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Europa im Jahre 909 n. Chr.: Der Wikinger Erik Elvasson segelt mit seinem Bruder Aegir, einem gefürchteten Berserker, nach Konstantinopel. Auf einem Basar entdeckt er den jungen Klosterbruder Fynn, der als Sklave zum Verkauf steht. Gegen Aegirs eindringlichen Rat nimmt Erik Fynn mit ins Land der Nordmänner. Er ahnt nicht, welche Auswirkungen das Zusammentreffen der beiden haben wird.
"A Tale of Gods and Monsters" ist eine abenteuerliche, atemberaubende und authentische Reise ins vorchristliche Nordeuropa und eine Saga um den Heiden Erik und den Christen Fynn, die kulturelle Unterschiede überwinden müssen, um sich den finsteren Herausforderungen jener unbarmherzigen Zeit zu stellen. Wird es ihnen gelingen, sich zwischen Göttern und Monstern zurechtzufinden?
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Historischer Roman
K. Jensen
J. Schiesser
Jacqueline Schiesser
Jacqueline Schiesser (*02.01.1987) ist ausgebildete und freischaffende Schauspielerin in München. Dort lebt sie mit ihrer langjährigen Partnerin und dem gemeinsamen Hündchen. Dank ihres Migrationshintergrundes und ihrer Weltenbummlerseele hat sie schon fast alle Kontinente bereist. Neben ihrer brennenden Leidenschaft für künstlerische Ausdrucksformen, wie Schauspiel, Tanz und Schriftstellerei, hat sie sich stets durch eine große Liebe für Kultur und Geschichte ausgezeichnet.
Instagram @j.schiesser.kuenstlerin
Katarina Jensen
Katarina Jensen (*29.07.1985) ist seit ihrer frühen Kindheit eine kreative Seele, was sie in der Erschaffung von Geschichten und Bildern auslebt. Mit Herz und Seele ist sie ein Nerd und lebt dies auch gerne in Fandoms, Recherche zu geschichtlichen Themen oder im Zocken mit PC/Konsole aus. Sie stammt aus dem wunderschönen Schleswig-Holstein und hat die Nordsee im Blut. Sie lebt als Untermieter von zwei Katern in der Nähe von Hamburg.
Instagram @k.jensen_autor
Das Duo findet ihr auf Instagram unter @autorenduojensenschiesser
Wenn wir heute von »Wikingern« sprechen, vergessen wir häufig, dass es sich um keine homogene Volksgruppe handelt, sondern um einen modernen Sammelbegriff für eine Vielzahl von Völkern mit teils unterschiedlichen Brauchtümern und kulturellen Besonderheiten.
Da die einzelnen Stämme viel herumkamen, vermischte sich ihre Lebensweise an gewissen Stellen mit der anderer Völker, aber auch mit christlichen Traditionen und Einflüssen von überall aus der Welt.
Leider gab es unter diesen Völkern kaum schriftliche Überlieferungen und deswegen gehört zur Recherchearbeit für eine solche Geschichte auch viel Mutmaßungen und daraus die resultierenden Schlussfolgerungen. Dazu noch letztlich der Mut zu künstlerischer Freiheit. Oft sind sich selbst Geschichtswissenschaftler nicht einig, was gewisse Fragen angehen und je mehr man nach einer klaren Antwort sucht, desto verwirrter bleibt man zurück.
Sogar über die Verflechtungen und Verwandtschaftsgraden der Götter finden sich verschiedene Darstellungen. Wir haben uns in der Regel dafür entschieden, mit den Beschreibungen in der Edda zu gehen.
Tatsächlich werdet ihr sehen, dass auch unsere Charaktere in solchen Fragen nicht ausschließlich einer Meinung sind.
Wer sich der Welt öffnet und reist, den wird die Welt in ihrer Vielfalt beeinflussen und so ging es auch den nordischen Völkern. Dafür hatten ihre Kulturen immensen Einfluss auf unser Leben.
Des Weiteren möchten wir darauf hinweisen, dass die Geschichte explizite Darstellungen körperlicher und sexueller Gewalt beinhaltet. Außerdem werden Themen wie Krieg, Tod und Blut behandelt. Wir bitten euch eigenverantwortlich zu handeln und ggfs. das Buch auch mal zur Seite zu legen.
Und nun viel Spaß mit der Geschichte wünschen euch Katarina Jensen und Jacqueline Schiesser
Miracle of Sound – Valhalla calling me
Santiano – Mädchen von Haithabu
Wardruna – Lyfjaberg (Healing Mountain)
Santiano – Bis in alle Ewigkeit
Miracle of Sound – Ode to Fury
Les Friction – World on Fire
Wardruna – Kvitravn (White Raven)
König der Löwen Musical – Endlose Nacht
Amber Run – I found
Wardruna – Helvegen (The Way to Hel)
E Nomine – Herr der Schatten
Einar Selvik – Snake Pit Poetry
HIM – Wings of a Butterfly
Perly i Lotry – My Mother told me
Alles geben die Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz,
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.
Spätsommer 909 n.Chr. – offenes Meer
Das Wimmern der Menschen frisst sich durch meine Gedanken. Ich kann nicht schlafen. Das Schaukeln des Schiffes, das Weinen, Krächzen und Stöhnen der anderen um mich herum ist schrecklich. Kinder, Frauen und Männer. Egal welchen Alters und Herkunft.
Ich lasse den Blick schweifen, während von draußen die Gischt der See gegen die morschen Bretter knallt und in einem tosenden Krach ihre Stärke beweist. Sollte es auch nur die Hälfte derer im Bauch dieses Schiffes an Land schaffen, würde das einem Wunder gleichkommen und beweisen, dass Gott die Hand schützend über einige seiner Geschöpfe hält. Wie er entscheidet, darüber möchte ich mir keine Gedanken machen.
Mir fallen vermehrt die Augen zu, auch wenn an erholsamen Schlaf nicht zu denken ist. Immer wieder flammt Schmerz an unterschiedlichen Stellen des Körpers auf, wofür ich mittlerweile dankbar bin. Denn ihn nicht zu fühlen, würde mich mehr beunruhigen.
»Ich habe Hunger«, höre ich ein kleines Mädchen klagen. Sie klammert sich zitternd an ihre Mutter, und ich bin versucht, ihr die dreckige, löchrige Decke zu geben, die ich um den Leib gewickelt habe. Sie ist alles, was mir geblieben ist. Die leise Stimme in meinen Gedanken flüstert jedoch, dass ich einer derjenigen wäre, die nie mehr Fuß an Land setzen, sollte ich diesem Gefühl nachgeben. Ich beobachte, wie die Frau das Kind in die Arme schließt und mit der Wange über sein Haar streicht. Ich werde vermutlich nie den Namen des Mädchens erfahren oder was aus ihr geworden ist, aber dieser Anblick von der kleinen Familie erwärmt mich von innen heraus. Unweigerlich muss ich an meine eigene Mutter denken, an ihr widerspenstiges, krauses Haar, das die Frauen im Land meines Vaters überforderte. Sie fehlt mir unglaublich. Wenn ich die Augen schließe, kann ich ihre sanfte Stimme hören, die mir spannende Geschichten aus fernen Ländern erzählt. Es fühlt sich an, als wäre es ein anderes Leben, und ich spüre heiße Tränen der Sehnsucht auf meinen Wangen. Hier bin ich nun, fern der Heimat, auf der Fahrt ins Ungewisse.
Wieder donnert die wilde See gegen das Schiff und bringt es ins Wanken. Die Menschen schluchzen, während Kälte und Nässe uns in die Glieder kriechen.
»Ja, ich sehe nach! Schon gut.«
Die Klappe wird geöffnet, und ein eiskalter Luftzug weht über uns hinweg. Ein Mann kommt hinkend die Holztreppe hinab. Er ist bewaffnet mit einem Schwert und Beil. Die Sprösslinge klammern sich vor Angst noch mehr an ihre Mütter, die versuchen, sie von den suchenden Blicken abzuschirmen. Zwischen ihnen hindurchzukommen, ist aufgrund des mangelnden Platzes schwierig, auch wenn alle ein Stück zusammenrücken, um ihm nicht im Weg zu sein. Der Fremde rüttelt an den Seilen und Ketten an unseren Hand- und Fußgelenken, um sich zu vergewissern, dass sie halten. Oft kommen sie einfach und holen ein Mädchen, Knaben oder junge Frauen. Keiner spricht über das, was in der Abwesenheit mit ihnen geschieht, aber jeder weiß es. Ich kann es auf den verängstigen Gesichtern sehen. Mittlerweile wagt niemand mehr, sich zu wehren oder einem anderen helfen zu wollen.
Der Jüngling, der nun vor uns steht, ist groß und kräftig gebaut. Seine Haut ist so weiß, dass das spärliche Licht des Mondes sie hell leuchten lässt. An dem jungenhaften Gesicht erkenne ich, dass er in meinem Alter ist, wovon ich mich aber nicht täuschen lassen darf, denn er weiß genau, wie er andere gefügig machen kann. Ich bezweifle, dass wir in seinen Augen überhaupt menschliche Wesen sind, oder in denen der restlichen Männer an Bord. Unsere Leben werden mit dem Preis aufgewogen, den wohlhabende Käufer bereit sind zu zahlen. Somit gelten wir für sie als Ware. Vielleicht erreichen wir gerade den Wert von Nutzvieh.
