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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. E-Book 1: Gesucht wird: Nicos Vater E-Book 2: Wohin das Schicksal führt E-Book 3: Komm zurück, Vati! E-Book 4: Einzug in Sophienlust E-Book 5: Wenn aus Freundschaft Liebe wird …
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Seitenzahl: 716
Gesucht wird: Nicos Vater
Wohin das Schicksal führt
Komm zurück, Vati!
Einzug in Sophienlust
Wenn aus Freundschaft Liebe wird …
Hannah Wenzel lag rücklings auf dem Sofa, den linken Arm hatte sie über die Augen gelegt, um sie vor dem strahlenden Sonnenschein des Junitages zu schützen. Obwohl die warme Luft des Sommers durch die geöffnete Terrassentür ins Wohnzimmer drang, fror sie erbärmlich. Dagegen halfen weder ihre dicke Strickjacke noch die warme Wolldecke, die sie bis zum Kinn gezogen hielt. Auch die Kopfschmerztablette, die sie vor einer knappen Stunde genommen hatte, erfüllte ihren Zweck nicht. Keine Frage, sie war krank. Krank war sie selten, und nun war es gleich richtig schlimm. Sie fürchtete, zu wissen, woher ihr Zustand kam, und schalt sich leichtfertig und bequem. Doch dafür war es zu spät. Sie brauchte einen Arzt.
»Mama?«, hörte sie das Stimmchen ihres Sohnes. Sie nahm den Arm von den Augen und blinzelte gegen das Blenden der Sonne an. Sie versuchte, auf dem Sofa aus dem Licht zu rücken, doch das ging nicht.
»Hm?«, machte sie, nicht fähig, ein klares Wort zu sprechen.
»Machst du mir den Deckel von der Sandkiste weg?«, bat Nico.
»Klar«, nuschelte Hannah und setzte sich behutsam auf. Ein Kälteschauer überrann sie, als die Decke von ihr rutschte. Sie spürte schmerzhaft jeden Muskel und jeden Knochen im Körper. Ihre Knie wackelten bei dem Versuch, aufzustehen. Sie stützte sich am Couchtisch ab.
»Mama, bist du immer noch krank?«, erkundigte sich ihr Kleiner. Er hielt seinen Bagger unter dem Arm.
»Ein bisschen bin ich noch krank, Nico«, antwortete sie, und ihre Zähne drohten aufeinanderzuschlagen. Wie sollte sie in der Verfassung den Deckel von der Sandkiste wegbekommen? Sie war ja kaum in der Lage, aufzustehen. Außerdem hatte sie schrecklichen Durst. Vorsichtig setzte sie sich wieder und legte sich mit schwerfälligen Bewegungen die Decke um die Schultern.
»Nico, magst du mir bitte ein Glas Wasser bringen?«, bat sie. »Danach mache ich deine Sandkiste auf.«
Der kleine Junge nickte. Vorsichtig stellte er den Bagger auf den Boden, streifte seine dunkelblauen Crocs ab und lief auf Strümpfen in die Küche. Hannah sah, wie er sich abmühte, ein Glas unter den Wasserhahn zu halten, an den er mit seinen fünf Jahren noch nicht richtig herankam. Im Bad stand ein Schemelchen bereit, um gut ans Waschbecken zu kommen. In der Küche nicht.
Vorsichtig balancierte Nico das gut gefüllte Glas zu ihr, wobei immer wieder etwas Wasser über den Rand schwappte und eine Tropfspur auf dem dunklen Laminat hinterließ.
»Danke, mein Schatz«, murmelte Hannah. Das Glas fühlte sich kalt an und das Wasser noch viel kälter, und obwohl sie solchen Durst hatte, hatte sie Mühe zu trinken. Sie war einfach zu schwach für alles. Ängstlich ruhte der Blick ihres kleinen Jungen auf ihr.
»Mama, wann bist du denn wieder gesund?«, fragte er.
»Bald, mein Schatz.« Sie stellte das Glas auf den Tisch und unternahm einen neuen Versuch, aufzustehen. Für eine Minute die Zähne zusammenbeißen, das musste gehen. Ihr war schwindelig. Sie atmete flach und hoffte, dass sich ihr Kreislauf stabilisierte. Bis zur Terrassentür waren es nur wenige Schritte. Sie musste sich am Türstock abstützen.
Die Sandkiste stand in der prallen Sonne. Das war nicht gut. Sie musste den Sonnenschirm aufstellen, damit der Kleine geschützt war. Mit staksigen Schritten trat sie auf die Terrasse, kam noch bis zum Rasen und spürte, wie ihr die Beine wegknickten.
*
Waltraud Schulz saß mit ihrem Mango-Eistee im Garten unter dem Kirschbaum und war mit ihrer Häkelarbeit beschäftigt. Ein feines, blütenweißes Shirt sollte es werden, mit halbem Arm, ganz leicht und luftig. Das Wollknäuel lag in einem Körbchen, das neben ihrem Liegestuhl im Rasen stand. Die Handarbeit machte ihr Freude und der herrliche Tag auch. Sorgsam strich sie das halb fertige Vorderteil ihres neuen Kleidungsstückes auf ihrem Schoß glatt. Es war bisher alles sehr schön geworden und sah sehr ordentlich aus.
Waltraud wollte eben die Handarbeit wiederaufnehmen, als sie von nebenan den kleinen Nico schreien hörte. Das Geschrei ging ihr durch Mark und Bein. Eilig rappelte sie sich aus ihrem Stuhl in die Höhe und legte das Häkelzeug auf das Polster. Sie eilte zur Ginsterhecke, die am Zaun wuchs, und schob die Zweige auseinander. Nico schrie immer noch. Das Entsetzen fuhr ihr wie ein Hieb in den Magen. Auf dem Rasen lag Hannah Wenzel. Sie schien bewusstlos.
»Frau Wenzel? Hören Sie mich? Können Sie mich verstehen?«
Hannah blinzelte. Ihr Kopf dröhnte und ihr war so kalt. Mühsam bekam sie die Augen auf. Eine Frau beugte sich über sie.
»Frau Wenzel?«, fragte die Frau noch einmal.
»Hm«, machte Hannah.
»Ich bin Dr. Hartmann. Sie sind bewusstlos geworden. Ihre Nachbarin hat uns verständigt«, sagte die Frau.
Sie war bewusstlos gewesen? Plötzlich schwappte die Erinnerung hoch. Nico! Sie hatte ihm den Sandkasten aufmachen wollen. Wo war ihr Kleiner?
»Nico?«, brachte sie angestrengt hervor.
»Es ist alles gut, Frau Wenzel. Ihr Sohn ist hier, und Ihre Nachbarin ist bei ihm«, sagte Dr. Hartmann. »Sehen Sie mich bitte an«, fuhr sie fort. »Folgen Sie meinem Finger.« Die Ärztin hielt ihr den Zeigefinger vors Gesicht. Hannah bemühte sich, ihrer Aufforderung nachzukommen. Dr. Hartmann kommentierte nicht, ob sie alles richtig gemacht hatte, leuchtete ihr aber anschließend mit einer kleinen Lampe in die Augen. Als ob die Sonne nicht grell genug war. Die Ärztin fühlte ihren Puls.
»Nico«, murmelte Hannah und streckte eine Hand aus. Ihr kleiner Junge schluchzte auf, und plötzlich lag seine kleine Hand in ihrer.
»Mama, du musst aufstehen«, sagte er, von wilden Schluchzern unterbrochen.
»Ja, mein Schatz«, erwiderte Hannah und überlegte, ob sie die Worte ausgesprochen oder nur gedacht hatte.
»Frau Wenzel, wir nehmen Sie jetzt mit in die Klinik«, sagte die Ärztin.
Hannah zwang sich, die Augen zu öffnen. Die Sonne blendete gar nicht mehr. Entweder Dr. Hartmann stand im Licht, oder es schien keine Sonne mehr.
»Das geht nicht. Ich muss bei Nico bleiben. Können Sie mir nicht Medikamente geben? Es kommt bestimmt von der Zecke.« Die Sorge um ihren Jungen gab ihr die Energie, sich zu verständigen. Jetzt erst sah sie, dass außer der Ärztin auch noch zwei Sanitäter in ihrem Garten standen und eine Trage neben ihnen auf dem Rasen lag.
»Sie hatten einen Zeckenbiss?«, fragte Dr. Hartmann.
»Ja, es ist schon ein paar Tage her«, antwortete Hannah.
»Sind Sie gegen FSME geimpft?«
»Nein«, gab Hannah zu, und erneut plagte sie ihr Gewissen. Sie hatte es immer wieder vor sich hergeschoben. Nico war wichtiger, ihre Arbeit als Bibliothekarin, die sie, um Zeit für ihren Sohn zu haben, derzeit nur halbtags ausübte, und letzten Endes ging sie auch nicht gerne zum Arzt, und Spritzen hasste sie sowieso.
»Gut. Wir untersuchen in der Klinik, ob Sie sich durch den Zeckenbiss infiziert haben«, entschied Dr. Hartmann.
»Ich kann nicht in die Klinik. Nico…«, protestierte sie und wusste gleichzeitig, dass sie in ihrem aktuellen Zustand gar nicht für ihn sorgen konnte.
»Frau Wenzel, ich kann mich ein paar Tage um Ihren Kleinen kümmern«, hörte sie ihre Nachbarin sagen. Waltraud Schulz trat in ihr Blickfeld. »Wenn es Ihnen hilft, auch hier bei Ihnen im Haus. Da hat der Junge alles um sich, was er braucht«, schlug sie vor.
