2qm orange - Doreen Pelz - E-Book

2qm orange E-Book

Doreen Pelz

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Beschreibung

Louise Flachs steckt in einer tiefen Lebenskrise. Der Mann ist weg, das alte Leben ist weg und das Selbstbewusstsein ist weg. Sie beginnt eine Therapie, um zu sich selbst zurück zu finden. Um wieder mutig zu sein. Das große Ziel, sich in einem Sommerkleid 2qm orange fühlen.

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Seitenzahl: 140

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„Orange als Farbe hat physikalisch gesehen eine Wellenlänge von 600 bis 640 Nanometern und eine Frequenz von 468 bis 500 Terahertz“

Rhetos Lexikon der spekulativen Philosophie

„Die Farbe Orange führt nachweislich zu einer Ausschüttung des Belohnungshormons Dopamin im Gehirn – Motivation und Lebensfreude steigen. Orange Farbtöne wirken deshalb kräftig, fröhlich, belebend und stimmungsaufhellend auf den Menschen.“

Natalie Irber

Inhaltsverzeichnis

DIE KATASTROPHE ZUERST

ENTE IM JUNI

SONNENAUFGANG

DIE WOHNUNG

SITZUNG 1 - AM BESTEN OHNE VERGANGENHEIT

DAS DREIECK

SITZUNG 2 - ANGST VOR MUSKELKATER

DIE STALKERIN

ICH WILL ZURÜCK

SITZUNG 3 - EIN BRIEF AN SABBI

DER TAG AM MEER

DIE EINHEBELMISCHBATTE-RIE

SITZUNG 4 - EINE RICHTIG GUTE ERDBEERE

ERKLÄR MIR DIE STERNE

LEBENS - DOMINO

SITZUNG 5 – ICH HÖRE WAS DU SAGST , VERSTEHE DICH ABER NICHT

TOAST HIMMEL

RAUM LASSEN

SITZUNG 6 – BLUMEN GIEßEN

JETZT WIRD ALLES ANDERS

HEIMLICHE LIEBE

SITZUNG 7 – ALLES EINE FRAGE DER PERSPEKTIVE

DAS UNIVERSUM HAT HUMOR

SO ETWAS PASSIERT MIR NICHT

SITZUNG 8 – DIE LÜGE

„WAS IST PASSIERT“ – DER HAUPTGEWINN AUF DEM BODEN JEDER WODKAFLASCHE

EIN HALBES JAHR SPÄTER … . EIN ALTER FREUND

OHA , BERLIN

LETZTE SITZUNG – SIE SIND EIN PARADIESVOGEL OHNE PARADIES

DIE KATASTROPHE ZUERST

Zeit ist das Wertvollste, was wir haben. Denn wir haben ungefähr alle die gleiche Menge davon. Es ist nur die Frage, wie und mit wem wir sie verbringen. „24 Stunden sind einfach zu wenig. Er oder sie soll bleiben können, länger. Wir müssen mehr Zeit miteinander verbringen.“ Klar das klingt schmalzig. Ist aber doch schon mal so wenn man verliebt ist. Jeder, der schon einmal verliebt war, hat diese Sätze zumindest irgendwie gedacht. Denn, wenn wir verknallt sind, würden wir am liebsten die Zeit anhalten. Das pure Glück, so lang es geht, genießen. Die berühmte rosarote Brille, von der immer alle reden. Mit der man sich so unsterblich und unverwundbar fühlt. Doch genau das sind wir in diesem Moment. Vor allem verwundbar. Verliebt sein heißt sich verwundbar zu machen. Ich glaube, deshalb lassen sich viele überhaupt nicht mehr auf die Liebe ein. Denn mit ihr setzen wir uns einem Sturm aus, der einmal an allem rüttelt. Wie ein Gewitter. Blitze schlagen ein und mit ein bisschen Glück brennt die Hütte dabei nicht ab.

So gehe ich zumindest an die Liebe ran. Einmal „All-In“ würde man beim Poker sagt. Ich hab mal gelesen: Wer die wahre Liebe sucht, muss den Mut zur Katstrophe haben. Und alles an diesem Satz ist wahr. In der Liebe gibt es keine Garantie. Wir ziehen uns im wahrsten Sinn des Wortes, vor jemandem aus und hoffen auf ein mildes Urteil. Hoffen auf Gegenliebe. Immer in der Gefahr abgelehnt, zurückgewiesen oder als nicht gut genug bewertet zu werden. Doch die Liebe ist in diesem Moment wie ein Superheldenkostüm. Ein Umhang voller Mut. Leichtfertig lassen wir uns darauf ein.