Schließlich greift der Mann das Mädchen am Arm, das eben noch seinen Hunger beklagt hat. Ihre kleinen Hände klammern zitternd an der Mutter, welche die Tochter festhält und den Peiniger anfleht, diese zu verschonen. Die Stimme steigert sich rasant vom schwachen, beschwörenden Murmeln zum hysterischen Kreischen, wobei sie sich ihm schließlich selbst anbietet. Ob er sie verstehen kann, wage ich zu bezweifeln. Dass ich es tue, ist reiner Zufall und liegt an meiner Mutter.
Die Kleine schreit und verteilt Tritte, doch gegen ihn kann sie letztlich kaum etwas ausrichten. Er verlässt uns durch die Luke, und ihre Stimme verklingt. Wimmernd und zitternd wiegt die Mutter auf dem Boden, die Arme fest um den Leib geschlungen. Normalerweise verebben derlei Ausbrüche zügig, doch diese Frau ist kaum zu beruhigen. Ich bete, dass das Kind die Nacht überleben wird, wobei ich mir unsicher bin, ob ich ihr mit meinen Gebeten einen Gefallen tue. Zu überleben heißt, sich ohne Hoffnung auf Erlösung weiter dem Leid hier auszuliefern. Ein paar der Kinder scheinen für die Männer tabu zu sein, und ich frage mich, ob sie für diese bereits zahlungswillige Kunden im Hinterkopf haben. Mit den anderen kennen sie keine Skrupel, da sie wohl auf dem Sklavenmarkt kaum etwas einbringen würden.
Obwohl ich die Sprache der Frau beherrsche, unternehme ich nichts, um sie zu trösten. In meinem früheren Leben war ich gut mit Worten, denn auch, wenn man mir mit Vorbehalt begegnet war, hatte ich schnell gelernt, wie ich Menschen für mich einnahm. Doch was hat es mir gebracht? Nun bin ich hier, als ein Sklave auf einem Schiff, der wilden See und schrecklichen Männern ausgeliefert, die zu jeder Zeit über Leben und Tod entscheiden können.
Das Mädchen kam nicht wieder, und am nächsten Morgen hören wir, wie etwas ins Meer geworfen wird. Das scheint den Geist der Mutter endgültig zu brechen, denn sie verstummt und starrt uns bloß noch aus leeren, dunklen Augen an, als würde sie uns nicht wahrnehmen.
Die Zeit wird immer unwichtiger, und das dumpfe Gefühl, welches sich im Innern ausbreitet, betäubt das Grauen, den Schmerz und die Angst vor einer ungewissen Zukunft. Immer wieder ertappe ich mich dabei, mir vorzustellen, wie sie meinen eigenen leblosen Körper über Bord werfen. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie ich im Wasser liegen würde, zwar tot, dennoch frei von Ketten und Ängsten, aber das hält nie lange an. Ein scheinbar unauslöschlicher Funken erhellt meine Gedanken, und mir wird klar, dass ich leben will. Wenn ich auf diesem Schiff sterbe, wäre alles vorbei. Also bete ich, jemand würde bereit sein, einen Preis für mich zu zahlen. Irgendjemand. Ich bezweifle, dass es irgendwo schlimmer wäre als hier. Selbst wenn sich alles in mir dagegen sträubt, im Sklavenstand zu leben, würde ich so die Möglichkeit erhalten, mein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Herbst 909 n.Chr. – Miklagard (Konstantinopel)
»Bei Odin! Aegir, du solltest das hier wirklich probieren.«
Erik schmatzte, während er den süßen Zucker von den Fingern schleckte.
Sein Bruder bedachte ihn mit abfälligen Blicken. »Ich trau dem Essen hier genauso viel über den Weg wie den Menschen, die nicht unsere Götter verehren. Nämlich kein Stück.«
Erik zuckte mit den Schultern und nahm noch etwas von den himmlischen Süßigkeiten aus dem kleinen Stoffbeutel, die er zuvor an einem der Stände erworben hatte. Er würde keine Diskussion mit Aegir anfangen. Dieser neigte dazu, alles ein wenig zu ernst zu nehmen. Außerdem blieben so mehr Naschereien für ihn selbst übrig. Immerhin hatte Aegir sich bereit erklärt, ihn auf den großen Markt zu begleiten, und so schritten sie bedächtig die langen Reihen an Ständen entlang, während Erik versuchte, die neuen Eindrücke auf sich einfließen zu lassen.
Von allen Seiten drangen verschiedene Sprachen ans Ohr, und exotische Düfte erfüllten die Luft. Mal blieb er an einem Stand mit fein gewebten bunten Stoffen stehen, mal besah er sich Schmuckstücke. In ihrer Nähe waren Stände mit einer Vielzahl an fremden Gewürzen, deren Aromen zu Erik zogen und seine Neugierde weckten. Auch Vieh wurde angeboten. Ziegen, die ganz anders aussahen als die zu Hause. Nicht weit entfernt konnte er aus Zweigen geformte Käfige mit auffällig bunten Hühnern entdecken. Sie gackerten munter oder dösten im Schatten der Behausung. Die Stoffe vor ihnen waren aus auffällig feinem Material. Es war so zart gewoben wie das weiche Schmelzwasser frischer Quellen, das aus den Bergen ins Tal floss.
Er war zum ersten Mal in Miklagard und völlig überwältigt von diesem Ort. Für ihn war es neu, so viele Menschen unterschiedlicher Herkunft versammelt zu sehen. Hier auf dem Basar machte es den Anschein, als spielte es keine Rolle, ob jemand zum Gott der Christen, zu Allah oder, wie sein Bruder und er, zu den alten, nordischen Göttern betete. Erik genoss diesen Umstand. Aegir lief jedoch grüblerisch und verschlossen neben ihm her.
Sie wurden oft auf ihr verschiedenes Äußeres angesprochen, aber letztlich wussten sie nur, dass keiner von ihnen den jeweiligen Vater je hatte kennenlernen dürfen. Die Mutter beider Männer, Elva, die berühmte Schildmaid, wollte keinen Ehemann an ihrer Seite. Sie hatte sich mit ihren beiden Söhnen in Hedeby gerade so lange niedergelassen, bis sie selbst hatte Schild und Schwert tragen können. Wie vor ihrer Geburt zog sie danach umher, um keine Schlacht auszulassen, und ihr Name wurde auch heute noch mit großer Ehrfurcht ausgesprochen.
Eine verheiratete Frau war in den Augen ihrer Landsleute für Haus und Hof zuständig, und nach eigenen Angaben war Elva nie so eine Frau gewesen. Ihm war die Zeit gut im Gedächtnis geblieben, als sein großer Bruder ihn tagelang versorgt hatte, während sie bangend auf die Heimkehr Elvas gewartet hatten. Irgendwann war sie stets aufgetaucht, hatte sich gereinigt, etwas gegessen und war anschließend in tiefen Schlaf gesunken. Erst nach dem Erwachen hatten ihre Söhne darauf hoffen dürfen, dass sie ihre Neugier mit Geschichten vom Schlachtfeld befriedigte.
Auch wenn Aegir heute nicht mehr über Elva sprach, konnte Erik sich lebhaft daran erinnern, dass sie diese Zeit beide genutzt hatten, um zu ihr unter die Felle zu klettern, wo sie alle beieinandergelegen waren, gekuschelt hatten und somit ihrer tiefen Zusammengehörigkeit wieder bewusst geworden waren. Dann war sie eines Tages nicht mehr zurückgekommen. Aegir war damals bereits fünfzehn und mit Elva zusammen ins Schlachtfeld gezogen. Der elfjährige Erik war im Zelt zurückgeblieben und hatte versucht, sich die Zeit damit zu vertreiben, einen Kessel zu flicken. Schließlich war Aegir alleine wiedergekommen, blutüberströmt und still. Er hatte sich gewaschen und währenddessen kein Wort gesagt. Die drängenden Fragen des kleinen Jungen nach der Mutter waren auf taube Ohren gestoßen, bis sein großer Bruder irgendwann den Kopf geschüttelt hatte. Es hatte für ihn keine Worte gebraucht, um zu verstehen, dass ihre Mutter nicht mehr am Leben war.
In dieser Nacht hatte niemand von ihnen gesprochen, aber es wurde deutlich, dass ihre Kindheit endgültig vorbei war. Tags drauf war Elva zusammen mit den anderen gefallenen Kriegern bestattet worden, und seitdem redeten die Brüder nicht über diejenige, die ihnen das Leben geschenkt hatte. Doch in seiner Erinnerung war sie die stärkste Frau der Welt, und auch wenn Eriks Gedanken voll von inspirierenden Geschichten von Göttern und Helden waren, gab es für ihn kein größeres Vorbild als die furchtlose Elva.
Gerade war Erik neugierig vor einem Stand stehen geblieben, an dem exotisches Räucherwerk verkauft wurde, und beobachtete fasziniert den dünnen intensiv riechenden Rauchstrahl, der von einem zierlichen glühenden Stab hochstieg, als sein Bruder ihm in die Seite stieß.
»Bei Odins Bart, Erik, ich habe nicht vor, diesen Ort erst als alter Mann wieder zu verlassen. Lass uns tun, wofür wir hergekommen sind.«
Erik richtete sich auf und grinste ihn an. »Ich fürchte, du bist schon längst ein alter Mann, wenn du der Schönheit hier nichts abgewinnen kannst.« Er lachte, doch Aegir schüttelte lediglich den Kopf und lief zielstrebig auf den Stand zu, der ihr eigentliches Ziel darstellte.