»Wirklich?« Dankbar sah sie zu Frau Schulz hoch. Tatsächlich erleichtert war sie nicht. Nico und die Nachbarin kannten sich kaum, doch eine bessere Lösung wusste sie auch nicht, schon gar nicht von einem Moment zum anderen und mit einem Hirn, das ihr kaum gehorchen wollte.
»Sicher«, versprach Waltraud Schulz. Nico weinte ununterbrochen.
»Schätzchen«, wandte Hannah sich an ihren Sohn. »Ich muss mit der Frau Doktor mitfahren, damit ich schnell wieder gesund werde. Frau Schulz passt so lange auf dich auf. Bist du ein großer Junge und zeigst ihr alles? Sie kann im Wohnzimmer auf der Couch schlafen.« Sie sah wieder zu der Nachbarin. »Die kann man ausklappen, dann ist genug Platz.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe drei Enkel. Wir kommen schon zurecht, nicht wahr, Nico?« Nico gab keine Antwort, stattdessen warf er sich auf seine Mutter und klammerte sich an ihr fest. Hannah strich ihm über den Rücken.
»In ein paar Tagen bin ich wieder daheim«, versprach sie und hoffte, sie konnte ihre Zusage einhalten. »Dann machen wir was ganz Schönes.«
»Ich will nix Schönes machen. Ich will, dass du hierbleibst.« Nico weinte immer lauter. Hannah bekam Herzrasen, und obwohl sie noch immer im Garten auf der Wiese lag, wurde ihr plötzlich entsetzlich schwindelig. Die Ärztin sagte etwas und band ihren Oberarm ab. Hannah brach der Schweiß aus. Nahm sie ihr etwa Blut ab? Hier, auf dem Rasen und während Nico zusah? Sie spürte einen Einstich in der Beuge des Ellbogens.
»Ich habe Ihnen einen Zugang gelegt, Frau Wenzel«, sagte Dr. Hartmann. »Sie bekommen jetzt eine Infusion, dann fahren wir in die Klinik.« Ihre Stimme kam von weit her, und Hannah glitt in gnädige Dunkelheit.
*
Nico saß auf dem Sofa, seinen sandigen Bagger neben sich, und konnte nicht aufhören zu weinen. Die Doktor-Frau hatte die Mama mithilfe von zwei Männern, die einen roten Anzug mit dicken silbernen Streifen getragen hatten, auf eine Liege gelegt, die man an zwei Stecken tragen konnte, und mitgenommen. Jetzt war er ganz alleine mit der Nachbarin, und er wusste auch gar nicht, wann die Mama wiederkam. Falls sie überhaupt wiederkam. Er wollte nicht mehr im Sandkasten spielen, er wollte auch keine Saftschorle und nichts zu essen, obwohl er schon ein bisschen Hunger hatte. Die Nachbarin saß auf Mamas Sessel und bot ihm ganz viel an, was er machen konnte. Zum Beispiel, der Mama ein Bild malen, damit sie sich freute, wenn er sie im Krankenhaus besuchen durfte. Er wusste doch gar nicht, wie er ins Krankenhaus kommen sollte. Vielleicht musste er dazu auch krank werden? Es war alles ganz schrecklich.
»Nico, mein Kleiner«, begann die Nachbarin wieder zu reden. Er hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Und ›ihr Kleiner‹ war er auch nicht, er war Mamas Kleiner. »Wir müssen rüber in mein Haus. Dort steht die Terrassentür offen, und ich brauche ein paar Sachen, damit ich hier übernachten kann. Du musst mitkommen, ich kann dich nicht alleine lassen. Und wenn wir wieder hier sind, koche ich dir Nudeln mit Tomatensoße. Magst du das?«
Nico warf sich rücklings aufs Sofa und strampelte verzweifelt mit den Beinen. Ja, er mochte Nudeln mit Tomatensoße ganz doll, aber nur die von Mama und manchmal die von Therese, die mit ihnen im Kindergarten spielte, bastelte und sang und eben manchmal auch kochte. Aber nicht die von der Nachbarin.
Plötzlich stand die Nachbarin neben ihm. Sie sah ein bisschen traurig aus, und Nico hörte auf zu strampeln.
»Es tut mir wirklich leid, Nico, dass deine Mama krank geworden ist und die Ärztin sie mitnehmen musste. Ich verstehe auch, dass du wütend und unglücklich bist, und wahrscheinlich findest du es auch doof, dass ich jetzt hier bin.«
Nico schniefte und gab keine Antwort.
»Meinst du, du kannst mir helfen, dass wir ein paar Tage miteinander zurechtkommen? Ich kenne mich ja bei euch gar nicht aus. Wenn du zum Beispiel Hunger hast, weiß ich nicht einmal, wo ich einen Kochtopf finde«, fuhr sie fort.
Nico rieb sich mit dem Ärmel über die Augen. Die brannten jetzt ziemlich, und seine Nase war irgendwie zu, sodass er durch den Mund atmen musste.
»In der Küche«, sagte er und merkte, dass auch seine Stimme heiser klang. »Da«, ergänzte er und zeigte quer durchs Wohnzimmer.
»Und wo da?«, fragte die Nachbarin. Er überlegte, wie sie hieß. Es fiel ihm nicht ein.
»Unten im Schrank«, gab er Auskunft und setzte sich. Auf dem Sofa waren viele Sandkrümel. Die kamen von seinem Bagger. Das würde die Mama ärgern. Aber er wusste, wo der Staubsauger stand. Damit konnte man sie wegmachen.
»Zeigst du es mir?«, fragte die Nachbarin. Er nickte. Er würde ihr den Kochtopf zeigen, und sie konnte ihm helfen, den Staubsauger aus der Putzkammer zu holen. Das konnte er nämlich nicht alleine, weil die zugesperrt war und der Schlüssel an einem Nagel hing, ganz oben neben dem Türrahmen. Das war wegen der Putzmittel, die in der Kammer standen. Die Mama hatte immer ein bisschen Angst, er könnte mal damit spielen. Dabei wollte er das gar nicht, und außerdem war er schon recht groß und wusste, dass Putzmittel manchmal scharf und ein bisschen gefährlich waren, wenn man nicht gut aufpasste. Er passte aber gut auf.
»Holst du mir dann den Staubsauger?«, fragte er und schniefte noch einmal.
»Mach ich«, sagte die Nachbarin und betrachtete die Sandkrümel. Wenigstens schimpfte sie nicht. Nico rutschte vom Sofa und trottete in die Küche.
»Da drin ist der Topf«, sagte er und zeigte auf einen der unteren Schränke.
»Habt ihr denn auch Nudeln? Und Tomaten?«, fragte die Nachbarin.
»Nudeln sind da oben.« Er zeigte in das offene Küchenregal. »Aber Tomaten haben wir nicht. Du kannst ein Soßenglas aufmachen. Das steht da«, erklärte er und fühlte sich ein ganz kleines bisschen besser. Er wusste ziemlich viel.
»Gut. Hast du Lust, mit mir einkaufen zu gehen?«
»Nö«, entfuhr es ihm, und er verschränkte die Arme vor der Brust.
»Nicht?«, fragte die Nachbarin. Sie klang so, als würde sie jetzt darauf bestehen, dass er mitkam. Nico zog die Nase kraus. Er ging nicht gern einkaufen. Außerdem waren genug Nudeln mit Soße da. Aber als er vor ein paar Tagen mit Mama in dem Einkaufsgeschäft gewesen war, hatte ihm die Kassiererin einen Lutscher geschenkt, der ausgesehen hatte wie ein Fußball, mit einem grünen Rand. Er hatte sehr lecker nach Apfel geschmeckt. Sie hatte ein ganzes Glas voll mit diesen Lutschern neben ihrer Kasse stehen gehabt. Vielleicht bekam er noch mal einen, wenn er mitging.
»Na gut«, rang er sich zu einer Zusage durch. Vielleicht wusste die Nachbarin ja auch nicht, wo der Einkaufsladen war. Es war nicht weit, nur ein bisschen die Straße runter und dann rechts. Dann waren sie schon da.
»Schön. Dann gehen wir jetzt zu mir rüber, und ich hole meinen Geldbeutel und ein paar Sachen für heute Nacht, und dann gehen wir einkaufen«, entschied die Nachbar-Frau. Nico gab keine Antwort. Ihm war plötzlich wieder eingefallen, dass er heute ohne die Mama schlafen gehen musste und dass stattdessen die Frau hierblieb. Und jetzt war ihm wieder nach Weinen, und einen Fußball-Lutscher wollte er auch nicht mehr.
*
Waltraud Schulz trug ihre volle Einkaufstasche über dem Arm. Besorgt betrachtete sie den kleinen Jungen, der mit gesenktem Kopf neben ihr hertrottete. Er tat ihr schrecklich leid. Seine Welt war aus den Fugen, von einem Moment zum anderen. Sie hatte vorhin Hannah Wenzel noch fragen wollen, ob sie jemanden verständigen sollte. Den Vater des Jungen zum Beispiel. Doch dann hatte sie sich gedacht, dass Hannah das vielleicht selbst übernehmen wollte. Sie war ja wieder bei Bewusstsein gewesen und gut ansprechbar. Gab es denn im Umfeld der kleinen Familie niemanden, der dem Kleinen vertrauter war als sie? Hannah und Nico Wenzel wohnten seit etwa drei Jahren neben ihr, und in der ganzen Zeit hatte sie kaum je Besuch drüben gesehen und auch keinen Mann, der der Vater hätte sein können.
