A Song for Us - Elena Williams - E-Book

A Song for Us E-Book

Elena Williams

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Beschreibung

“Musik war nicht nur mein Leben; sie war die Luft, die ich atmete.”
Als Tori zum ersten Mal die Bühne betritt und für ein echtes Publikum singt, weiß sie, dass sie dort hingehört. Es ist ihr Moment, ihre Chance. Doch um ihren Traum zu erfüllen, muss sie ihre wahre Identität verbergen.
“Tori” ist eigentlich Tessa. Ihre Eltern üben enormen Druck auf sie aus, eine Starpianistin zu werden. Nachdem ihr Bruder bereits verstoßen wurde, liegt die Verantwortung bei ihr, das Ansehen der Familie zu bewahren.
Heimlich hat sie sich als Tori auf YouTube einen Namen gemacht. Nun bietet sich ihr die Gelegenheit, ihre Musikkarriere in der Realität voranzutreiben und Teil der Band Electric Sunrise zu werden. 
Doch dafür muss sie nicht nur die strikten Regeln ihrer Eltern umgehen, sondern auch ihre Tarnung als Tori aufrechterhalten – selbst vor Chris, dem Frontmann der Band, der auch ihr Ex-Freund und erste große Liebe ist.

“A Song for Us” von Elena Williams ist eine inspirierende New Adult Romance darüber, den Mut zu finden, die eigenen Träume zu leben.

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A SONG FOR US

ELENA WILLIAMS

Verlag:

Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH

Werinherstr. 3

81541 München

_____________________

Texte: Elena Williams

Cover: Zeilenfluss

Satz: Zeilenfluss

Korrektorat: TE Language Services – Tanja Eggerth,

Nadine Löhle – Goldfeder Texte

_____________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

_____________________

ISBN: 978-3-9671-4454-3

Für jeden, der nicht aufhört, an seine Träume zu glauben. Denn in jedem Traum verbirgt sich die Möglichkeit, Wunder zu verwirklichen und das Unmögliche möglich zu machen.

PLAYLIST

Imagine Dragons – Demons

Blink-182 – All the Small Things

Sophia – Wenn du die Augen schließt

ClockClock – Love U Again

Benne – Reise

Self Deception – Fuckin’ Perfect

All Time Low – Lost in Stereo

ClockClock – Over

Sunrise Avenue – Little Bit Love

Benne – Licht in uns

Blink-182 – Fell in Love

Samu Haber – Gimme Your Hand

TRIGGERWARNUNG

Liebe Leser*innen,

ich möchte euch darauf aufmerksam machen, dass dieses Buch einige Elemente enthält, die unter Umständen triggern können.

Die Triggerthemen findet ihr unter zeilenfluss.de/trigger, da sie Spoiler fürs ganze Buch enthalten.

1

TESSA

Meine Finger zupften zart an den Saiten meiner Gitarre, während ich die letzten Verse von Demons von Imagine Dragons leise wiederholte. Die Melodie schien nicht nur durch den Raum zu schweben, sondern sich auch in meinem Inneren auszubreiten, mich vollkommen zu durchdringen. Jeder Ton wärmte mich von innen, bis ich gänzlich erfüllt von der Musik war.

In diesen Momenten, im Einklang mit mir und meinem Instrument, fühlte ich mich frei. Musik war nicht nur mein Leben; sie war die Luft, die ich atmete. Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen.

Kurz wartete ich, bis auch die letzte Note im Raum verklungen war, dann sprach ich ein paar Worte an meine Abonnenten: »Ich danke euch fürs Zuschauen und hoffe, euch hat meine Version von Demons gefallen. Schreibt mir gerne in den Kommentaren und stimmt dafür ab, welchen Song ich als Nächstes covern soll. Wir sehen uns bald wieder.« Ich warf eine kurze Kusshand in Richtung der Kamera und schaltete sie anschließend aus.

Dieser Durchlauf war verdammt gut gewesen. Heute Abend würde ich es schneiden, und dann war es bereit für die Veröffentlichung. Obwohl ich mittlerweile schon fast ein Jahr lang Videos von mir auf YouTube hochlud, in denen ich Songs coverte, kribbelte es jedes Mal nach wie vor in meinem Bauch vor Aufregung.

Sachte legte ich die Gitarre auf mein Bett und streichelte ihren Hals. Vielleicht war es merkwürdig, eine solche Beziehung zu seinem Instrument zu haben, aber sie brachte mich meinem Traum ein kleines Stück näher. Gleich würde ich sie wieder in den Tiefen meines Schrankes verstecken müssen, damit meine Eltern sie nicht fanden.

Verdammt! Meine Eltern! Sie mussten jeden Augenblick hier sein. Eilig räumte ich mein Zimmer, das ich für die Videos immer veränderte, wieder auf und stellte die Bilderrahmen mit den Fotos meiner Familie und mir wieder auf die Regale neben meinem Bett. Unter normalen Umständen, also wenn ich nicht gerade wieder komplett die Zeit vergaß, hätte ich sie mir noch einmal angeschaut. Auch, wenn ich bereits jedes kleine Detail darauf kannte. Mein liebstes war eines, auf dem wir als Familie zu sehen waren. Es war an Henrys zweitem Geburtstag aufgenommen worden. Meine Eltern strahlten in die Kamera. Mein Vater hatte einen Arm um Max, meinen älteren Bruder, gelegt, während ich meinen kleinen pausbäckigen Bruder hielt. Unfassbar, dass es gerade mal vier Jahre her war. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Manchmal wünschte ich, ich könnte die Zeit zurückdrehen, an den Punkt, wo wir alle glücklich waren. Jetzt hatte sich so viel verändert.

Allerdings war nun nicht der richtige Zeitpunkt, um in alten Erinnerungen festzuhängen. Ich musste mich beeilen. Schnell schloss ich den Gitarrenkoffer und versteckte ihn. Dann lief ich ins Bad. Das Gesicht, das mir entgegenblickte, war nicht meines, und doch war es mir mittlerweile so vertraut, als könnte diese Person, die mich dort ansah, eines Tages wirklich einmal ich sein. Mit geübten Fingergriffen löste ich die schwarze Langhaarperücke mit den knalligen roten Spitzen und versteckte sie ebenfalls. Ich schüttelte den Kopf, und nun umrahmten wieder goldblonde Strähnen mein Gesicht. Schnell entfernte ich mit Wattepads mein Make-up, das immer deutlich kräftiger ausfiel, wenn ich in meine Rolle schlüpfte.