Über den Schultern trugen sie mehrere Beutel mit Kriegsbeute, die sie hier auf dem Basar zu Münzen machen wollten. Die Ware war sehr wertvoll. Es handelte sich um Waffen und Schmuck von getöteten Widersachern sowie um sakrale Schätze aus geplünderten Kirchen. All das wollten sie an Behnam verkaufen, den persischen Händler, der bekannt dafür war, seine Verhandlungspartner in Grund und Boden zu feilschen. Trotzdem bot er erstklassige Ware an und konnte kostbare Gegenstände so sicher von Ramsch unterscheiden, dass niemand vertrauenswürdiger war als er. Einige ihrer Kameraden hatten den etwas beleibten und stark parfümierten Mann empfohlen, unter anderem Eriks bester Freund Thorvin.
Sie erreichten Behnams Stand, und dessen Besitzer ließ die beiden Nordmänner einige Zeit unbeachtet stehen, um zwei andere Kunden abzufertigen. Schließlich wandte er sich mit einem geübten Lächeln auf den Lippen an die Brüder, die ihn ein gutes Stück überragten.
Er fing an, mit einer hohen, aber melodiösen Stimme zu sprechen. Nur leider verstanden weder Erik noch Aegir ein einziges Wort von dem, was der Mann vor ihnen sagte. Kurzerhand wechselten sie vielsagende Blicke und kippten den Inhalt ihrer Beutel auf die sonst leere Fläche des Standes aus. Kurz verriet ein Glitzern in Behnams tiefschwarzen Augen, was er angesichts dieser Schätze dachte, dann setzte er wieder ein undurchschaubares Lächeln auf. Er trat an die Ware heran und begann sie zu prüfen. Dabei ging er ohne erkennbare Hast vor und ließ unnötig viel Zeit verstreichen, dass Erik spürte, wie Aegir neben ihm ungeduldig die Luft einsog.
Er räusperte sich und raunte seinem Bruder zu: »Ganz ruhig! Das ist doch Absicht. Wenn er deine Ungeduld bemerkt, wird er sie in den Verhandlungen gegen dich verwenden.«
Aegir schwieg, atmete jedoch tief durch. Schließlich sah Behnam zu ihnen auf, nickte und holte ein paar Goldstücke hervor, um sie vor den Nordmännern auszubreiten. Aegir lachte auf, als er die Münzen sah. »Der will sich wohl über uns lustig machen.«
Auch Erik hatte die Stirn in Falten gelegt und schüttelte verständnislos den Kopf, dann verschränkte er die Arme vor der Brust. »Niemals.«
Offenkundig schien sein Gegenüber ihn trotz der Sprachbarriere verstanden zu haben und legte noch zwei dazu. Die Brüder tauschten kurze Blicke, und auch Aegir hatte nun seine Arme vor der Brust verschränkt. Beide schüttelten erneut den Kopf, woraufhin Behnam das Gesicht verzog und sie mit den Händen fortscheuchte. Dann drehte er sich demonstrativ um. Eriks erster Impuls war es, ihn anzubrüllen und zu fragen, ob er wahnsinnig geworden sei. Dieses Mal war es Aegir, der seinen jüngeren Bruder zur Raison brachte, indem er ihm die Hand auf den Arm legte und den Kopf schüttelte. Gemeinsam machten sie sich daran, ihre Kostbarkeiten wieder einzusammeln. Als Behnam das sah, wirbelte er zu ihnen herum und vollführte die von den Brüdern erhoffte aufhaltende Geste. Er schnaubte überzogen, dann beförderte er mit dem gespielten Ausdruck tiefsten Leids noch zwei Münzen hervor, und schließlich schlugen die Männer ein. Behnam, der nach wie vor ein gutes Geschäft abgeschlossen hatte, verstaute sein neues Verkaufsgut, und die Brüder sackten die erworbenen Münzen ein. Dafür würden sie dringend benötigte Dinge bekommen wie etwa neue Lederstiefel. Zufrieden wandten sie sich zum Gehen ab, als Erik wie angewurzelt stehen blieb.
Mit dem Stand im Rücken fiel sein Blick auf den größeren Platz nahe des Hafens der Stadt, auf den einige Männer eine Ansammlung nackter oder spärlich bekleideter Menschen führte, welche an den Händen durch lange Seile aneinandergefesselt waren. Darunter befanden sich ein paar Männer, doch vor allem konnte man Frauen oder Kinder erkennen. Vereinzelt machte Erik jüngere aus, hauptsächlich waren es aber solche, die bald das Erwachsenenalter erreichen sollten.
Wenige von Eriks wohlhabenderen Bekannten hielten sich Sklaven, von denen die meisten christliche Kriegsgefangene waren. Doch er war noch nie auf einem Sklavenmarkt gewesen. Die Menschen, die hier zum Verkauf angeboten wurden, sahen ganz unterschiedlich aus. Die meisten schienen vermutlich aus den angelsächsischen Gebieten zu stammen, aber ein paar von ihnen kamen wohl aus entfernteren Regionen der Welt. Ihre Haut war viel dunkler, als Erik es von beispielsweise Persern gewohnt war. Fasziniert und mit einem leicht flauen Gefühl in der Magengegend, schritt er näher auf die Ansammlung zu. Die Händler und Aufseher ließen ihre menschlichen Güter nie unbeobachtet, und mittlerweile lungerten auch bereits einige Kaufinteressenten um die angeketteten Geschöpfe herum.
»Bruder, was soll das? Lass uns endlich gehen! Mein Magen ist leer, und ich könnte was Ordentliches zu trinken vertragen.«
Erik ignorierte Aegir und betrachtete sich diese fremd aussehenden Menschen, die hier wie Vieh zum Verkauf angeboten wurden, wobei er das beklemmende Gefühl, das es in ihm auslöste, nicht ignorieren konnte. Die Zahl der Interessenten wuchs rasant, und viele von ihnen waren angesichts der feinen Stoffe an ihren Körpern und dem Schmuck, der ihn im Sonnenlicht blendete, recht vermögend. Ohne jegliche Scheu befühlten sie die vermeintliche Ware, musterten sie eingehend und schienen die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Sklaven abzuwägen. Vermutlich versuchten sie auch, die jeweilige Arbeitskraft einzuschätzen, indem sie Fleisch und Muskeln abklopften. Die Dargebotenen verzogen in der Regel keine Miene, doch Erik konnte sich vorstellen, dass diese Behandlung alles andere als angenehm war.
Aegir lief nach wie vor neben ihm her. »Was genau hast du jetzt vor?«, wollte er wissen. Aus dessen Stimme konnte Erik hören, welche Anstrengung es ihn kostete, nicht genervt zu klingen.
»Ich frage mich einfach, was diesen armen Kreaturen widerfahren musste, um hier zu landen«, murmelte Erik, und Aegir rollte mit den Augen.
»Was kümmert uns das? Es sind keine von unseren Leuten. Die Welt ist nun einmal ungerecht.«
Ein fremdes Schnauben ließ Erik den Kopf zur Seite drehen. Dabei fiel sein Blick auf einen schmächtigen Jüngling, der in zweiter Reihe stand und so ungewöhnlich aussah, dass der Nordmann die Augen nicht abwenden konnte. Aegir war ebenfalls zum Stehen gekommen und sog scharf die Luft ein.
»Bei Odins Bart, lass uns weitergehen! Ich will gar nicht wissen, welcher Fluch den da getroffen hat.«
»Niemand hat mich verflucht«, erwiderte die leise, aber trotzige Stimme.
Es verstrichen einige Sekunden, ehe Erik aufging, dass der seltsam aussehende Junge vor ihm geantwortet hatte. »Du sprichst unsere Sprache?«
Nun trat er durch die erste Reihe hindurch und stand so dicht vor dem Sklaven, dass er erkennen konnte, wie weitläufig sich dessen Merkwürdigkeit ausgebreitet hatte. Die fast schwarze Haut war teilweise von einer weißen Färbung durchbrochen, von denen manche großflächig den Körper zierten. Ein solch auffälliger Fleck kroch sogar von einer Schulter den Hals hinauf ins Gesicht. Auch die eigentlich dunklen Haare auf Kopf und Körper waren auf seltsame Weise von diesem Umstand betroffen. Er musterte den Jungen, und auch die Augen jagten leichte Schauer über den Rücken, denn das Honigbraun schien golden zu schimmern. Doch so befremdlich, unheimlich und faszinierend dieser Anblick war, interessierte ihn momentan eher die Tatsache, woher der Junge ihre Sprache konnte.
»Ja.«
Diese schlichte Antwort brachte ihn dazu, die Arme vor der Brust zu verschränken, um sich noch weiter aufzurichten. »Das ist ungewöhnlich für einen Sklaven!«
Der Junge fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und seufzte. »Ich habe es gelernt.« Die Stimme nahm einen verteidigenden und gleichzeitig trotzigen Ton an. »Dort wo ich herkomme, gilt euresgleichen als eine Art permanente Heimsuchung, aber einige meiner Landsleute haben gelernt, mit euch zu leben.«
Erik hob die Augenbrauen verblüfft. »Und wo genau soll das sein, wo du herkommst?« Er konnte sich keinen Ort der Welt vorstellen, von dem der Bursche stammen könnte. So befremdlich war sein Äußeres.
