7. Oktober -  - E-Book

7. Oktober E-Book

0,0
22,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der 7. Oktober 2023 stellt für die Israelis eine Zäsur ohnegleichen dar. Von nun an wird es in der Zeitrechnung nur noch ein Davor und ein Danach geben. Das schiere Ausmaß und die ungeheuerliche Brutalität der Angriffe der Hamas, die Geiselnahmen und ein Krieg, so lange wie noch keiner zuvor, haben die Nation traumatisiert. Die Grundfesten, auf denen man sich im eigenen Staat sicher fühlte, wurden zutiefst erschüttert. Wie kann hier ein Neuanfang gelingen?

Ein Jahr danach versucht der Jüdische Almanach einen Rückblick und eine Einordnung der Ereignisse. Die hier versammelten Texte, die diesmal alle aus Israel berichten, erzählen ganz persönliche Geschichten, es geht um Ortsbesichtigungen, Momentaufnahmen, Zustandsbeschreibungen, Zukunftsvisionen; es geht um den Zionismus, um Trauerarbeit, Erinnerung und Resilienz, um alte Bruchlinien und neuen möglichen Zusammenhalt.

Mit Beiträgen von David Grossmann, Ayelet Gundar-Goshen, Eva Illouz, Etgar Keret, Fania Oz-Salzberger, Amir Tibon u.a.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 241

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover

Titel

JÜDISCHERALMANACH

der Leo Baeck Institute

7. Oktober

Stimmen aus Israel

Herausgegeben von Gisela Dachs im Auftrag des Leo Baeck Instituts Jerusalem

Impressum

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

Um Fehlermeldungen auf den Lesegeräten zu vermeiden werden inaktive Hyperlinks deaktiviert.

Gefördert durch: Stiftung Irene Bollag-Herzheimer, Basel. Im Dialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau. Redaktionelle Beratung: Irene Aue-Ben-David, Galili Shahar und Oded Steinberg. Das Leo Baeck Institut (LBI) ist benannt nach der Symbolfigur der deutschen Judenheit im 20. Jahrhundert und besitzt Zentren in New York, London und Jerusalem sowie eine Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft in Deutschland. Es wurde 1955 in Jerusalem gegründet, um die Geschichte und Kultur des deutschen und zentraleuropäischen Judentums zu erforschen und zu dokumentieren. Seit 1993 gibt das Leo Baeck Institut Jerusalem den Jüdischen Almanach heraus. Dies knüpft an eine alte Tradition an, die durch den Nationalsozialismus gewaltsam abgeschnitten wurde. Erstmals erschien ein Jüdischer Almanach im Jahre 1902. Leo Baeck Institute: Jerusalem: 33 Bustenai Street, Jerusalem 9322928 Israel; www.leobaeck.org. London: 2nd Floor, Arts Two Building, Queen Mary University of London, Mile End Road,London E1 4NS, UK; www.leobaeck.co.uk. New York: 15 West 16th Street, New York, NY 10011 USA; www.lbi.org. Freunde und Förderer des LBI: Liebigstr. 34, 60323 Frankfurt am Main.

eBook Jüdischer Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2024.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagabbildung: Cafe Racer/Shutterstock

eISBN 978-3-633-78128-7

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Zu diesem Almanach

Amir Tibon

:

7. Oktober 2023, 6:29 Uhr

Gad Kaynar Kissinger

:

Letztendlich

Gershon Baskin

:

Geiselverhandlungen

Hanne Foighel

:

Kopenhagen

Etgar Keret

:

Andacht

Ayelet Gundar-Goshen

:

Die Kraft einer Erzählung

Andrea Livnat

:

Vom »Platz der Demokratie« zum »Platz der Entführten«

David Grossman

:

Noch immer stürzen wir in den Abgrund

Navit Inbar

:

Street Art in Tel Aviv

Bildteil

Daniel Mahla

:

Zwischen allen Fronten? Palästinensische Israelis und arabisch-jüdische Beziehungen nach dem 7. Oktober

Anna Smoliarova

:

Gazastreifen, 40 Kilometer entfernt

Assaf Uni

:

Von Berlin nach Be'eri

Fania Oz-Salzberger

:

Kurzanleitung für Zionismus in schweren Zeiten oder: Warum ich trotz allem eine humanistische Zionistin bin

Eva Illouz

:

Unter Opfern

Jacques Ehrenfreund

:

Die Rückkehr des Krieges, die Juden und die Krise der Geschichte

Arad Nir

:

Die Wiederkehr des Judensterns – wie israelische Medien die Opfermentalität jüdischer Israelis bestärken

Ksenia Svetlova

:

»Empathy Gap«

Lilah Nethanel

:

07. ‌10. ‌2024

Ghilad H. Shenhav

:

Messianismus und Tradition nach dem 7. Oktober: jüdischer Radikalismus

Gideon Reuveni

:

Über die Notwendigkeit und Möglichkeit der Versöhnung

Zu den Autorinnen und Autoren

Bildnachweis

Abbildungsnachweis

Informationen zum Buch

Zu diesem Almanach

Der 7. Oktober 2023, der sogenannte Schwarze Schabbat, stellt für die Israelis eine Zäsur ohnegleichen dar. Fortan würde es in der Zeitrechnung, das war sehr schnell klar, nur mehr ein Davor und ein Danach geben. Das schiere Ausmaß des Massakers der Hamas, die ungeheuerliche Brutalität, die Geiselnahmen und der darauffolgende Krieg, so lange wie noch keiner zuvor in der Geschichte des Landes, haben die gesamte Nation traumatisiert. Sämtliche Grundfesten, auf denen man sich im eigenen Staat zu bewegen glaubte, scheinen erschüttert worden zu sein. Auf diesem brüchigen Boden muss ein Neuanfang stattfinden.

Zum ersten Jahrestag versucht der Jüdische Almanach einen Rückblick und eine Einordnung auf diese Ereignisse zu geben, die noch nicht zu Ende sind. Die Texte der Autoren, die diesmal alle aus Israel berichten, erzählen zum Teil ganz persönliche Geschichten, bei anderen handelt es sich um Ortsbesichtigungen, Momentaufnahmen, Selbstreflexion, Zustandsbeschreibungen und Zukunftsvisionen.

Im Aufmachertext beschreibt Amir Tibon, der 2014 in den Kibbuz Nahal Oz gezogen war, wie er am 7. Oktober zehn Stunden lang mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern im Schutzraum ihres Hauses in Todesangst ausharrte und sie am Ende von seinem Vater gerettet wurden. Es ist eine tragische Geschichte mit gutem Ausgang. Sie ereignete sich inmitten des Massenmordes an mehr als 1000 Zivilisten und der gewaltsamen Verschleppung von weiteren 240 Israelis, darunter Alte, Kranke, Frauen und Kinder. Zwei Gedichte von Gad Kaynar Kissinger widmen sich den Geiseln sowie dem Massaker, das am 7. Oktober auch auf dem Musikfestival in der Nähe von Re'im, stattfand. Um das Schicksal der Geiseln geht es in dem E-Mail-Austausch zwischen dem Friedensaktivisten Gershon Baskin und einem hochrangigen Hamas-Vertreter. Baskin, der sich zuvor schon einen Namen gemacht hatte als Go-Between zwischen den Fronten, versuchte erneut einen Kommunikationskanal zu etablieren. Es funktionierte auch, bis sein letztes Schreiben am 30. Oktober unbeantwortet blieb. Hanne Foighel beschreibt anschließend, wie sie den Schwarzen Schabbat in Kopenhagen erlebt hat – genau 80 Jahre nachdem die Juden in Dänemark vor der Deportation durch die Nazis gerettet worden waren. Die in Tel Aviv lebende dänische Journalistin, deren Eltern und weitere Familienmitglieder zu den Geretteten gehörten, besuchte am 8. Oktober 2023 die Hauptveranstaltung dieser Feier, die in Anwesenheit von Königin Margarethe und der dänischen Ministerpräsidentin im Königlichen Theater Kopenhagen stattfand.

In Tel Aviv hat der Schwarze Schabbat bei Etgar Keret zum ersten Mal in 37 Jahren eine Schreibblockade ausgelöst. Er fuhr im Land herum, wollte Traumatisierten helfen, las dazu aus seinen Texten. In der ersten Kurzgeschichte, die Keret danach verfasste, verliert ein »armer asthmatischer Junggeselle« fast den Glauben, weil die Geiseln trotz seiner inständigen Gebete nicht freikommen – bis seine Nachrichtenapp plötzlich vermeldet, dass zwei Frauen aus Gaza zurückgekommen sind.

Die Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen ist auch als Psychologin im Einsatz. Ihr Beitrag handelt vom Umgang mit Traumata und der Rolle, die dabei den Worten zukommen kann. Der Aufbau einer kohärenten und zeitlich eingegrenzten Erzählung sei notwendig, reiche aber allein nicht aus. Denn es gebe Geschichten, die uns heilen, und solche, die uns verfolgen. In der Therapie lausche man diesen Geschichten und versuche, darin Augenblicke der Potenz zu finden oder herauszuarbeiten. Letztlich aber geht es noch um viel mehr: die Schaffung einer neuen, einenden Erzählung.