Ich war gerade damit fertig geworden, als Stimmen von unten zu hören waren. Meine Eltern waren da. Seit ich mein Abi in der Tasche hatte und damit eigentlich vorerst frei war, kamen sie in ihrer Mittagspause nach Hause. Was wirklich nett gewesen wäre, wenn meine Mutter nur nicht darauf bestanden hätte, dass ich unter ihrem scharfen, kritischen Blick Klavier spielte.

Es war nichts Neues. Seit ich fünf Jahre alt war, tat ich fast nie etwas anderes. Anfangs hatte es Spaß gemacht. Ganz begeistert und fasziniert hatte ich meiner Mutter dabei zugesehen, wie ihre Finger über die Klaviatur tanzten – anmutig und elegant. Genau so wollte ich auch spielen können. Sie unterrichtete mich und merkte schnell, dass ihr Kleinkind Potenzial hatte. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, aus mir eine Starpianistin zu machen – ein Traum, den sie sich nie hatte erfüllen können. Nun war er durch mich zum Greifen nah. Ich musste mich auf das Vorspiel in drei Wochen bei der Berliner Klassikphilharmonie vorbereiten. Ich hatte in den letzten Jahren an so ziemlich jedem Wettbewerb teilgenommen, den es gab. Meine Mutter war da sehr ehrgeizig. Ich hatte den Regionalpreis bei Jugend musiziert gewonnen, war beim Landeswettbewerb angetreten und sogar in den Bundeswettbewerb gekommen. Aber zum Glück war damit jetzt Schluss, denn seit ich mein Studium angefangen hatte, war eine Teilnahme nicht mehr möglich. Meine Mutter wünschte es sich so sehr, dass ich nun ins Orchester kam, es war immer ihr eigener Traum gewesen, den sie sich nie hatte erfüllen können.

Schnell lief ich zu dem großen Flügel in unserem Wohnbereich und begann sofort mit ein paar Fingerübungen. Dann stimmte ich Beethovens Mondscheinsonate an. Währenddessen kam meine Mutter ins Zimmer. Das Stück war mir mittlerweile so vertraut wie jede Taste des Klaviers. Ich kannte es in- und auswendig, und wenn ich es spielte, fühlte es sich an, als wüssten meine Hände ganz von selbst, was sie zu tun hatten. Sie wanderten über die weißen und schwarzen Tasten ohne ein einziges Zögern. Jeder Ton saß perfekt. Meine Mutter nickte anerkennend, nachdem ich geendet hatte.

»Sehr schön, Tessa, und jetzt einmal das Stück, das du vorspielen wirst.« Ich unterdrückte ein genervtes Augenrollen. Ich hatte La Campanella von Franz Liszt nun schon gefühlt tausende Male durchgespielt. Es hatte seine Tücken, aber das würde ich schon noch hinbekommen. Immerhin hatte ich noch drei Wochen Zeit. Ich brachte meine Finger in Position und spielte die Noten vor mir. Zweimal verspielte ich mich und registrierte, wie meine Mutter bei den Misstönen kurz zusammenzuckte. Ich ärgerte mich über mich selbst.

»Du weißt, das kannst du besser«, lautete der Kommentar meiner Mutter dazu.

Ich brummte zustimmend.

»Probiere es gleich nochmal und, Schätzchen, versuche, nicht so verkrampft dabei auszusehen. Lockere deine Kiefermuskulatur ein wenig und lächle.«

Ich hatte keine Lust mehr. Trotzdem tat ich, was sie sagte, und spielte erneut. Nach drei weiteren Malen war sie endlich zufrieden, und ich konnte gehen. Ich schüttelte meine Finger aus und streckte mich. Ein Glück war dieser Teil des Tages nun endlich vorbei. Ich ließ meine Schultern kreisen. Wann hatte das endlich ein Ende? Vermutlich nie.

Aus dem Zimmer von meinem kleinen Bruder hörte ich ein genervtes Murren. Mama hatte ihn zum Geigenunterricht angemeldet, und jetzt war er mit dem Üben dran. Henry machte keinen Hehl daraus, dass er es hasste. In dieser Hinsicht war er unserem älteren Bruder Max sehr ähnlich. Beide sagten direkt das, was sie dachten. Der Gedanke an Max schickte einen kleinen Stich durch meine Brust. Er war abgehauen, und niemand wollte mir sagen, warum. Die Ungewissheit nagte an mir. Ich wünschte, ich könnte verstehen, was passiert war, und hätte die Gewissheit, dass er wieder zurückkommen würde. Ich zog mein Smartphone heraus und schickte Max eine Nachricht. Keine Antwort bisher. Die Stille machte mich nervös, aber ich wollte, dass er wusste, dass ich an ihn dachte, auch wenn ich nicht sicher war, ob er antworten würde. Ich seufzte. Was war nur passiert?

Ich ging nach oben in mein Zimmer und hörte kurze Zeit später, wie mein Bruder übte. Es klang grauenvoll, und fünf Minuten später schnappte ich mir sowohl Telefon als auch Tasche und ging nach draußen. Schnell textete ich meiner besten Freundin Mia, ob sie Zeit für ein Treffen hatte. Ihre Antwort folgte prompt.

Wir hatten beide gerade Semesterferien, und auch wenn ein paar Hausarbeiten anstanden, konnten wir uns unsere Zeit recht gut frei einteilen. Wobei man nicht gerade behaupten konnte, dass ich unbedingt viel mehr Freizeit hatte. Meine Mutter war der Meinung, ich solle lieber ordentlich üben, wenn ich schon nicht in der Uni war. Wenn sie zu Hause war, blieb mir auch keine andere Wahl, als dies zu tun, aber an Tagen wie heute nutzte ich die Zeit für meine Videos oder mich. So wie jetzt, wo ich mich einfach schnell verkrümelte, um mich mit meiner besten Freundin zu treffen.

* * *

Ich hatte das Café fast erreicht, als ich unsanft gebremst wurde. Was zum Teufel? Ein großer braunhaariger Typ hatte mich angerempelt und dabei einen Teil von seinem Kaffee über mich geschüttet. Ein dunkler Fleck befand sich nun direkt auf Brusthöhe meiner schönen weißen Bluse. Der Kerl ging einfach weiter.

»Hey, kannst du nicht aufpassen? Das war echt unsensibel!«, blaffte ich ihn an. Er blieb tatsächlich stehen.

