A Mortal Kiss Of Coffee -  - E-Book

A Mortal Kiss Of Coffee E-Book

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Beschreibung

Willkommen in meinem Kaffeehaus! Lass mich dich entführen in andere Zeiten und Welten. Ich erzähle dir Geschichten von Liebe, Freundschaft, Kaffee und Tod. Von neuen Bekanntschaften und alten Auseinandersetzungen. Wir reisen in fremde Universen und zu einzigartigen Menschen. Mach es dir gemütlich. Was willst du trinken? Bei einer gemütlichen Tasse Kaffee, Cappuccino und anderen Getränken erzählen zwölf Autor*innen Geschichten, die sich eventuell so zugetragen haben könnten.

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INHALT

Anna Lisa Franzke –

Vorwort

Katherine Winterwood –

The 1

Aki Høst –

Kaffee mit Vorsicht zu genießen

Alenor J. Stevens –

Die Mysterien des Kaffeehauses »Fae‘s Coffee«

Kathleen Miller –

Ein Wundertrank namens Kaffee

Nancy Karter –

Einmal Märchenland zurück

J. Gipfelbasilisk –

Das Kaffeehaus am Ende der Zeit

Oliver Borchers –

Die Prüfung

Nadine Most –

Between Times

Jennifer Pfingstmann –

Kaffee verbindet

Nika Nylea –

Gefunden

Pascal Lamerst –

Die Kuchendiebin

C.R. Gorr –

Ein ganz normaler Tag im Café Curioso

Danke

Die nächste Anthologie

Über die Herausgeberin

Für Kathi, Wolli oder auch die Herrscherin aller bekannten Galaxien.

VORWORT

von Anna Lisa Franzke

Willkommen, Reisender. Ich bin Ovid. Es freut mich sehr, dass es dich in mein bescheidenes Kaffeehaus verschlagen hat. Dies ist ein Ort voller Leben – mehr noch: Geschichten. Man könnte geradezu sagen, dass wir uns hier an einem magischen Ort befinden.

Mein wunderbares Kaffeehaus reist durch Zeit und Raum. Es findet jede Person, die einen Unterschlupf, Gesellschaft oder einen Wachmacher braucht.

Ja, ich mache das schon viele Jahre. Jahrhunderte, um genau zu sein. Da habe ich schon viel erlebt. Pass auf, wenn ich einmal anfange, zu erzählen, werde ich wohl nicht mehr aufhören immerhin haben sich tausende Geschichten angesammelt. Jede verrückter, herzergreifender und hinreißender als die andere. Liebende haben sich kennengelernt, neue Freundschaften wurden geknüpft. Aber ich habe auch Menschen neue Leben geschenkt, neue Möglichkeiten.

Das ein oder andere Mal hat es mich auch in übernatürliche Welten verschlagen.

Lass mich dir ein paar Geschichten erzählen. Ich verspreche dir, dass sich alles genauso zugetragen hat. Jede Geschichte entspricht der Wahrheit und nichts als der Wahrheit.

Wenn du erlaubst, nehme ich dich mit auf eine Reise durch Zeit und Raum. Zu anderen Welten, in andere Dimensionen und zeige dir Dinge, die du noch nie gesehen hast.

Ich erzähle dir von Elementarmagieren, Zaubertränken und Fae. Wenn du es zulässt, entführe ich dich nach Avorium, ins Märchenland und ans Ende der Welt. Mit dabei sind Zukunftsvisionen mit Kaffeespezialitäten und Cryo-Babys. Dann erzähle ich dir, wie zwei Menschen, die kaum unterschiedlicher sein könnten, zusammengefunden haben und sich alte Wege wieder kreuzten. Zu guter Letzt folgen wir einem Kuchendieb und versuchen herauszufinden, wer die Kekse gestohlen hat.

Also lehn dich zurück, mach es dir gemütlich.

Was möchtest du gern trinken?

Katherine Winterwood

The 1

DAS HOLZ KNARRTE unter ihren Stiefeln, als sie das kleine Café außer Atem betrat, das Tosen von Autos und Rauschen des Regens ersetzt durch das Rattern einer Maschine, gepaart mit dem Gemurmel weniger Person und dem Geraschel derer Füße.

Das Knistern des Portals dröhnte noch immer in ihren Ohren, als der Geruch von frisch geröstetem Kaffee ihr entgegenschlug und sie in eine warme Decke hüllte, die sich unangenehm an ihre schweißbenetzte Haut klebte.

Trotz ihres schweren Atems und des Felsens auf ihrem Herzen, fühlte sie sich ruhiger. Die Pflanzen, die in dunklen Kübeln von der Decke hingen, erinnerten sie an die aus ihrer Heimat, die hölzernen Stühle an ihre eigene Küche und der Kronleuchter mit den weißen Verzierungen an eine frühere Zeit; an einen anderen Saal mit ebenfalls getäfelten Wänden, überfüllt mit Tischen unter grünen Zierdeckchen, die Luft geschwängert von Versprechen. Versprechen von Veränderungen.

Wären diese doch nur -

»Einen Tisch für eine Person?«

»Für zwei.« Reflexartig antwortete sie, doch es dauerte einen Moment, bis Olyvia sich wieder auf die Gegenwart besinnen und ihre Aufmerksamkeit auf den Mann vor sich lenken konnte. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig, sein spitzes Kinn mit dem gepflegten hellen Bart hielt er zentriert über der schwarzen Fliege, neben der ein kleines Namensschild prangte. Ovid stand darauf in einem altmodischen Font. In dem kaltweißen Hemd wollte er nicht so ganz in die gemütliche Umgebung passen, seine Augenbrauen waren zu angestrengt zusammengezogen, seine Körperhaltung zu steif - und dennoch fühlte Olyvia sich nicht von ihm abgeschreckt, eher … vertraut.