Niemand hat vergessen, in welchem polarisierten Zustand sich die Israelis vor dem 7. Oktober befanden. Gegen den geplanten Justizumbau waren monatelang Demonstranten auf die Straße gegangen. Der Streit spaltete das Land wie nie. Andrea Livnat beschreibt die unglaubliche Solidarität und Hilfsbereitschaft nach dem 7. Oktober und wie die Strukturen der Protestorganisationen von der Zivilbevölkerung genutzt wurden, um in fast allen Bereichen zu helfen – dort wo der Staat zunächst überfordert war und es teilweise auch immer noch ist.

Um die Zukunft der Gesellschaft geht es auch David Grossman. In seinem Essay fragt er danach, »wer wir (nach dem Krieg) sein werden«: Lassen sich mit so einem Feind Abkommen schließen? Gibt es überhaupt eine andere Wahl? Und wie werden wir – um niemals wieder so überrascht zu werden – lernen, ein volles Leben auf des Messers Schneide zu führen? Zu welchem Preis? Und wer wird dann noch im Land bleiben? Er schließt dabei die Möglichkeit nicht aus, dass die Schockwelle vom 7. Oktober auch die Wirklichkeit verändern könne.

Die Spuren des Schocks haben sich auch in das Gesicht von Tel Aviv eingegraben. Navit Inbar erzählt, wie sich seit dem Schwarzen Schabbat die Straßen mit subversiven Werken, intimen kleinen Bildern, riesigen Wandmalereien, Traueranzeigen und Street Lyrics gefüllt haben. Street Artisten zogen mit Sprühdosen und Pinseln los, vermittelten dabei nicht nur persönliche Gefühle und privaten Protest, sondern wollen auch bezeugen, erinnern, neue Narrative anstoßen. Sie thematisieren die Verschleppten, die Soldaten im Feld, die unfreiwilligen Helden und das schreckliche Massaker.

Einen anderen Blickwinkel nimmt Daniel Mahla ein, dessen Beitrag sich auf die Dilemmata der in Israel lebenden Palästinenser fokussiert. Auf beiden Seiten war die Angst vor Gewaltausbrüchen zwischen palästinensischen und jüdischen Israelis groß, wie sie das Land im Mai 2021 erlebt hatte – zu Unrecht, wie sich herausstellte. Denn auch sie gehörten mit zu den Opfern am 7. Oktober, die Raketen aus Gaza unterschieden nicht nach Ethnie oder Religion. Gleichzeitig sind die arabischen Israelis nicht Teil des ethnonationalen Kollektivs, über welches sich der Staat definiert. So passt auch der Slogan vom »Gemeinsamen Siegen« nicht.

Nach Putins Krieg gegen die Ukraine im Frühjahr 2022 ist Anna Smoliarova von Sankt Petersburg nach Beer Sheva gezogen, nicht weit weg von Gaza. Jetzt lebt sie erneut in einem Land im Kriegszustand. In ihrem Beitrag lehnt sie den Vergleich allerdings ab. Denn während sich Russland – als Aggressorstaat – lautstark auf die Verteidigungsnatur seiner Aktionen beruft, müsse Israel im Gegensatz dazu wirklich verteidigt werden.

Assaf Uni lebt seit zwei Jahrzehnen als israelischer Auslandskorrespondent in Europa. Das macht ihn schon von Berufs wegen zum Außenseiter, der »kaum langjährige Verantwortung für einen Ort oder eine bestimmte Zukunft« trägt. Er beschreibt, wie plötzlich all die Stricke, die ihn mit seinem Wohnort Berlin verbanden, in dem Moment nachgaben, als er am 7. Oktober auf seinem Bildschirm die weißen Hamas-Jeeps durch die Straßen von Sderot fahren sah.

Die Ideengeschichtlerin Fania Oz-Salzberger erläutert anschließend in ihrem Beitrag, warum sie – trotz oder gerade wegen aller postkolonialen Angriffe auf den Zionismus – weiterhin an dem Konzept als Teil ihrer Werte und ihrer Weltanschauung festhält. Sie definiert sich dabei als humanistische Zionistin, ganz im Sinne Herzls, und sieht darin auch die intellektuelle Grundlage für jeden Einzelnen, der nach dem 7. Oktober noch auf eine Zweistaatenlösung hofft.

Eva Illouz beklagt sich über die globale Unmöglichkeit, heute gleichzeitig gegen Muslimfeindlichkeit und Antisemitismus zu sein. Sie führt das zurück auf eine drastische Veränderung des politischen Klimas, insbesondere im linken Spektrum, das einen »kollektiv an die Wand« drücke, weil man sich im Wettbewerb der Opfer für ein Lager entscheiden müsse.

In seinem Essay über die »Wiederkehr des Krieges, die Juden und die Krise der Geschichte«, sieht Jacques Ehrenfreund, der sich am 7. Oktober zu einem Sabbatical in Israel aufhielt, erneut das Postulat, dass die Juden sich dem Sinn der Geschichte stur widersetzten und damit Frieden und Einheit der Menschheit gefährdeten. Dieses »Grundraster des Antisemitismus« könne erklären, warum das schlimmste antijüdische Massaker seit 1945 im selben Moment auch die radikalste Kritik hervorrief.