»Was? Ich habe keine Zeit für solchen Unsinn.« Genervt drehte er sich zu mir um, und für einen Moment geriet ich ins Stocken. Er sah ziemlich gut aus. Seine braunen Haare wirkten weich und hatten den Anschein, als wäre er eben erst aufgestanden. Die schwarze Lederjacke schmiegte sich perfekt an seinen Körper an. Unter dem weißen T-Shirt zeichneten sich deutlich seine Muskeln ab. Mein Blick wanderte zu seinem Gesicht. Er sah aus, als hätte er in etwa mein Alter, also zwanzig, vielleicht auch etwas älter. Seine grünen Augen sahen mich stechend an. Etwas in mir fühlte sich an, als erlebte ich ein Déjà-vu. Der Kerl kam mir bekannt vor, was lächerlich war, denn jemanden wie ihn hätte ich garantiert nicht vergessen. Ich schüttelte den Gedanken ab und besann mich lieber auf das, was er angerichtet hatte. »Du hast mir meine Bluse versaut.«

»Die kann man ja wohl waschen«, war seine ungehobelte Antwort.

»Die war unglaublich teuer.«

»Ja und?«

»Wie, ja und? Selbstverständlich wirst du die Kosten für die Reinigung übernehmen.«

»Sicher nicht! Was kann ich denn dafür, wenn du nicht aufpassen kannst, wo du hinläufst?«

»Das ist ja wohl eine Frechheit!«, sagte ich wütend. »Du hast mich angerempelt.«

»Ach ja? Und wer sagt, dass es nicht andersherum gewesen ist?«

Ich schnappte empört nach Luft. Wie konnte jemand nur so ein Idiot sein?

»Also Püppchen, wenn du weiter nichts dazu zu sagen hast, würde ich jetzt gehen.« Er drehte sich um und warf mir einen letzten Blick zu. Kurz kniff er die Augen zusammen und wirkte etwas verwirrt. Ob er gerade ebenfalls diesen merkwürdigen Déjà-vu-Moment hatte?

»Ich bin kein Püppchen!«

Er zuckte mit den Schultern, und ehe ich mich versah, war er verschwunden. Was bildete der Kerl sich eigentlich ein? Noch immer wütend öffnete ich die Tür zum Café. Meine Laune wurde schlagartig besser, als ich Mia an unserem Stammplatz sitzen sah.

»Hey Tess«, begrüßte sie mich fröhlich.

»Hey.« Ich stellte meine Tasche neben den Tisch und setzte mich ihr gegenüber auf den freien Stuhl.

»Was ist denn mit deiner Bluse passiert?«, fragte sie und deutete auf den Fleck, der nicht zu übersehen war.

»Frag nicht.« Ich tat die Sache ab, rechnete aber nicht damit, dass Mia es wirklich auf sich beruhen lassen würde. Sie enttäuschte mich nicht.

»Tu ich trotzdem«, sagte sie mit einem Grinsen.

»Mich hat so ein Idiot draußen angerempelt. Er hat sich nicht mal entschuldigt und sich geweigert, die Reinigungskosten zu übernehmen. Kannst du dir das vorstellen? Er ist einfach so gegangen.«

Mia prustete los. »Das hast du nicht ehrlich verlangt?«

»Doch, klar. Hättest du das etwa nicht gemacht?«

Meine beste Freundin zuckte mit den Schultern. »Ich denke eher nicht. Man kann sie ja waschen, und es ist ja nicht so, als wäre es die einzige weiße Bluse, die du besitzt.«

Da hatte sie zugegebenermaßen recht. Mein Gott, wurde ich etwa gerade wie meine Eltern? Mia lenkte mich von dem Gedanken ab, als sie weiterredete. »Sein Verhalten war allerdings wirklich daneben«, stimmte sie mir zu. »Immerhin hätte er Entschuldigung sagen können.«

»Lass uns nicht mehr darüber sprechen. Ich will mir nicht die Stimmung von ihm vermiesen lassen.« Wir bestellten uns einen Latte macchiato und dazu ein Stück Schokoladenkuchen. Ausnahmsweise, weil wir gerade das Semester und die meisten Klausuren hinter uns hatten. Meine Mutter sollte davon besser nichts wissen, andernfalls dürfte ich mir wieder stundenlang einen Vortrag über bewusste Ernährung von ihr anhören. Das war bereits oft genug passiert in den letzten Jahren. Dabei gab es gar keinen Grund dafür, dass ich penibel auf meine Kalorienanzahl achten musste. Ich war schlank und hatte eine sportliche Figur, aber meine Mutter wollte Perfektion. Wieder schob ich den Gedanken, warum und wie sie sich so hatte verändern können, zur Seite.

»Ich habe Neuigkeiten«, meinte Mia plötzlich und ein Grinsen breitete sich auf ihrem herzförmigen Gesicht aus.

»Du wurdest für das Praktikum bei Eleganza angenommen?«, riet ich ins Blaue. Sie hatte sich vor einiger Zeit dort beworben und bereits während des Semesters angefangen, an ihrem Portfolio zu arbeiten. Was die Musik für mich war, war für Mia Mode. Schon als wir uns in der fünften Klasse kennengelernt hatten, war Mia durch ihre ausgefallene Kleidung aufgefallen. Später fing sie an, selbst zu entwerfen und zu schneidern, und heute machte sie mir meine Bühnenoutfits, und sie war verdammt nochmal einfach brillant. Sie traute sich das, was andere sich nicht trauten, und wurde belohnt. Manchmal wünschte ich mir, ein bisschen mehr zu sein wie sie. Mia verfolgte ihre Träume, statt sich in einen drängen zu lassen, der nicht ihr gehörte. Meine beste Freundin schüttelte den Kopf.

»Von denen höre ich frühstens in ein paar Wochen etwas. Nein, ich habe andere Neuigkeiten.«

»Du machst es aber spannend.«

»Das ist es ja auch.« Mia machte eine Kunstpause und sah mich aufmerksam an, während sie die nächsten Worte sprach. »Du wirst es nicht glauben, aber du trittst heute Abend im Soundgarden auf!« Sie hüpfte wie ein Flummi auf ihrem Stuhl auf und ab und klatschte in die Hände. »Sag schon, ist das nicht der absolute Hammer?«

»Ich? Was?« Verwirrt blinzelte ich sie an. Hatte ich das gerade richtig verstanden? Sollte ich heute Abend wirklich im Soundgarden singen?

»Glaub es ruhig, Süße.« Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Mia und ich besuchten den Club regelmäßig und bewunderten die Künstler, die dort auf der Bühne standen. Allerdings gab es eine lange Warteliste. Jeder, wirklich jeder, wollte im Soundgarden spielen.

»Wie? Seit wann?«, konnte ich nur vor mich hin stammeln. Das war unfassbar.