»Wessex.«
Kurz stutzte Erik, dann lachte er auf. »Das soll ich dir glauben?«
Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. »Mach, was du willst.«
Aegir, der bis jetzt geschwiegen hatte, langte nach Eriks Arm. »Du verschwendest hier unsere Zeit.«
Doch er ließ sich nicht beirren und löste den Griff seines Bruders. »Soll das heißen, dass du auch die Sprache der Angelsachsen beherrschst?«
Der Junge nickte.
»Sonst noch welche?«
»Ich kann Latein und Griechisch lesen. Das habe ich im Kloster gelernt.« Die Stimme des Jungen war leise, aber fest und bestimmend. »Außerdem spreche ich Tigrinya und habe mich ein wenig mit Ge’ez beschäftigt, was dir kaum etwas sagen dürfte.«
Eriks Mund stand vor Erstaunen leicht offen, denn er konnte sich keinerlei Reim auf den Sklaven machen.
Neben ihnen erschien ein ernst dreinblickender Mann und sah den merkwürdigen Jungen durch zusammengekniffene Augen an, woraufhin dieser verstummte und den Kopf senkte. Erik hatte fast den Eindruck, sein Gegenüber würde am liebsten im Erdboden verschwinden, und als der Mann ihm kurzerhand die schäbige Decke entriss, welche der Junge notdürftig um den Leib gewickelt hatte, wurde ihm klar, wieso. Der Händler nickte ihm zu und fragte mit rauer Stimme und mit starkem Akzent: »Willst du kaufen?«
Dass dieser Mann über die notwendigen Begriffe verfügte, um mit verschiedenen Landsleuten verhandeln zu können, wunderte Erik nicht, denn es wurden immer viele Fragen gestellt, ehe jemand einen Sklaven kaufte. Diese Händler waren scheinbar sehr gut darin, sich allen Gegebenheiten anzupassen, um ihre Güter an den Mann zu bringen.
Erik war überrumpelt. Trotz seiner Neugierde kam es ihm bis jetzt nicht in den Sinn, selbst die Verantwortung für einen Sklaven zu übernehmen. Die Welt war kalt und gnadenlos, und genau wie Aegir hatte Erik nie Skrupel, menschliche Kriegsbeute zum Tausch anzubieten. Durch Gefangenschaft in solch eine Lage zu geraten, war ein Risiko, das jedem Krieger blühen konnte. Doch der Gedanke, selbst einen Sklaven zu besitzen, löste ein Gefühl des Unbehagens in ihm aus. Er wollte sich gerade abwenden, als er den flehenden Blick des Jungen auffing und zögerte, doch ehe er reagieren konnte, lachte Aegir auf.
»Nein, wir haben kein Interesse.«
Der Mann schnaubte und umfasste den Kiefer des Jungen grob, um die Lippen auseinanderzudrücken. »Gute Zähne«, versuchte er es erneut, dann drehte er ihn an den Fesseln einmal im Kreis. »Frisch. Kann lernen. Machen guten Preis.«
Erik spürte Zorn in der Brust hochkochen, während der Angebotene selbst die Augen geschlossen hielt und zitterte.
Der Verkäufer zog den Jungen mit einem kräftigen Ruck am Arm zu sich, woraufhin dieser fast über die eigenen Füße fiel. Dann griff er in die meist schwarzen Locken und drückte den Kopf rücksichtslos nach unten. Mit der freien Hand schob er die Haare am Hinterkopf und an den Ohren beiseite, während der Junge gepresst atmete und die Hände zu Fäusten ballte. »Sauber, keine Tiere.«
Erik meinte so etwas wie Stolz in der Stimme des Mannes zu hören, der damit wohl andeuten wollte, dass man bei anderen Händlern nicht so sicher sein konnte, was Ungeziefer anging.
Aegir schüttelte den Kopf und machte Anstalten loszugehen, woraufhin der Mann den merkwürdigen Jungen noch einmal drehte und ihm kurzerhand einen festen Schlag auf den Hintern verpasste. Vielsagend sah er die Brüder an. »Keine Kinder kriegen.«
Verwirrt runzelte Erik die Stirn, und auch Aegir schien einen Moment zu brauchen, um zu verstehen, was ihnen gerade angepriesen wurde. Als die Erkenntnis zeitgleich zu den beiden durchdrang, trat zunächst Überraschung auf ihre Gesichter. In Eriks Augen trat anschließend ein bestürzter Ausdruck, und er ballte die Hände zu Fäusten. Aegirs Miene verfinsterte sich, und er packte den Händler am Kragen, während er ihm bedrohlich nahekam. Da er den Mann überragte, zeigte der Verkäufer eine entwaffnete Geste.
»Wir wollen diese Kreatur nicht.«
Erik sah zu dem Jungen und schluckte, als er die Verzweiflung in dessen Augen erkannte. »Lass den Mann los!« Er war selbst über den festen Ton seiner Stimme erstaunt, allerdings achtete er nicht darauf, ob Aegir der deutlichen Aufforderung nachkam. Stattdessen trat er wieder an den Jungen heran. »Wirst du wirklich alles tun, was ich dir auftrage? Egal was?«
Ohne den Blick von ihm abzuwenden, nickte sein Gegenüber entschlossen, und der ungebrochene Überlebenswille in den trotzigen Augen sowie der Drang, den Händlern zu entkommen, beeindruckten ihn.
Aegirs Stimme war trocken und höher als sonst, als er ansetzte: »Bruder, ich bitte dich, es gibt genug Besorgungen zu machen. Wozu dein Geld für einen halb verhungerten und höchstwahrscheinlich verfluchten Sklaven ausgeben?« Bevor Erik antworten konnte, sah sein Bruder ihm fest in die Augen, und er klang, als würde er einem einfältigen Kind etwas erklären müssen: »Sieht er für dich so aus, als könnte er Feldarbeit leisten?«
Erik verschränkte die Arme vor der Brust und reckte das Kinn. »Du vergisst, wie gebildet er offenbar ist.«
Aegir schnaubte. »Was soll dir Bildung nützen? Welche Reichtümer können einem Worte schon bringen?«
Er vermied es, zu antworten, denn er selbst hätte im Moment nicht sagen können, worin der Wert des Jungen bestand. Das Einzige, was er wusste, war, dass er den Basar nicht ohne ihn verlassen würde.
»Was willst du für ihn?«, fragte er schließlich, und Aegir packte ihn am Arm, um seine Aufmerksamkeit zu sichern.
»Erik, als dein älterer Bruder verlange ich, dass du mit diesem Unsinn aufhörst. Selbst wenn der Junge zu irgendwas taugt, du besitzt nicht einmal Land, das er bestellen könnte. Geschweige denn, dass die fremden Sprachen dir in Hedeby oder auf dem Schlachtfeld von Nutzen wären.«
Erik schluckte mit Nachdruck, entschied sich, die Einwände weiterhin nicht zu beachten, und wandte sich erneut an den Händler. »Was geschieht mit ihm, wenn ihn niemand kauft?«
Der Angesprochene zuckte mit den Schultern, schien aber die nächsten Worte mit präziser Genauigkeit abzuwägen, um vielleicht doch noch ein lohnendes Geschäft abzuwickeln. »Wenn Ware wertlos, töten. Nicht nehmen zurück.« Schließlich spuckte der Mann in den Sand und seufzte ungeduldig. »Kaufen, ja oder nein?«
Aegirs eindringliche Blicke ignorierend, griff Erik in den Lederbeutel und holte eine Münze hervor. Kurz schien der Mann zu überlegen, ob er feilschen sollte, doch außer ein paar Schaulustigen, die ihre Auseinandersetzung verfolgten, schien niemand den merkwürdig aussehenden Knaben zu beachten. Vermutlich kam er zu dem Schluss, dass das immerhin eine Münze mehr wäre, als der Tod des Burschen ihm bringen würde. Trotzdem schüttelte er langsam den Kopf.
»Verpflegung kostet.«
Der Junge schnaubte abfällig, wofür er einen warnenden Blick vom Händler erntete, dennoch förderte Erik die geforderte zweite Münze zum Vorschein, und mit einem Mal hielt er das Seil in den Händen, mit dem der Sklave gefesselt war. Sein Besitz. Die Erkenntnis sickerte in ihn hinein und verursachte einen Knoten im Magen, doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, um infrage zu stellen, was gerade geschehen war. Er sah zu dem entblößten Jungen, der vergeblich versuchte, die noch immer nackte Scham zu bedecken. Er angelte nach der schäbigen Decke, die der Händler hatte zu Boden fallen lassen. Wortlos trat er damit an den Jungen heran und wickelte sie um dessen Hüften. Dabei vermied er den bohrenden Blick aus den unergründlichen Augen seines Sklaven.
Schweigend verließ das Dreiergespann das Gewusel und Getümmel des Basars. Stumm, aber für ihn offensichtlich wütend und angriffslustig, lief sein Bruder neben ihm her. Währenddessen trabte der Junge am anderen Ende des Seils einige Schritte hinter ihnen. Sie erreichten den Stadtrand, und Erik wandte sich an den Sklaven. »Wie heißt du?«
Sein Gegenüber presste die Lippen zusammen und schien nicht antworten zu wollen, also blieb er stehen und hob kurzerhand dessen Kinn an, um ihm tief in die Augen zu schauen. Dann zog er eine Braue empor, um klarzustellen, dass er ihn nicht so leicht davonkommen lassen würde.