Der Fernsehjournalist Arad Nir beschreibt, wie sich im jüdisch-israelischen Diskurs die Berichte von der grauenhaften Begegnung mit dem ultimativen Bösen am 7. Oktober schnell zu einem einzigen Wort verdichteten, mit dem alles gesagt sei: »Nazis«. Doch seien die Juden damals eine verfolgte Minderheit gewesen, ohne Staat, ohne Armee. Das ist heute anders. Arad Nir wirft vor allem den Politikern vor, diesen Vergleich zu verwenden, um sich von ihrer Schuld reinzuwaschen.

In ihrem Beitrag über den gravierenden Mangel an Empathie bei Israelis und Palästinensern nimmt Ksenia Svetlova ebenfalls Bezug auf die Medien, die das kollektive Bewusstsein prägen. Auf beiden Seiten falle es der Mehrheit schwer, den Schmerz und das Leid »des Anderen« anzuerkennen.

Doch genau das sei nötig, schreibt Lilah Nethanel. Man müsse jetzt Mut sammeln, um der »aufscheinenden Leere des Leids um uns herum« direkt ins Auge zu sehen. Sie kehrt in ihrem Essay zur israelischen und palästinensischen Literatur zurück, die sich um den Krieg von 1948 dreht.

In der rechtsextremen Öffentlichkeit in Israel wiederum hat der 7. Oktober messianische Vorstellungen von Landnahme und Wiederbesetzung befördert. Ghilad H. Shenhav wirft ein Licht darauf, wie radikale Krisenmomente in der jüdischen Geschichte immer schon den Kern des Glaubenssystems bedroht haben und in diesem Zusammenhang nach Rettungsstrategien gesucht wurde. Die messianische Struktur sei eine Antwort, um das Ansehen Gottes zu rehabilitieren.

Über das Motiv der Versöhnung schreibt abschließend Gideon Reuveni und nimmt den Beginn der deutsch-israelischen Beziehungen als Referenzpunkt. Den Weg dafür ebnete das deutsch-jüdische Wiedergutmachungsabkommen, das am 10. September 1952 in Luxemburg unterzeichnet worden war. Es zeige, dass selbst dann, wenn der Weg zur Verständigung versperrt scheint, die Grundlagen für einen Neuanfang geschaffen werden können.

Die Bildstrecke zeigt, wie der 7. Oktober das urbane Gesicht Tel Avivs durch Street Art und Graffiti geprägt hat.

Wir haben für diesen Band des Almanachs auch mehrere palästinensische Autorinnen und Autoren für einen Beitrag zum 7. Oktober angefragt. Diese Perspektive wäre uns sehr wichtig gewesen. Leider konnten wir dies nicht realisieren.

Gisela Dachs

Jerusalem/Tel Aviv

Amir Tibon

7. Oktober 2023, 6:29 Uhr

Zuerst war da nur ein Pfeifen. Ein kurzes, lautes Kreischen, das durch unser Schlafzimmerfenster drang und uns anzeigte, dass über unserem Haus eine Mörsergranate aus dem Himmel fiel. Ich wachte nicht sofort auf. Das Geräusch war unheimlich, aber vertraut, und es mischte sich irgendwie in meine Träume. Miri, meine Frau, erkannte die Gefahr schneller. »Amir, wach auf, eine Granate!«, sagte sie und stieß mich mit dem Ellenbogen an.

Schlagartig war ich hellwach, Adrenalin durchflutete mich. Wir sprangen beide aus dem Bett, nur in Unterwäsche, und rannten den Flur hinunter zur geöffneten Tür unseres Schutzraums.

Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden. Wir erreichten das Zimmer und schlossen die schwere Eisentür hinter uns. Kaum waren wir in die Dunkelheit gehüllt, erschütterte eine schwere Explosion das Haus. Wir hatten es gerade rechtzeitig geschafft.

Der ersten Explosion folgte eine zweite, eine dritte – und dann immer mehr. Es war ein Sperrfeuer – ein schwerer, tödlicher Regen, der ringsum auf uns niederprasselte.

*

Als Bewohner von Nahal Oz, einer kleinen Gemeinde mit etwas mehr als 400 Einwohnern an der israelischen Grenze zum Gazastreifen, hatten wir Situationen wie diese schon erlebt. Nahal Oz, das in den frühen 1950er Jahren gegründet wurde, liegt weniger als einen Kilometer vom Grenzzaun entfernt.

Wir fühlten uns sicher in dem verschlossenen Raum mit der schweren Tür und der stabilen Metallplatte vor dem einzigen Fenster, während die Mörsergranaten um uns herum einschlugen. Es ist zugleich das Schlafzimmer unserer beiden kleinen Mädchen.