»Ich habe auf dem Weg hierher die Bestätigung bekommen. Es ist etwas kurzfristig. Ein Act für heute hat abgesagt, aber sie kannten dich und deinen Kanal bereits und haben deinen Namen auf der Warteliste gesehen. Sie wollten dich. Das ist deine Chance, Tess.« Sie strahlte mich an.

»Wow, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Danke, Mia.« Sie griff über den Tisch nach meinen Händen.

»Du hast es dir so verdient. Außerdem muss ich als deine zukünftige persönliche Assistentin doch dafür sorgen, dass du der nächste große Star am Popstarhimmel wirst.« Wir lachten, und ich tat es Mia gleich und hüpfte vor Freude auf dem Stuhl. Ich konnte mein Glück kaum fassen – The Soundgarden! Gleichzeitig wurde ich verdammt nervös. Noch nie hatte ich vor Publikum gespielt. Immer nur geschützt in meinem Zimmer vor der Kamera. Wenn es da mal nicht auf Anhieb so klappte, wie ich es mir vorstellte, konnte ich so oft von vorne beginnen, wie ich wollte. Hier gab es eine Chance, und die musste ich gut nutzen.

»Entspann dich, Tess. Du wirst den Laden rocken.«

»Du sagst das so leicht. Es ist schon heute Abend. Was soll ich denn überhaupt singen, und was soll ich anziehen? Ich –«

»Das mit dem Outfit überlass ruhig mir, und sing doch einen Song von P!nk. Deine Cover zu ihren Songs kamen bisher immer richtig gut bei deinen Abonnenten an und deine Stimme passt megagut dazu.« Ich lächelte.

»Ja, ich werde mir etwas überlegen. Es muss einfach perfekt werden.«

Mia griff wieder nach meinen Händen. »Glaub mir, du wirst die Menge umhauen! Das wird der Auftritt deines Lebens!«

Das hoffte ich.

2

CHRIS

Es war einer dieser Tage, an denen man schon beim Aufwachen wusste, dass es ein beschissener werden würde. Mein Wecker klingelte, nur leider eine Stunde zu spät. Ich hetzte mich ab und kam gerade noch rechtzeitig zu meinem Job im Supermarkt. Regale einräumen und Waren sortieren gehörten jetzt wirklich nicht zu meinem Traumjob, aber es ließ mich meine Rechnungen zahlen und sorgte für etwas zum Essen im Kühlschrank.

Doch wem machte ich hier etwas vor? Ich hasste es. Ich hasste jeden einzelnen Tag, an dem ich hier stand und monoton meiner Arbeit nachging. Dabei wollte ich meine Zeit viel lieber sinnvoller nutzen. Zum Beispiel damit, an unseren neuen Songs zu arbeiten. Meistens tat ich es heimlich auch hier, wenn Ulli, mein Chef, nicht hinsah. Dann kritzelte ich Lyrics auf Pappen und summte Melodien nach, die mir in den Kopf kamen.

Mehr als alles andere wollte ich Musik machen. Dafür hatte ich mein altes Leben und die Menschen darin hinter mir gelassen. Alle bis auf Finn. Er war seit der Grundschule mein bester Freund und für mich da gewesen, als alles den Bach herunterging. Außerdem war er der Bassist in der Band, die wir vor drei Jahren gegründet hatten. Wir hatten da diesen Traum, dass wir es schaffen würden, eines Tages ganz groß herauszukommen und Stadien auf der ganzen Welt zu füllen. Dafür kämpften wir jeden Tag, probten bis zum Umfallen, nahmen Demos auf und versendeten sie an Agenturen. Bisher alles ohne Erfolg. Doch wir waren noch jung, und ich war mir sicher, wir würden irgendwann für unsere Mühen belohnt werden. So wie heute, wo wir endlich bei der Open Mic Night im Soundgarden auftreten durften. Wir probten seit Wochen dafür, und das konnte nur gut werden.

Nach meiner Schicht besorgte ich mir einen Kaffee und machte mich dann auf den Weg zu Sam, unserem Schlagzeuger, bei dem wir unseren Proberaum hatten. Seine Eltern bewohnten eine Villa am Stadtrand, und vermutlich hatte er die coolsten und entspanntesten Eltern des Universums. Anders als meine unterstützten sie Sam bei seinem Traum und hatten für die Band ein mehr als modernes und komfortables Studio eingerichtet. Ich war völlig in Gedanken versunken, als ich plötzlich angerempelt wurde. Mein Kaffee schwappte über. Na super, den wollte ich eigentlich trinken. Dieser Tag war wirklich mies, aber ich versuchte, den Gedanken abzuschütteln. Ich musste zu den Jungs, wir wollten ein letztes Mal proben, bevor es heute Abend losging.

»Hey, kannst du nicht aufpassen? Das war echt unsensibel!«, schrie da jemand wütend hinter mir.

»Was? Ich habe keine Zeit für solchen Unsinn.« Genervt drehte ich mich um und sah direkt in ein Paar stechend blauer Augen.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, denn sie erinnerten mich an jemanden aus der Vergangenheit. Ein Stich durchzog meine Brust, als ich daran dachte. Ich vermisste sie. An manchen Tagen glaubte ich, den größten Fehler meines Lebens begangen zu haben, als ich sie aus meinem Leben strich, aber es war besser so. Das redete ich mir zumindest ein. Kaum merklich schüttelte ich den Kopf, um diese Gedanken wieder loszuwerden. Aber diese Frau vor mir, die nicht älter als ich zu sein schien, holte etwas von mir an die Oberfläche, das ich die ganze Zeit versuchte zu ignorieren. Dabei hatte ich damals das Richtige getan, als ich die Tür zu allem, was mit meiner Vergangenheit zu tun hatte, geschlossen hatte, auch wenn es noch immer wehtat. Es war wie eine Wunde, die auch trotz der Zeit nie wirklich verheilt war. Die Narbe blieb und erinnerte mich immer wieder daran, dass ich meine beste Freundin verloren hatte. Ein Teil von mir würde sie immer vermissen, genau so, wie die nagende Ungewissheit blieb, was aus uns hätte werden können. Es war unnütz, darüber nachzudenken, denn ich konnte nichts mehr daran ändern und das sollte ich auch nicht. Vor mir lag die Zukunft, das war das, worauf ich mich konzentrieren sollte.