Mit einer steifen Armbewegung, die sie zu sehr an die Abendbediensteten erinnerte, brachte er sie zu einem hinteren Tisch an der rechten Wand.

»Einen Kaffee bitte, mit Zucker und … etwas mit viel Milchschaum, was auch immer ihr habt.« Die ältere Frau kämpfte darum, sich die Atemlosigkeit nicht anmerken zu lassen, immerhin bestand kein Grund, Aufsehen zu erregen.

Falls Ovid es bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken und wandte sich ab. Olyvia entledigte sich ihres Mantels, ohne die großen Fenster aus den Augen zu lassen. Sie strich ihre Haare glatt, die Ringel gelöst von dem Regen, der noch immer auf die Straße prasselte. Um das Wasser von sich fern zu halten, hatte ihr die Kraft gefehlt, dazu wusste sie nicht, ob die Luft hier vielleicht anders auf ihre Kräfte reagieren würde - und es hätte Aufmerksamkeit erregen können. Oder zumindest erzählte sie sich das selbst.

Ein Zeitungsjunge huschte vorbei, ein junger Mann führte seinen Windhund durch den Regen, ein Pärchen rettete sich in die Gasse gegenüber. Sie stahl einen Blick auf die Uhr über der Tür. Das filigrane Kunstwerk ließ sie wissen, dass sie wenige Minuten zu spät erschienen war.

Das wäre ihr früher nie geschehen - das hätte ihr im Schloss gar nicht geschehen dürfen, wenn sie ihren Kopf auf ihrem Hals behalten wollte. All die Jahre war ihr das gelungen, und doch hätte sie genau dieses Durchhaltevermögen fast zum Scheitern verurteilt. Nun, wenn man aus jenem Schloss floh, änderten sich die Dinge, wie es schien. Und das Versteckspiel mit den Wachen hatte sie zusätzlich Zeit gekostet, sowie lernen zu müssen, dass sich diese Autos ganz schlecht vorhersehen ließen. Ohne die wäre sie sicherlich pünktlich gewesen.

Nicht, dass es einen großartigen Unterschied bedeutete, Lukyan war ebenfalls noch nicht erschienen. Der Fels auf ihrer Brust wuchs zu einem Gebirge heran. Ihr Sohn hatte sich nun so lang vor ihrem Mann verstecken können, und jetzt lag die Aufmerksamkeit der Suche auf ihr - und sie würde man noch weniger in einer so seltsamen, so lauten Welt vermuten, warum also dort suchen? Wenn ihr Mann überhaupt die Kraft aufbringen konnte, ein Portal zu öffnen, das so eine weite Entfernung überbrückte.

Es befriedigte sie, dass sie zu etwas im Stande war, dass er nicht konnte - und dabei noch zu spät gekommen war, so wie ihr Sohn nun auch.

Pünktlichkeit war dem König schon immer außerordentlich wichtig gewesen, so wie dem König vor ihm und dem davor und dem davor. Gezwungenermaßen auch seinem Nachfolger, der immer noch nicht in Sicht war, obwohl der Zeiger bereits einen Strich weitergewandert war. Was für eine seltsame Welt - ein Stück Metall lief eigenständig ein paar Striche ab und alle verließen sich darauf, dass es richtig lag? Lukyan hatte versucht, ihr dieses Konzept bei ihrem Besuch hier zu erklären - und war gescheitert.

Ovid balancierte ein Tablett an den Tischen vorbei, darauf verschiedene Tassen und doch sehr simple Gläser, gefüllt mit verschiedenen Flüssigkeiten, von hell- zu dunkelbraun, bis hin zu einem satten Grün.

Olyvias Blick sprang zwischen dem Tablett und dem Fenster hin und her.

Für einen kurzen Moment erlaubte sie sich die Frage, ob sie das wirklich tun wollte, ob das wirklich eine gute Idee war.

Sobald Ovid an ihrem Tisch hielt, verdrängte sie diese Gedanken.

Der Kellner stellte zwei Tassen vor ihr ab. Die Lichtreflexionen auf der dunklen Oberfläche der ersten erinnerte sie an Katzenaugen, die zweite war sogar über den Rand hinaus mit hellem Milchschaum gefüllt.

»Vielen Dank.« Sie lächelte den Mann an und zog die erste näher an sich heran.

Ovid nickte und wandte sich wieder ab.

Olyvia wandte sich dem Fenster zu.

Das Rattern der Maschine lenkte sie von den wutentbrannten Schreien ihres Mannes ab, die immer noch in ihren Gedanken nachhallten.

Der Regen vor dem Fenster von der bevorstehenden Flucht.

Die Bewegungen der Passanten von dem wiederhallenden Lachen aus Lukyans Kindheit, wie er Gesichter aus Beeren gelegt und immer einen Tropfen in seinem linken Mundwinkel hängen hatte …

Doch nichts löste ihre Augen von dem Fenster.

Erst, als der dampfende Schaum unter den Rand der Tasse gesunken war, der Tisch am Eingang drei weitere Personen empfangen und Ovid dieselbe Kanne zweimal poliert hatte, öffnete sich die Tür zu dem Café erneut.