Kaum hatten wir uns hingesetzt, lasen wir in unseren Telefonen, dass die Hamas, die palästinensische Terrorgruppe, die den Gazastreifen kontrolliert, nicht nur unsere Gemeinde angegriffen hatte, sondern auch Dutzende weitere Orte in Israel mit Mörsergranaten und Raketen beschoss. Wir hofften, dass die Mädchen noch ein wenig länger friedlich in ihren Betten weiterschlafen würden, für uns aber war die Nacht offenkundig vorbei. Wir mussten anfangen zu packen.

*

Miri und ich stammen beide aus Familien von Holocaustüberlebenden. Meine Großmutter verlor beide Eltern im Alter von dreizehn Jahren und kam als Flüchtling und als Waise nach Israel. Miris Großeltern überlebten die Belagerung von Leningrad durch die Nazis 1941 und wurden für den Rest ihres Lebens, trotz erfolgreicher beruflicher Laufbahnen, die Angst vor dem Hunger nicht wieder los. Für uns war die Notwendigkeit, Israels Grenzen zu schützen, keine Frage moderner Einwanderungspolitik oder der Kriminalitätsbekämpfung, sondern schlicht eine tief empfundene Einsicht, dass das einzige jüdische Land auf der Welt ohne sichere Grenzen ein unsicheres Land wäre, in dem sich die dunkle Vergangenheit unseres Volkes wiederholen könnte.

In den Jahren nach der Staatsgründung Israels waren zivile Gemeinden wie Nahal Oz, die direkt an der Grenze lagen, ein wichtiger Baustein für die Sicherheitsstrategie der jungen Nation.

Miri und ich teilten diese Auffassung, wenngleich wir glaubten, dass es langfristig nur einen Weg gab, echte Sicherheit für Israel zu erreichen, nämlich Frieden zu schließen mit allen Nachbarstaaten – insbesondere mit den Palästinensern, mit denen sich unser Land seit Jahrzehnten im Konflikt befindet und von denen viele bis zum heutigen Tag unter israelischer Militärbesatzung leben.

*

Um 6:45 Uhr fragte einer der Nachbarn, ob noch jemand ein Problem mit dem Strom habe. Wie aufs Stichwort fiel auch bei uns der Strom aus. Nun schrieben alle, dass sie sich in der gleichen Situation befänden. In den folgenden Minuten tauschten wir uns darüber aus, wer einen Raketenalarm gehört hatte und wer nicht. »Wir haben keinen Alarm gehört«, schrieb ich um 6:58 Uhr. »Miri hat nur das Pfeifen gehört, und dann sind wir gerannt.«

Für ein paar Minuten blieb es ruhig in der Gruppe. Dann hörten Miri und ich ein unheimliches Geräusch, das uns ängstliche Blicke austauschen ließ: Maschinengewehrfeuer. Die Schüsse kamen immer näher, nun klang es so, als kämen sie von der Ringstraße des Kibbuz – und damit weit innerhalb der Umzäunung von Nahal Oz. Dann wurde auch in unserer Nachbarschaft geschossen, direkt vor unserem Fenster. Als wir Schreie auf Arabisch hörten, verstanden wir, was vor sich ging.

Unser schlimmster Albtraum wurde Wirklichkeit. Die israelischen Verteidigungslinien, das dichte Netz von Zäunen, Überwachungskameras und anderen Sicherheitsanlagen, von denen wir immer geglaubt hatten, sie würden uns vor der Terrorarmee auf der anderen Seite der Grenze schützen, waren durchbrochen worden. Die Hamas hatte es auf uns abgesehen.

*

Als wir die ersten Raketen hörten, schickte ich auch rasch eine Textnachricht an meine Eltern. Sie wohnen nur etwas mehr als eine Autostunde entfernt, in Tel Aviv, und ihr Tag hatte – wie ich später erfuhr – völlig anders begonnen als unserer.

Um 6 Uhr waren meine Mutter und mein Vater zum Strand gefahren, um schwimmen zu gehen, an einem der vielleicht letzten warmen Tage des Jahres. Als sie im Wasser waren, bemerkten sie israelische Kampfflugzeuge am Himmel – ungewöhnlich für einen Samstag, da staatliche Flugzeuge an diesem Tag aufgrund der jüdischen Schabbatgesetze üblicherweise am Boden bleiben.

Mein Vater Noam war ein pensionierter General der israelischen Armee, der mehr als drei Jahrzehnte in Uniform verbracht und einst IDF-Streitkräfte im Libanon und im Westjordanland befehligt hatte. Er sagte zu meiner Mutter Gali, einer pensionierten Schuldirektorin, dass dieser Anblick merkwürdig sei: »Ich frage mich, warum diese Flugzeuge gerade jetzt in der Luft sind.« Trotzdem gingen meine Eltern erstmal ins Wasser.

