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In der Lyrik der Gegenwart ist Alice Oswalds Werk einzigartig; ein Plädoyer für die Dimension des Hörens, ein Lauschen auf die feinen lautlichen Differenzen und ein Rückgriff auf eine Lyrik, deren lebendige Farbigkeit sie für uns neu entdeckt: Homer steht wieder am Horizont. Alice Oswalds Gedichte entstehen aus der Stimme. Wie Homers Epen sind sie gesprochene Ereignisse. Auf ihren Lesungen trägt sie ihre Lyrik stehend und auswendig vor. Ihre Musen sind das Auge und die Erinnerung. Und trotzdem, es ist eine Lyrik der großen Bögen: In »Memorial« gedenkt sie den Fußsoldaten, die bei Homer fallen – nicht den Helden gilt ihr Augenmerk, sondern den Opfern in den Fugen der Geschichte. In einem anderen Text verwandelt sie mit Homers Gleichnissen im Gepäck das Erwachen des Lichts in ein Epos: »46 Minuten im Leben der Morgendämmerung«. »Ungeheuer gelungen … Unvergesslich.« Teju Cole »Jedes meiner Bücher markiert eine Grenze, über die ich in das nächste Land weiterziehe.« Alice Oswald
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Seitenzahl: 87
Alice Oswald
46 Minuten im Leben der Dämmerung
Memorial - Fallen-erwachen. Gedichte
Aus dem Englischen von Iain Galbraith und Melanie Walz
FISCHER E-Books
Mit einerm Nachwort von Iain Galbraith
Eine Ausgrabung aus der ILIAS
Dies ist eine Übertragung der Atmosphäre der Ilias, nicht ihrer Handlung. Matthew Arnold hat (nicht als Einziger) die Ilias für ihr »Erhabenes« gepriesen. Aber Kritiker der Antike priesen sie für ihre enargeia, was in etwa »grelle unerträgliche Wirklichkeit« bedeutet. Dieses Wort wird benutzt, wenn Götter zur Erde kommen, nicht verkleidet, sondern als sie selbst. Die vorliegende Fassung, die versucht, die enargeia des Poems einzufangen, entfernt die Handlung, wie man das Dach einer Kirche entfernen könnte, um sich zu vergewissern, was man dort verehrt. Übrig bleibt ein zweipoliges Poem aus Gleichnissen und kurzen Lebensbeschreibungen von Kriegern, die sich beide (wie mir scheint) aus unterschiedlichen poetischen Quellen herleiten: die Bilder aus den Hirtengedichten (was man daran sieht, dass ihr Versmaß oft komprimiert ist, als wäre es ursprünglich Bestandteil eines lyrischen Gedichts gewesen) und die Lebensbeschreibungen aus der griechischen Tradition des Klagegesangs.
Schilderungen griechischer Klagegesänge finden sich sowohl in der Ilias als auch in der Odyssee. Wenn ein Leichnam aufgebahrt war, eröffnete ein Berufsdichter (jemand wie Homer) die Totenklage, im Wechselgesang von Frauen mit persönlichen Schilderungen des Verstorbenen erwidert. Mir gefällt der Gedanke, dass die Geschichten einzelner Krieger in der Ilias Erinnerungen an solche Totenklagen sein könnten, in die Erzählung von Dichtern eingeflochten, die regelmäßig sowohl epische Dichtung als auch Chorlyrik pflegten.
Die Ilias ist ein anrufendes Poem. Vielleicht ist sie sogar (wie die Totenklage) beschwörend. Patroklos wird immer mit »du« angesprochen, als würde unmittelbar mit den Toten Zwiesprache gehalten. Meine Übertragung zeigt das ganze Poem als eine Art oralen Friedhofs – als einen Versuch, in den Nachwehen des Trojanischen Krieges Namen und Leben der Menschen aus vorschriftlicher Zeit in Erinnerung zu behalten. Ich hoffe, sie setzt nicht zu viel Wissen um den Gesamtzusammenhang voraus. Ich hoffe, sie wird ihren eigenen Zusammenhang besitzen in Form einer Reihe von Erinnerungen und Bildern nebeneinander: eine antiphonale Schilderung des Menschen in seiner Welt.