Gerade allerdings befand ich mich in der Gegenwart, und in der amüsierte mich diese Unterhaltung mit dem Mädchen doch irgendwie sehr. Sie funkelte mich gerade wütend an, aber das war mir egal. Sie wollte doch tatsächlich, dass ich die Reinigung für ihre Bluse übernahm. Was konnte ich denn dafür, wenn sie nicht aufpasste, wo sie hinlief? Das klang so nach einer reichen, verwöhnten Prinzessin, dass ich die Augen verdrehte. Dabei hätte ich die Rechnung auch nicht einmal zahlen können. Dieser Kaffee in meiner Hand war schon ein Luxus, den ich mir nicht oft gönnte. Ihretwegen war der jetzt jedoch bereits zur Hälfte leer, aber davon hatte sie natürlich keine Ahnung, und es schien ihr auch nicht sonderlich wichtig zu sein.

Ich drehte mich um und ließ sie stehen. Obwohl ich es eigentlich nicht wollte, wanderten meine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Irgendetwas hatte dieses Mädchen an sich gehabt, und mir gingen ihre blauen Augen einfach nicht mehr aus dem Kopf. Sie erinnerten mich an Tessa, meine Leidensgenossin und beste Freundin – zumindest früher einmal. Wir hatten so vieles geteilt, waren alles füreinander gewesen und ohne sie wäre ich verrückt geworden. Heute war sie das Mädchen, von dem die meisten meiner Lieder handelten. Sie inspirierte mich noch immer, dabei war sie schon seit einigen Jahren kein Teil meines Lebens mehr. Weil du es so wolltest, spottete die Stimme in meinem Kopf, und sie hatte recht. Ich hätte sie nicht ohne ein Wort zu sagen aus meinem Leben werfen sollen, aber die Situation mit meinen Eltern war eskaliert und ich hatte einfach abschließen und neu anfangen wollen. Endlich das machen, was ich wollte.

Ich erreichte die Villa von Sams Eltern, in der wir proben konnten. Meine Güte, ich sollte wohl endlich einmal den Kopf freibekommen und Tessa aus meiner Gedankenwelt verbannen. Heute war schließlich unsere Chance, und die durfte ich uns auf keinen Fall versauen, nur weil ich in der Vergangenheit feststeckte.

Ich betrat den Proberaum, wo die Jungs bereits mit frustrierten Gesichtern auf dem Sofa hockten, das wir vor ein paar Monaten dort hineingetragen hatten. Finns Eltern hatten es uns geschenkt, nachdem sie sich ein neues geleistet hatten. Unser Raum war nicht allzu groß, aber es reichte aus, um bequem all unsere Instrumente darin aufzustellen, sowie ein Sofa mit kleinem Couchtisch und einen Minikühlschrank mit Getränken und Snacks.

»Ey, wie seht ihr denn aus?« Ich sah Sam und Finn direkt an.

»Hast du nicht die Nachricht im Gruppenchat gelesen?«, erwiderte Letzterer und raufte sich sein dunkles Haar. Ich schüttelte ratlos den Kopf. Ich hatte erst gar nicht daran gedacht, denn ich war ja mit anderen Sachen beschäftigt gewesen – einem blauäugigen Mädchen, um genau zu sein.

»Was denn für eine Nachricht?«

»Jo ist raus«, eröffnete Sam mir, aber ich verstand nicht.

»Wie raus?«

Sam hielt seine Drumsticks fest umklammert, während er antwortete: »Er ist nicht mehr dabei.«

»Quatsch, das würde er doch nie bringen. Heute Abend –« Die Jungs machten doch sicher Scherze, oder?

»Nicht nur heute Abend, Chris. Jo ist komplett raus«, erklärte Finn.

»Aus der Band?«, fragte ich überflüssigerweise. Die Worte ergaben in meinem Kopf einfach keinen Sinn. Ich betrachtete meine Freunde fassungslos, aber sie starrten nur weiter missmutig auf unsere Instrumente, die unbenutzt in der Mitte des Raums standen. Eigentlich wollten wir jetzt für heute Abend proben. »Wieso?«

»Irgendetwas mit seinen Eltern«, meinte Sam. »Er wollte gleich vorbeikommen.« Lustlos klopfte er seine Sticks aufeinander, und ich fischte mein Handy aus der Hosentasche. Tatsächlich war da eine Nachricht. Fassungslos las ich die wenigen Zeilen, mit denen unser Gitarrist verkündete, aus der Band auszusteigen. Das war doch wohl ein Scherz. Im Ernst, wie konnte er uns das antun? Diese Band bedeutete mir – bedeutete uns – alles. Wir hatten so vieles dafür gegeben, und dann ließ er uns ausgerechnet heute im Stich.

»Den Auftritt im Soundgarden können wir wohl jetzt vergessen«, meinte Sam und verzog das Gesicht zu einer grimmigen Miene.

»Wir werden auftreten«, sagte ich entschlossen. »Das ist unsere Chance, und wir haben so lange darauf gewartet.«

»Wie willst du das ohne Gitarristen anstellen?«, fragte mich Finn.

»Wir werden uns etwas einfallen lassen.« Ich fuhr mir mit einer Hand durchs Gesicht und kniff mir mit dem Zeigefinger und Daumen in den Nasenrücken, schloss die Augen und dachte nach. Irgendetwas musste es geben.

Da kam Jonas durch die Tür herein. Beziehungsweise musste es sich um einen Klon oder etwas Ähnliches handeln, denn mit dem Hemd und der dunklen Jeans, den ordentlich nach hinten gegelten, rotblonden Haaren erinnerte gerade nichts mehr an den chaotischen, flippigen Gitarristen, der über ein Jahr lang unsere Band vervollständigt hatte.

»Hey«, grüßte er uns mit einem gequält aussehenden Lächeln. »Sorry für die Nachricht. Ich weiß, wie wichtig der heutige Tag für die Band ist.« Er hatte die Hände in seinen Hosentaschen vergraben und verzog das Gesicht.

»Und es fiel dir erst heute Morgen ein, dass du aussteigen willst?«, fragte ich zornig.

»Es tut mir ehrlich leid, Jungs, aber ich habe die Möglichkeit, in Oxford zu studieren. Meine Eltern haben ihre Kontakte spielen lassen, und so eine Chance bekomme ich vielleicht nie wieder.«

»Das kannst du doch nicht ernsthaft wollen?« Jeder, der Jo kannte, wusste, dass ein Studium so wenig zu ihm passte wie ein Schneemann zum Sommer. Das konnte nur eins bedeuten: Seine Eltern hatten ihm ein Ultimatum gestellt. Jo hatte schon öfter erzählt, dass sie nichts von unserer Musikkarriere hielten.

