich nach dem Stift und schrieb: Fahre mit Marvin nach Hause.

Als ich mich anschließend schwungvoll umdrehte, hörte ich ein leises Klirren, das von unten kam. Ich bückte mich, um nachzusehen, was mir heruntergefallen war. Mein Ehering. An Schicksal glaubte ich schon seit der High School und der Trennung meiner Eltern nicht mehr, aber diesen Wink des Schicksals konnte ich nicht ignorieren. Unsicher kaute ich auf den Innenseiten meiner Wangen herum, bis ich einen Entschluss fasste.

Man konnte zu jeder Tages- und Nachtzeit auf den Straßen New Yorks unterwegs sein und man hatte nie wirklich das Gefühl, dass diese Stadt mal zur Ruhe kam. Wie Dean. Ich schnaubte verächtlich. Er passte so gut hierher, im Gegensatz zu mir. Ich war nicht der Typ dafür, die Nacht zum Tag zu machen. Ich stand schon immer gern früh auf. Während meiner Ausbildung zur Konditorin war mir diese Eigenschaft sehr zugutegekommen. Demnach ging ich aber auch gern früh ins Bett. Sobald es dunkel wurde, wurden meine Lider schwer. Doch in New York wurde es einfach nie ganz dunkel. Vielleicht war das ein Grund mehr, wieso ich mich so unglaublich ausgelaugt und erschöpft fühlte.

Mein Herz hämmerte wie wild in meinem Brustkorb, als ich meinem schwarzen SUV aus der Tiefgarage unseres Wohnkomplexes nach oben fuhr, obwohl ich das in den letzten fünf Jahren mehrmals am Tag gemacht hatte. Aber dieses Mal war etwas anders. An diesem Abend fühlte es sich so an, als würde ich die Auffahrt zum letzten Mal nehmen. Den Kofferraum vollgepackt mit Marvins und meinen Sachen, auf der Rückbank die Tüten mit der Weihnachtsdeko. Sie war mir beim Ausräumen des Kleiderschranks förmlich entgegengesprungen. Ich liebte diese Weihnachtsdeko, weil viele Kugeln davon Unikate waren und mich an meine Kindheit in Sugar Hill erinnerten. Und da Dean ein zweiter Ebenezer Scrooge war und Weihnachten – Zitat – für Humbug hielt, hatte ich die große Kiste und die beiden Tüten kurzerhand ins Auto gepackt.

Ich schaltete das Radio ein, auf der Suche nach Ablenkung und um die zweifelnde Stimme in meinem Kopf zu verdrängen. Die ersten Töne von OneRepublics Apologize ertönten.

Ach, komm schon! Heute Abend schlug das Schicksal aber richtig zu. Erneut bahnten sich ein paar Tränen ihren Weg nach draußen.

Reiß dich zusammen, Louisa. Du hättest das nicht tun müssen. Du hättest nicht gehen müssen. Du wolltest es so. Du bist selbst schuld. Es wird die richtige Entscheidung sein. Spätestens wenn du morgen früh das Ortsschild von Sugar Hill passierst, wirst du merken, dass es richtig war.

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Kat würde mich sicher in meinem Vorhaben bestätigen. Zumindest hoffte ich das.

Als ich in Kats Straße einbog, eine für New York-Verhältnisse relativ ruhig gelegene Wohngegend, spritzte graubrauner Matsch gegen mein Auto. Das Schneeähnlichste, was diese Stadt zu bieten hatte. Dass mein Sohn richtigen Schnee nur aus weihnachtlichen Netflix-Filmen kannte, versetzte mir jeden Winter erneut einen Stich ins Herz.

Ich kniff die Augen zusammen, um Kats Haus zu suchen. Schuld war mein miserabler Orientierungssinn gepaart mit meiner Unfähigkeit, mir Zahlen zu merken. Zudem war diese Seitenstraße nicht sonderlich gut beleuchtet. Bei Tageslicht fiel die Suche deutlich leichter, da ich das süße Reihenhaus dann wenigstens an seiner auffälligen hellblauen Farbe erkennen konnte.

Bis vor einem halben Jahr hatten Dean und ich ebenfalls in einem solchen Haus gewohnt. Bevor ihm der große Durchbruch in der Firma gelungen war. Schön, Cooper & Partner als Klienten zu gewinnen, war eine große Sache. Deans Boss hatte ihn daraufhin zum gleichberechtigten Partner der Kanzlei ernannt. Der jüngste, den die Kanzlei jemals hatte. Mit dem Karriereaufstieg war eine luxuriöse neue Wohnung gekommen. Gleichzeitig hatte es den endgültigen Untergang unserer Beziehung prophezeit.