Ich möchte noch etwas zu meinem Umgang mit der Ilias sagen. Meine »Biographien« sind Paraphrasen des ursprünglichen Textes, meine Gleichnisse sind Übertragungen. Aber meine Art des Übertragens ist relativ ehrfurchtslos. Ich arbeite eng am griechischen Originaltext, doch statt die Wörter ins Englische zu übertragen, benutze ich sie als Zugangswege, die ermöglichen können zu sehen, was Homer gesehen haben mag. Ich schreibe vermittels des Griechischen, nicht von ihm ausgehend, um es eher durchscheinend zu machen, als um es zu übersetzen. Ich glaube, dieses Vorgehen und mein waghalsiger Verzicht auf sieben Achtel des Poems sind mit dem Geist oraler Dichtung vereinbar, die nie beständig war, sondern sich stets einem neuen Publikum anzupassen wusste, als wäre ihre Sprache im Unterschied zu geschriebener Sprache immer noch frisch und lebendig.
PROTESILAOS
ECHEPOLOS
ELEPHENOR
SIMOEISIOS
LEUKOS
DEMOKOON
DIORES
PIROOS
PHEGEUS
IDAIOS
ODIOS
PHAESTOS
SKAMANDRIOS
PHEREKLOS
PEDAIOS
HYPSENOR
ASTYNOOS
HYPEIRON
ABAS
POLYIDOS
XANTHOS
THOON
ECHEMMON
CHROMIOS
PANDAROS
DEIKOON
ORSILOCHOS
KRETON
PYLAIMENES
MYDON
MENESTHES
ANCHIALOS
AMPHIOS
TLEPOLEMOS
KOIRANOS
CHROMIOS
ALASTOR
ALKANDROS
HALIOS
PRYTANIS
NOEMON
TEUTHRAS
ORESTES
TRECHOS
OINOMAOS
HELENOS
ORESBIOS
PERIPHAS
AKAMAS
AXYLOS
KALESIOS
PEDASOS
AISEPOS
ASTYALOS
PIDYTES
ARETAON
ANTILOCHOS
ELATOS
PHYLAKOS
MELANTHIOS
ADRASTOS
MENESTHIOS
IPHINOOS
ENIOPEUS
AGELAOS
ORSILOCHOS
ORMENOS
OPHELESTES
DAITOR
CHROMIOS
LYKOPHONTES
AMOPAON
MELANIPPOS
GORGYTHION
ARCHEPTOLEMOS
DOLON
RHESOS
ISOS
ANTIPHOS
PEISANDROS
HIPPOLOCHOS
IPHIDAMAS
KOON
ASAIOS
AUTONOOS
OPITES
DOLOPS
OPHELTIOS
AGELAOS
AISYMNOS
OROS
HIPPONOOS
THYMBRAIOS
MOLION
ADRASTOS
AMPHIOS
HIPPODAMOS
HYPEIROCHOS
AGASTRAPHOS
THOON
ENNOMOS
CHERSIDAMAS
SOKOS
CHAROPS
DORYKLES
PANDOKOS
LYSANDROS
PYRASOS
PYLARTES
APISAON
DAMASOS
PYLON
ORMENOS
HIPPOMACHOS
ANTIPHATES
MENON
IAMENOS
ORESTES
EPIKLES
IMBRIOS
AMPHIMACHOS
OTHRYONEUS
ASIOS
ALKATHOOS
OINOMAOS
ASKALAPHOS
APHAREUS
THOON
ANTILOCHOS
DEIPYROS
PEISANDROS
HARPALION
EUCHENOR
SATNIOS
PROTHOENOR
ARCHELOCHOS
PROMACHOS
ILIONEUS
STICHIOS
ARKESILAOS
MEDON
IASOS
MEKISTEUS
ECHIOS
KLONIOS
DEIOCHOS
KALETOR
LYKOPHRON
KLEITOS
SCHEDIOS
LAODAMAS
OTOS
KROISMOS
DOLOPS
MELANIPPOS
PERIPHETES
PYRAICHMES
AREILYKOS
THOAS
AMPHIKLOS
ATYMNIOS
MARIS
KLEOBULOS
LYKON
AKAMAS
ERYMAS
PRONOOS
THESTOR
ERYLAOS
ERYMAS
AMPHOTEROS
EPALTES
TLEPOLEMOS
ECHIOS
PYRIS
IPHEUS
EUIPPOS
POLYMELOS
THRASYMELOS
PEDASOS
SARPEDON
EPEIGEUS
BATHYKLES
LAOGONOS
PATROKLOS
EUPHORBOS
HIPPETHOOS
SCHEDIOS
PHORKYS
LEOKRITOS
APISAON
ARETOS
PODES
KOIRANOS
IPHITOS
DEMOLEON
HIPPODAMAS
POLYDOROS
DRYOPS
DEMUCHOS
LAOGONOS
DARDANOS
TROS
MULIOS
RHIGMOS
LYKAON
THERSILOCHOS
MYDON
ASTYPLOS
MNESOS
THRASIOS
AINIOS
OPHELESTES
HEKTOR
Der Erste der starb war PROTESILAOS
Ein zielstrebiger Mann auf dem Weg in das Dunkel
Es schwand vierzig schwarzen Schiffen das Land
Den Männern die ihm folgten von dem blütenreichen Felsgrat
Wo das fruchtbare Gras alles wachsen lässt
Pyrasos Iton Pteleos Antron
Er starb mitten im Sprung wollte als Erster an Land