Zumindest vor der Katastrophe sagt sich das immer so einfach dahin. Ich, Louise Flachs stecke aktuell aber mitten in der Katastrophe. Und für so ziemlich alles fehlt mir gerade der Mut. Vor allem fürs glücklich sein.

Gemeinsam mit Paul sitze ich auf dem Sofa in unserer Wohnung. Wir wohnen in Hamburgs Norden, in einer Dreizimmerwohnung, wobei ein Raum eine offene Küche mit Wohnzimmer ist. Von meiner Ecke vom Sofa aus kann ich unseren Esstisch sehen. Die Teller vom Abendessen stehen noch drauf. Einer jeweils in der Mitte der langen Seite, genau gegenüber voneinander. In der Tischmitte eine halb abgebrannte Kerze. Der Duft vom Auspusten der Flamme liegt noch in der Luft. Es ist ein Freitag, Ende Mai. Wir haben diese Woche viel gearbeitet und uns wenig oder nur kurz gesehen. Paul ist bei einer Werbeagentur angestellt, hat häufig Deadlines und sitzt bis spät in der Nacht im Büro oder am Schreibtisch. Meinen Job als freie Übersetzerin und Texterin kann ich von überall aus machen. Für eine bessere Arbeitsmoral habe ich mir seit neustem ein kleines Büro beziehungsweise einen kleinen Schreibtisch in einem Coworking-Space angemietet. Wenn Paul morgens zur Arbeit fährt, gibt er mir noch einen Kuss. Selbst wenn ich noch schlafe. In normalen Wochen sehen wir uns dann gegen 18 Uhr am Abendbrottisch wieder und berichten uns wie der Tag so war. In dieser Woche haben wir das bisher noch nicht geschafft, außer heute. Doch anders als sonst, musste ich Paul jedes Wort irgendwie aus der Nase ziehen. Und selbst dann waren es nur motzige Antworten. „Lou, das geht mir alles so sehr auf den Keks. Der Chef, das Team, einfach alles. Keiner ist mehr ehrlich und arbeitet im Team. Ich als Neuer, bin natürlich völlig außen vor. Wenn Sabbi nicht wäre, würde sich da keiner mit mir unterhalten. Und welche Leistung ich erbringe, erkennt sowieso niemand an“, war eine der etwas ausführlichen Antworten. „Okay, ich frag schon nicht mehr nach“, nöhle ich mindestens genauso genervt zurück. Schon wieder Sabbi, denke ich kurz und schiebe die aufkeimende Eifersucht schnell wieder weg. Wir sind seit mehreren Jahren befreundet. Durch sie hat Paul seinen Job in der Agentur überhaupt erst bekommen und wir konnten vor einem Jahr nach Hamburg ziehen. Die beiden kannten sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht so besonders gut. Dennoch hat sie ihren Namen für ihn aufs Spiel gesetzt. Das ist ihr nicht hoch genug anzurechnen. In den letzten Monaten haben sich die beiden gemeinsam aber sehr in die Meckerei über ihre Firma hinein gesurft. Befeuern sich ständig gegenseitig nur die negativen Seiten zu sehen und nicht einmal mehr die Initiative zu ergreifen, etwas zu verändern. Häufig bin ich also in der Diskussion, was da so schiefläuft, die Böse. Weil ich Gegenvorschläge zur Problembewunderung mache. Paul und ich haben uns deshalb auch schon, dass eine oder andere Mal in die Haare bekommen. Weil er sich nicht genug unterstützt fühlt. Um heute wieder ein bisschen Frieden einkehren zu lassen und das bisschen Quality-Time, das wir haben, zu genießen habe ich nicht weiter nachgefragt und einen Filmabend mit Wein vorgeschlagen. Also ging es vom Tisch direkt auf die Couch. Hier sitzen wir nun Füße an Füße in verschiedenen Ecken des Sofas und ich habe das Gefühl, da ist mehr Raum zwischen uns, als nur die zwei Meter große Kuscheldecke. „Darf ich mich an dich kuscheln?“ frage ich also ganz leise. Körperliche Nähe macht uns immer wieder friedlich. Wenn kein Zentimeter mehr zwischen uns ist, verschmelzen wir immer zu einem unbesiegbaren Team, dass wir eigentlich sind. Ich das Brain, er das Talent. Er hat das überfließende Gefühl, ich den nötigen Tatendrang. Pauls Antwort ist, die Decke nach oben zu schlagen und ein Stück in Richtung Lehne zu rutschen. Ich krieche vor ihn und versuche es mir auf der 20 cm breiten Sitzfläche, so gemütlich wie möglich zu machen. Ich nehme seinen rechten Arm und lege ihn über mich, sodass sich Paul in meine Richtung drehen muss und wir in Löffelchenstellung zusammenliegen müssen. „Lass mal Lou. Ich sitze gerade perfekt“, sagt Paul mit so viel Kühle und Distanz, dass mir das Herz in den Bauch rutscht. Mir wird richtig schlecht, als hätte er sich bei einem Kussversuch von mir weggedreht. Sein Arm liegt wie ein toter Fisch auf mir. „Ähm Paul was ist denn hier los? Hier stimmt doch irgendetwas nicht“, kann ich noch sagen und springe vom Sofa auf. Wie bestellt und nicht abgeholt, stehe ich im Raum. Ich weiß nicht genau, warum ich stehe, die Wohnung auf einmal so still ist und Paul mich auf einmal nicht mehr ansehen kann. „Mmh, was ist los?“ frage ich noch einmal und lege mir meine Hand auf den Brustkorb. Um zu spüren, ob mein Herz noch schlägt, während ich wie von einem Hammer getroffen, in 1000 Teile zerfalle. „Lou setzt dich doch erst einmal wieder hin. Du bist ja ganz blass geworden.“ „Auf gar keinen Fall setze ich mich. Bist du nicht endlich mit der Sprache rausrückst“, falle ich ihm ins Wort und im gleichen Moment werden meine Knie weich. Ich kann mich nicht bewegen. Starre auf den Teppich unter meinen Knien, während ich mich noch wundere, wie ich so nah zum Boden gekommen bin. Aber gut, dann kann man ja wenigstens nicht mehr tiefer fallen, von hier aus. „Ich will das hier alles nicht mehr. Ich habe das Gefühl, wir wollen unterschiedliche Dinge. Wir streiten uns ständig, und das muss auch irgendwie einen tieferen Sinn haben. Sabbi zum Beispiel hat auch schon gemerkt, dass bei uns irgendetwas nicht mehr rundläuft“, höre ich ihn ganz dumpf sagen.