Eine schlaksige Gestalt, gehüllt in einen hellbraunen Mantel betrat das Café. Er trug keine Kapuze, die silberweißen Haare stachen vor den dunklen Wänden und den Backsteingebäuden heraus. Bei diesem Anblick rutschte der Felsen auf ihren Magen - seine Gesichtszüge waren kantiger, seine Wangen fahler, seine Augen schärfer, seine Haut blasser.

Ihre Erinnerung lagerte sich über das Gesicht, das sich einmal jedem Ende des Raumes zuwandte, bis sie sich nicht mehr sicher war, wie es wirklich aussah.

Lukyans Blick fiel auf sie - und für einen Moment bildete sie sich ein, eine Regung zu sehen, ein leichtes Zucken seines Mundwinkels, eine Bewegung in seinen Augen. Schmerzlich wurde ihr bewusst, wie lang es nun schon her war. Olyvia musste sich zum ersten Mal seit Langem darauf konzentrieren, keine Miene zu verziehen, als ihr Sohn sich auf sie zu bewegte.

Er ließ sich ihr gegenüber nieder, den Rücken gerade, die Schultern immer noch gestrafft, wie sie es ihn gelehrt hatte.

Stille beherrschte den Raum zwischen den beiden, beide unsicher, wie sie dieses Gespräch beginnen sollten. Sie hatten sich so lange nicht gesehen, so viel war geschehen und sie wussten, aus welchem Grund sie sich hier befanden.

»Ist der … für mich?« Lukyans langer Finger deutete auf die zweite Tasse.

Olyvia schob das Glas mit dem eingesunkenen Milchschaum über den Tisch, ohne die Augen von ihrem Sohn zu lassen.

Derselbe Finger schlang sich um den Henkel der Tasse, führte diese zu seinem Mund und erlaubte es ihm, den Kaffee zu kosten. Entgegen jeder Regel, jeder Etikette, beobachtete sie, wie sich seine Lippen an den Rand legten, wie seine Sehnen hervortraten, während seine Kehle arbeitete. Ihr Blick zuckte unweigerlich zu seinem linken Mundwinkel, noch bis in das frühe Erwachsenenalter lief ihm immer ein kleiner Tropfen zum Kinn hinab - doch jetzt blieb beides trocken.

»Etwas … bitter.«

Wir haben keine Zeit dafür. Was machen wir als Nächstes? Wir müssen fliehen. Wir müssen sofort los. Ich kenne jemanden, d-

»Ma, wir kommen hier sicher früh genug los, der eine Kaffee wird daran sicher nichts ändern.«

»Sicher.« Olyvia beobachtete, wie er einen weiteren Schluck trank und wusste zum ersten Mal nicht, was sie sagen sollte. Wie ließ sich eine derartige Beziehung verbessern? Oder überhaupt wiederherstellen …?

»Bevor du etwas sagst. Ich werde den Thron nicht besteigen, ich werde kein Erbe annehmen und ich will dir eigentlich auch keinen Rat erteilen.«

Gut, das Wiederherstellen würde schwierig werden. Mit einem Punkt weniger auf der Liste wusste sie noch immer nicht, wo sie beginnen sollte - nur, dass sie nicht viel Zeit hatte.

»Ma, du kannst kein Gefühl von Dringlichkeit von mir erwarten, wenn ich noch nicht einmal weiß, was passiert ist. Dass du dich gemeldet hast, gibt mir eine Idee, aber -«

Ovid hielt erneut neben ihrem Tisch und unterbrach so sowohl Lukyan als auch einen Teil der Spannung zwischen Mutter und Sohn.

»Darf es hier noch etwas sein? Zusätzliche Milch, ein Nachschlag? Die Rechnung?«

Olyvias Magen drehte sich einmal um.

Lukyans Mund öffnete sich bereits, als der Blick des Kellners sich auf Olyvia fixierte. Seine Hand löste sich von dem Tablett, das er weiterhin mit dem anderen Arm balancierte und senkte sich langsam auf den Tisch. Die ältere Frau nahm das Zucken seines kleinen Fingers und die Gewichtsverlagerung des Löffels in ihrer Tasse wahr. Wo ihr Magen sich zuvor bewegt hatte, verknotete er sich nun.

Ovids Miene bewegte sich kein Stück, lediglich seine Augen wandten sich kurz in die Richtung des Fensters.

Olyvia folgte seinem Blick. Der Regen prasselte noch immer unerlässlich auf die Steine der Straßen nieder und erschwerte es, etwas zu sehen, das weiter als der nächste Stieg entfernt war. Dennoch ließen sich ein paar dunkle Punkte entdecken, die sich auf die Straße vor dem Café zubewegten.

Erst jetzt drehte sich auch Lukyan herum, sein Rücken versteifte sich beinahe augenblicklich.

»Da ihr etwas gekauft habt, dürft ihr gern unsere Toiletten nutzen, falls diese besetzt sind auch gerne die für die Mitarbeiter, sie wurde gerade erst renoviert und verfügt nun über einen wunderschönen … Ausblick über den Innenhof.«

Er hatte ihren Blickkontakt noch immer nicht gelöst und für einen Wimpernschlag hielt Olyvia inne. Es könnte eine Falle sein, Ovid könnte zu ihnen gehören. Selbst wenn er einfach nur log, würde sie ihre letzte Chance auf einen Ausweg verspielen …

Andererseits schien dies ihre beste Chance zu sein.