Der Junge spannte die Schultern an und sah ihm trotzig an. »Fynn«, meinte er schließlich mit fester Stimme, und ohne den Blickkontakt abzubrechen.
Er nickte zufrieden, auch wenn es ihn überraschte, dass dieser Junge keine Angst zu haben schien. »Ich bin Erik. Das ist mein Bruder Aegir.«
Fynn schaute vom einen zum anderen, zeigte jedoch keine äußerliche Regung. Das Misstrauen gegen die beiden umgab ihn wie eine Wolke. Während zuvor die Rettung vor den Sklavenhändlern das einzige verzweifelte Ziel gewesen war, schien er deswegen noch lange nicht bereit, die neuen Umstände ohne Weiteres zu akzeptieren. Diese Mischung aus Argwohn, Skepsis, Vorsicht, aber auch ungebrochenem Stolz und Stärke beeindruckte Erik, und zu gerne hätte er gefragt, was der Junge alles erlebt und gesehen hatte. Doch hier war weder die Zeit noch der Ort dafür. Erst einmal würden sie zu ihren Leuten zurückkehren und die Heimreise nach Hedeby vorbereiten. Der lange Winter würde nicht ewig auf sich warten lassen, und so gab es zu Hause noch viel zu erledigen.
Mit einem wütenden Funkeln in den Augen wandte Aegir sich an Fynn. Als er das Wort erhob, war sein Ton herablassend. »Du wirst ja bald unter Beweis stellen können, was du wert bist. Dort wo wir hinfahren, kommt viel Arbeit auf dich zu, verfluchter Fynn aus Wessex.«
Fynn folgte den beiden Männern in dem größtmöglichen Abstand, den das Seil, mit dem seine Hände gefesselt waren und mit welchem der Nordmann ihn führte, es zuließ. Er traute ihnen nicht. Schließlich waren ihm die Schreckensgeschichten, die er seit der Kindheit über die Nordmänner gehört hatte, gut in Erinnerung geblieben. Sie trugen in seiner Heimat viele klangvolle Namen wie Barbaren, Mörder oder der Schrecken aus dem Norden. Er sah keinen Grund, ihnen zu trauen, auch wenn der Mann namens Erik ihn vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Fynn bezweifelte jedoch, dass er es aus purer Großherzigkeit tat. Immerhin schien der Mann nicht vorzuhaben, ihm nun die Freiheit zu schenken.
Er war erleichtert, dass er aus der prekären Situation entkommen war, denn der Sklavenhändler hatte ihm mehrmals zugeraunt, dass heute Fynns letzte Möglichkeit wäre. An keinem der anderen Tage war jemand gewillt gewesen, den schmächtigen und in vielerlei Hinsicht merkwürdig aussehenden Fynn zu kaufen. Wäre auch heute niemand bereit gewesen, ihn gegen Münzen zu tauschen, hätte es für ihn kein Morgen mehr gegeben, und Hoffnungen auf einen schnellen, schmerzlosen Tod hätte er sich keine zu machen brauchen. Wenn er daran dachte, wie brutal sich die Männer an denjenigen austobten, von denen sie keinen Tauschhandel mehr erwarteten, brach ihm sogar jetzt der Schweiß aus. Dass er einem derartigen Schicksal entgangen war, ließ Fynn tatsächlich etwas Dankbarkeit empfinden. Gleichzeitig verabscheute er sich dafür. Sein Wohlwollen durfte nicht diesem Schlächter gelten, der ihn wie Vieh erworben hatte. Der göttliche Vater war es, dem er die Rettung verdankte, und er würde darauf vertrauen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er ihm die Kraft und Gelegenheit schenkte, vor den Nordmännern zu fliehen.
»Was willst du mit diesem Jungen, Erik?«
Fynn hob den Blick leicht von den eigenen Füßen und sah zu dem schwarzhaarigen Mann vor sich, der Aegir genannt wurde. Er war größer als sämtliche Männer, die er jemals gesehen hatte. Sein Auftreten war stattlich, und im Gegensatz zu dem kleineren Mann, der sämtlichen Beschreibungen der barbarischen Monster entsprach, die er kannte, sah er elegant aus. Er hatte ein auffallend edel geschnittenes Gesicht. Die wohlgeformten, langen Gliedmaßen wirkten kräftig, aber nicht so muskulös wie die des anderen. Dennoch strahlte er Bedrohung und Gefahr aus. Es überraschte Fynn, dass diese beiden ungleichen Männer Brüder waren. Erik war mehr als einen Kopf kleiner als Aegir und entsprach mit der breiten Brust und den dazu passenden Schultern eher Fynns Vorstellung der gefürchteten Nordmänner. Das Gesicht war markant, sogar ein wenig grob. Eine lange, wulstige Narbe war das offensichtlichste Merkmal des Mannes. Sie setzte unter dem linken Auge an und spaltete das Gesicht über das Kinn hinaus bis zum Schulterblatt. Das schmutzig blonde Haupt- und Barthaar war ebenfalls kaum zu übersehen. Beide Männer trugen ihr Haar an den Kopfseiten geschoren. Eriks imposanter und von mehreren Lederbändern zusammengehaltener Zopf reichte bis zwischen die Schulterblätter. Aegris kurzes Haar lag weniger eindrucksvoll geflochten am Kopf an und endete etwa auf Höhe der Ohren in einem kurzen Schwänzchen.
Selbst ihre Stimmen klangen unterschiedlich, wobei vor allem die von Aegir einen aufhorchen ließ. Sie war rau, kalt und düster, sodass Fynn bei dem Klang Gänsehaut bekam.
»Das werde ich mir überlegen, Bruder.« Erik atmete geräuschvoll aus. »Soweit habe ich nicht nachgedacht. Er spricht jedenfalls unsere Sprache, die der Angelsachsen und noch einige andere. Das könnte sich als nützlich erweisen.«
Kurz herrschte Stille, aber Fynn konnte sehen, dass Aegir seinem Bruder einen finsteren Blick zuwarf, woraufhin dieser erneut seufzte und mit den Schultern zuckte. »Ich habe ihn von meinem Anteil gekauft, und damit ist er meine Sorge, nicht deine.«
Die Stimme des kleineren Mannes war ernst, sodass sein Bruder es dabei bewenden ließ. Stattdessen sah er zu Fynn, der dabei einen Kloß im Hals spürte. Er hatte früh gelernt Menschen zu lesen. Das war unabdingbar, wenn man in einem Kloster lebte, welches auch Fremde aufnahm und versorgte. Aegir wirkte trotz seines Äußeren auf ihn wie ein Mann, der im Zweifelsfall erst handelte und dann Fragen stellte. Vermutlich würde er Fynn genau im Auge behalten. Er machte sich keine Illusion darüber, ob sein Leben und Wohlergehen ihm in irgendeiner Weise wichtig waren. Er musste Vorsicht walten lassen und durfte keinen Fehler machen, wenn er auf den richtigen Zeitpunkt zur Flucht hoffen wollte.
»Ich bezweifle jedenfalls, dass dieser Jungen überhaupt den Pflug halten kann«, setzte er erneut an, und sein Bruder schnaubte, erwiderte aber nichts. »Egal wie viele Sprachen er spricht, er wird dir die Haare vom Kopf fressen und dir keinerlei Dienste erweisen, die diese Kosten ausgleichen.«
Als Erik sich daraufhin umdrehte, um Fynn ins Auge zu fassen, wirkte er weniger feindselig, eher nachdenklich. Schließlich zuckte Erik erneut mit den Schultern. »Damit befasse ich mich, wenn es so weit ist.«
Diese Antwort schien Aegir kaum zufriedenzustellen, denn er wollte gerade erneut ansetzen, da wickelte sich Erik das Seil, mit dem er Fynn hielt, kurzerhand um den Arm, dann zog er die Axt und deutete damit auf Aegir.
»Bruder, du reizt meine Geduld aus. Ich bin kein Kind mehr, und selbst wenn du die Entscheidung nicht verstehst, wirst du sie hinnehmen oder ich werde dir in einem Kampf zeigen müssen, dass ich ein Mann bin und deine Weisungen nicht benötige.«
Fynn konnte Überraschung auf Aegirs ebenmäßigem Gesicht sehen und meinte einen kurzen Schatten zu erkennen, der darüber huschte. Im nächsten Moment trat ein breites und offenes Lachen an die Stelle. Aegir hob die Hände und schüttelte den Kopf.
»Kleiner Bruder. Hitzköpfig wie eh und je? Verzeih mir meine Sorge um dich. Mögest du mit deinem talentierten Sklaven Glück haben.«
Erik hatte die Stirn in Falten gelegt und schien den nächsten Schritt abzuwägen. Aegir trat mit nach wie vor erhobenen Händen auf ihn zu. Mit der einen drückte er schließlich Eriks Axt sanft hinab. Die Haltung wirkte weder aggressiv noch herausfordernd, sondern hatte etwas Belustigtes an sich. Dies zeigte er deutlich mit einem spöttischen Grinsen. »Glaub bloß nicht, ich würde euch beide durchfüttern, wenn du merkst, dass ich Recht hatte.«
Schließlich ließ Erik die Axt sinken und grinste ebenfalls. »Keine Sorge. So weit wird es nicht kommen.«
Die Brüder tauschten einen Blick, dann legten sie versöhnlich die Arme umeinander. Fynn beschlich der Verdacht, dass die beiden nie lange wütend aufeinander sein konnten und etwaige Streitigkeiten bloß regelmäßige Kräftevergleiche waren, bei denen sie die jeweiligen Grenzen austesteten. Fynn war es gleich. Er war froh, die Aufmerksamkeit der Männer nicht mehr bei sich zu wissen.