Sie würde jetzt erst einmal etwas für den Jungen kochen. Eine schöne frische Tomatensoße mit Basilikum sollte es zu den Nudeln geben, nicht so ein Fertigzeug. Es würde ihm sicher schmecken. Ihre Enkelkinder, die leider im weit entfernten Hamburg wohnten, mochten diese Soße sehr gern. Als Nachtisch hatte sie eine Packung Vanilleeis besorgt. Nico hatte unbedingt einen Fußball-Lutscher gewollt. Leider hatte sie im ganzen Laden keinen gefunden, und an der Kasse hatte ein junger Mann gesessen, der ihnen auch nicht weiterhelfen konnte.
Waltraud Schulz schloss mit Hannahs Schlüssel deren Haus auf und trug als Erstes die Einkäufe in die Küche. Das Eis musste ins Gefrierfach.
»Nico?«, rief sie. »Magst du mir helfen, die Tomaten zu schneiden?« Dafür war er alt genug, entschied sie, und irgendwie musste sie ihn ja beschäftigen. Es kam keine Antwort.
Waltraud stellte den Kochtopf, den sie eben aus dem Schrank geholt hatte, auf die Arbeitsfläche und ging in den Flur. Dort hockte der kleine Junge auf dem Boden, seine Sandalen noch an den Füßen, und guckte niedergeschlagen ins Leere. Waltraud ging die Knie.
»Was ist denn, Nico?«, fragte sie sanft. »Ist es wegen deiner Mama, oder quält dich noch mehr?« Nico zog die Beine an den Bauch und legte den Kopf darauf, sodass sie ihm nicht mehr ins Gesicht sehen konnte.
»Die Mama soll wiederkommen«, flüsterte er.
»Ich kann dich ja verstehen, kleiner Mann«, erwiderte Waltraud und strich ihm über den Arm. »Aber Gesundwerden dauert manchmal ein bisschen. Willst du mir bis dahin in der Küche helfen?« Nico schüttelte den Kopf, ohne hochzusehen.
»Möchtest du stattdessen das Sofa absaugen?«, fragte sie. Damit kam er wahrscheinlich nicht zurecht, und sie musste ihm helfen, falls er das zuließ. Nico schüttelte den Kopf und drückte noch immer das Gesicht auf die Knie. Waltraud war ratlos. Sie konnte ihn doch nicht im Flur sitzen lassen.
»Schaltet dir die Mama manchmal den Fernseher an?«, fragte sie und warf in ihrer Hilflosigkeit ihre pädagogischen Grundsätze über den Haufen.
»Hm«, machte Nico.
»Und was guckst du dann an?«
»Der kleine Rabe Socke«, nuschelte Nico.
»Okay, aber wir müssen erst in der Zeitung nachsehen, wann der drankommt«, gab Waltraud zu bedenken. Hoffentlich gab es eine Fernsehzeitschrift im Haus. Wenn nicht, musste sie wieder nach nebenan, und das gab neue Verhandlungen mit dem Jungen.
»Der kommt doch nicht in der Zeitung.« Jetzt sah Nico hoch. Seine Haare waren verstrubbelt, und in seinem kleinen Gesicht stand der ganze Kummer, den er empfand, gepaart mit ungläubigem Vorwurf, weil sie offenbar etwas nicht wusste, das für ihn selbstverständlich war.
»Der ist auf einer DVD«, erläuterte er. »Und die liegt im Schrank.«
»Ach so.« Kurz war sie so erleichtert, dass sie fast gelacht hätte. »Möchtest du den Film sehen, während ich koche?«, fragte sie.
»Na gut«, murmelte Nico, stand auf und tappte ins Wohnzimmer. Er hatte noch immer seine Sandalen an. Egal. Für die Erziehung war sie nicht wirklich zuständig. Nico kramte in einem Fach des Fernsehschranks und hielt ihr gleich darauf eine DVD entgegen.
»Einlegen musst du sie. Das kann ich nicht«, informierte er sie. Waltraud betrachtete die Hülle der DVD. Der Film dauerte über eine Stunde. Viel zu lange für so ein kleines Kind, wie sie fand. Nun gut. In Ausnahmesituationen musste man sich auf Kompromisse einlassen. Wobei sie sich nicht vorstellen konnte, dass Hannah Wenzel den Film nach der Hälfte der Zeit stoppte, damit Nico erst am nächsten Tag weiter sah. Aber das war nicht ihre Verantwortung.
*
Eigentlich mochte er den Film mit dem Raben Socke voll gerne. Aber heute machte es Nico gar keinen Spaß, zuzusehen. Die Sandkrümel hatte die Nachbar-Frau weggesaugt. Der dumme Sauger hatte sich am Polster festgehalten und gar nicht ziehen lassen. Dann hatte er keine Lust mehr gehabt. Und sie hatte gesagt, er sollte sie Oma Traudl nennen. Das fand er eigentlich ganz lustig, eine Oma hatte er nämlich nicht. Der Bagger stand jetzt auf der Terrasse.
Oma Traudl sah zu ihm.
»Das Essen ist fertig, Nico. Wir unterbrechen jetzt deinen Film, damit die Nudeln nicht kalt werden. Danach habe ich noch was zu naschen für dich, und dann darfst du die DVD zu Ende sehen«, sagte sie. Nico nickte. Hunger hatte er schon. Was zu Naschen hörte sich auch nicht schlecht an. Und der Film war ihm heute sowieso egal.
*
Waltraud beobachtete den Jungen unauffällig. Er stocherte in seinen Nudeln und aß ganz langsam. Sie würde versuchen, im Laufe des Nachmittags mit seiner Mutter zu telefonieren. Vielleicht konnte der Kleine auch selbst mit ihr sprechen, eventuell tröstete ihn das. Viel Hoffnung hatte sie nicht, so niedergeschlagen, wie er am Tisch saß. Ob er Lust hatte, nachher mit ihr auf den Spielplatz zu gehen? Sie könnten hinlaufen, auch der Spielplatz war nicht weit entfernt. Er war sehr schön, und vieles war im Frühjahr neu gemacht worden. Es gab jetzt sogar eine kleine Seilbahn, die machte allen Kindern Spaß. Als vor ein paar Wochen ihr Sohn Heiner mit Lina, seiner Frau, und den Enkeln zu Besuch gewesen war, waren sie einige Male dort gewesen.
Nico legte seine Gabel sorgsam an den Tellerrand und fasste mit beiden Händen nach seiner Apfelsaftschorle. Er trank ein paar Schlucke, stellte das Glas ab und senkte wieder den Kopf.
»Schmeckt es dir nicht?«, fragte Waltraud besorgt.
»Doch«, sagte Nico leise.
»Aber?«
»Ich hab gar keinen Hunger.«
»Dann möchtest du auch nichts zu naschen?«
Nico schüttelte den Kopf. Sie hatte es geahnt, und von einem Moment zum anderen fühlte sie sich überfordert. Den Spielplatz brauchte sie gar nicht vorzuschlagen. Er würde auch das nicht wollen. Nico war völlig darauf fixiert, dass seine Mama wiederkam. Er tat ihr schrecklich leid, aber dass sie nun tagelang beieinandersaßen und er alles ablehnte, was sie anbot, war auch keine Lösung.
Waltraud stand auf. Sie würde jetzt in der Klinik anrufen.
Wenige Minuten später ging sie resigniert zurück in die Küche. Hannah war gerade bei einer Untersuchung. Man wollte ihr ausrichten, dass sie angerufen hatte.
»Nico, gibt es irgendetwas, was du gerne machen möchtest?«, fragte Waltraud, allmählich bereit, fast allem nachzugeben, was der Junge wollte. Nico schüttelte den Kopf.
»Gut. Dann räume ich jetzt das Essen weg. Du sagst mir, wenn du Hunger bekommst, ja?«
Nico nickte.
»Danach gehen wir in den Garten. Ich mache dir den Sandkasten auf, ist das in Ordnung?« Nico zuckte mit den Schultern, ohne sie anzusehen.
Waltraud beschloss, vorübergehend alle Vorschläge einzustellen. Sie würde sich mit ihrer Handarbeit jetzt auf Hannah Wenzels Terrasse setzen. Wahrscheinlich brauchte der Junge einfach Zeit, sich mit der Situation zu arrangieren.
*
Nico sah zu, wie Oma Traudl das restliche Essen in den Kühlschrank stellte. Mit einem feuchten Tuch wischte sie über die Tischplatte des Esstisches und hängte das Tuch über den Wasserhahn der Küchenspüle.
»Ich gehe in den Garten, Nico«, sagte sie freundlich. »Komm einfach nach, wenn du magst.« Sie wartete keine Antwort ab und ging durchs Wohnzimmer zur Terrassentür. Er sah, wie sie sich auf Mamas Stuhl setzte, und bekam Bauchweh. Es gab noch zwei weitere Stühle. Die konnte sie beide haben, aber nicht den von Mama. Nico beschloss, nichts zu sagen, denn eben fiel ihm etwas ein: Oma Traudl saß mit dem Rücken zum Wohnzimmer. Vielleicht konnte er schnell die Mama anrufen? Er wusste, wie das ging. Im Telefon war ihre Nummer eingespeichert. Er musste nur den Hörer abnehmen und auf das Sternchen drücken und auf die neun. Dann rief er Mamas Handy an. Dann konnte er ihr wenigstens sagen, dass er sie doll vermisste.