Mit einem knappen Nicken warf sie einen Schein auf den Tisch, Lukyan einen auffordernden Blick zu und sich den Mantel um die Schultern.

Ovid nickte in den hinteren Teil des Cafés und Olyvia bemühte sich, nicht zu hektisch dorthin zu stürzen. Lukyans Schritte hinter sich, trat sie durch den Türrahmen in den kleinen Zwischenraum, erhellt nur durch eine kleine Öllampe und so niedrig, dass ihr Sohn sich herunterbeugen musste.

Die Frau ergriff die metallene Klinke, drückte sie herunter und betrat die winzige Toilette dahinter. Sie fand sich gegenüber einem alten Fenster wieder, die Scharniere mehr als rostige Zylinder zu erkennen als alles andere. Tatsächlich gab es den Blick auf einen kleinen Innenhof frei, das sterbende Gras unterbrochen von ungleichmäßigem Kopfsteinpflaster und einer einsamen Metallbank.

Die Fläche war gerade groß genug, damit die beiden sich hineinpferchen und die Tür hinter sich schließen konnten.

Die flüchtige Königin war sich nicht einmal sicher, ob der Prinz dem hatte folgen können, was gerade geschehen war. Doch zu ihrem Glück hatte er noch keine unnötigen Fragen gestellt, sich nur verwirrt umgeschaut. Ihre Anspannung schien sich aber auf ihn zu übertragen - oder übertrug seine Anspannung sich auf sie?

Während sie die bröckelnden Fliesen an der linken Wand abtastete, versuchte sie, zu identifizieren, welches Gefühl noch von ihrem Sohn ausging. Unsicherheit beschrieb es nicht richtig, vielleicht Unwohlsein oder … Angst? Ja, das war es. Lukyan hatte Angst.

Ihr fehlte die Zeit, sich zu ihm umzudrehen und zu analysieren, ob er einfach nur schlecht darin war, sie zu verstecken oder er sich gar keine Mühe gab, während ihre Frustration wuchs und wuchs und wuchs. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn und Schmerz zuckte durch ihren Rücken, als sie sich niederkniete, um die Leiste zu begutachten.

Einfach weitersuchen, einfach weitersuchen, der Kellner würde sie nicht verraten haben -

»Ma.«

Olyvia blickte über ihre Schulter, ihr Sohn befand sich in der Hocke, die Ecke eines Stofffetzens in der Hand - die Ecke des Teppichs. Den hatte sie gar nicht bemerkt. Sie senkte den Blick, und tatsächlich waren gerade Linie im Boden zu erkennen, die die Fliesen ungleichmäßig spalteten. Allerdings kein Griff.

Verdammt, verdammt, verdammt …

Lukyan zögerte keinen weiteren Moment, er versuchte, einen Finger in die Rille zu pressen. Erfolglos.

Verdammt.

Olyvia drehte sich herum, presste ihre Fingernägel in ihre Handfläche, biss die Zähne zusammen und durchbrach die Haut. Die dunklen lila Tropfen fielen auf die Fliesen, mit jedem Tropf Tropf Tropf spürte sie die Kraft aus ihrem Körper entschwinden. Schwindel übernahm ihren Kopf, als sie eine Hand auf ihrer spürte. Lukyan war ihrem Beispiel gefolgt und schloss nun die Finger um die ihren.

Es entlockte ihr ein sanftes Lächeln, bevor sie die Augen schloss und sich auf das Blut ihres Sohnes fokussierte. Es prickelte auf ihrer Haut, ihr gesamter Körper fühlte sich auf einmal leichter an.

Und die Luft im Raum begann zu knistern.

Olyvia hörte ihren Sohn tief einatmen - und das war genug. Sie befahl der Luft, sich zwischen die Fliesen zu pressen, sich darunter einzufinden und wieder nach oben zu wandern. Sie spürte das Gewicht, als würde es auf ihren Schultern ruhen, die darunter zu zittern begannen. Die Blöcke aus Stein ratschten aneinander, als sich der mittlere erhob und auf der Kante seines Nachbarn niederließ.

Lukyan entzog seine Hand und schob die Platte zur Seite, Olyvia musste sich erst einmal sammeln. Sie fühlte sich schwach, früher wäre das nur der Nebensatz in einem Gedanken in ihrem Hinterkopf gewesen.

Die Platte stieß lautstark gegen die Holztür und versetzte beide in eine Schockstarre.

Sie hielten die Luft an.

Und an.

Keine nähernden Geräusche. Gut.

Das Loch im Boden ließ sich nicht vollständig frei legen, der Spalt könnte gerade so groß genug sein, um sich hindurchzuquetschen - und ihr Sohn deutete ihr nun an, genau dies zu probieren. Den brennenden Schmerz in ihrem Steiß ignorierend rutschte sie näher an den Spalt und nahm die Hand, die Lukyan ihr anbot. Sie stützte sich darauf und an den Rand ab und ließ sich herunter. Es war unmöglich, zu erkennen, worein sie sich gerade begab. Dort unten war es dunkel und still, demnach immerhin kein Wasser - aber es war nicht auszuschließen, dass sie einfach in die Tiefe stürzen und verenden würde. Dann müsste ihr Sohn doch den Thron besteigen, wenn er ihr denn nicht folgen würde.

Olyvia nahm einen tiefen Atemzug, sah ihren Sohn an und ließ sich fallen.

Und sie fiel.

Und fiel.