»Jetzt lass uns endlich zu unseren Leuten gehen«, meinte Aegir lächelnd, aber Erik schüttelte den Kopf.
»Da ist noch etwas.«
»Was denn jetzt? Die anderen werden ungeduldig.«
»Dann sollen sie eben ein bisschen warten. Oder hast du Angst, dass sie froh sind, dich los zu sein, und deswegen ohne uns aufbrechen?«
Diese Worte schienen Aegir lediglich eine abfällig erhobene Augenbraue hervorzulocken, während Erik vergnügt lachte. Dann wandte er sich Fynn zu, der sich sogleich versteifte und den Kopf senkte. Er hatte die Männer mit großem Interesse beobachtet und die Umgebung sowie die vorbeieilenden Menschen ausgeblendet. Nun wieder der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu werden, löste Unbehagen in ihm aus. Eine Gänsehaut kroch seinen Nacken empor, und am liebsten wäre er noch einige Schritte weiter nach hinten gegangen, aber das Seil um die Handgelenke verhinderte dies. Ein kurzer Ruck an den Fesseln deutete Fynn an, dass er sogar noch zu seinem neuen Besitzer aufschließen sollte. Er wagte kaum zu atmen, geschweige denn dieser stummen Aufforderung zu folgen, und eine bedrückende Stille breitete sich um sie herum aus.
»Komm her.« Eriks Stimme duldete zwar keinen Widerspruch, dennoch war sie ruhig, und eine irrationale Hoffnung sagte Fynn, dass er sich nicht zu fürchten brauchte. Dennoch fühlte er Schweißperlen auf der Stirn, was einem Wunder gleichkam, da er seit der Ankunft auf dem Markt nichts mehr getrunken hatte. Bevor sie ihre menschliche Ware feilboten, versorgten die Händler sie mit Wasser, damit sie einen möglichst gesunden Eindruck hinterließen. Er leckte sich über die spröden Lippen, wagte aber nicht, auf den Durst, den er verspürte, aufmerksam zu machen.
Es war das erste Mal, dass Erik ihn direkt ansprach, seit er ihm ihre Namen genannt hatte, dass er mit ihm statt über ihn sprach. Fynn rührte sich nicht, und Aegir ließ ein ungeduldiges Schnauben hören, doch Erik zupfte noch einmal am Seil, und schließlich schloss Fynn zu ihm auf. Den Blick hielt er auf seine Zehen gerichtet.
»Kannst du arbeiten?«, wollte Erik wissen.
Fynn nickte wahrheitsgetreu, und als er sprach, klang seine Stimme selbstsicherer, als er sich fühlte. »Im Kloster war ich schon als Kind für den Gemüseanbau und die Ernte zuständig. Wir haben uns selbst versorgt und sogar Vieh gehalten. Im Umgang mit Tieren bin ich weniger bewandert als in dem mit Pflanzen und Kräutern. Ich kann schnell lernen.«
Außerdem war er belesen in der Kunst der Heilkräuter und anderem Nützlichen. Das Wissen wollte er allerdings noch nicht mit den Nordmännern teilen. Ein Gefühl sagte ihm, es wäre unklug, zu viel über sich preiszugeben. Denn je wertvoller er war, desto genauer würden sie ihn im Auge behalten. Das konnte die Flucht erschweren. Sein Wissen über die pflanzlichen Heilmöglichkeiten könnte ihm zusätzlich zum Verhängnis werden. Wahrscheinlich würden diese Heiden befürchten, er könnte sie vergiften, wozu er mit den richtigen Pflanzen durchaus in der Lage wäre, worauf er jedoch nicht zurückgreifen wollte.
»Und weißt du, wie man Vorräte für den Winter anlegt?«
Erneut nickte Fynn, und nun hob er den Blick, um Erik in die Augen zu sehen. Dabei stellte er fest, dass diese graublau waren. Es erinnerte ihn an den wolkenverhangenen Himmel kurz vor einem Gewitter. Überrascht von dieser Erkenntnis, wusste er erst nicht, was er sagen sollte, dann atmete er tief durch. »Ich kann zusätzlich Kleidung ausbessern und Brot backen.«
Dieses Mal war seine Stimme ein Flüstern. Es missfiel ihm, dass er versuchte, den Fremden seinen Wert unter Beweis zu stellen. Aber es war das erste Mal seit Monaten, dass jemand vernünftig mit ihm sprach, sonst war er nur angeschrien, geschubst und geschlagen worden. Schon als Erik ihn nach seinem Namen gefragt hatte, hatte Fynn sich endlich wieder wie ein Mensch gefühlt. Ein Jemand mit einer Geschichte, Heimat, Empfindungen und Wünschen. Es war verlockend, diese einigermaßen normale Unterhaltung zu führen, auch wenn er sich ins Gedächtnis rief, dass das hier Barbaren waren, gottlose Heiden, die sein Zuhause seit Jahren heimsuchten und Angst und Schrecken verbreiteten.
Er beobachtete, wie Erik grinsend zu Aegir sah. »Na siehst du, Bruderherz. Er wird sich schon nützlich machen.«
Als Antwort schloss der Angesprochene die Augen, so als würde er eine höhere Macht um Geduld bitten. Danach schnaubte er und wandte sich ab, um weiterzugehen. Erik musterte Fynn kurz. Schließlich klopfte er ihm auf die Schulter und ging ebenfalls weiter. Diese Geste löste bei Fynn derartige Verwirrung und Unverständnis aus, dass erst der deutliche Zug des Seils ihn daran erinnerte, selbst loszulaufen.
Während er hinter den ungleichen Brüdern hertrottete, überlegte er, ob seine Menschenkenntnis ihm bei den beiden weiterhelfen konnte. Sie schienen gänzlich anders im Umgang miteinander, als Fynn es von zu Hause gewohnt war. Ihm graute vor der Vorstellung, zu den anderen Nordmännern zu kommen und mit ihnen in ein Land zu segeln, dessen Kultur und Sitten ihm unbekannt waren. Er wäre gezwungen, unter einem Menschenschlag zu leben, dessen Vertreter für ihre Grausamkeit, heidnischen Kulte, Brandschatzung heiliger Stätten und englischer Ortschaften berüchtigt waren. Das Schlimmste für ihn war, als Sklave ihr Eigentum zu sein. Vermutlich konnte er von Glück reden, wenn sie ihm einen etwas höheren Wert als ihrem Vieh zugestanden. Als gleichwertigen Menschen würden sie ihn sicherlich nie anerkennen. Innerlich wandte er sich an Gott und bat ihn um ein Zeichen, dass die Rettung vor den Sklavenhändlern einen Grund hatte. Denn wenn er an die Zukunft dachte, schlich Angst seinen Nacken empor, und er konnte nur hoffen, einen anderen Ausweg zu finden als die unverzeihliche Sünde, das eigene Leben zu nehmen. Er würde Stärke zeigen müssen, wenn er bei all den Prüfungen sein Seelenheil nicht aufs Spiel setzen wollte.
Laute Stimmen erhoben sich schließlich aus dem schwindenden Restlicht des vorbeiziehenden Tages. Als sie die Küste erreichten, wurde Fynn mulmig zumute. Wie viele Männer umfasste wohl die Mannschaft der beiden Nordmänner? Woher kamen sie? Wo war dieses Hedeby, von dem Aegir gesprochen hatte? Wie lange würde ihre Überfahrt dahin dauern? Die Fahrt nach Hause. Fynn versuchte sich das Dorf der Nordmänner vorzustellen, doch während ihm auf der einen Seite die Vorstellungskraft fehlte, erzeugte sie andererseits Bilder, die ihn beten ließen, dass sie lediglich die Folgen der Schauergeschichten waren, die er gehört hatte. Auch wenn vermutlich kein anderer Ort der Welt schlimmer sein konnte als der Bauch eines Sklavenschiffs, bezweifelte er, dass er Wessex je wiedersehen würde. Er wollte seine Gefühle und Ängste so tief in sich verschließen, dass diese Fremden sie nicht wittern konnten, denn sonst wäre ein baldiger Tod sicher zwangsläufig. Zu gerne hätte er die Kraft, die Aussicht auf ein schnelles und hoffentlich schmerzfreies Ableben als Erlösung anzusehen, als Rettung aus dieser Hölle auf Erden, doch er wollte überleben. Er brauchte die Hoffnung, dass etwas Anderes auf ihn wartete. Wenn er die Wahl zwischen Leben und Tod hatte, würde diese für Fynn stets eindeutig ausfallen.
Je mehr Gestalten er in der Ferne ausmachen konnte, desto glücklicher war er um die Decke, die seinen Unterleib verhüllte. Langsam schwand die brütende Hitze des Tages, und er hoffte inständig, dass er für die Nacht mehr bekommen würde als den dünnen Stofffetzen.
Die nackten Füße sackten mit einem Mal in kühlen, nassen Sand, und dieses Gefühl entlockte ihm ein wohliges Seufzen. Seine Fußsohlen waren heiß und teilweise aufgeschürft von der erhitzten Steinstraße, der sie gefolgt waren.