In Nicos Nase kribbelte es, und er wusste, er würde gleich wieder weinen. Schnell rutschte er vom Stuhl und lief ins Wohnzimmer. Oma Traudl war mit weißer Wolle beschäftigt. Er huschte zum Telefon, hob den Hörer ab und tippte auf den Stern und die neun. Es klackerte in der Leitung, der Ruf ging hin, und plötzlich läutete es im Flur. Vor Schreck ließ er den Hörer fallen.
»Nico? Was war das denn?« Oma Traudl stand unter der Terrassentür, und aus dem Flur läutete es noch immer. Er fing an zu schluchzen. Die Mama hatte ihr Handy nicht mit im Krankenhaus. Jetzt konnte er sie gar nicht anrufen.
*
Hannah lag in ihrem Klinikbett. Über einen dünnen, durchsichtigen Schlauch tropfte eine klare Flüssigkeit in ihre Vene. Endlich waren die Kopfschmerzen besser, und sie fror auch nicht mehr so schrecklich. Das Fieber war wohl zurückgegangen. Die Gliederschmerzen plagten sie allerdings unverändert.
Den Tag über hatte sie ein paar Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen. Die Ergebnisse würde sie in den nächsten ein bis zwei Tagen bekommen. Das zweite Bett in ihrem Zimmer war leer, und sie war dankbar für die Ruhe. Das Abendessen stand bereits auf dem Auszug des Nachttisches. Sie hatte keinen Hunger. Sie wollte unbedingt zu Hause anrufen und sich vergewissern, dass es Nico gut ging. Leider hatte sie ihr Handy nicht bei sich. Heute Morgen, als sie unerwartet zusammengeklappt war, hatte sie nicht daran gedacht. Überhaupt brauchte sie ein paar Sachen von zu Hause. Wasch- und Zahnputzzeug, Wäsche, einen Schlafanzug und natürlich das Handy samt Ladekabel. Es war ihr sehr unangenehm, Waltraud Schulz darum zu bitten, doch sie hatte niemand anderen. Nun bekam sie die Quittung dafür, dass sie zu sämtlichen früheren Freunden und Bekannten den Kontakt gemieden hatte, nachdem sie sich von Steffen getrennt hatte. Und nicht nur das, um sämtliche Brücken abzubrechen und neu anzufangen, war sie von ihrem Heimatort Lobenhausen ins fünfzig Kilometer entfernte Gartendorf gezogen. Sie mochte die Ortschaft und das kleine Haus, das sie gemietet hatte, freute sich an ihrem Garten und erreichte fußläufig nahezu alles, was im Alltag wichtig war. Den Discounter, den Kindergarten, der leider gerade wegen der Pfingstferien geschlossen hatte, es gab eine Apotheke im Ort, eine Niederlassung der Post; und brauchte sie einen Arzt oder wollte sie doch mal einen Stadtbummel machen, so waren es bis Maibach, der nächstgelegenen Stadt, mit dem Auto auch nur etwa zehn Minuten.
Hannah wandte sich zu dem Nachtschrank, auf dem, außer einer Flasche Wasser und einem Glas, auch ein Telefon der Klinik stand. Sie hatte vor etwa einer Stunde eine Lernschwester gebeten, es für sie freischalten zu lassen.
Hannah hob den Hörer ab, und das Freizeichen ertönte. Sie wählte ihre eigene Nummer.
»Schulz bei Wenzel«, meldete sich die Nachbarin nach dem dritten Läuten.
»Hallo Frau Schulz, hier ist Hannah Wenzel«, sagte Hannah und merkte sofort, wie sehr sie das Reden anstrengte.
»Ach, Frau Wenzel, wie schön, dass Sie anrufen. Ich habe auch schon versucht, Sie zu erreichen«, sagte Waltraud Schulz. Hannah erschrak sofort.
»Hat man es Ihnen ausgerichtet?«
»Leider nein. Ist etwas mit Nico?«, fragte sie und spürte in jeder Zelle ihres Körpers die Alarmbereitschaft.
»Nein, nein«, beschwichtigte Frau Schulz sie. »Es ist nur … Traurig ist er natürlich schon und auch ein bisschen durcheinander. Ich wollte nur wissen, wie es Ihnen geht.« Sie sagte nicht die ganze Wahrheit, das merkte Hannah deutlich. Wenn es um ihren Jungen ging, hatte sie seit Langem ein feines Gespür.
»Es geht mir besser als heute Morgen. Die Untersuchungsergebnisse sind aber noch nicht da. Kann ich Nico sprechen?«
»Sicher. Moment, er ist in seinem Zimmer.« Hannah hörte, dass die Nachbarin den Hörer beiseitelegte.
Nico war in seinem Zimmer. Das allein war Grund genug zur Sorge. In sein Zimmer verkroch er sich, wenn er Kummer oder etwas verbockt hatte. Ansonsten nutzte er es vorwiegend zum Schlafen oder um etwas zu spielen, das sie ihm im Wohnzimmer nicht erlaubte.
»Mama?«, hörte sie das Stimmchen ihres Kindes, und sofort schnürte es ihr die Kehle zu. Ihr Kleiner klang todunglücklich und fing auch sofort an zu weinen. »Ich will, dass du heimkommst«, schluchzte er.
»Nico, mein Schätzchen. Ich komme ganz bald wieder. Der Doktor hat mich heute gründlich untersucht. Morgen weiß er bestimmt, was ich habe, dann kann er mir Medizin geben, und ich darf nach Hause.«
»Ich will aber, dass du jetzt kommst.« Er weinte immer heftiger.
»Was habt ihr denn heute gemacht, du und Frau Schulz?«, versuchte Hannah ihn abzulenken. Das Wissen um seine Verzweiflung legte sich wie eine bleierne Decke auf ihre Schultern.
»Nichts«, schluchzte er. Nichts? Dann war es kein Wunder, dass er in Kummer versank, wenn er keinerlei Ablenkung hatte und stattdessen ständig eine fremde Frau um sich.
»Wir waren nur einkaufen, und ich hab gar keinen Lutscher bekommen, weil keine mehr da waren. Die Nudeln waren gut und die rote Soße auch, aber ich mag nix essen, wenn du nicht da bist, und Tomaten wollte ich auch nicht schneiden. Aber ich wollte den Sand vom Sofa saugen, aber das ging nicht, weil der …, der …«
»Wer denn?«, fragte sie sanft. Sie waren also einkaufen gewesen, und Frau Schulz hatte gekocht.
»Der Sauger hat das Sofa festgehalten«, erklärte Nico und weinte jetzt nicht mehr. Hannah musste lächeln. Ihr Kleiner hatte noch nicht die Kraft, die Düse des Saugers über das Polster zu ziehen, wenn das Gerät in Betrieb war. Vermutlich hatte er wieder seinen Bagger aufs Sofa gestellt oder war mit sandigen Schuhen draufgekrabbelt.
»Und ich wollte den Raben Socke angucken, aber heute wollte ich nicht.«
»Vielleicht möchtest du ihn wieder ansehen, wenn ich zurück bin«, tröstete Hannah ihn. »Jetzt ist auch bald Zeit, ins Bett zu gehen. Wenn du ganz schnell schläfst, ist bald morgen. Und morgen früh können wir wieder telefonieren.«
»Wenn du mir keine Gute-Nacht-Geschichte vorliest, kann ich nicht schlafen«, jammerte Nico.
Hannah überlegte, ob Frau Schulz für die Geschichte einspringen konnte, doch sie bezweifelte, dass Nico diesen Ersatz akzeptieren würde. Auch der Gedanke, zwei Geschichten in Aussicht zu stellen, sowie sie wieder zu Hause war, würde im Augenblick nicht helfen. Wahrscheinlich half gerade gar nichts.
»Schätzchen, du gehst jetzt ordentlich Zähneputzen und dann ins Bett. Wenn du magst, guck dir noch ein Bilderbuch an, und dann schläfst du ganz schnell. Ich bin sehr froh, dass Frau Schulz auf dich aufpasst.« Sie sprach in dem ruhigen Tonfall, mit dem sie immer mit Nico redete, wenn sie ihm verständlich machen wollte, dass er mit keinen Widerworten durchkommen würde.
»Sie heißt Oma Traudl«, berichtigte Nico mit heiserem Stimmchen.
»Schön. Gute Nacht, mein Kleiner. Gib mir doch bitte noch mal Oma Traudl.«
»Die Mama mag dich sprechen«, hörte sie ihren Kleinen sagen, der ohne Abschied den Hörer weiterreichte. Der fehlende Abschiedsgruß drückte ihr aufs Gemüt, dabei war sich Nico dessen vermutlich gar nicht bewusst.
»Hallo, Frau Wenzel«, sagte ›Oma Traudl‹.
»Frau Schulz, steht Nico noch neben Ihnen?«, fragte sie beklommen.
»Ja.«
»Ich habe ihn zum Zähneputzen geschickt. Danach soll er ins Bett. Er darf sich noch ein Bilderbuch angucken, wenn er möchte, dann muss er schlafen.«
»In Ordnung. Nico, gehst du schon mal Zähne putzen? Ich komme in ein paar Minuten noch mal zu dir, in dein Zimmer«, sagte die Nachbarin. Sekundenlang war es still in der Leitung.
»So. Jetzt bin ich allein«, sprach Frau Schulz mit gesenkter Stimme.
»Ist es sehr schlimm?«, fragte Hannah rundheraus, und es schnürte ihr die Kehle zu.