Kurz darauf, als ein Raketenhagel von Gaza auf Tel Aviv abgefeuert wurde, erhielten sie ihre Antwort. Als die Sirenen nicht verstummten, entschieden sie schließlich, dass es vernünftig sei, aus dem Wasser zu gehen und nachzufragen, was in unserem Teil des Landes vor sich ging. Als Erstes schickten sie eine Nachricht in unsere Familien-Chatgruppe, zu der auch mein jüngerer Bruder (ein Truppenarzt beim Militär) und seine Frau gehören. »Wie ist die Situation in Nahal Oz?«, fragte mein Vater um 6:45 Uhr. »Viele Raketen«, antwortete ich. Das war, bevor wir die Gewehrschüsse und die Stimmen der Mechablim1 gehört hatten. »Wir warten hier auf euch«, schrieb meine Mutter, womit sie uns einlud, zu ihnen nach Hause zu kommen, sobald es uns möglich wäre, unseren Schutzraum zu verlassen.

Um 7:15 Uhr war die Lage bereits viel gefährlicher geworden, und so schickte ich eine weitere Nachricht in die Familien-Chatgruppe, in der ich schrieb, dass sich Terroristen in unserer Nachbarschaft aufhielten, die in unser Haus schossen. »Mechablim sind in den Kibbuz eingedrungen. Wir sind unter Beschuss.«

Mein Vater rief sofort auf meiner Handynummer an. Flüsternd antwortete ich knapp, dass die Mädchen schliefen und wir alle bemüht seien, möglichst leise zu sein, unser Haus aber angegriffen werde.

Mein Vater sagte, er werde all seinen Militärkontakten schreiben. »Verhaltet euch ruhig«, mahnte er, bevor er auflegte. »Das ist das Allerwichtigste im Moment.«

Die Mädchen wachten kurz nach 8 Uhr wieder auf. Von draußen waren immer noch deutlich Schüsse zu hören, aber im Haus erschien es uns nun ruhig. Im abgedunkelten Zimmer schrieb ich an meinen Vater: »Die Mädchen verhalten sich wirklich gut, aber ich mache mir Sorgen, dass sie bald die Geduld verlieren und die Hamas uns dann hier drinnen hören wird.«

Carmel fragte noch einmal, ob sie draußen spielen dürfe. Galia sagte, sie müsse zur Toilette gehen. Wir erklärten ihnen, so ruhig wir konnten, dass es immer noch zu gefährlich sei, nach draußen zu gehen, und dass es einige Zeit dauern werde, bis wir das Zimmer verlassen könnten. Wieder reagierten sie unglaublich erwachsen – mit ihrem stillen Einverständnis überraschten sie Miri und mich.

Und trotzdem ging ich davon aus, dass wir die Mädchen allenfalls noch eine Stunde ruhig und still halten könnten. Ich konnte nur hoffen, dass der Angriff innerhalb dieses Zeitfensters vorbei sein würde. Hilfe musste doch bald eintreffen.

Nur wenige Autominuten entfernt von Nahal Oz gibt es einen mittelgroßen Militärstützpunkt gleichen Namens, der normalerweise mit knapp 200 Soldatinnen und Soldaten besetzt ist. Wie lange, dachte ich, kann es dauern, bis diese Soldaten in den Kibbuz gelangen und dieser Belagerung ein Ende setzen? »Wir werden bald hier raus sein«, sagte ich zu Miri in dem Versuch, uns beiden Mut zu machen. »Das Militär weiß, was hier los ist.«

Ich wusste ja nicht, wie grauenhaft die Lage im Stützpunkt in genau diesem Augenblick war. Ich hatte noch keine Vorstellung von der Gesamtlage – wie hätte ich die auch haben sollen.

Doch eines kam mir gleichwohl in den Sinn: An diesem Samstag war der jüdische Feiertag Simchat Torah, der Höhepunkt einer einmonatigen Abfolge jüdischer Feiertage, die mit Rosch Haschanah, unserem Neujahr, begann. Der Feiertag selbst bedeutete Miri und mir nicht viel – wir sind keine besonders fromme Familie –, aber mir wurde klar, dass der nahe gelegene Stützpunkt vermutlich unterbesetzt war, da sehr wahrscheinlich viele Soldaten nach Hause geschickt worden waren, um das Feiertagswochenende bei ihren Familien zu verbringen. Vor 50 Jahren, fast auf den Tag, war Israel an Jom Kippur, dem jüdischen Versöhnungstag, gleichzeitig von Ägypten und Syrien angegriffen worden, die den jüdischen Staat überrumpelten, als sie einen Krieg zu einem Zeitpunkt begannen, an dem sich die Mehrheit der israelischen Soldaten zu Hause bei ihren Familien aufhielt; nun schien es, als hätte sich die Hamas für den gleichen Schachzug entschieden.