Das Brechen der Wellen ließ ihn aufhorchen. Als er den Kopf hob, konnte er drei Schiffe ausmachen, deren Bauweise dem entsprach, was er in Geschichten über die Nordmänner gehört hatte. Die Eleganz und Bauweise dieser Schiffe beeindruckten ihn, auch wenn er es niemals ausgesprochen hätte. Sie wirkten stabil und einschüchternd, während kunstvolle Schnitzereien den Blick einfingen. Auch wenn der Einbruch der Dunkelheit nur geringfügige Erleichterung von der Hitze brachte, hatte Fynn angefangen zu zittern. Die körperliche Erschöpfung, der Hunger und der brennende Durst waren mittlerweile so einnehmend, dass er bezweifelte, sich noch lange auf den Beinen halten zu können. Jeder Muskel schmerzte, und seine Sicht verschwamm zunehmend.
»Was habt ihr denn da mitgebracht?«
Es dauerte nicht lange, und um sie herum bildete sich eine Menge aus bärtigen und muskulösen Männern, die Fynn mit großem Interesse musterten. Manche von ihnen fassten ihm ungefragt ins Haar, was er versuchte abzuwehren, indem er den Kopf zur Seite drehte. Seit jeher war er dem Umstand begegnet, dass Menschen sich ihm gegenüber das Recht herausnahmen, sein Haar berühren zu dürfen. Im besten Fall fragten sie zuvor, im schlechtesten ließen sie ihrer Neugier freien Lauf, was er stets befremdlich fand. Er verzog das Gesicht, während Erik seinen Leuten bedeutete Abstand zu nehmen.
»Ich habe ihn auf dem Markt gefunden. Vielleicht ist er nützlich.«
»Du hast dir einen Sklaven gekauft?« Ein Raunen ging durch die Reihe der Männer. Fynn war überrascht. Von den Geschichten, die ihm erzählt wurden, wusste er, dass auch die Nordmänner ihre menschliche Kriegsbeute gegen Münzen oder andere Schätze eintauschten. Sie nahmen Gefangene und schienen dennoch überrascht, dass er sich einen Sklaven gekauft hatte? Das alles war für ihn nicht nachvollziehbar, trotzdem war er schlau genug, den Mund zu halten.
»Was ich tue und wie ich entscheide, ist meine Sache.« Die Stimme des Nordmannes war ein Knurren, und selbst Fynn verspürte den Drang, zurückzuweichen. Doch die kräftige Hand hielt ihn am Arm, als wollte er sichergehen, dass er bei ihm blieb.
»Natürlich ist das deine Sache, es überrascht uns nur. Ich hoffe, wir bekommen ihn lebend nach Hedeby. Er sieht ziemlich schwach aus.«
»Sind alle Vorkehrungen getroffen?«, erkundigte sich Erik und wechselte abrupt das Thema.
Die Männer nickten, und einer mit langem Bart und noch längerem Zopf trat aus der Menge heraus. Er war deutlich kleiner als Erik, schien aber im gleichen Alter zu sein und wirkte kräftig und robust. Dazu waren das Gesicht, die Arme und die Hälfte der Brust mit merkwürdigen schwarzen Zeichen verziert, die Fynn zwar schon oft gesehen hatte, aber nicht wusste, was sie bedeuteten. »Wir haben alles aufgeladen und vorbereitet, wir können sofort aufbrechen.«
Er beobachtete, wie Erik dem kleineren Mann auf die Schulter klopfte und mit einem Kopfnicken seinem Bruder ein Zeichen gab. Dieser hob den Arm, und die Männer setzten sich sofort in Bewegung. Erik führte Fynn auf eines der Boote, und er war überrascht über die schiere Größe, denn sie boten noch mehr Platz, als man vom Land aus vermutet hätte. Sie lagen flach im Wasser, ein riesiges Segel war in der Mitte gespannt und wartete darauf, dem Wind zu folgen. Auf den Booten konnten nach seiner Schätzung rund einhundert Mann Platz finden. Es gab jedoch keinen Schutz vor Wind und Wetter. Fynn hatte schon viele Geschichten von den todbringenden Schiffen gehört, die nahezu geräuschlos durchs Wasser glitten, Platz für eine kleine Armee boten und selbst die seichtesten Gewässer befahren konnten. Es war das erste Mal, dass er selbst eines dieser Meisterwerke der Schiffsbaukunst zu Gesicht bekam. Sie verschlugen ihm den Atem, obgleich diese Gedanken sein schlechtes Gewissen weckten. Die Menschen hier waren gottlose Barbaren und verdienten kaum die Anerkennung eines Christen. Dann kam ihm allerdings die Eingebung, dass fehlende Bewunderung wohl noch niemanden vor den Nordmännern gerettet hatte. Er hob den Blick zum mächtigen Segel und besah sich die Schilde der Krieger, welche an den Seiten aufgereiht waren, damit man jederzeit dahinter Schutz suchen konnte. Bei genauerem Hinsehen erkannte er kunstfertige Schnitzereien auf den Schilden, die er schließlich als Runen ausmachte. Obwohl er die Sprache verstehen und sprechen konnte, war er im Entziffern der Zeichen nicht bewandert.
Erik zeigte ihm einen Platz, an den er sich setzen konnte. Fynn zog die Beine an und versuchte so klein und unscheinbar wie möglich zu werden.
»Ich bin gleich wieder da.« Mit den Worten ließ Erik ihn allein zurück. Fynn schloss die Augen. Er zitterte, aber mehr vor Angst und Erschöpfung als vor Kälte. Er vermisste seinen Rosenkranz, der bis vor Kurzem ein treuer Begleiter gewesen und von den Händlern lachend ins Meer geworfen worden war. Um sich selbst zu beruhigen und von Hunger und Durst abzulenken, schloss er die Augen und fing leise an, ein Gebet zu murmeln. Wie gerne hätte er die kleinen Perlen zwischen den Fingern gespürt, die es ihm ermöglichten, während des Gebets in einen Zustand der Entrückung zu verfallen und trotzdem nicht den Faden zu verlieren.
Er war so vertieft in die gemurmelten Worte, dass er erschrak, als er etwas Weiches und Warmes auf den Schultern spürte.
»Du siehst aus, als würdest du frieren.« Als Fynn aufsah, erkannte er Aegir, der ihn tröstend anlächelte. »Ich habe hier auch etwas Essen für dich.« Mit den Worten reichte er ihm Brot und getrocknetes Fleisch. Verdutzt und überrumpelt zögerte er einen Moment die Freundlichkeit anzunehmen.
»Es beißt nicht.«
Sein Lächeln wurde eine Spur weicher, und mit einem Mal zeigte er ein anderes Gesicht als vorhin auf dem Sklavenmarkt oder dem Weg zu den Schiffen. Fynn nahm räuspernd, ermutigt durch Aegirs zuvorkommende Art, das karge Mahl dankbar an. Es war etwas schwierig, mit gefesselten Händen zu essen, doch nach einigen Minuten verstand er, wie er es bewerkstelligen konnte. Kaum, dass er einen Bissen zu sich nahm, wurde ihm bewusst, wie hungrig er tatsächlich war. Dennoch gemahnte er sich maßvoll und beherrscht zu essen. Ihm würde sonst nur schlecht werden. Außerdem wollte er sich vor diesen Wilden keine Blöße geben. Als nichts mehr übrig war, reichte Aegir ihm einen Becher aus Horn. Die ausgedörrte Kehle fegte das Misstrauen schnell beiseite, und er trank gierig und in tiefen Schlucken. Die Flüssigkeit entpuppte sich als würziges Bier und erinnerte ihn an das, welches seine Klosterbrüder brauten. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er zu beten vergessen hatte. Kurz sagte er dem Herrn im Innern Dank für die Gaben, die er aus den Händen eines Heiden erhalten durfte. Wobei es ihm unangenehm war, dass ebendieser Mann ihm beim Essen zusah.
»Du hattest echt Hunger.«
Fynn nickte auf die Bemerkung hin, auch wenn es keine Frage gewesen war. Schließlich griff er in das warme Fell und wickelte es sich um den Leib, bis er beinahe darin verschwand. »Danke.« Seine Stimme war ein leises Murmeln, und als er wieder zu dem Nordmann sah, konnte er ein Lächeln erkennen.
»Ich weiß, die Fesseln sind störend, aber solange du sie trägst, ist jedem bewusst, dass du zu Erik gehörst. Dann tut dir keiner etwas, versprochen. Bleib einfach hier und versuch vielleicht ein wenig zu schlafen.« Mit diesen Worten ging er zu den anderen Männern und half ihnen, alles bereit für den Aufbruch zu machen. Die Taue, welche die Schiffe hielten, mussten gelöst und die Fracht verladen werden. Fynn tat wie ihm geheißen. Er zog die Beine an und wich sämtlichen Blicken aus. Zumindest fror er nun nicht mehr so stark und fühlte sich deutlich kräftiger. Das Essen hatte gutgetan. Als ihn jedoch eine Hand am Haar berührte und eine Strähne zwischen den Fingern drehte, entschied er sich, das Fell über den Kopf zu ziehen und hoffentlich gänzlich aus den Augen der Nordmänner zu verschwinden.
»Thorvin, fass den Jungen nicht an!« Eriks Stimme hallte durch die Menge an Männern, und er wurde augenblicklich losgelassen. Das Holz knarrte, als sich Schritte entfernten, und Fynn atmete tief durch.