»Na ja.« Sie hörte ein hilfloses kurzes Lachen. »‹Schlimm‹ ist nicht der richtige Ausdruck. Nico will im Moment eigentlich gar nichts machen. Ich dachte, vielleicht mag er in der Küche ein wenig helfen, die Tomaten für die Soße schneiden, zum Beispiel. Ich habe Vanilleeis gekauft, als Nachtisch, und Fernsehen vorgeschlagen, wofür ich mich regelrecht schäme. Wissen Sie, ich habe drei Enkel. Die sind drei, vier und sieben Jahre. Die würde ich nie vor den Fernseher setzen, aber in dem Fall … Einen Spielplatzbesuch habe ich gar nicht mehr vorgeschlagen und ihm stattdessen die Sandkiste aufgemacht. Aber auch da saß er nur am Rand und … na ja.« Sie brach ab, und Hannah fühlte sich immer elender.
»Außerdem hat er versucht, Sie über Ihr Handy anzurufen. Meine Güte, ich sollte Ihnen das alles gar nicht erzählen. Es belastet Sie ja auch.« Frau Schulz klang niedergeschlagen.
»Nein, Frau Schulz. Ich bin Ihnen erstens sehr dankbar, dass Sie so unkompliziert und umgehend eingesprungen sind, und zum anderen möchte ich durchaus die Wahrheit wissen. Nico war bisher, wenn er nicht gerade im Kindergarten war oder bei Freunden, immer nur mit mir zusammen. Es ist klar, dass er jetzt unglücklich und durcheinander ist.«
Von einer Sekunde zur nächsten wurde ihr klar, dass sie und Nico in ihrer Zweisamkeit in einer Art Isolation lebten, die dem Jungen in Situationen wie dieser zum Nachteil wurde. Er brauchte, außer ihr, noch mindestens eine erwachsene Vertrauensperson. Was, wenn sie durch einen Unfall oder eine richtig schlimme Erkrankung längerfristig nicht mehr für ihn sorgen konnte? Sie wusste ja auch noch nicht, was genau sie außer Gefecht gesetzt hatte. Wie lange dauerte eine Hirnhautentzündung, ausgelöst durch einen Zeckenbiss? Oder hatte sie etwas anderes? Etwas, das ihr Stück für Stück die Energie raubte, für Nico da zu sein und für ihren Lebensunterhalt zu sorgen? Eiskalt überlief es sie, und diesmal hatte das Frösteln nichts mit dem Fieber zu tun, das zwar heruntergegangen, aber noch nicht weg war.
»Ich bin gerne eingesprungen. Ich habe reichlich Zeit, und wir wohnen nebeneinander. Wenn ich etwas brauche, gehe ich zusammen mit Nico nach drüben, und ansonsten hat er zumindest alles um sich, was er braucht und was ihm vertraut ist«, sagte Waltraud Schulz.
»Ich danke Ihnen jedenfalls sehr. Dürfte ich Sie noch um etwas bitten?«, fragte Hannah.
»Sicher«, sagte Frau Schulz.
»Ich bräuchte ein paar Sachen für den Klinikaufenthalt. Ob Sie mir die bringen könnten?«
»Selbstverständlich«, versicherte die Nachbarin. »Ich hole mir rasch etwas zu schreiben, damit ich nichts vergesse«, meinte sie.
»Ja«, erwiderte Hannah. Im besten Fall war ihre momentane Erkrankung nur vorübergehender Natur, und sie war bald wieder einsatzfähig. Trotzdem…
Steffens Gesicht erschien vor ihrem inneren Auge, und wieder fröstelte sie. Es war ein Fehler gewesen, ihm damals nichts von der Schwangerschaft zu erzählen. Doch sie war so überzeugt gewesen, dass es der einzige und richtige Weg war, ihm seine ersehnte Freiheit zu lassen. Dennoch – was, wenn sie die Situation falsch eingeschätzt hatte? Vielleicht hätte Steffen wenigstens ab und an Kontakt zu seinem Sohn haben wollen? Sie hatte ihm und Nico eine Chance genommen. Jetzt war es vermutlich zu spät. Bei der Vorstellung, ihm jetzt von seinem Jungen zu erzählen, fühlte sie sich noch elender als ohnehin schon. Zudem wusste sie gar nicht, wie sie ihn erreichen konnte. Damals, kurz bevor sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte, hatte Steffen seine Wohnung gekündigt und seine Arbeit als Musiklehrer in einer Grundschule aufgegeben, um sich eine Auszeit zu nehmen und die ersten der ersehnten Reisen zu machen, sooft als möglich mit ihrer Begleitung.
Eine Familie, an die sie sich wenden konnte, hatte sie nicht. Sein Vater war früh verstorben, zu seiner Mutter hatte er keinen Kontakt gehabt, und auch Geschwister gab es nicht. Wie hätte sie ihn jetzt ausfindig machen können? Nein, es war zu spät.
*
Nico saß auf Hannahs Bettkante und umklammerte den Arm seiner Mutter.
»Ich bleib bei dir«, schluchzte er. Hannah streichelte seinen Kopf.
»Schätzchen, das geht nicht. Oma Traudl fährt jetzt mit dir nach Hause. Ich freue mich sehr, dass du da warst, und über die Sachen, die ihr mir mitgebracht habt. Ich muss aber noch eine Weile hierbleiben.«
Unerwartet ließ Nico ihren Arm los, blieb mit gesenktem Kopf auf der Bettkante sitzen und weinte still vor sich hin. Das war schlimmer als jeder lautstarke Protest. Hannah schnürte es die Kehle zu.
»Komm, kleiner Mann«, sagte Waltraud Schulz sanft und hielt Nico die Hand hin. Nico rutschte von der Bettkante und trottete zur Zimmertür, ohne die gereichte Hand zu nehmen. Ein Stein lag auf Hannahs Brust. Sie fand keine Worte, um ihren Jungen zu trösten, und sie fühlte sich Waltraud Schulz gegenüber schuldig. Die Nachbarin tat, was sie konnte, und bekam permanent den Widerstand des Kleinen zu spüren. Sie würde sie später noch einmal anrufen, sowie Nico im Bett war. Bis dahin hatte sie vielleicht auch schon die Untersuchungsergebnisse des Arztes.
Im Flur ließ Nico sich nun doch an die Hand nehmen. Das mochte an der fremden Umgebung liegen, die ihm wahrscheinlich auch Angst machte. Gerüche und Stimmen, Kunstlicht statt der Helligkeit des Tages, und viele fremde Menschen. Aus dieser Perspektive betrachtet, war Oma Traudl nun doch wieder eine Art Bezugsperson für ihn.
Wortlos kletterte Nico Minuten später in den Kindersitz, den Waltraud immer für einen ihrer Enkel auf der Rückbank ihres Autos hatte. Brauchte sie zwei oder gar drei Sitze, lieh sie sich diese von ihrem Sohn. Sie legte dem Kind den Sicherheitsgurt an.
Auf der Rückfahrt vom Maibacher Krankenhaus nach Gartendorf hielt sie in der Ortschaft neben dem Spielplatz und wandte sich zu Nico um.
»Wollen wir hier aussteigen? Möchtest du schaukeln oder rutschen?«, fragte sie. Nico sah nach draußen. Sekundenlang hegte Waltraud ein wenig Hoffnung, er könnte zustimmen, doch dann schüttelte er wortlos den Kopf.
»Dann fahren wir nach Hause«, entschied sie, völlig ratlos, womit sie ihn dort beschäftigen konnte. Mit ihren Enkeln war das nie ein Problem. Spielplatzbesuche wurden mit Begeisterungsrufen kommentiert und angenommen, ein Eis als Nascherei ging immer, Vorlesen war eine tolle Sache, wenn sie sich ausgetobt hatten, und zudem hatte die kleine Bande stets irgendwelche Spielideen, die sie je nachdem mehr oder weniger gut fand. Langeweile und Trübsal herrschte nie. Es gab nur gelegentlich kleinere Streitereien, wie unter Kindern üblich. Aber vielleicht war genau dies das Problem: Nico war mit ihr alleine. Er hatte keine Geschwister, der Kindergarten war geschlossen, und von Freunden sprach er gar nicht. Sie hätte seine Mutter fragen sollen.
»Nico«, sagte sie und sah in den Rückspiegel. »Mit welchen Kindern spielst du denn, wenn der Kindergarten zu ist, so wie jetzt?«
»Mit Luca«, kam eine überraschend schnelle Antwort.
»Möchtest du dich mit ihm treffen?« Hannah hatte hoffentlich nichts dagegen. Man war ja nicht mit jedem Spielgefährten der Kinder einverstanden. Sie hätte sie zuerst fragen müssen, doch jetzt war ihr Mund schneller gewesen als die Gedanken.
»Der ist mit Mama und Papa und Oma und Opa in Urlaub«, verkündete Nico.
Eine Hoffnung weniger.
»Und mit wem spielst du sonst noch?«, fuhr sie fort.
»Mit der Luise, aber die ist auch in Urlaub«, gab Nico Auskunft. Waltraud gab es auf. Sie beschloss, am Discounter noch einmal anzuhalten. Sie hatte heute Morgen im Werbeprospekt der Tageszeitung gesehen, dass es diverses Kinderspielzeug im Angebot gab. Ein Softballspiel, dafür war er wahrscheinlich noch zu klein. Plastikeimerchen mit Kordeln dran, zum Stelzenlaufen, ein Ringwurfspiel und manches mehr. Vielleicht konnte sie ihm mit einer Kleinigkeit eine Freude machen.
»Wo fährst du hin, Oma Traudl?«, fragte Nico, als sie Minuten darauf auf den Parkplatz des Discounters fuhr.