»Es ist eine einmalige Gelegenheit, und mein Flug geht in zwei Stunden.«

»Das ist ein Witz, oder?«, rief Finn und seine Augen verzogen sich zu Schlitzen. »Du schmeißt alles hin, um nach England zu gehen? Alter, wir könnten bald ganz groß rauskommen!«

Jonas zuckte mit den Schultern. »Und wenn nicht? Wir können doch nicht darauf hoffen, irgendwann einmal berühmt zu werden.«

»Sagt wer? Du oder deine Eltern?«, spie ich ihm entgegen.

»Das spielt doch keine Rolle.« Er winkte ab. »Fakt ist, ich will nicht länger warten und hoffen, irgendwann einmal auf den großen Bühnen zu stehen. Ich liebe es wirklich, mit euch zu spielen, aber ich muss jetzt an mich und meine Zukunft denken.«

»Gleich muss ich kotzen«, meinte nun auch Sam, der sich bisher noch zurückgehalten hatte. Die Worte klangen so sehr nach seinen Eltern, dass es beinahe körperlich wehtat, sie aus Jos Mund zu hören.

»Und ist das auch wirklich dein Wunsch?« Jonas blinzelte mich verwirrt an. Vermutlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ich ihn ausgerechnet das fragen würde.

»Ich …«, begann er, und ich verstand seine innere Zerrissenheit nur zu gut. Jo wusste, wofür ich mich entschieden hatte. Die Frage war: Hatte er den Mut, die gleiche Entscheidung zu treffen? Kurz sah er uns an. »Es tut mir leid, aber ich kann das nicht. Ich muss gehen.« Enttäuscht schüttelte ich den Kopf.

»Leb wohl, Jo.« Mit hängendem Kopf verließ er unseren Proberaum. Unser zweites Zuhause. Ehrlich gesagt fühlte ich mich hier mehr zu Hause als in meiner winzigen Einzimmerwohnung. Einen Moment lang sagte niemand von uns etwas. »Lasst uns proben«, sagte ich und riss uns schließlich aus der Lethargie. »Wir haben schließlich einen Auftritt zu rocken.«

»Ohne Jo?« Sam wuschelte sich durch sein blondes Haar.

»Wir haben die Wahl: Entweder zerfließen wir in Selbstmitleid, weil unser Gitarrist uns hängengelassen hat, oder wir bekommen jetzt unseren Hintern hoch und proben, so wie wir es eigentlich vorhatten.« Wenn ich eine Sache in den letzten Jahren gelernt hatte, dann die, dass man immer eine Wahl hatte. Manchmal bereute man sie danach, und manchmal begriff man erst viel später, dass man die ganze Zeit die Wahl gehabt hatte, so wie ich. Doch diese Band hier, die Musik, die würde ich niemals bereuen. Sie war die beste Entscheidung meines Lebens. »Also?«, fragte ich meine Kumpel.

»Lasst uns spielen.« Finn sprang auf und griff nach seinem Bass, während Sam seine Drumsticks aneinanderschlug. Die nächsten beiden Stunden tauchten wir vollkommen in die Musik ab und ließen all unsere Emotionen heraus. Wir hatten viele eigene Songs in den letzten Jahren geschrieben und hatten eigentlich vor, einen von ihnen heute Abend auch zu performen. On fire war einer der ersten Songs, die ich geschrieben hatte, und handelte davon, wie wir für die Musik brannten, wie sehr sie unser Leben veränderte, aber er klang ohne Gitarre leider einfach nur halb so gut. Vielleicht war aber auch noch nicht der richtige Moment, und es sollte noch nicht sein, dass wir unsere eigenen Lieder performten. Also probten wir Coverversionen von verschiedenen Songs und beschlossen, nachher spontan zu entscheiden, welche sich richtig anfühlte.

Als wir uns schließlich verschwitzt und mit einer gut gekühlten Cola auf das Sofa fallen ließen, waren wir glücklich. Das war die Wirkung der Musik. Sie machte alles gleich so viel erträglicher. Wir stießen mit unseren Dosen an. Auf einen unvergesslichen Abend und das Erreichen unserer Träume.

3

TESSA

Nachdem ich mich von Mia verabschiedet und mich auf den Weg nach Hause gemacht hatte, gingen mir genau zwei Dinge durch den Kopf.

Das Erste: Welchen Song sollte ich heute Abend singen? Etliche Lieder schwirrten durch meinen Kopf. Mia hatte recht, meine P!nk-Cover kamen immer sehr gut an, genauso wie meine Cover von Sia. Normalerweise mochte ich es aber immer ganz gerne, auch Songs von männlichen Interpreten zu singen. Das ließ sich nicht so gut mit dem Original vergleichen. Ich hatte oftmals das Gefühl, die Leute erwarteten, dass ich beispielsweise genauso klang wie Sia, wenn ich einen von ihren Songs sang. Dabei wollte ich mit meiner eigenen Stimme wahrgenommen werden und nicht wie jemand, der sich eben so ähnlich wie das Original anhörte. Deshalb spielte ich auch immer wieder gerne Songs von Imagine Dragons, Panic! at the Disco oder auch Ed Sheeran.

Doch nicht nur die Songfrage beschäftigte mich, sondern auch dieser Zusammenstoß mit diesem gutaussehenden, grummeligen Kerl. Mittlerweile war mir klar, dass ich wirklich überreagiert hatte. Manchmal hatte ich schon das Gefühl, genauso zu werden wie meine Eltern. Dabei war es das Letzte, was ich wollte, und ich legte ja nicht einmal viel Wert darauf, besondere Statussymbole zu tragen, und so ein kleiner Fleck war nichts, worüber ich mich sonst eigentlich aufregte. Sicherlich hielt er mich jetzt für eine reiche, verwöhnte Göre, und ich konnte es ihm nicht einmal verübeln, denn genau so hatte ich mich verhalten. Ich ärgerte mich über mich selbst. Entschuldigen hätte er sich aber trotzdem können.