Und ihre Füße trafen auf den Boden. Ungeschickt rollte sie sich ab, sicher, ihre Knie gerade ächzen gehört zu haben. Sogar hier unten roch es nach Kaffee; nach abgestandenem Kaffee, vielleicht sogar Kaffeesatz, aber Kaffee.

Der dumpfe Aufprall ihres Sohnes ertönte hinter ihr, als sie noch nicht einmal auf ihren Füßen stand. Ihr Sohn kam deutlich agiler wieder in den Stand und sah nach oben. »Kannst du das schließen?«

Ihr Blick folgte dem seinen hinauf, das schummrige Licht im Kontrast zu der Dunkelheit so grell, dass sie den Raum über ihnen nicht erkennen konnte, obwohl der Lichtkegel sie nicht einmal erreichte. Entschlossen, noch etwas zu finden, suchte sie ihr Innerstes ab.

Lukyan deutete das Schweigen richtig und tastete kommentarlos nach der Wand neben ihnen. Stille breitete sich in der Höhle aus, dann ein entferntes Grummeln, ein Vibrieren des Bodens.

Ein einzelnes Steinchen löste sich aus der Wand und fiel zu Boden. Dann erhob sich eben jener Boden und wuchs - erst zu ihrer Größe, dann über sie hinaus, wie eine Pflanze der Sonne hingegen stieg der Berg an Erde der Decke entgegen.

Wie in Trance beobachtete Olyvia abwechselnd ihren Sohn und den stetig steigenden Hügel. Diese Masse zu kontrollieren, musste eine Kraft kosten, die sie lange nicht mehr beherrschte.

In dem Moment, in dem das Licht begann, dahinter zu verschwinden, ertönte ein Krachen. Stimmen, Rufe durchbrachen die Stille und der Lichtkegel verkleinerte sich erneut, die Platte rutschte zurück an ihren Platz und tauchte die beiden in Dunkelheit. Kurz darauf erreichte auch die Erde die Platte und schob sich nun selbst wieder hinab.

»Hinter uns entlang geht es weiter. Ich kann nicht spüren, ob es dort hinausführt, aber …«

Eine bessere Wahl hatten sie nicht.

Das schien alles zu beschreiben, was sie tat, seit sie aus dem Schloss geflohen war. Der missglückte Giftanschlag schien eine Reihe an Missgeschicken und unpraktischen Zufällen gestartet zu haben, die nun wie Dominosteine fielen - genau auf sie drauf.

In dem Versuch, nicht zu viele Gedanken darauf zu verschwenden, drehte sie sich einmal herum und tastete sich voran. Lukyan konnte sie neben sich ausschließlich hören. Auch wenn ihre Augen sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie kaum etwas in dem Gang. Keine Lampen, keine Lichtkegel, die durch die Oberfläche zu ihnen herein brachen -

»In solchen Situationen wäre es schon gut, Feuerkräfte zu haben.« Der witzelnde Unterton vermochte es nicht, die Lagen der Bedeutung in diesem Satz zu verstecken. Feuermagie brachte eine unglaubliche Macht mit sich und ein nicht zu verkennendes Ansehen, es hatte dem König und seiner Herrschaft sicher nicht geschadet. Und ebenso sicher hatte er sich einen Erben mit denselben Kräften gewünscht. Ein Prinz, der der Erde mächtig war und dessen Blut beinahe weiß lief, war unerwartet gekommen. Lukyan war nicht schwach und seine Blutfarbe durfte nicht herabgestuft werden - und dennoch hatte er es am Hofe nicht einfach gehabt.

Als er sie dann um Hilfe gebeten hatte, zu fliehen, war sie nicht nur erfreut über das entgegengebrachte Vertrauen gewesen, sie hatte auch keinen Moment gezögert. Ein Portal zu unbekannten Orten zu finden, war anfangs unglaublich kräftezehrend gewesen, es hatte sie so ausgelaugt, dass ein Geflüster besagte, sie und der König würden versuchen, einen weiteren Erben zu erschaffen, da der erste nicht genügte. Diese Entwicklung bestätigte Lukyan nur in seinem Vorhaben, auch wenn er sich die Zeit nahm, einen Ort zu wählen, an dem es ihm gefiel. Immerhin hatte er auch darauf gehofft, dort - hier - zu bleiben, bis er alt war.

Olyvia tat es leid, seine Existenz unterbrochen, vermutlich aufgelöst zu haben, nur war es so immer noch … besser? Sie schluckte.

»Lukyan. Du weißt, dass ich das hier nicht gewollt habe.«

Einige Zeit waren nur ihre Schritte zu hören, bis Olyvia hätte schwören können, ihren eigenen Herzschlag zu vernehmen und begann, auf der Innenseite ihrer Wange zu kauen. Eine nervöse Angewohnheit, die sie sich nur in der Dunkelheit erlaubte.

»Ich weiß, Ma.« Die Stimme ihres Sohnes klang sanft, wertvoll. Wie gern sie den Klang festgehalten hätte, doch die erdigen Wände schienen eher zu verschlucken, als wiederzugeben.

»Ich wüsste nur gern, wie es überhaupt dazu kam. Ich meine, ich weiß nicht, was bei euch vorgefallen ist seit ich … seitdem …« Ihm fehlten die Worte. Nicht, dass es keine dafür gab, sie waren simpel, aber schwer über die Lippen zu bringen. Es erging ihr ähnlich.

Der Gang stieg an, das Atmen wurde ihr deutlich erschwert, nicht zuletzt durch die Änderung des Geruchs von trockener Erde zu feuchtem Dreck. Früher hätte sie ihre Kräfte nutzen können, einfacher Luft zu bekommen oder für eine Weile keine zu benötigen. Aber heute? War sie froh, diesen Stein angehoben zu haben.