»Wir kaufen noch rasch was ein, Nico.« Sie parkte.
»Ich mag im Auto bleiben«, sagte er.
»Das geht nicht, mein Kleiner.«
»Ich bin ganz brav«, versprach er.
»Das weiß ich doch. Aber die Sonne scheint, und hier ist nirgends Schatten. Es wird ganz schnell viel zu warm im Auto.«
»Du kannst doch das Fenster aufmachen«, verhandelte Nico.
»Ich brauche dich, um einzukaufen«, hielt Waltraud dagegen, löste ihren Sicherheitsgurt und stieg aus. Nico gab keine weiteren Widerworte.
»Was soll ich dir denn helfen?«, erkundigte er sich, als sie schon an der Eingangstür des Ladens angekommen waren.
»Das zeige ich dir gleich«, versicherte Waltraud. Er sollte sich aus den Angeboten etwas aussuchen.
»Na gut«, murrte Nico. Sie hatten eben den Laden betreten, als Waltraud an der Kasse jemanden sah, den sie kannte. Magda Enzinger! Liebe Güte, es war schon ewig her, dass sie einander das letzte Mal gesehen und gesprochen hatten. Zu ihrer Freude, sie zu sehen, kam eine Spur schlechtes Gewissen. Sie hätte sich längst einmal bei ihr melden sollen. Magda zahlte und schob ihren randvoll gefüllten Einkaufswagen Richtung Ausgang.
»Magda!«, rief Waltraud Schulz. Magda blieb stehen, sah sich suchend um, und ihre Blicke trafen sich.
»Traudl!« Magda strahlte sie an. »Das ist ja eine Überraschung. Ich freue mich.«
»Und ich mich erst.« Die Frauen umarmten einander.
»Wie geht es dir denn? Ich schäme mich richtig, weil ich mich so lange nicht gemeldet habe«, gestand Waltraud.
»Mach dir keine Gedanken, ich hätte mich ja auch melden können. Es geht mir gut. Dir auch, wie ich sehe? Hast du eines deiner Enkelchen zu Besuch?«, fragte Magda.
»Das ist Nico. Er ist der Sohn meiner Nachbarin, die überraschend ins Krankenhaus musste«, erklärte Waltraud. »Nico, das ist Magda. Eine liebe Freundin von mir.«
Nico gab keine Antwort. Er musterte den Inhalt von Magdas Wagen. Da lag reichlich Spielzeug drin. Er sah einen Traktor mit einer Schaufel dran, der hätte ihm gefallen. Und bunte Flaschen, die zusammen mit zwei gelben Bällen in einem Netz verschnürt waren. Was man damit machen konnte, wusste er nicht. Und bunte Dosen auf denen Zahlen standen. Die Zahlen eins, zwei und drei konnte er schon lesen. Da war auch noch ein ganz eigenartiges Teil mit vielen Rädern dran und zwei Brettchen dazwischen.
»Was ist das?«, fragte er und steckte den Finger durch das Gitter von Magdas Wagen.
»Das mit den Rädern?«, erkundigte sich Magda. Nico nickte.
»Das ist ein Maxi-Roller. Man kann sich auf die Bretter stellen und treten wie bei einem Fahrrad oder Dreirad, und dann kann man damit fahren. Es ist aber gar nicht so leicht. Man verliert schnell das Gleichgewicht und fällt runter«, erklärte Magda. Nico rieb sich die Nase. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es schwer war, sich auf die Bretter zu stellen und zu treten. Bestimmt ging das ganz leicht. Er hätte es gerne ausprobiert, aber er traute sich nicht, die fremde Frau zu fragen.
Oma Traudl und die Frau redeten und redeten und ihm war ziemlich langweilig.
»So, Nico, jetzt gehen wir aber auch mal in den Laden«, sagte Oma Traudl endlich.
»Tschüss, Nico«, sagte Magda zu ihm.
»Tschüss«, murmelte er und sah, wie Oma Traudls Freundin den Einkaufswagen mit den schönen Sachen nach draußen fuhr.
»So Nico, nun wollen wir mal sehen, ob Magda noch ein paar Spielsachen übrig gelassen hat«, sagte Oma Traudl und hielt ihm wieder die Hand hin. Zögerlich ergriff er sie, um sie ihr nach ein paar Schritten wieder zu entziehen. In der Mitte des Ladens gab es einige große Tische aus festem Draht, so wie die Einkaufswagen. Darauf lag manches, was Magda auch gekauft hatte. Die bunten Plastikflaschen zum Beispiel. Suchend ging sein Blick über das Spielzeug. Viel war nicht mehr da, leider auch kein Traktor und auch keine Bretter mit Rädern dran. Aber ein Ringwurfspiel. So eines hatte Luca auch. Das hier war schöner, aus Holz und mit bunten Ringen. Das von Luca war aus Plastik, und die Farben waren schon ganz blass und manche Ringe ein bisschen kaputt, mit Rissen drin.
»Gefällt dir das?«, fragte Oma Traudl.
»Hm«, machte er.
»Wenn du es haben möchtest, kauf ich es dir«, sagte sie. Er überlegte. Er hätte lieber den Traktor gehabt oder Räder-Bretter. Eigentlich beides, aber da gab es nichts mehr. Und Ringe-Werfen war nur lustig, wenn man zu zweit oder zu dritt spielen konnte.
»Wir kaufen das Ringwurf-Spiel«, entschied Oma Traudl. Nico sagte nichts mehr. Oma Traudl nahm das Spiel, und sie gingen zur Kasse. Sie mussten ein bisschen warten, bis sie dran waren. Nachdem sie gezahlt hatten, verließen sie den Laden. Nico fiel ein, dass er sich für das Spiel bedanken musste.
»Danke«, murmelte er artig und fühlte sich gar nicht froh. Nun würden sie nach Hause fahren, und dann sollte er bestimmt mit den Ringen werfen und das sehr lustig finden. Bevor die Mama nicht wieder daheim war, konnte er gar nichts mehr lustig finden.
*
Waltraud saß mit ihrer Häkelarbeit im Wohnzimmer auf dem Sofa, Nico war in sein Zimmer gegangen. Sie hatten eine Weile Ringe-Werfen im Garten gespielt, doch es war offensichtlich gewesen, dass der Junge nur mitmachte, weil sie das Spiel gekauft hatte. Spaß hatte er nicht daran. Zum Mittagessen hatte sie Kartoffelbrei zubereitet und dazu Bratwurst und einen Gurkensalat. Immerhin hatte er gegessen. Nun hatte sich plötzlich der Himmel bewölkt, und seit einigen Minuten regnete es sogar. Nico hatte gesagt, er wollte in seinem Zimmer das Puzzle legen, vom kleinen Maulwurf, der mit seinen Freunden im Garten spielte. Seine Zimmertür hatte er geschlossen.
Auf dem Couchtisch lag ihr Handy. Es drängte sie, Magda anzurufen. Schon vorhin, im Discounter, hatte sie überlegt, sie wegen Nico um Rat zu fragen. Magda hatte selbst zwar weder Kinder noch Enkel, aber sie arbeitete seit langen Jahren im Kinderheim Sophienlust im nahe gelegenen Wildmoos als Köchin. Sie hatte viel Kontakt zu den Heimkindern und von daher auch sicher reichlich Erfahrung. Nicht, dass sie, Waltraud, selbst keine Erfahrung gehabt hätte. Schließlich hatte sie Heiner und Marion großgezogen, und Heiner hatte sie inzwischen zur mehrfachen Großmutter gemacht. Marion ließ sich in der Hinsicht Zeit. Aber sie hatte keine Ahnung von traumatisierten Kindern, und vielleicht hatte Nico durch den Zusammenbruch seiner Mutter eine Art Trauma erlebt. Sie hatte nicht gewagt, vor dem Jungen das Thema anzuschneiden, und sich vorgenommen, Magda am Abend anzurufen, wenn der Kleine schlief. Doch jetzt schien es ihr bis zum Abend noch endlos zu dauern, und Nico hatte sich in seinem Zimmer verkrochen. Vielleicht konnte sie Magda rasch ins Bild setzen?
Waltraud legte ihre Handarbeit weg. Sie fand keine Ruhe mehr.
Magda meldete sich beim dritten Läuten und klang ein wenig kurzatmig.
»Enzinger«, meldete sie sich.
»Magda, ich bin es, Traudl. Störe ich?«, antwortete Waltraud beklommen. Beinahe ein Jahr hatten sie nichts voneinander gehört, und nun rief sie sie an, weil sie ein Anliegen hatte. Sie hätte sie lieber zum Kaffee einladen sollen und dann das Thema anschneiden. Aber wie hätte sie das machen sollen, mit Nico zusammen?
»Gar nicht. Ich freue mich, dass du anrufst. Ich hole nur rasch was aus dem Ofen, dann habe ich Zeit für dich«, erwiderte Magda.
»Ja«, sagte Waltraud und sah durch die Wohnzimmertür in den Flur. Nicos Tür war noch immer geschlossen. Sie hörte es in der Leitung klappern, und gleich darauf war Magda wieder am Telefon.
»Also, was liegt dir auf der Seele?«, fragte die Freundin rundheraus. Waltraud lachte leise und verlegen.