Aegirs Worte konnten nichts daran ändern, dass er Angst hatte. Er kannte diese Menschen nur von Erzählungen, und selbst wenn man ihm ein wenig Freundlichkeit entgegengebracht hatte, konnte er diese Fremden nicht einschätzen. Daher war er lieber auf der Hut und bemühte sich, niemanden zu stören oder im Weg zu sein. Er wollte nicht, dass einer dieser Berge von Männern wütend auf ihn werden könnte. So verbrachte er die meiste Zeit in Stille und damit, Gott um Rettung anzuflehen.
Spätherbst 909 n.Chr. – Hedeby, heutiges Haithabu
Erik hielt das Tau fest, denn er wusste, dass der Wind ihnen die Einfahrt in den Hafen von Hedeby nicht leicht machen würde. Die starke Strömung in der Bucht war für viele schon eine Herausforderung für sich. Der eiskalte, nordische Wind, der die Segel der Boote nach seinem Willen hin und her schlagen ließ, erschwerte die Ankunft noch zusätzlich. Im Vergleich zu anderen Männern war er in seiner Kindheit und Jugend wenig auf dem Meer unterwegs gewesen, und doch schienen die See und die Winde zu ihm zu sprechen. Es war ein Lied, dem er nur lauschen musste, um zu wissen, wann er das Segel straffer halten musste oder mehr Tau zu geben hatte, um gut Fahrt zu machen. Aus dem Augenwinkel beobachtete er Fynn, der mit großen Augen den mächtigen Palisadenzaun betrachtete, der die Stadt dahinter vor Blicken schützte. Es gab nur eine Einfahrt durch dieses hölzerne Bollwerk, welches Hedeby sowohl teilweise auf dem Land als auch im Wasser umgab.
Als sie sich dem Tor näherten, ertönten laute Rufe, und die Männer auf den Booten grüßten freudig zurück. Ohne Fragen zu stellen, wurden sie hindurchgelassen, und Erik steuerte an den zahllosen Landungsstegen für Händler vorbei, zu denjenigen, die den Bewohnern der Stadt vorbehalten waren. Geschickt wichen sie kleinen Fischerbooten aus, während er das Treiben auf den Händlerstegen beobachtete. Früher war ihm Hedeby immer als große Stadt erschienen, doch seit er Miklagard gesehen hatte, war ihm klar, dass Größe stets daran zu messen war, womit man verglich.
»Sobald wir angelegt haben, hilfst du beim Löschen der Ladung«, meinte er zu Fynn, der ihn daraufhin mit großen Augen ansah. Er seufzte. »Du sollst helfen, die Ladung an Land zu tragen!«
Fynn nickte und stand auf, um die Glieder zu strecken, dann trat er neben ihn und runzelte die Stirn. »Das ist also Hedeby?«
Erik bejahte.
Sein Sklave sah sich weiterhin neugierig um, daher überraschte es ihn nicht, als er erneut eine Frage stellte. »Wieso wart ihr überhaupt in Konstantinopel, wenn hier so viel Handel getrieben wird?«
Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, obwohl dabei stets die dicke Narbe auf der linken Gesichtshälfte spannte. »Wir waren auf Raubzug und haben einige entlegene Küstenorte geplündert. Dort hörten wir von Landsleuten, dass der Basar in Miklagard, so nennen wir die Stadt, viel größer sei als der in Hedeby. Dementsprechend konnten wir dort einige Waren für mehr Münzen verkaufen, als wir es hier gekonnt hätten. Außerdem ist es schlau, unterschiedliche Gold- und Silberstücke zu besitzen, immerhin werden andernorts manchmal nur bestimmte angenommen.«
Vermutlich sollte er durch Fynns überraschten und gleichzeitig beeindruckten Gesichtsausdruck beleidigt sein. Dieser kleine Bursche, der behauptete, er wäre Angelsachse, obgleich er nicht so aussah, schien regelrecht erstaunt über Eriks strategische Denkweise. Doch um sich von jedem schiefen Blick provozieren zu lassen, war er zu gestanden. Ganz anders als sein älterer Bruder. Aus ihm machte der Jähzorn einen schwierigen Mann.
Nun galt es anzulegen, also verteilte er die entsprechenden Kommandos. Er beobachtete das Anluven und sprang schließlich selbst auf den Steg, um das Boot festzumachen. Bevor sie das Langboot entladen konnten, strömten auch schon Frauen und Kinder herbei, um die heimkehrenden Väter, Ehemänner und Söhne zu begrüßen. Dankbar ergriff auch Erik die ihm dargebotene Schale mit heiß dampfendem Eintopf und dazu die Scheibe Schmalzbrot. Ein lautes Klirren und ein spitzer Schrei lenkten seine Aufmerksamkeit jedoch schnell wieder zum Boot. Er erblickte Fynn, der gerade von Aegir geführt von Bord ging, und um sie herum wurde es plötzlich bedrückend still.
Als eine nahestehende Frau sich zum Schutz bekreuzigte, schlug Aegir ihr kurzerhand den mit Bier gefüllten Krug aus der Hand. »Wie denkst du, wird dieser Christengott dich beschützen, Signe? Zumal der da selbst zu ihm betet?«
Erik seufzte innerlich, kaute jedoch weiterhin bedächtig das Schmalzbrot. Seinem Bruder fiel es sehr schwer, das sich immer vehementer ausbreitende Christentum unter ihren Landsleuten zu akzeptieren. Er hatte schon versucht, mit ihm darüber zu reden, doch stieß er stets auf taube Ohren. Die meisten Menschen beteten nach wie vor zu den Göttern ihrer Vorfahren, doch zum Gott der Christen zu wechseln, brachte für einige erhebliche Vorteile mit sich. Vor allem den Handel betreffend. Erik bezweifelte, dass denen der neue Glaube aufrichtig etwas bedeutete, aber Aegir schien jede Bestrebung in Richtung Christentum als persönlichen Verrat an den Ahnen zu erachten.
Signe blickte für einen Moment ungläubig auf die Scherben zu ihren Füßen, dann stemmte sie die Hände in die mächtigen Hüften, die mittlerweile zwei Söhne und vier Töchter hervorgebracht hatten, und richtete den Blick zornfunkelnd auf den Verursacher. »Wen ich um Hilfe bitte, braucht dich nicht zu kümmern, Aegir Elvasson. Den Krug wirst du mir ersetzen.«
Er schnaubte belustigt und wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch Signe ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Erkläre uns lieber, was es mit dem merkwürdigen Jungen auf sich hat. Diese dunklen Stellen auf seiner Haut. Ist er krank oder verflucht?«
Erik konnte die Verwunderung auf Fynns Gesicht sehen, denn auch ihm wäre es nicht in den Sinn gekommen, zu glauben, dass die weißen Flecken auf Fynns Haut seiner natürlichen Farbe entsprachen. Doch ihm ging auf, dass Signe, abgesehen von einigen arabischen Händlern, vermutlich noch nie Menschen aus anderen Regionen der Welt zu Gesicht bekommen hatte. Nicht umsonst war Erik selbst von den unzähligen Menschen unterschiedlicher Herkunft in Miklagard völlig überwältigt gewesen.
»Fynn ist mein Sklave«, erklärte er nun kurzerhand mit erhobener Stimme, woraufhin sich sämtliche Blicke auf ihn richteten.
»Wofür brauchst du denn einen Sklaven?« Signe schien verblüfft, was verständlich war. Auch in Hedeby wurden Kriegsgefangene verkauft, zumeist Frauen aus dem angelsächsischen Raum. Die arabischen Händler kamen hauptsächlich für die menschliche Ware und die kostbaren Steine aus dem Meer hierher, doch die Nordmänner selbst hielten sich in der Regel keine Sklaven.
Erik seufzte und zuckte mit den Schultern. »Lasst das getrost meine Sorge sein. Jedenfalls braucht ihr Fynn nicht zu fürchten, denn wir waren einige Wochen mit ihm unterwegs, und niemandem ist etwas passiert.«
Die Anwesenden wechselten unsichere und zweifelnde Blicke, dennoch war Erik der Meinung, dass er niemandem gegenüber Rechenschaft ablegen musste. Er befahl den Männern, ihre Ladung an Land zu bringen, denn auch wenn sie einige Dinge in Miklagard verkauft hatten, sollte der Großteil ihrer Beute auf dem Markt in Hedeby angeboten werden.
Als sie den beeindruckenden Wall aus Holz hinter sich ließen, erbot sich vor Fynn ein Anblick, mit dem er nicht gerechnet hatte. Vor ihm erstrahlte eine lebendige, große Stadt. Dicht an dicht stehende Häuser, Stimmen, die man bereits auf dem Boot vernehmen konnte, und ein Geruch, der alles andere als angenehm war, strömten auf seine Sinne ein. Als Erik anlegte, konnte Fynn kaum noch atmen. Seit seiner Gefangennahme und der Überfahrt nach Konstantinopel war er einiges an schlechten Gerüchen gewohnt, aber auf den Gestank hier hatte ihn nichts vorbereiten können. Es war eine Mischung aus feuchtem Morast, Tieren, Unrat, verfaultem Essen und Gerbereien. Fynn atmete ein paarmal tief ein und aus, in der Hoffnung, dass er sich bald an die Gerüche gewöhnen würde.