Komisch war auf jeden Fall dieses Gefühl, das er in mir hinterlassen hatte, so, als hätte ich ihn irgendwo schon einmal gesehen. In meinem Kopf tauchte ein Bild von Christopher auf. Irgendwie hatte dieser Typ ihm ziemlich ähnlich gesehen. Ich wollte nicht mehr an ihn denken. Doch da traten die Bilder erst recht in den Vordergrund. Er hatte das gleiche braune Haar und die gleichen dunklen Augen wie Christopher gehabt. Verdammt, in der ersten Zeit, nachdem er verschwunden war, hatte ich ihn einfach überall gesehen, was mich in einige sehr peinliche Situationen gebracht hatte. Einmal hatte ich geglaubt, ihn im Einkaufszentrum gesehen zu haben, als ich mit Mia shoppen gewesen war. Da ich ihn nur von der Seite gesehen hatte, war ich zu ihm gelaufen und hatte nach ihm gerufen. Eigentlich hätte es mir klar sein müssen, dass er es nicht war, als der Kerl nicht reagierte, aber ich klammerte mich an jeden Strohhalm. Schließlich erreichte ich ihn, tippte ihn an, und als er sich zu mir umdrehte, sah ich einem Mittvierziger-Mann entgegen. So schnell ich konnte, hatte ich den Rückzug angetreten und mir von da an geschworen, nicht mehr zu versuchen, Christopher ausfindig zu machen.

Zu Hause setzte ich mich an den Flügel, aber nicht, um zu üben, wie meine Mutter es sicher gewollt hätte, sondern um den Versuch zu starten, den Wirbel an Gedanken in meinem Inneren zur Ruhe zu bringen.

Oma war gekommen, um auf Henry aufzupassen. Ich hörte ihre Stimmen aus dem Kinderzimmer.

Doch die Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Immer wieder musste ich an ihn denken. Es war lächerlich, wir hatten uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Vermutlich hatte er mich längst vergessen. Wir waren noch fast Kinder gewesen, als wir uns das letzte Mal gegenübergestanden waren, und trotzdem war er immer noch so präsent in meinem Kopf, als hätte die Zeit stillgestanden. Ich wollte zurück an diesen Punkt, an dem wir beide noch füreinander da gewesen waren. Wir hatten es uns geschworen, doch er hatte sich nicht daran gehalten.

Langsam glitten meine Finger über die Tasten des Klaviers. Mit diesem Instrument hatte es begonnen. Ich erinnerte mich noch genau an diesen ersten Moment.

Es war eines der ersten Vorspiele gewesen, zu denen mich meine Mutter geschleift hatte. Sonst waren es immer nur vergleichsweise kleine Konzerte in der Musikschule gewesen. Ich war nervös gewesen, aber nicht, weil ich Angst davor hatte, nicht perfekt zu spielen, sondern weil mich einfach alles eingeschüchtert hatte. Dieser riesige Saal, die Bühne, auf der ein großer schwarzer Flügel stand, die Leute auf den Stühlen davor. Wir waren viel zu früh da, meine Mutter meldete uns an und ich saß auf einem der großen Stühle und ließ meine Beine baumeln. Ich spielte mit dem Saum meines Kleidchens, das meine Mutter extra für diesen Tag gekauft hatte. Sie hatte mir meine blonden, glatten Haare zu kleinen Löckchen gedreht, und ich kam mir vor wie eine meiner Puppen, mit denen ich immer gerne gespielt hatte.

»Hallo, wie heißt du?« Ein Junge, etwa in meinem Alter, hatte sich neben mich gesetzt und ließ ebenfalls seine Beine baumeln. Ich sah ihn an. Er lächelte, und ich beschloss sofort, dass ich ihn mochte. »Ich bin Tessa, und wer bist du?«

»Christopher. Magst du einen?« Er hielt mir einen seiner zwei Schokoriegel entgegen. Ich zögerte, auch wenn ich gerne einen genommen hätte. Meine Mutter würde das gar nicht gutheißen. Sie hatte penibel darauf geachtet, dass meine Finger sauber waren und ich akkurat aussah. Wenn ich mich jetzt mit Schokolade beschmierte, würde es ein ziemliches Theater geben. Dennoch nahm ich Christopher den Schokoriegel aus der Hand und lächelte ihn genauso breit an wie er mich.

»Danke«, sagte ich und wickelte das Papier ab. Er hatte seinen schon fast verputzt. Der süße Geruch von Schokolade erfüllte die Luft. »Welches Lied spielst du heute vor?«

»Debussys Suite Bergamasque, L. 75 III. Clair de Lune. Und du?«

»Chopins Nocturne Op. 9: No.2 in E- flat Major.« Christopher nickte wissend.

»Ich hasse diese Vorspiele«, gestand er mir und sah sich danach suchend um. Vermutlich wollte er sichergehen, dass ihn niemand gehört hatte.

»Geht mir genauso«, sprach ich zum ersten Mal genau das aus, was ich immer dachte, aber mich bisher nie getraut hatte zu sagen. Die Aufführungen in der Musikschule waren dagegen noch wirklich nett, aber hier, wo sie für das Kinderorchester nach Nachwuchstalenten suchten, war das etwas ganz anderes. Ich wollte wirklich nicht hier sein.

»Echt?« Christopher sah überrascht aus.

»Ja, ich mag es, Klavier zu spielen und Musik zu machen, aber ich mache das hier nur meiner Mutter zuliebe.«

»Ich auch.« Wir ließen wieder unsere Füße baumeln und sahen nach vorne zu dem Flügel auf der Bühne. »Lass uns einen Deal machen«, sagte er und hielt mir seine schokoverschmierte Hand entgegen. »Von jetzt an ertragen wir diese Klaviervorspiele gemeinsam. Ich schmuggle weiter Schokolade mit, und das nächste Mal hast du auch etwas dabei, ja?« Ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. Es kam mir ein bisschen komisch vor, denn ich hatte keine Ahnung, ob ich Christopher noch einmal sehen würde, aber ich hoffte es und sagte deshalb: »Abgemacht.«

Unsere Mütter kamen zu uns zurück. Als sie unsere beschmierten Hände sahen, fielen sie aus allen Wolken. Christophers Mutter sah ihn böse an und schimpfte hinter vorgehaltener Hand mit ihm. Das Lächeln, das mir so gut an ihm gefiel, verschwand, und zurück blieb eine ernste, verbissene Miene. Ich bekam ebenfalls Ärger von meiner Mutter, und sie schickten uns schließlich zum Händewaschen zu den Toiletten.

»Tut mir leid, ich wollte nicht, dass du Ärger bekommst«, meinte Christopher.

»Schon gut, eigentlich fand ich das mit der Schokolade ziemlich gut.« Er lächelte wieder dieses Lächeln, das ich so an ihm mochte. »Ich werde mir etwas Passendes dazu für das nächste Mal überlegen.«

Wir wuschen gründlich unsere Hände und kehrten zurück zu dem großen Saal. Unsere Mütter waren gerade dabei, sich darin zu überbieten, wer von uns beiden das schwierigere Stück spielen würde. Die beiden hatten sich, anders als wir, absolut nicht ausstehen können. Christopher und ich wechselten einen Blick miteinander, der so viel bedeutete wie: Das konnte noch etwas werden.