Was kommt denn jetzt? Halte ich das aus? War es was Einmaliges? Das Gefühls- und Gedankenkarussell beginnt sich so zu drehen. „Du sagst kein Wort, kein einziges Wort.“ unterbreche ich ihn. Was nicht ausgesprochen ist, ist nicht wahr.

Und Paul will eigentlich nichts sagen, das sehe ich ihm an. Aber er muss. Kann das Unausgesprochene nicht im Raum stehen lassen, aber ich will nichts hören. Gerade ist alles nur furchtbar. Doch mit allem, was jetzt kommt, geht alles kaputt. Mit einem Satz wird gleich mein Leben in sich zusammenfallen. Dafür muss ich noch Luft holen, die Zeit anhalten, wenn ich könnte.

„Liebst du sie?“ frage ich und werde mit der Frage taub, denn ich kenne die Antwort. Es bleibt still. Als ich vom Teppich hochsehe, sehe ich Paul mit leisen Tränen auf seinen Wangen, den Kopf nicken. Er guckt in meine Richtung, aber durch mich hindurch. „Und sie weiß das, richtig?“ Nicken. Und mein Bauch wird zu einem Feuerball.

„Dreckiger Mistkerl, meine Freu…“, und da bleibt mir ganz kurz die Stimme im Hals stecken. Ich hole neu Luft. „Freundin. Und was hat sie gesagt?“ Jetzt laufen laute Tränen über Pauls Wangen. „Ihr geht es genauso“, sagt er, ganz leise, eigentlich kaum hörbar. Louise, ein und aus. Wenn du atmest, wird dein Gehirn mit Sauerstoff versorgt und du kannst noch denken, also atme. Dann kann dein Gehirn diese Informationen verarbeiten. Doch irgendwie geht das nicht. Atmen schon. Doch denken nicht. Ich starre auf den Teppich und die einzelnen gewebten Fäden an und ich überlege kurz, ob ich sie zählen soll. Das würde ein Gefühl der Ordnung schaffen. Okay, Louise, jetzt verlierst du deinen Verstand.