Die Königin … nun, wohl … Entthronte? War sie entthront? Geflohen. Sie hatte ihrem Volk Treue geschworen und hatte den Thron bestiegen, die örtliche Abwesenheit machte sie nicht weniger zur Königin. Der Hochverrat vielleicht, aber das war ein anderes Dilemma.

»Ich hielt es für das Richtige, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Nicht durch mich, sondern durch ihn. Ich kann dir nicht sagen, ob sein Zustand sich zum Besseren gewandt oder selbst in eine Klinge gestürzt hat, aber er hat sich verschärft. Die Liste an Hinrichtungen wuchs mit jedem Mal, wenn ich einen Blick auf sie warf, die Abgaben stiegen in einem hohen Maße, sogar die Bediensteten zerfielen zu Knochensäcken. Du erinnerst dich an Martha? Sogar sie ist gegangen, in der Hoffnung, irgendwo mehr zu finden … und er - wenn ich mich daran erinnere, wie er war, als du noch klein warst … Im Vergleich zu heute … war dieser Mann ein schnurrendes Kätzchen. Wo er früher keinen Fehltritt duldete, erwartet er heute automatische Korrektheit. Und all meine Vorschläge, Ansätze, die ernsthaft hätten hilfreich sein können … glaubst du, er hat mich ausreden lassen? Ich … Ich habe Gift auf seiner Gabel verteilen können.« Die junge Bedienstete, die sie gemaßregelt hatte, in Zukunft besser zu polieren, während sie ihr eigenes Tuch über das Metall gleiten ließ, erwähnte sie nicht. »Ich weiß nicht, wie, aber eine Wache muss etwas vermutet oder gesehen haben. Im nächsten Moment … er … Ich bin …«

Olyvia gingen Luft und Wörter aus. Ihre Lunge brannte gemeinsam mit ihren Augen.

Nicht jetzt, nicht hier, nicht vor ihm, nicht -

»Also sagst du mir, dass ich keine andere Wahl habe, als zurückzukehren.«

»Was? Nein, das würde ich nie …«

Lukyan hob die Hand.

»Verbietest du mir gerade -« Ihre empörte Anschuldigung erstarb, als auch sie die Geräusche vernahm. Ein Rauschen - ein ungleichmäßiges Rauschen.

Ohne ein weiteres Wort beschleunigten sie ihre Schritte.

Der Weg vor ihnen erhellte sich, wand sich einmal nach rechts, das Rauschen wurde lauter, und lauter, und lauter.

Und dann, am Ende des Tunnels, ein heller Punkt. Ein Ausgang.

Ein Ausgang.

Wenn dieser Tunnel nun nicht in die Arme ihres Verfolgers, der Wachen oder direkt in die ihres Mannes führten, hatte Ovid sie nicht angelogen. Sie wäre ihm vermutlich eine Menge schuldig.

Nur gut, dass weder sie noch ihr Sohn ihn dann je wiedersehen würden.

Würden sie?

Würden sie nicht.

Hinter dem hellen Punkt ließen sich Häuser erkennen, Regen, der auf den Boden prasselte, er führte sie nach draußen.

Erleichterung machte sich in ihr breit. Sie waren noch nicht in Sicherheit, aber einen Schritt näher dran.

»Kennst du einen Ort, an den wir uns zurückziehen können?«

»Daran denkst du ja früh. Nein, ich habe keinen, ich hatte auf deine Kräfte vertraut.«

»Auf meine Kräfte -« Dieser Satz, diese Implikation fühlte sich an, als hätte ihr jemand ein Schwert in den Rachen gerammt.

Und dieser jemand schien sich daran zu erfreuen, es herumzudrehen.

Der Tunnel spuckte sie an einem kleinen Abhang im Hinterhof aus.

Hinter dem Café.

Die einsame Metallbank stand unverändert in der Mitte, die Fenster rundherum noch immer geschlossen.

Der Regen prasselte noch immer nieder, als hätte sich nichts verändert.

Ihrer Aussicht nach zu urteilen, mussten sie sich direkt unter dem Fenster befinden, aus dem sie vorhin hinausgeschaut hatten. Direkt darunter.

Sie hatten kein Stückchen Entfernung zwischen sich und ihre Verfolger gebracht, nicht einen Schritt weit waren sie vorangekommen.

Lukyan hob sich den kleinen Abhang hinauf, der Regen klebte ihm beinahe augenblicklich die hellen Strähnen auf die Stirn. Sein Mantel schwang dramatisch, als er sich zu ihr herumdrehte. Ihr Sohn reichte ihr die Hand und Olyvia ergriff sie.

Sie sah sofort eine Kutsche vor sich, prunkvoll in Gold gekleidet, die Tür weit geöffnet, Wachen und Leibwächter bedrängten sie, als wäre sie nicht allein in der Lage zu stehen. Entgegen allen Angeboten und Aufforderungen war sie es, die dem kleinen Jungen die Stufen hinunterhalf.

Der nun nicht mehr so kleine Mann löste seine Hand vorsichtig aus der ihren. Durch die Wasserfäden hindurch konnte sie sehen, dass er zum Reden ansetzte, ein Schwall Wasser riss ihn allerdings von den Füßen und warf ihn zu Boden.