Doch selbst als ich erkannt hatte, dass der Zeitpunkt des Angriffs die Reaktionszeit des Militärs negativ beeinflussen würde, war ich immer noch weit davon entfernt zu begreifen, wie furchtbar die Situation wirklich war: dass die Hamas mit ungefähr 200 Männern den Stützpunkt überfallen und ihn schon um 8:30 Uhr eingenommen hatte. Dutzende Soldaten waren dabei ums Leben gekommen, darunter fast 20 Feldaufklärerinnen, spotter, Soldatinnen des Nachrichtendiensts, die Israels gigantisches Netzwerk von Kameras entlang der Grenze observierten.

Das Massaker auf dem Stützpunkt hatte unsere eigene Lage noch verzweifelter werden lassen. Die Soldaten dort waren unsere größte Hoffnung auf ein rasches Ende der Invasion in unseren Kibbuz gewesen, doch nun waren sie tot oder saßen fest. Einige Überlebende kämpften verzweifelt gegen die zahlenmäßig überlegenen und besser bewaffneten Hamas-Kämpfer, die mit Gewehren, Handgranaten, Panzerfäusten und Panzerabwehrraketen angerückt waren. Die meisten IDF-Soldaten, die völlig überrascht worden waren, trugen nur Handfeuerwaffen und – im besten Fall – einige Magazine Munition bei sich. Andere Überlebende versteckten sich so gut es ging und setzten selbst verzweifelte Hilferufe ab. Da der Stützpunkt außer Gefecht gesetzt worden war, war die Chance, dass eine größere Militäreinheit schnell eintreffen würde, um uns aus der akuten Gefahr zu retten, nicht länger existent. Gnädigerweise wussten Miri und ich von alldem nichts.

Zehn Minuten vergingen, dann noch fünfzehn, und wir saßen weiterhin fest. Nun wurde auch noch unsere Handyverbindung instabil – wahrscheinlich, weil so viele Menschen im Kibbuz gleichzeitig versuchten, Anrufe zu tätigen und Nachrichten zu versenden. Ich versuchte, einem meiner Nachbarn eine Nachricht zu schicken, einem Vater von vier Kindern, um zu fragen, wie es ihnen ging. Das Handy meldete unheilvoll: »kein Netzwerk erkannt«.

Fünf Minuten später, ungefähr um 8:30 Uhr, hatte ich kurzzeitig wieder eine Verbindung und erhielt einen weiteren Anruf von meinem Vater. »Verlasst den Schutzraum nicht, egal, was passiert«, mahnte er. Ich konnte hören, dass er aus einem fahrenden Auto telefonierte. »Wir kommen und holen euch da raus.«

*

Ich hatte seit der Nachricht von meiner Mutter um die Mittagszeit, dass mein Vater sich uns näherte, nichts mehr von meinen Eltern gehört. Wir hatten keine Ahnung, was seither geschehen war, aber Miri und ich versuchten, optimistisch zu bleiben. Mein Vater war sein Leben lang ein Kämpfer gewesen, ich zweifelte nicht daran, dass er in jedem Nahkampf, in den er geraten könnte, bestehen würde. Meine größte Sorge war, dass eine Panzerfaust oder eine Panzerabwehrrakete sein Fahrzeug auf offener Straße treffen und ihm so jede Chance dazu nehmen könnte.

Der bunt zusammengewürfelten Truppe von Israelis – bestehend aus Soldaten verschiedener Einheiten und meinem Vater – war es gelungen, die meisten Mechablim zu töten. Doch als sie sich aufrichteten und ihre Umgebung abscannten, erblickten sie einen überlebenden Hamasnik, der tiefer in den Wald hineinrannte. Vermutlich der zweite Terrorist, auf den mein Vater geschossen hatte – von dem mein Vater nicht wusste, ob er ihn getötet oder nur verwundet hatte.

Der verletzte Hamas-Kämpfer war in Richtung des Kibbuz gelaufen, und die israelischen Überlebenden wollten gerade die Verfolgung aufnehmen – als einer der Fallschirmjäger, ein Offizier, rief, dass er getroffen worden sei.

Während er den Jeep zurück in Richtung der Landstraße 232 steuerte, packte meinen Vater die Angst – aus mehreren Gründen. Zum einen war da die anhaltende Angst um uns, gestrandet im Schutzraum und nicht in der Lage, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Und nun kam noch die Sorge um den verwundeten Offizier hinzu. Er verlor viel Blut und sah von Minute zu Minute schlechter aus.