„Ich wünschte, es wäre alles anders, aber das ist es nicht. Und wir wollten mal ehrlich miteinander sein“, höre ich mitten in der Unterhaltung mit mir selbst. „Du willst mich verarschen, oder? Redet nicht über Ehrlichkeit. Was habt ihr euch denn dabei nur gedacht? Gar nichts, oder?“ sage ich und der Feuerball in meinem Bauch kommt mir vor wie ein kleiner Drache, der gleich mit nur einem Nieser alles abfackelt.

Und plötzlich habe ich das Gefühl, wegrennen zu müssen. Doch gleichzeitig kann ich mich keinen Zentimeter bewegen. Auf allen Vieren kauere ich auf dem Teppich vor meinem Sofa, meinem Mann, mit dem ich eine Zukunft hatte. Und auf einmal scheint nichts davon mehr zu mir, zu meinem Leben zu gehören. Man sagt ja, wenn ein geliebter Mensch stirbt, bleibt einmal die Uhr stehen. Vielleicht gilt das auch fürs sprichwörtliche Brechen eines Herzens. In beiden Fällen bleibt die Zeit stehen. Der Schmerz wird unerträglich und scheint nie aufzuhören. Im gleichen Atemzug setzt eine Taubheit ein. Schutzfunktion des Gehirns im Schock. Das pure Überleben und Funktionieren wird wichtig, alles andere als atmen wird unwichtig. Ich nehme kaum noch wahr, was um mich herum passiert. Was Paul da gerade eigentlich erzählt. „Endlich Kinder, kein Grund mehr zu warten… nur Streit und kaum mehr Gemeinsamkeiten… fehlende Unterstützung und immer nur Probleme statt Lösungen… Ich würde gehen, wenn du das willst.“ Offenbar muss ich genickt haben. Starre aber eigentlich nur auf die Fussel auf dem Teppich. Atmen, ein und aus. Schön langsam nicht hyperventilieren, keine Panikattacke riskieren. Ich höre, wie im Schlafzimmer Schranktüren geöffnet, Taschen gepackt und Schranktüren geschlossen werden. Paul muss aufgestanden sein. Wann? Wie spät ist es? Ach, das spielt ja eigentlich keine Rolle. Vorhin, als alles irgendwie noch in Ordnung war, ist vorbei. Paul und Louise sind vorbei.

„Du, ich bin jetzt erst einmal weg. Wenn was ist, rufst du an, ja? Morgen bin ich wieder hier und wir reden in Ruhe, wie wir alles machen“, sagt Paul und steht auf einmal wieder hinter mir.

Aus mir kommt ein merkwürdiges, hysterisches Lachen. „In wessen Film bin ich denn hier wieder gelandet? Louise Flachs verliert den Verstand, produziert von dem Universum, das heute einen schlechten Tag hat“, sage ich mehr zu mir selbst als zu Paul.

„Bis morgen“, sagt er recht leise und kleinlaut. Und dann fällt auch schon die Wohnungstür ins Schloss. Es wird ganz still. So still, dass ganz leise das Ticken der Wanduhr aus der Küche zu hören ist. Die Welt dreht sich also noch. Mein Herz ist nicht stehengeblieben. Tickt nur etwas leiser vor sich hin. Aber immerhin.

Mit einem Mal bin ich völlig erschöpft. Krieche aufs Sofa unter die Decke und schließe die Augen. Mein Kopf fährt Karussell. Tausend Gedanken mit einem Mal. Das bekomme ich jetzt überhaupt nicht sortiert. Kriege ich das überhaupt hin? Dieses ticken. Der Rhythmus beruhigt, bringt Ordnung ins Chaos. Eine Minute nach der anderen tick, tack, tick, tack.