Olyvias Blick richtete sich auf den Ausgang zu ihrer Linken - überfüllt mit Wachen. Die Frau, die die Spitze bildete, hielt die Hände vor dem Körper ausgestreckt, und senkte diese nun - die Wassermenge breitete sich über Lukyan aus, hielt ihn in Position.

Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, riss sie einen Arm hoch, eine kleine Luftblase durchbrach die Oberfläche des Wassers und bedeckte Mund und Nase ihres Sohnes. So würde er ganz sicher nicht von ihr genommen werden.

Die Personen hinter der Frau zogen ihre Waffen und brachten sich in Position.

Verdammt.

Olyvia erlaubte sich einen Blick zu dem Prinzen. Er kämpfte gegen das Wasser an, hielt jedoch inne, als ihre Augen sich fanden.

Er bewegte seine Lippen, jegliche Worte im Wasser ertrunken. Und doch glaubte sie »Wohnung« zu erkennen. In der Hoffnung, sich nicht zu täuschen, nickte sie in die Richtung der Wachen und wartete, bis er diese Geste erwiderte.

Der Boden unter ihren Füßen begann zu vibrieren, ein Grummeln vermischte sich mit dem Rauschen des Regens und ein Erdhügel wuchs vor den Wachen. Dieser stieg deutlich langsamer als der vorige - und doch hatte er bald die Größe eines Menschen erreicht.

Olyvia atmete einmal tief ein - die Luft schmeckte erdig und salzig zugleich - und stieß ihren Arm nach vorn. Sie spürte, dass sich die kleine Luftblase auflöste, stattdessen fegte ein Windstoß über den Hügel hinweg und auf die Wachen zu. Mit Sand hatte dieser Trick vor langer Zeit besser funktioniert, aber in ihrer Not würde ein Erdklumpen im Auge sicherlich auch Schmerzen bereiten.

Sie kommandierte dem Wind, sie anzuheben und bald fand sie ihr Gleichgewicht auf einer Plattform aus Luft. Bis auf die Knochen durchnässt und erschöpft blickte sie auf die Wachen hinab - einige waren schlau genug, ihre Kräfte zu nutzen, andere - vermutlich Verbündete des Feuers - hatten sogar ihre Waffen fallen lassen.

Anfänger.

Nicht, dass sie sich beschweren würde. Deren Unfähigkeit hatte ihr die Flucht ermöglicht, und Lukyan, wie sie sehen konnte, aus dem Wasserkäfig befreit.

Ihr Blick auf ihn wurde abgeschnitten, als der Wind zu schwächeln begann und sie sich auf das Dach fallen ließ. Für einen Moment befürchtete sie, einfach wieder hinunterzurutschen.

Ohne einen Blick zurückzuwerfen, wandte Olyvia sich der Straße auf der anderen Seite des Hauses zu - sie sah so aus wie die vor Lukyans Wohnung. Sie konnte seine Wohnung von hier aus sehen.

»Dieser verdammte …« Sie kramte jeden Fluch aus ihrem Kopf hervor, den sie im Schloss nie hatte verwenden dürfen und belegte ihren Sohn damit. Und ihren Mann. Und die Wachen. Und diesen Ort. Und die Katze, die unter ihr durch den Regen huschte. Und eigentlich einfach alles.

Unsicher, was sie tun sollte, warf sie doch einen Blick zurück in den Innenhof - Lukyan hatte sich befreit und noch nicht gegen eine Wand drängen lassen.

Entgegen all ihrer Instinkte wandte sie sich wieder ab und stieß sich von dem Dach ab. Ein Windstoß federte ihren Sturz ab, dennoch schmerzte er und für einen kurzen Moment wünschte sie sich, nicht geflohen zu sein, und sei es nur, um weiter die Dienste der Heilerin in Anspruch nehmen zu können.

Zu ihrem Glück bewahrte er noch immer einen Schlüssel hinter dem Briefkasten auf - ein Kasten, der die Briefe annahm, war merkwürdig, aber einen Schlüssel dahinter aufzubewahren ebenso. Andererseits war auch das Verhältnis der Personen in diesem Gebäude zu dessen Größe … ungewöhnlich.

Olyvia versuchte, nicht zu intensiv darüber nachzudenken und rammte den Schlüssel in die linke Tür, mit der sie kurz darauf wortwörtlich ins Haus fiel. Für eine Holztür war diese überraschend leicht, die - die Königin hielt inne.

Sie stand in einem kleinen Flur, keine zwei Personen breit, mit einem perfekten Ausblick in einen türlosen Aufenthaltsraum. Mitten auf dem hellen Boden stand eine heruntergekommene, dunkelgrüne Couch, die auch in das kleine Café perfekt gepasst hätte, und darauf lag ein junger Mann. Mit ungekämmten Haaren, in einem viel zu großen Hemd steckend, hielt er eine Kaffeetasse umklammert, von der er nun aufblickte. In seinen Augen stand Verwirrung, Entsetzen zeichnete den Rest seines Gesichtes.

Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wollte sie sich auch gar nicht vorstellen, wie sie aussehen musste. Klatschnass, Haare und verdreckte Kleidung an ihrem Körper klebend, schwer atmend, den Schlüssel wie ein Messer umklammernd.

Bevor allerdings auch nur einer der beiden zum Reden ansetzen konnte, ertönten Schritte hinter ihr und Lukyan gesellte sich zu ihnen.