»Woher weißt du, dass mich was beschäftigt?«
»Aber meine Liebe, so gut kenne ich dich. Es ist wegen des Jungen, nicht wahr? Ich hatte vorhin sehr deutlich den Eindruck, dass der Kleine recht niedergeschlagen ist und du offenbar ratlos bist.«
»Du hast es auf den Punkt gebracht«, gestand Waltraud. »Es ist so, dass Nico und ich uns kaum kennen. Er und seine Mutter leben alleine, direkt neben mir. Ich habe mich, seit die beiden vor etwa drei Jahren eingezogen sind, mit der Mutter ab und an ein bisschen unterhalten, das war es auch schon. Und jetzt …« So schnell wie möglich erzählte sie Magda, was passiert war, und behielt dabei stets die Tür des Kinderzimmers im Blick.
»Du gibst dir also alle Mühe, und der Kleine lehnt alles ab, versinkt in Trübsal und weint immer wieder nach seiner Mutter«, fasste Magda zusammen.
»Ja. Ich mache mir Gedanken, ob er durch den Vorfall traumatisiert ist«, gab Waltraud zu.
»Das weiß ich nicht, Traudl, aber ausschließen kann man es nicht. Er ist ja noch recht klein, und wenn die eigene Mutter bewusstlos vor ihm zusammengebrochen ist, das mag ihn schon sehr erschreckt haben. Geht er schon zur Schule?«
»Nein. Und im Kindergarten sind Ferien, und seine beiden besten Freunde sind mit ihren Eltern verreist.«
»Das heißt, ihr seid miteinander alleine, kennt euch kaum, er hat keine Spielgefährten und vermisst seine Mutter ganz schrecklich.«
»Ja. Und von einem Vater weiß ich nichts. Ich will auch nicht fragen, es geht mich ja nichts an.«
»Hm«, machte Magda nachdenklich.
»Du hast doch Erfahrung mit geschockten Kindern. Ihr habt doch immer wieder welche im Heim. Wie kann ich ihm denn helfen?«, fragte Waltraud.
»Meine Erfahrungen halten sich da in Grenzen, Traudl. Wie lange muss seine Mutter in der Klinik bleiben?«
»Ich weiß es nicht. Es ist ja noch nicht einmal sichergestellt, was genau sie hat. Sie fürchtet eine Hirnhautentzündung durch einen Zeckenbiss«, antwortete Waltraud.
»Gut. Was ich dir vorschlagen kann, ist tatsächlich Sophienlust. Sprich mit Nicos Mutter und erzähle ihr von unserem schönen Kinderheim. Hier hätte der Kleine Spielgefährten und reichlich Ablenkung. Dass er gut untergebracht wäre, weißt du.«
»Im Ernst?« Waltraud war verblüfft. Auf die Idee war sie gar nicht gekommen. Und wäre sie auf die Idee gekommen, so hätte sie sie Hannah Wenzel wahrscheinlich nicht vorgeschlagen. Sie hätte das Gefühl gehabt, als wollte sie ihre Zusage, sich um Nico zu kümmern, wieder zurücknehmen, weil es ihr zu anstrengend wurde.
»Natürlich. Es ist ja unerheblich, ob er nur ein paar Tage bei uns bleibt oder ein paar Wochen, je nachdem wie lange es dauert, bis seine Mutter sich erholt hat.«
»Ja«, sagte Waltraud bedächtig. »Ja, du hast recht. Ich spreche mit ihr darüber.«
»Mach das und erzähl mir, was dabei herausgekommen ist. Und lass uns doch mal wieder was zusammen unternehmen. Wir könnten eine Radtour zum Bockshügel machen. Das kleine Restaurant oben hat einen neuen Pächter.«
»Gern. Am Bockshügel war ich schon lange nicht mehr«, stimmte Waltraud zu. Ihre Gedanken waren bei einem Telefonat mit Hannah Wenzel. Das wollte sie gleich erledigen, ehe sie der Mut verließ. Mehr als Nein sagen konnte Nicos Mutter nicht.
*
Hannah lag schluchzend im Bett, wobei sie nicht wusste, ob sie vor Erleichterung weinte oder vor Enttäuschung, weil sie noch nicht nach Hause durfte. Eben war Dr. Willmann, der Arzt, bei ihr gewesen. Der Zeckenbiss war nicht für ihre Erkrankung verantwortlich. Sie hatte eine ganz banale, wenn auch heftige Sommergrippe. Nach dieser Information war sie zunächst unglaublich erleichtert gewesen und hatte sofort nach Hause gewollt. Dr. Willmann hatte sich entschieden dagegen ausgesprochen. Sie brauchte absolute Ruhe, um sich zu erholen und Folgeerkrankungen zu vermeiden.
Er war kaum aus dem Zimmer gewesen, da hatte sie sich entschieden, ein Taxi zu bestellen, aufzustehen und auf eigene Verantwortung heimzufahren. Das war keine gute Idee gewesen.
Vielleicht war sie zu schnell aufgestanden, vielleicht war sie wesentlich kränker, als sie gedacht hatte, jedenfalls hatte ihr Kreislauf erneut schlappgemacht, und ihr waren auf dem kurzen Weg zum Kleiderschrank die Beine weggeknickt. Nun hatte sie sich den Kopf angeschlagen und das Handgelenk geprellt. Schwester Sabine, die vom Flur aus ihrem Zimmer ein bedenkliches Geräusch gehört hatte, war sehr missbilligend gewesen und hatte sie wissen lassen, dass sie den Vorfall Dr. Willmann mitteilen musste.
Es klopfte, und der Arzt trat ein.
»Ach, Frau Wenzel«, sagte er kopfschüttelnd. »Wie kann man nur so eigensinnig sein. Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt.«
Hannah griff nach einem Papiertaschentuch, das auf dem Nachtschrank lag, und versuchte, sich mit einer Hand die Nase zu putzen. Die andere Hand tat zu sehr weh, und nun schwoll auch noch das Handgelenk an.
»Haben Sie ja auch. Aber mein Sohn ist todunglücklich, weil ich nicht daheim bin. Ich dachte, eine Grippe kann ich auch zu Hause auskurieren«, gab sie zu. Es klappte nicht, mit einer Hand.
»Theoretisch ja. Aber soweit ich mitbekommen habe, leben Sie alleine mit Ihrem fünfjährigen Sohn. Sie haben niemand, der sich um Sie und den Jungen kümmert. Von daher sollten Sie noch ein bisschen bei uns bleiben. Ihre Kreislaufschwäche spricht für sich. Jetzt müssen wir auch noch Ihr Handgelenk röntgen«, sagte der Arzt vorwurfsvoll.
»Ich habe aber niemanden, der auf Nico aufpassen kann, außer meiner Nachbarin. Und die beiden kennen sich kaum«, jammerte Hannah.
»Das tut mir wirklich leid. Trotzdem, Frau Wenzel. Natürlich kann ich Sie nicht aufhalten, wenn Sie unbedingt gehen wollen. Das ist aber alles andere als vernünftig. So eine Grippe kann weitreichende Folgen haben, wenn man sich nicht schont. Zudem könnten Sie Nico anstecken«, mahnte Dr. Willmann.
»Hm«, machte Hannah niedergeschlagen.
»Also, bleiben Sie noch eine Weile bei uns?«
»Ja.« Die Zusage fiel ihr entsetzlich schwer. Gleichzeitig fühlte sie sich bereits bei der Vorstellung, erneut aufstehen zu müssen, ganz zittrig. Der Arzt hatte recht, sie würde noch einige Zeit brauchen, bis sie wieder einsatzfähig war. Hoffentlich hatte sie sich nicht auch noch das Handgelenk angeknackst. Es tat ziemlich weh und ihr Kopf auch.
»Schön. Ich verlasse mich darauf, dass Sie vernünftig sind, und schicke jemanden, der Sie zum Röntgen abholt.« Der Arzt nickte ihr zu und verließ den Raum.
Er hatte die Tür noch nicht hinter sich geschlossen, als ihr Handy läutete. Waltraud Schulz rief an. Hannahs Magen zog sich zusammen. Sie war doch heute Vormittag erst mit Nico hier gewesen? War etwas passiert?
»Hallo, Frau Schulz«, begrüßte sie die Nachbarin.
»Hallo, Frau Wenzel, störe ich?«
»Nein, gar nicht. Der Arzt war eben hier. Der Zeckenbiss ist nicht schuld daran, dass ich krank bin. Ich habe eine ganz gewöhnliche Sommergrippe. Trotzdem darf ich so schnell hier nicht raus«, berichtete Hannah, dankbar, sich jemandem mitteilen zu können. Ihre eigenmächtig geplante Entlassung und deren Folgen beschloss sie, für sich zu behalten.
»Da bin ich aber froh«, sagte Waltraud Schulz.
»Wie läuft es denn jetzt mit Nico? Ich mache mir total Gedanken. Es ist ja auch für Sie nicht einfach, wenn er für nichts zu begeistern ist«, sagte Hannah.
»Ja, das stimmt schon«, entgegnete die Nachbarin in gedehntem Tonfall. Hannah hatte das Gefühl, dass Frau Schulz etwas ergänzen wollte. Am Ende, dass sie sich nicht länger in der Lage sah, sich um ihren Jungen zu kümmern? Ihr brach der Schweiß aus. Sie wusste keine Alternative für Nico.
»Ich würde Sie ja bitten, ihn ab und an zu seinem Freund Luca zu bringen, aber der ist mit der Familie verreist«, fuhr Hannah eilig fort, obgleich ihr klar war, dass diese Aussage nicht hilfreich war.
»Das hat er mir schon erzählt«, antwortete Waltraud.