Sein Haus war nur halb erbaut
Seine Frau lief hinaus hielt sich das Gesicht
Podarkes sein Bruder von geringerer Statur
Übernahm den Oberbefehl doch das ist lange her
Er liegt in der schwarzen Erde seit Jahrtausenden
Wie das Wispern des Winds
Die Wellen bewegt
Ein langer Ton lauter wird
Und das Wasser tief seufzt
Wie wogendes Land
Wenn der Westwind eine Wiese streift
Sehnsüchtig und suchend
Aber nichts ist da
Die Getreidehalme schütteln ihr grünes Haupt
Wie das Wispern des Winds
Die Wellen bewegt
Ein langer Ton lauter wird
Und das Wasser tief seufzt
Wie wogendes Land
Wenn der Westwind eine Wiese streift
Sehnsüchtig und suchend
Aber nichts ist da
Die Getreidehalme schütteln ihr grünes Haupt
ECHEPOLOS ein vollendeter Krieger
Stets seinen Männern voraus
Bekannt für kühle kalkulierte Konzentration
Schier unverwundbar zwischen all den Speeren
Starb von der Hand des Antilochos
Da ist das Loch in dem Helm unterm Rand
Wo die Speerspitze eindrang
Und in seiner Stirn stak
Und das Dunkel über seine Augen goss
ELEPHENOR von Euboia Herr über vierzig Schiffe
Sohn des Chalkodon und von unbekannter Mutter
Starb beim Bergen des Leichnams des Echepolos
Aufblitzendes Fleisch beim Bücken hinter dem Schild
Agenor erstach ihn in des Kriegs neuntem Jahr
Er trug seine Haare am Kopf hinten lang
Wie Blätter
Manchmal entflammen sie ihr grünes Licht
Von der Erde genährt
Und manchmal löscht sie sie aus
Wie Blätter
Manchmal entflammen sie ihr grünes Licht
Von der Erde genährt
Und manchmal löscht sie sie aus
SIMOEISIOS geboren am Ufer des Simoeis
Sohn des Anthemion die Mutter eine Schafhirtin
Die noch der Herde folgte als sie niederkam
Jung und geschmeidig vielversprechend und ledig
Traf auf Aias im neunten Jahr des Krieges
Und lief ihm mit voller Kraft in den Speer
Die Spitze fuhr glatt in die Brustwarze ein
Trat am Schulterblatt wieder aus
Schon war es vorbei unaussprechlicher Gram seiner Eltern
Und LEUKOS der Freund des Odysseus
Wenig weiß man von ihm bis auf seinen Tod
Und jemandes Gesicht zerstochen wie Obst
Das war der Sohn des Priamos der Glücklose
Der sich im Land der Pferde ernährte
Nördlich von Troia trat er zurück
Als ihn das Dunkel mit dumpfem Klang traf
Sein Name war DEMOKOON
Wie wenn ein Mann zurückweicht
Unter dem Fuß fast eine Schlange sieht
In einer Senke in der Heide
Furcht lässt seine Knie zittern und
Raubt ihm die Farbe und er weicht zurück
Wie wenn ein Mann zurückweicht
Unter dem Fuß fast eine Schlange sieht
In einer Senke in der Heide
Furcht lässt seine Knie zittern und
Raubt ihm die Farbe und er weicht zurück
DIORES Sohn des Amarynkeus
Getroffen von einem geworfenen Stein
Starb im Matsch der eigenen Eingeweide
In den Schlamm gestoßen liegt er
Die Arme nach seinen Freunden ausgestreckt
Und PIROOS der Thraker
Man erkennt ihn an seinem Zopf
Liegt neben ihm
Er tötete ihn und wurde getötet
Schwarze Kieselsteine überall
Wohin ein Mann seine Schritte richtet
Wie in dem dichten Gras
Die langbeinige Ricke
Fast unsichtbar wird
Doch ein Jagdhund hat schon die flachgetretenen Spuren gefunden