Als das Ticken der Uhr nicht mehr als Geräusch gegen die Stille reicht, schalte ich den Fernseher wieder ein. Ohne mich für 5 Minuten auch nur auf irgendetwas konzentrieren zu können, zappe ich von einem Kanal zum nächsten. ‚Niemand geht erhobenen Hauptes aus einer Krise hervor, die meisten kriechen auf allen Vieren‘, erzählt irgendwer in einer Promi-Talkshow. Tolle Aussichten. Mit der Fernbedienung in der Hand schlafe ich irgendwann ein, träume wild und ohne Sinn. Ich zünde Möbelstücke an, zerstöre Einrichtungs-gegenstände in blinder Wut. Ein hämisches Lachen begleitet meinen Zerstörungswahn. Gegen 04:30 Uhr gebe ich das mit dem Schlafen auf. Nicht erholt oder ausgeruht, aber wach und irgendwie noch am Leben. Bei dem Gedanken läuft eine Träne die Wange runter. Die erste. Stimmt. Bisher habe ich überhaupt nicht geweint. Doch mit der einen Träne sind die Schleusen auf und es gibt kein Halten mehr. Ohne wirklich etwas erkennen zu können, tippe ich auf meinem Handy rum und wähle die Nummer von Eva. Sie ist seit 20 Jahren meine beste Freundin. Nach fünfmal klingeln ist sie dran. „Was ist denn los?“ fragt sie schlaftrunken. „Er ist weg. Paul. Eva, er hat mich verlassen“, schluchze ich. Mit jedem laut ausgesprochenem Wort tut es mehr weh. Und so erzähle ich unter Schmerzen, was in den letzten zehn Stunden passiert ist.

ENTE IM JUNI

Ich sitze im Garten meines Bruders in Brandenburg. Ben bringt zusammen mit seinem Mann Jan meinen Neffen ins Bett. Ich pendle mich währenddessen auf einer Kinderschaukel mit vollgefressenem Bauch ein. Wir hatten Ente zum Abendessen, an einem 28 Grad heißen Montag im Juni.

„Komm einfach her, Lou. Wir freuen uns immer, wenn du da bist. Und Seppi hat seine Tante ja auch schon seit Weihnachten nicht mehr gesehen“, hat mein Bruder geantwortet, als ich ihn vor zwei Tagen todestraurig angerufen habe. „Mir fällt in der Wohnung einfach die Decke auf den Kopf. Ich kann nicht mehr atmen. Paul ist weg. Für immer.“ Damit hatte ich meinen Besuch angekündigt. Wunderbar wie Ben und Jan sind, stellen sie mir keine Fragen. Wenn ich erzählen will, erzähle ich. Bisher habe ich viel geschwiegen. Bin einfach nur da.

Heute Vormittag waren wir für einen Spaziergang am See ganz in der Nähe. Die coole Tante Lou sollte Seppi zeigen, wie man Steine auf dem Wasser springen lässt. „Wir brauchen nur runde stf..Steine?“, wollte Seppi von mir wissen. Wenn er mit seinen fünf Jahren doll aufgeregt ist, stottert er ein bisschen. Das passt ganz bezaubernd zu seiner Zahnlücke, die er unten zwischen den Schneidezähnen hat. Auch sonst ist er zuckersüß mit seiner kleinen spitzen Nase und den großen braunen Augen und den verzottelten blonden Locken. Er wollte in einer weiß-blauen gekringelten Unterhose und einem orangenen Unterhemd los. „Es ist heiß und er kommt sowieso klitschnass wieder“, hat Jan das Outfit lässig kommentiert.

„Es ist egal, welche Formen die Steine haben. Wir können alle nehmen. Guck, es kommt nur darauf an, wie man wirft“, sage ich in Seppis Richtung und lasse mit voller Wucht einen ersten Stein flitschen. Leider hatte ich überhaupt nicht auf den See und das Schilf geguckt, aus dem gerade ein Erpel geschwommen kam. Mit einem sehr unangenehmen Geräusch, als würde ein Gummihammer auf einen Baumstamm schlagen, trifft der Stein den Entenmann am Kopf. Seppi steht mit offenem Mund, ausgestrecktem Finger und weit aufgerissenen Augen zwei Meter neben mir am Seestrand und wir beobachten gemeinsam, wie die Ente augenblicklich den Kopf ins Wasser hängen lässt. „Ist, ist die Ente tot?“ stottert Seppi ganz erschrocken.