»Ihm fehlen eben Spielgefährten, die ihn ein wenig ablenken würden. Ihm wird schon auch mit mir oft langweilig«, ergänzte Hannah und überlegte in einem Anflug von Panik, ob ihr nicht außer Luca noch ein Kind einfiel, mit dem Nico auch schon einmal gespielt hatte. Ihr Kopf war wie blockiert.
»Ich weiß, und deswegen wollte ich Ihnen etwas erzählen. Vielleicht wäre es ja das Richtige für Nico, solange Sie in der Klinik sind«, sagte Waltraud. Alles in Hannah ging auf Abwehr. Was wollte sie ihr vorschlagen? Nico bei irgendwem anderen unterzubringen, der Kinder hatte und den sie überhaupt nicht kannte? Bei irgendwelchen Bekannten von Frau Schulz? Auf keinen Fall! Dennoch unterdrückte sie jeglichen Protest. Sie durfte die Nachbarin nicht vor den Kopf stoßen.
»Ich war heute Morgen nach dem Besuch bei Ihnen mit Nico im Discounter und habe dort eine Freundin getroffen, die ich schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte. Sie heißt Magda Enzinger und arbeitet als Köchin im Kinderheim Sophienlust …«
Verblüfft hörte Hannah sich an, was die Nachbarin vorschlug. Während Waltraud Schulz sprach, entspannte sie sich ein wenig. Von Sophienlust hatte sie schon gehört. Eine Kollegin hatte vor einiger Zeit davon erzählt und nur Gutes zu berichten gewusst. Sie hatte von dem herrlichen Anwesen und dem freundlichen Personal geschwärmt, welches voller Herzlichkeit mit den Schützlingen umging. Hannah hatte damals nur mit halbem Ohr zugehört. Ein Kinderheim setzte sie mit Waisenkindern in Verbindung. Dass Sophienlust auch immer wieder Gastkinder aufnahm, war bei ihr nicht angekommen.
»Wenn Sie sich das für Nico vorstellen könnten, suche ich Ihnen gerne die Telefonnummer heraus«, fuhr Waltraud Schulz fort. »Der Eigentümer heißt Dominik von Wellentin-Schoenecker. Er ist noch sehr jung, aber auch sehr umsichtig und verständig. Seine Mutter hat das Heim bis zu seiner Volljährigkeit für ihn verwaltet und steht ihm auch jetzt mit Rat und Tat zur Seite. Sophienlust ist wirklich uneingeschränkt zu empfehlen.«
Hannah überlegte. Es bestand zwar die Möglichkeit, dass Nico sich in den kommenden Tagen oder Wochen mit der Betreuung durch die Nachbarin arrangierte, notgedrungen sozusagen, doch glücklich war er nicht damit, und Frau Schulz wohl auch nicht. Sie kam ihr inzwischen angestrengt und frustriert vor. Vielleicht hatte sie recht, und Nico lebte wieder auf, wenn er in einem Umfeld mit anderen Kindern war und von erfahrenem Personal liebevoll betreut wurde.
»…und wegen der Kosten brauchen Sie sich auch keine Sorgen machen. Der Aufenthalt wird nicht in Rechnung gestellt«, fuhr Frau Schulz fort. Unvermittelt musste Hannah lächeln. Die Nachbarin schien sämtliche ihrer Gedanken zu ahnen. Dass es nichts kostete, konnte sie sich zwar nicht vorstellen, bestimmt hatte Frau Schulz irgendetwas falsch verstanden, aber der Vorschlag war gar nicht so verkehrt. Sie würde im Internet nach dem Heim suchen und dann mit Herrn von Wellentin-Schoenecker telefonieren.
»Es ist sehr lieb, dass Sie sich so kümmern, Frau Schulz. Vielen Dank dafür«, antwortete Hannah. »Ich überlege mir das mit dem Kinderheim und sage Ihnen im Laufe des Tages Bescheid. Ist das in Ordnung?«
»Sicher. Ich schicke Ihnen per WhatsApp die Telefonnummer«, erwiderte die Nachbarin.
»Das ist nicht nötig, Frau Schulz. Die finde ich im Internet. Vielen Dank jedenfalls für Ihre Mühe.«
»Keine Ursache, sehr gerne.«
»Bitte erzählen Sie Nico noch nicht von dem Heim«, bat Hannah.
»Natürlich nicht«, versicherte Waltraud Schulz.
Hannah beendete das Telefonat. Falls sie sich für das Kinderheim entschied, würde sie Frau Schulz bitten, noch einmal mit dem Kleinen in die Klinik zu kommen, damit sie ihm selbst von Sophienlust erzählen konnte, und dass er dort mit anderen Kindern wohnen und spielen durfte, bis sie wieder nach Hause kam.
Die Bilder im Internet gefielen Hannah sehr gut. Das Kinderheim sah, von außen betrachtet, aus wie ein kleines Schloss. Es lag inmitten eines sehr großen Gartens, der sie an einen Park erinnerte und in dem sich etliche Spielplätze befanden. Zur Eingangstür des Hauses führte eine Freitreppe. Die Innenaufnahmen zeigten ein großzügiges Esszimmer, ein gut ausgestattetes Spielzimmer, einen Raum, der sich ›Biedermeierzimmer‹ nannte und mit entsprechenden Möbeln eingerichtet war und wohl dem Empfang von Besuchern diente, wie eine Anmerkung unter dem Foto aussagte. Es gab auch Bilder von den Kinderzimmern, die allesamt hell und freundlich eingerichtet waren und sehr ordentlich wirkten. Das Areal des Heims war mit einem Eisenzaun umschlossen, zur Zufahrt gab es ein breites, zweiflügeliges Tor. Direkt an das Gelände von Sophienlust schloss sich ein Waldstück an.
Hannah betrachtete die Aufnahmen, und das gute Gefühl, das sie bei den Ausführungen von Frau Schulz gehabt hatte, verstärkte sich. Es gab einen Bericht über die Entstehung des Heims, den sie jedoch nur überflog. Viel mehr interessierten sie die Bilder des Personals. Jene Köchin, Magda Enzinger, von der die Nachbarin erzählt hatte, war für Hannah der Inbegriff einer sympathischen herzlichen Frau, die in ihrem Beruf aufging. Sie hatte ein rundliches, rosiges Gesicht und ein warmherziges Lächeln. Denise von Schoenecker war eine außerordentlich attraktive Frau von etwa vierzig Jahren, mit langem dunklen Haar, ihr Sohn Dominik von Wellentin-Schoenecker ein ebenso gut aussehender junger Mann. Auch das übrige Personal, bestehend aus einer Kinderschwester und einer Heimleiterin, hatten eine sehr angenehme Ausstrahlung.
Hannah drückte auf den Button für ›Anrufen‹, der auf der Webseite vermerkt war. Nach dem zweiten Läuten wurde abgehoben.
»Kinderheim Sophienlust, Denise von Schoenecker, guten Tag.« Die Frau hatte eine sehr angenehme Stimme.
»Guten Tag Frau von Schoenecker. Mein Name ist Hannah Wenzel. Könnte ich bitte Ihren Sohn Dominik sprechen?«, bat Hannah und überlegte, ob sie über ihr Anliegen nicht auch mit der Mutter des Eigentümers hätte reden können.
»Mein Sohn ist im Moment außer Haus«, sagte Frau von Schoenecker bedauernd. »Aber vielleicht kann ich Ihnen auch weiterhelfen?«
»Bestimmt. Es geht um meinen Sohn Nico. Er ist fünf Jahre alt, und ich musste ganz unerwartet ins Krankenhaus. Ich weiß noch nicht genau, wie lange ich bleiben muss …« Hannah schilderte Denise von Schoenecker die Situation, wobei sie merkte, dass sie weitschweifiger erzählte, als wohl erforderlich war. Dass ihre Nachbarin Waltraud Schulz mit Magda Enzinger, der Köchin des Kinderheims, befreundet war, war für Frau von Schoenecker wohl ebenso wenig von Interesse wie ihr persönlicher Fehler, in Gartendorf kein soziales Netz aufgebaut zu haben, wodurch ihr jetzt eine Vertrauensperson für Nico fehlte. Dennoch hörte Denise von Schoenecker geduldig zu.
»Entschuldigen Sie, ich rede viel zu viel«, beendete Hannah ihre ausführlichen Mitteilungen und schämte sich plötzlich.
»Nein gar nicht, Frau Wenzel, machen Sie sich bitte keine Gedanken. Je mehr wir über die persönlichen Hintergründe unserer Schützlinge wissen, umso eher können wir auf ihre Nöte und Sorgen eingehen, und die haben anfangs eigentlich alle Kinder, die zu uns kommen«, beruhigte sie die Mutter des Heimeigentümers. »Sie können Ihren Sohn gerne jederzeit zu uns bringen lassen. Vielleicht ist Frau Schulz so freundlich und kann das übernehmen? Wenn nicht, so könnte ich ihn auch abholen. Es wäre mir nur wichtig, dass er darauf vorbereitet ist.«
»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, vielen Dank. Ich denke aber, Frau Schulz macht das gern. Sollte es aus irgendwelchen Gründen schwierig für sie werden, würde ich mich melden. Eine Frage habe ich noch. Frau Schulz sagte, der Aufenthalt im Heim wäre kostenlos. Ich mache mir Gedanken, ob hier ein Missverständnis vorliegt. Die Bilder, die ich im Internet von Sophienlust gesehen habe, sind wunderschön. Das Haus muss sich doch finanzieren?«, erkundigte sich Hannah, und nun wurde ihr doch ein wenig bang und sie bekam Herzklopfen. Ein paar Rücklagen hatte sie, doch die waren nicht üppig.