»Du hast es noch gefunden, gut.«

»Gut? GUT?« Sie zog ihn zu sich in den Flur und schloss die Tür hinter ihm. Sie war vielleicht erschöpft, aber nicht verzweifelt genug, um sein Leben diesen Wachen zu überlassen. »Das Café ist direkt gegenüber von deinem Wohnort? Deinem Schlafplatz?!«

»Oh, ihr wart endlich in dem Café gegenüber? Schmeckt es da so gut, wie es riecht?«

Olyvia und Lukyan drehten sich gleichzeitig zu ihm um.

Das war es, was ihn beschäftigte? Die beiden mussten fliehen, eine Garde an Wachen war ihnen auf den Fersen.

»Ma, das ist mein Mann, Kavé. Kavé, das ist wohl meine Mutter.«

»Hi.« Kavé hob lediglich eine Hand zur Begrüßung.

»… Hallo.« Es gefiel ihr ganz und gar nicht, wie oft sie heute schon überrascht worden war. Dennoch musste sie auch diesen Punkt auf die scheinbar unendlich lange Liste an Dingen setzen, um die sie sich später kümmern würde.

»Ich würde mich ja wirklich gern mit euch unterhalten, aber ich würde dir ebenso gern einen Vortrag darüber halten, wie dämlich es von dir war, sich so nah zu verabreden.« Sie musste es dem Prinzen zugutehalten, dass er nicht einmal zuckte. »Aber wir sollten als Nächstes entweder eine Möglichkeit finden, meine Kräfte zu nutzen, oder einen sicheren Ort.«

Mutter und Sohn starrten sich einige Augenblicke an, dasselbe Paar Augen fest miteinander verbunden, hinter beiden wurde dieselbe Frage verarbeitet.

»Ovid«, kam es von ihnen wie aus einem Mund.

»Oh, grüßt ihn von mir!« Kavé hatte sich kein Stück bewegt, nur still beobachtet.

»Ich weiß nicht, wann ich wieder da bin, Schatz. Liebe dich.«

Olyvia durchzuckte ein Schmerz bei diesen Worten. Lukyan jedoch öffnete die Tür und verschwand erneut in den Flur hinaus, ließ seine Mutter und seinen Mann in einer merkwürdigen Stille zurück.

»Ich dich auch!« Kavé wandte sich ihr zu. »Es war schön, dich kennenzulernen.« Er lächelte warm.

»Ehhh … Er konnte bis ins frühe Jugendalter nicht richtig trinken, hat immer gekleckert.« Hatte sie das gerade gesagt? Warum hatte sie das gesagt? »Ehh … Ebenso.« Ohne eine Antwort abzuwarten, folgte sie ihrem Sohn in den Flur und auf die Straße hinaus.

Der Regen fühlte sich eiskalt auf ihrer Haut an, die Luft noch schwerer in ihrer Lunge.

Dem Kaffeegeruch nach eilten sie quer über die Straße und zurück in das Backsteingebäude.

Das Holz knarrte unter ihren Stiefeln, als sie in das kleine Café außer Atem einfiel. Der Kaffeegeruch schlug ihr förmlich ins Gesicht.

Ovid stand hinter dem Tresen zu ihrer Linken, die Plätze hatten sich deutlich geleert, die meisten Stühle waren bereits hochgestellt und der Boden gewischt worden. Dennoch beschwerte Ovid sich nicht, versuchte nicht einmal, sie wieder hinaus zu bitten.

Die beiden näherten sich dem Tresen.

»Woher wusstest du, dass sie auf der Suche nach uns waren?«

»Wir brauchen deine Hilfe.«

»Gibt es noch mehr geheime Ausgänge?«

Ihre Worte überschlugen sich, übertönten einander, schienen den Barista zu überfallen.

»Ich -«

Seine Worte gingen in dem Krachen der Tür unter.

Die Wachen waren hier.

»Länger konntest du sie nicht aufhalten?«

Die Tür flog hinter der nächsten Wache zu, die eintreten wollte, und ein Tisch wirbelte durch den Raum, um den Eingang zu versperren.

Olyvia wirbelte zu Ovid herum. »Das fällt dir ja früh auf.« Sie warf ihren Mantel ab und griff nach der Hand des Mannes.

»Ich habe sie schon so lange aufgehalten, wie es mir möglich war. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ihr zurückkehrt!«

Eine Wache - die Frau von vorhin - stürzte auf sie zu, sie unterbreitete ihnen nicht einmal einen Kompromiss oder ein Angebot von Gefangenschaft. Der Dolch in ihrer Hand schien aus dem Nichts aufzutauchen, er blitzte in dem gedimmten Licht auf wie eine Sternschnuppe - die auf ihren Sohn zu raste.

Nicht so. Nicht sie.

Olyvia warf sich auf Lukyan, riss ihn mit sich zu Boden und landete schwer auf ihm. Seinen Schrei registrierte sie erst einige Sekunden später.

Während die erste Frau noch stolperte, der Dolch vergessen auf dem Boden, stürmte die nächste Wache auf die beiden zu, ein Kurzschwert über den Kopf gehoben.

Lukyan warf seine Mutter beinahe von sich, und dann seinen eigenen Körper über den ihren.

Orientierungslos tastete Olyvia den Boden neben sich ab - und bekam einen Griff zu fassen.

Panik stieg in ihrer Brust hoch, ihre Kehle trocknete aus, nicht hier, nicht so, nicht …

Sie atmete einmal tief ein.

»Lukyan.«

Seine, ihre Augen richteten sich auf ihr Gesicht, geweitet, unruhig, sie zuckten umher, bis sein Blick sich auf ihre fokussierte.