Ich fluchte leise vor mich hin. Um diese Uhrzeit war natürlich jeder zu Hause, was die Parkplatzsuche erheblich erschwerte. Gut zwanzig Meter entfernt leuchteten die Rücklichter eines Autos am Straßenrand auf. Wenigstens hatte ich einmal Glück an diesem verdammten Tag. Langsam näherte ich mich dem davonfahrenden Auto. Moment mal, war das … Nein, das war unmöglich. Mit zittrigen Fingern griff ich blindlings in das Seitenfach der Autotür. Ich sollte mir dringend angewöhnen, meine Brille direkt beim Einsteigen ins Auto aufzusetzen. Gerade bei dieser Dunkelheit und dem Nieselregen fiel es mir zunehmend schwerer, scharf zu sehen. Als ich meine Brille endlich zu fassen bekam und sie hektisch aufsetzte, war das Auto bereits zu weit weg, als dass ich auch nur den Hauch einer Chance gehabt hätte, etwas zu erkennen. Für eine Sekunde hätte ich schwören können, dass es Deans mattgrauer Sportwagen gewesen war, der die Parklücke freigegeben hatte. Aber da hatte mir mein Gehirn sicher einen Streich gespielt. Ich fuhr näher an die Parklücke heran und ließ den Parkassistenten meines SUVs den Rest erledigen.

»Louisa? Was willst du denn hier?«, stieß Kat überrascht aus, als sie die Tür öffnete, nachdem ich Sturm geklingelt hatte. Ich drängte mich wortlos an ihr vorbei ins Haus und sah mich hektisch um. »Was zur Hölle machst du da?«, fragte sie, während sie mir folgte.

»War Dean hier?« Erst als die Worte meinen Mund verlassen hatten, fiel mir auf, wie paranoid ich klang.

Sie stutzte einen Moment. »Was? Nein. Wie kommst du denn darauf?«

Meine Schultern sanken erleichtert und erschöpft zugleich ein. Ich war also doch vollkommen übergeschnappt. Und selbst wenn Dean hier gewesen wäre, wäre es doch nur mehr als verständlich, dass er nach einem Streit seinen besten Freund aufsuchte, um mit ihm zu reden.

»Vergiss es. Ich dachte, ich hätte eben Deans Auto draußen vor eurem Haus gesehen.« Ich winkte ab und lachte freudlos über mich selbst.

Stille.

Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass Kat angespannt wirkte. Vielleicht lag es nur daran, dass sie heute erst erfahren hatte, dass sie schwanger war. Auch wenn wir schon seit vielen Jahren befreundet waren, kaufte ich ihr immer noch nicht ab, dass sie bloß grundlos keine Kinder wollte. Als sie dann heute Morgen festgestellt hatte, dass alle Tests positiv waren, war sie regelrecht in Panik ausgebrochen und hatte sich für den heutigen Tag im Büro krankgemeldet. Unsere Thanksgiving-Shoppingtour hatte deshalb zusätzlich als Ablenkung für sie gedient. Ich war erleichtert gewesen, als ich sie am Nachmittag zu Hause abgesetzt hatte und sie ein wenig ruhiger auf mich wirkte.

»Hast du es Allec eigentlich schon erzählt?«

»Was erzählt?« Ihre Stimme klang höher als sonst. Fast schon schrill. Sie strich sich eine dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und kniff die mandelförmigen dunklen Augen zusammen.

»Dass du schwanger bist. Was sonst?«, entgegnete ich stirnrunzelnd.

»Ach so.« Sie lachte kurz auf. »Nein, er ist noch gar nicht von der Geschäftsreise zurück. Er kommt erst morgen Abend wieder.«

Es dauerte eine Sekunde, bis die Bedeutung der Worte zu mir durchgedrungen war. Wenn Allec gar nicht zu Hause war, sondern auf Geschäftsreise, wusste Dean das auf jeden Fall. Dann hätte er also keinen Grund gehabt, zu Kat zu fahren. Wieso wurde ich trotz allem das Gefühl nicht los, dass es sein Auto gewesen war, dass ich eben vor ihrem Haus gesehen hatte? Und dass es der Geruch seines Duschgels war, das noch immer im Raum hing.

Du bist vollkommen übergeschnappt, Louisa!

»Gibt es einen Grund für deinen späten Besuch? Ich dachte nicht, dass ich heute Abend noch etwas von dir höre«, fragte sie beiläufig und führte mich in die Küche. Kat trat an den Herd und hob den Teekessel. »Tee?« Ich nickte stumm und ließ mich am Küchentisch nieder. Der Streit mit Dean und all die Zweifel und Sorgen waren so anstrengend gewesen, dass mich mit einem Mal eine unendliche Müdigkeit überkam.