Seit diesem Tag ging mir Christopher nicht mehr aus dem Kopf.

Mein Gott, ich war gerade mal acht Jahre alt gewesen, aber wir hatten uns auf einer Wellenlänge befunden. Wir waren beide an diesem Tag in die nächste Runde gewählt worden, und ich hatte es kaum erwarten können, ihn endlich wiederzusehen. Ich musste daran denken, wie elegant er auf der Bühne ausgesehen hatte und wie geschmeidig seine Finger über die Tasten geglitten waren. Ich war jung gewesen und hatte keine Ahnung von der Liebe gehabt, aber rückblickend war das wohl der Tag gewesen, an dem ich begonnen hatte, mich in Christopher zu verlieben.

Meine Mutter hatte mir verboten, mit ihm Kontakt zu haben. Sie hatte behauptet, er würde mich nur vom Klavierspielen ablenken. Christopher erzählte mir später, dass seine Mutter da etwas ganz Ähnliches zu ihm gesagt hatte.

Doch das hielt uns nicht voneinander fern. Beim nächsten Mal fanden wir eine Möglichkeit, trotzdem zusammen zu sein, und das Mal darauf wieder. Es war aufregend und geheimnisvoll, wenn wir uns ein Versteck in einem dieser riesigen Gebäude suchten, in denen wir vorspielten. Wir aßen Schokoriegel und Gummibärchen. Als ich in das Alter kam, in dem eine Handtasche zum ständigen Begleiter eines Mädchens wurde, schmuggelte ich Trinkpäckchen mit hinein, was Christopher jedes Mal mit einem breiten Grinsen dankend annahm. Er war das Einzige, was mich durch diese Tage brachte, an denen meine Mutter wie ein aufgescheuchtes Huhn um mich herumwuselte, noch strenger mein Klavierspiel begutachtete und alles kritisierte, was nicht hundertprozentig perfekt war. Christopher und ich wurden beide in das Förderprogramm aufgenommen, und wir sahen uns öfter. Jede Woche Montag und Mittwoch, wenn ein Konzert anstand, auch am Freitag, und es war wie ein Traum. Er hatte mein Konkurrent sein sollen, und doch war er zu meinem allerbesten Freund geworden.

Jetzt war ich achtzehn und noch immer konnte ich nicht aufhören, an Christopher zu denken. Was er gerade tat, was er beruflich machte, was aus ihm geworden war. Die Melodie, die ich nebenbei auf dem Flügel spielte, wurde dramatischer, als ich daran dachte, dass ich nichts mehr von ihm wusste.

Vor fünf Jahren hatte ich ihn zum letzten Mal bei einer Aufführung gesehen. Danach hatte ich mitbekommen, wie er sich heftig mit seiner Mutter gestritten hatte. Ich hatte bei ihm bleiben wollen, aber meine Mutter hatte mich von ihm fortgezogen, und das war es: das letzte Mal, dass ich Christopher Hoffmann gesehen hatte. Ich hatte alles versucht, um ihn zu finden, hatte ihm Dutzende Nachrichten geschrieben, aber es war gewesen, als hätte es ihn niemals gegeben und als hätte er mich niemals gekannt. Es hatte sich wie ein Schlag ins Gesicht angefühlt.

Ich glaubte, dass er das Gleiche für mich empfand wie ich für ihn. Er war der erste Junge gewesen, den ich geküsst hatte, und ich war die Erste für ihn gewesen.

Am einfachsten wäre es, wenn ich endlich aufhörte, an ihn zu denken. Ihn einfach aus meinem Gedächtnis verbannte, aber das konnte ich nicht. Nein, stattdessen schrieb ich Songs für ihn. Immer wieder. Songs darüber, was aus uns hätte werden können, wenn er nicht einfach verschwunden wäre. Darüber, wie sehr ich ihn vermisste und dass ich nie die Möglichkeit gehabt hatte, ihm zu sagen, dass ich ihn liebte.

Langsam lichteten sich meine Gedanken wieder, als ich zurück ins Hier kam. Die Erinnerungen an Christopher waren noch immer so präsent. Das Loch in meiner Brust fühlte sich so groß an wie schon lange nicht mehr. Das Gefühl des Vermissens legte sich um mich, und plötzlich wusste ich, welches Lied ich heute Abend singen würde. Gerade wollte ich umdrehen und hinauf in mein Zimmer gehen, um mir die Noten auszudrucken, als mein kleiner Bruder auf einmal neben mir stand.

»Tessa?«

»Ja, Henry?« Ich lächelte ihn liebevoll an.

»Darf ich auch?« Kurz runzelte ich irritiert die Stirn, aber da bemerkte ich, wie er seine blauen Augen ehrfurchtsvoll über die blankpolierten weißen Tasten wandern ließ.

»Natürlich.« Ein Strahlen breitete sich auf seinem süßen, pausbäckigen Gesicht aus.

»Juhu«, jubelte er. Henry kam zu mir auf den Hocker und sah mich abwartend an.

»Was möchtest du spielen?«, fragte ich ihn, woraufhin er mit den Schultern zuckte.

»Etwas, das schön klingt.« Mein kleiner Bruder setzte seine Finger vorsichtig auf die Tasten. Unsere Mutter war sehr eigen, was den Flügel betraf, und normalerweise ließ sie Henry ihn nie spielen, weil sie fand, er solle die Zeit lieber nutzen, um mit seiner Geige zu üben. Ich verstand nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hatte, aber es brachte nichts, mit ihr zu diskutieren.

Henry spielte. Behutsam drückte er eine Taste nach der anderen und begann dann begeistert immer andere Kombinationen auszuprobieren. Ich war beeindruckt, denn es klang überraschend gut.

»Du machst das wirklich toll«, lobte ich ihn und zeigte ihm noch ein paar weitere Tonabfolgen. Henry machte begeistert alles mit.

»Du bist ein Naturtalent«, meinte ich, nachdem wir fertig waren, und klatschte mit ihm ab.

»Das habe ich von dir, Tessa. Ich schaue immer gerne zu, wenn du spielst.«

Mir wurde warm ums Herz und ich wuschelte ihm durch sein kurzes blondes Haar.

»Ihr habt das ganz toll gemacht.« Wir drehten uns beide zu Oma um, die uns vom Sofa aus zugehört hatte. Sie klatschte in die Hände und strahlte uns an. »Ich könnte euch beiden Ewigkeiten zuhören.«