Und läuft über die Wiesen auf sie zu
Wie in dem dichten Gras
Die langbeinige Ricke
Fast unsichtbar wird
Doch ein Jagdhund hat schon die flachgetretenen Spuren gefunden
Und läuft über die Wiesen auf sie zu
Der Priester des Hephaistos
Glühendgesichtig vom Blick in die Flammen
Betete jeden Morgen das gleiche Gebet
Bitte Gott achte meinen Status
Beschütze meine Söhne PHEGEUS und IDAIOS
Bezähme ihre Pferde entführe sie
Leicht wie Asche aus dem Kampf
Hephaistos vernahm ihn doch er konnte
Die kühnen Knaben nicht aufhalten
Sie ritten zu schnell über das Schlachtfeld
Ein Speer flog ihnen entgegen
Und Hephaistos unerklärlich
Wie eine Lifttür die sich schließt
Lüpfte den einen hinweg
Und der andere starb
Was geschah mit dem Mann aus dem fernen Alybe im Osten
Was geschah mit ODIOS was mit PHAESTOS
Er kam aus Tarne wo der Boden locker und krümelig ist
Wie fallender Schnee wie Schnee
Wenn die lebhaften Winde die Wolken zerstückeln
Wie zu Schnipseln der Stille die niederwehen
Um dem Laubwerk der Erde Einhalt zu gebieten
Wie fallender Schnee wie Schnee
Wenn die lebhaften Winde die Wolken zerstückeln
Wie zu Schnipseln der Stille die niederwehen
Um dem Laubwerk der Erde Einhalt zu gebieten
SKAMANDRIOS der Jäger
Kannte alles Wild in den Wäldern
Und er hörte die Stimme der Artemis
Die nach ihm rief in dem bleichen
Niemandsland des Gebirges
Sie lehrte ihn ihre Tiere aufzuspüren
Doch der unparteiische Tod hat den Töter getötet
Nun kann Artemis ihm mit all ihren Pfeilen nicht aufhelfen
Seine unfehlbar schießende Waffe ist nutzlos
Menelaos erschlug ihn
Stieß ihm den Speer durch die Schultern
Die Spitze trat durch die Rippen aus
Sein Vater war Strophios
Wie wenn eine Mutter dahineilt
Und ein kleines Mädchen sich an ihrer Kleidung festhält
Hilfe sucht Arme sucht
Sie am Gehen hindert
Zu diesem Turm des Erwachsenseins hochblickt
Wieder leicht sein will
Wünscht die Problematik des Lebens ließe sich hochheben
Und auf einer Hüfte tragen
Wie wenn eine Mutter dahineilt
Und ein kleines Mädchen sich an ihrer Kleidung festhält
Hilfe sucht Arme sucht
Sie am Gehen hindert
Zu diesem Turm des Erwachsenseins hochblickt
Wieder leicht sein will
Wünscht die Problematik des Lebens ließe sich hochheben
Und auf einer Hüfte tragen
PHEREKLOS Sohn des Harmion von Athene geliebt
Vorzüglicher Handwerker aus altem Handwerkergeschlecht
Er war es der die verwünschte Flotte des Paris zimmerte
Und nicht ahnte dass es sein eigenes Totenschiff war
Er starb auf den Knien und schrie
Meriones durchbohrte sein Hinterteil
Und die Speerspitze drang in die Blase
Und PEDAIOS der Ungewollte
Fehltritt der Mätresse seines Vaters
Spürte im Nacken den heißen Stoß von Meges’ Speer
Unbezwingbaren metallenen Halsschmerz im Mund
Mitten durch seine Zähne
Im Sterben biss er auf die Speerspitze
Wie wenn es plötzlich donnert
Und ein Sturmwind herniederfährt
Und dem Meer in die Ohren heult
Und die Wölbungen vieler weißfleckiger Wellen
Hierhin wogen und dorthin
Wie wenn es plötzlich donnert
Und ein Sturmwind herniederfährt
Und dem Meer in die Ohren heult