»Zu dem romantischen Essen kam es gar nicht erst. Wir haben uns gestritten.«

Sie hielt in ihrer Bewegung inne, den Rücken zu mir gewandt. Ich konnte sehen, wie sich ihre grazilen Schultern anspannten. Es war ungewohnt, sie in etwas anderem als ihren maßgeschneiderten Hosenanzügen und den schwarzen High Heels zu sehen, obwohl sie selbst in dem unförmigen Lounge-Set, das sie trug, blendend aussah. Die volle dunkle Haarpracht fiel ihr in lockeren Wellen über die Schultern, als sie sich zu mir umdrehte. »Er hat es dir gesagt, oder?«

»Was gesagt?«, krächzte ich. Ein ungutes Kribbeln breitete sich in meiner Magengegend aus. Sie lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und sah mir direkt in die Augen. Mit diesem typischen prüfenden Kat-Blick, der einem bis ins Mark drang.

Als sie nichts sagte, wiederholte ich meine Frage: »Was soll er mir gesagt haben, Kat?«

Als der Wasserkessel hinter ihr ein Klicken von sich gab, wandte sie ihren Blick rasch von mir ab und widmete sich wieder dem Tee. Was zur Hölle sollte Dean mir gesagt haben? Was hatte ich hier nicht mitbekommen? In meinem Kopf ratterte es laut. Mein Blick wanderte nervös durch die Küche. Vom Kühlschrank über die Herdplatten, die beiden Tassen, über Kats Rücken, zu einem kleinen weißen Etwas mit blauer Kappe auf der Arbeitsfläche rechts von ihr. Der Schwangerschaftstest, den Kat bei mir vergessen hatte. Der Auslöser unseres riesigen Streits …

Schlagartig gefror mir das Blut in den Adern. Der Schwangerschaftstest, den Kat bei mir vergessen hatte! Nein! Nein, nein, nein, nein! Das war nicht möglich. Wie hypnotisiert stand ich auf und ging auf den Teststreifen zu. Kat drehte sich im selben Moment zu mir um und folgte meinem Blick. Ich hörte, wie sie scharf die Luft einzog und leise fluchte.

»Louisa, ich …«, begann sie.

»Jetzt sag mir nicht, du kannst das erklären. Für mich sieht es nämlich so aus, als hättest du mich angelogen.« Jedes einzelne Wort fühlte sich hart und kalt an, als es meine Lippen verließ.

»Ich habe dich nicht angelogen. Ich wollte nicht, dass du … Louisa, wir haben nur …«

Ich schnaubte. »Für wie dumm hältst du mich eigentlich, Kat? Was wollte er hier? Wieso ist der erste Gedanke, der meinem Mann kommt, nach einem Streit mit mir zu dir, meiner besten Freundin zu fahren? Nach einem Streit, der dadurch entstanden ist, weil er dachte, ich wäre wieder schwanger? Und als er erfahren hat, dass nicht ich es bin, die schwanger ist, sondern du, braust er ab … und … und …«

Die Welt begann sich zu drehen. Mit einem Mal kam ich mir so unglaublich dumm vor. So naiv. So blind. Ich hatte noch versucht, unsere Ehe zu retten. Hatte geglaubt, dass es noch etwas zu retten gab. Es war, als hätten Dean und ich in einem kleinen Boot gesessen, das ein Leck hatte, und ich versuchte, das steigende Wasser aus dem Boot zu schaufeln. Nicht nur fiel es mir jetzt wie Schuppen von den Augen, dass Dean anscheinend die ganze Zeit derjenige war, der eifrig Wasser ins Boot geschaufelt hatte, Kat hatte ihm auch noch dabei geholfen. Und gerade als ich dachte, der Boden des Bootes wäre in Sicht, musste ich feststellen, dass Dean schon längst von Bord gegangen war.

Wie oft hatten sie mich in den letzten Wochen oder vielleicht sogar Monaten belogen? Wie oft war Dean in Wahrheit bei ihr, anstatt auf der Arbeit gewesen? Wie konnte er nur? Wie konnten sie beide mir das nur antun? Mir wurde übel.

»Louisa, lass es mich dir erklären.« Kat war mit zwei großen Schritten direkt neben mir und griff beschwichtigend nach meinem Unterarm, den ich ihr sofort entriss, weil sich ihre Berührung wie ein Brandeisen auf meiner Haut anfühlte. Das musste ein schlechter Scherz sein. Ein Albtraum.

»Es ist nicht so, wie du denkst.«

Wieso klang jeder Satz, den Kat von sich gab, nach einer lahmen Ausrede? Nach nichts als leeren Hüllen an bedeutungslosen Worten?