Des Weiteren war meinem Vater bewusst, dass der Abschnitt auf der Landstraße 232 zwischen Kfar Aza und Mefalsim Maschinengewehrfeuer – und Schlimmerem – aus Gaza ausgesetzt war. Mein Vater und die kleine Gruppe von Kämpfern rasten östlich am Kibbuz-Zaun entlang, das Haupttor umfuhren sie. Sie erreichten den kleineren Eingang in dem Moment, als auch die größere Gruppe der Maglan-Verstärkung – mehrere Humvees mit mehr als 40 Soldaten – anrollte.

Mein Vater stellte sich dem Kommandanten der größeren Maglan-Truppe vor, einem 27-jährigen Major namens Eshel. Doch das war gar nicht nötig: Eshel erkannte ihn und war sichtlich überrascht beim Anblick eines Generals im Ruhestand inmitten dieser Kampfzone. Mein Vater erklärte, warum er hier im Kibbuz war, und bat Eshel darum, sich seinen Truppen anschließen zu dürfen. Rasch fügte er hinzu, er wolle lediglich bei der Befreiung des Kibbuz Hilfe leisten, um zu seiner eigenen Familie zu gelangen, nicht um Eshels Autorität infrage zu stellen. Der Major stimmte zu und stufte den pensionierten General gedanklich einfach als einen zusätzlichen Soldaten ein, an einem Tag, an dem jeder Kämpfer zählte. Dass mein Vater ein regelmäßiger Besucher des Kibbuz war und das Gelände gut kannte, war in den Augen des jungen Offiziers ein zusätzlicher Bonus.

Nissan gab den Maglan-Kämpfern und meinem Vater einen kurzen Bericht über die Situation. Immer noch befänden sich mehr als zwei Dutzend Mechablim im Kibbuz, sagte Nissan, die Bewohner hätten sich alle in ihren Häusern eingeschlossen. In einige Häuser, und auch in die Schutzräume, sei eingebrochen worden, warnte er – wie viele Familien getötet oder entführt worden seien, könne er nicht sagen. Als mein Vater dies hörte, versuchte er rasch, die düsteren Gedanken zu verscheuchen, die sofort hochkamen; sein letzter Wissensstand war der, dass wir am Leben waren und uns versteckt hielten. Solange nicht das Gegenteil erwiesen war, durfte er die Hoffnung nicht aufgeben.

Während die Männer miteinander sprachen, traf eine weitere Truppe ein, und zwar von der Givati-Brigade, einer der größten Kampfbrigaden des israelischen Militärs. Endlich hatten sie genug Leute vor Ort, um Nahal Oz zurückzuerobern. Ein Angriffsplan wurde erstellt. Sie teilten den Kibbuz in vier Zonen auf und stellten kleine Teams zusammen, die diese Areale durchkämmen und räumen sollten.

Insgesamt waren es mehr als 120 Häuser im Kibbuz, die von den Soldaten durchsucht werden mussten. Darüber hinaus gab es noch mehr als ein Dutzend öffentliche Gebäude – darunter ein Supermarkt, eine Klinik, eine Bücherei und ein Postamt –, in denen sich ebenfalls Mechablim versteckt halten konnten, genauso wie im Kuhstall, den Umkleidekabinen am Swimmingpool und an anderen Orten.

*

Seit 6:30 Uhr waren wir nun zu viert in dem dicht versiegelten Raum eingeschlossen, und die Luft war so schlecht geworden, dass Miri und ich befürchteten, uns könnte der Sauerstoff ausgehen. Die Mädchen verloren nun sichtlich die Geduld. Seit sie an diesem Morgen im Lärm der Gewehrschüsse aufgewacht waren, hatten sie sich perfekt verhalten. Sie hatten seit dem Abend zuvor nichts mehr gegessen, saßen in einem dunklen Zimmer fest, ohne Spielzeug oder andere Möglichkeiten der Unterhaltung, und wurden ununterbrochen von ihren Eltern aufgefordert, leise zu sein.

Die Außentemperatur war inzwischen auf gut 25 Grad Celsius angestiegen, und obgleich die dicken Betonmauern des Schutzraums das Zimmer etwas kühler hielten, hatte die Hitze uns langsam zu schaffen gemacht. Wir hatten vereinbart, unnötige Gespräche zu vermeiden, und sogar versucht, unsere Atmung zu verlangsamen. Ich hatte dem heftigen und wachsenden Drang widerstehen müssen, das Fenster des Schutzraums einfach aufzureißen, um ein bisschen frische Luft und Licht in den Raum zu lassen; je mehr Zeit verging, desto größer wurde meine Sorge, dass mein Körper meinen Verstand hintergehen könnte und mein physisches Bedürfnis nach Licht, mehr noch als alles andere, mich dazu verleiten könnte, einen schrecklichen Fehler zu begehen. Zur Vorsicht hatte ich beschlossen, mich auf die andere Seite des Raums zu setzen, weit weg vom Fenster.