»Ach, wirklich? Für mich wirkt es nämlich gerade so, als hättet ihr beide etwas vor mir zu verheimlichen. Warum sonst würdest du mich anlügen, weil mein Mann eben bei dir war? Wieso sonst wäre er direkt zu dir gefahren, nachdem er erfahren hat, dass du schwanger bist? Wenn nicht aus dem Grund, dass er befürchtet, das Kind könnte von ihm sein? Und wieso hast du mich eben gerade noch gefragt, ob er es mir gesagt hat?« Mit jedem Satz wurde ich lauter und aufbrausender. Kat wich ein paar Zentimeter vor mir zurück. »Für mich klingt das alles danach, als ob mein Mann und meine beste Freundin eine Affäre hätten, und …«

»Nicht mehr!«, unterbrach sie mich.

Das war’s. Ich erstarrte. Mein Herz zersprang in tausend Teile. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. In meinem Brustkorb wurde es eng und ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Ich wollte fragen, was das zu bedeuten hatte, doch ich brachte kein Wort heraus, und eigentlich war die Bedeutung dieses Satzes auch mehr als selbsterklärend.

Dean und Kat hatten eine Affäre.

Sie hatten mich hintergangen, belogen, betrogen. Mein Ehemann und meine beste Freundin. Die beiden wichtigsten Personen in meinem Leben. Ich biss die Zähne so fest zusammen, dass mir ein scharfer Schmerz durch den Kopf schoss.

»Wo ist mein Sohn?«

Kapitel 3

Louisa

Die Lichter der Stadt verschwammen in meinen tränengefüllten Augen. Ich konnte nicht atmen. Es fühlte sich an, als würde ich ertrinken und immer tiefer und tiefer in die Dunkelheit gezogen werden.

Die ersten vier Stunden auf Highway und Interstate waren die Hölle gewesen. Marvin war glücklicherweise gar nicht erst richtig wach geworden, als ich ihn vom Gästesofa gehoben hatte und ohne ein weiteres Wort an Kat vorbei aus dem Haus gerauscht war. Meine Brille beschlug in regelmäßigen Abständen, weil ich mir eine Hand auf den Mund presste, um nicht laut aufzuschluchzen und meinen Kleinen womöglich doch noch zu wecken. Immer wieder fiel mein Blick prüfend über den Rückspiegel zu ihm nach hinten. Und jedes Mal aufs Neue zog sich mein Herz zusammen. Mein Engel. Er war so klein, so unschuldig. Hatte ich anfangs noch Zweifel gehabt, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte, ihm einfach so seinem Vater zu entreißen, war ich mir nun sicher, dass es die richtige Entscheidung gewesen war.

Auch jetzt, knapp zweihundertfünfzig Meilen von New York entfernt, kam mir die eiskalte Wahrheit, die Kat mir offenbart hatte, so verdammt unwirklich vor. Die Tatsache, dass ich es noch immer nicht glauben konnte, ließ mein Herz aber nicht weniger schmerzen.

Ich nahm die nächste Ausfahrt auf die andere Interstate und schaltete das Radio ein. Chris Rea trieb mich mit seinem Weihnachtssong Richtung Heimat. Ein schwaches Lächeln zupfte an meinem Mundwinkel. Für viele war es absurd, doch ich liebte diese stumme Vereinbarung, die scheinbar alle Radiosender getroffen hatten, ab Mitternacht, sobald Thanksgiving vorbei war, schlagartig auf Weihnachtsstimmung umzuschlagen. Diese Lieder waren regelrechter Balsam für mein geschundenes Herz.

Trotz meines katastrophalen Orientierungssinns brauchte ich kein Navigationsgerät. Ich war den Weg von Sugar Hill nach New York nur ein einziges Mal gefahren. Vor ziemlich genau fünf Jahren. Und seitdem nie in die entgegengesetzte Richtung. Trotzdem spürte ich tief in mir die sichere Gewissheit, genau zu wissen, wo ich langfahren musste. Fast wie magisch angezogen, fuhr ich immer weiter und weiter, bis sich schließlich die Landschaft links und rechts der Straße Meile für Meile veränderte. Das flache Land wurde unebener, die Hochhäuser weniger. Hier und da gaben sie den Platz für die ersten Berge und Tannenwälder frei.

Die Morgendämmerung bahnte sich ihren Weg am Rande des Horizonts empor und vereinzelt blitzten ein paar Sonnenstrahlen im Rückspiegel auf. Ich sah zu, wie sich der Himmel von Tiefschwarz in Dunkelblau und dann in ein zartes kühles Hellblau verfärbte. Kurze Zeit später erhob sich die Sonne hinter mir wie ein glühender roter Ball. Von der aufgehenden Morgensonne angetrieben, fuhr ich weiter. Immer weiter in Richtung Heimat.