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Das Leben von Prinzessin Annika und Soldat Lennox könnte unterschiedlicher nicht sein. Während Annika von Luxus und Komfort umgeben ist, muss sich Lennox im meilenweit entfernten Königreich tagtäglich als Krieger seines Hofes behaupten. Auch in Sachen Liebe sind die zwei völlig verschieden. Annika träumt von einer romantischen Hochzeit, obwohl ihr Vater plant, sie aus politischen Gründen zu verheiraten. Für Lennox hingegen sind Gefühle nichts als eine dumme Ablenkung. Aber als die beiden aufeinandertreffen und sich ihre Liebe allen Widrigkeiten zum Trotz entfaltet, ändert sich schlagartig alles. Eine gemeinsame Zukunft scheint unmöglich - doch ihre Herzen lassen nicht voneinander los ...
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Seitenzahl: 680
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Teil 1
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Teil 2
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Teil 3
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Annika
Lennox
Epilog
Danksagung
KIERA CASS
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Cherokee Moon Agnew
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»A thousand heartbeats«
Für die Originalausgabe:
Copyright ® 2022 by Kiera Cass
Published by arrangement with Kiera Cass
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright ® 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Elena Bruns, Lingen
Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung:Jacket art © 2022 by Elena Vizerskaya; Jacket design by Erin Fitzsimmons;Map: Harper Collins
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-6167-3
Sie finden uns im Internet unter one-verlag.de
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Für Theresa.
Aus allen möglichen Gründen und einfach so.
Im selben Moment, in dem Annika nach ihrem Schwert in seinem Geheimversteck unter ihrem Bett tastete, wischte Lennox das Blut von seinem.
Schwer atmend ließ Lennox den Blick über die Hügellandschaft schweifen. Drei weitere Seelen, die er seiner Liste hinzufügen konnte, doch er hatte bereits vor langer Zeit aufgehört zu zählen. Unzählige Leben hatten durch seine Klinge ihr Ende gefunden, sodass niemand in der Armee Dahrains seine Autorität infrage stellen konnte. Annika jedoch hatte bisher nur einmal Blut vergossen. Und das vollkommen unbeabsichtigt. Dennoch gab es auch bei ihr nur wenige, die ihre Autorität anzweifelten.
Doch die, die es konnten, taten es.
Annika erhob sich vorsichtig, denn ihre Beine schmerzten noch immer ein wenig. Sie probte ihre Schritte, bis sie sich wieder so elegant bewegen konnte, wie sie es gewohnt war, und bis ihre Magd das Zimmer betrat, waren sie beide der Meinung, dass ihr Gang akzeptabel war. Sie setzte sich an ihren Frisiertisch, den Blick auf das Spiegelbild der Bettkante gerichtet. Ihr Schwert – darunter verborgen – würde noch ein oder zwei Tage warten müssen, doch sie selbst konnte es kaum erwarten, eine der wenigen Regeln zu brechen, gegen die sie überhaupt noch verstoßen konnte.
Währenddessen steckte Lennox sein Schwert zurück in die Scheide und schritt den Hügel hinab. Sein Lagebericht würde Kawan zufriedenstellen. Da er seine Position nicht in Gefahr bringen wollte, stellte er sicher, ihm nie einen Grund zu liefern, unzufrieden mit ihm zu sein. Sobald dieser Krieg zu Ende wäre – sollte er jemals beginnen –, würde ein gesamtes Königreich zur Unterwerfung gezwungen sein. Dafür würde Lennox Sorge tragen.
Annika und Lennox konzentrierten sich auf den bevorstehenden Tag, ohne von der Existenz des jeweils anderen zu wissen. Ohne zu wissen, dass sie den Lebensweg des jeweils anderen für immer verändern würden.
Oder dass sie es bereits unwiderruflich getan hatten.
Auf dem Weg zurück zur Burg überlegte ich, wohin ich zuerst gehen sollte: in meine Kammer oder in den Speisesaal. Ich blickte an meinem Mantel hinab, betrachtete meine Schuhe und wischte mir über die Wange. Mein Handrücken zeigte Spuren von Schmutz, Schweiß und Blut, und mein Hemd war ebenfalls blutbesudelt.
Dann würde ich zuerst in den Speisesaal gehen. Sollten es ruhig alle sehen.
Ich wandte mich in Richtung des Seiteneingangs an der Ostseite, der der ungepflegteste Teil von Vosino Castle war. Doch um ehrlich zu sein, war der Rest auch nicht wesentlich besser.
Vosino war wie ein abgetragenes altes Kleidungsstück. Zurückgelassen von einem längst vergessenen Königreich, war es zu unserem Zuhause geworden, zu dessen Erhalt nicht sonderlich viel beigetragen wurde. Aber es sollte ohnehin nur vorübergehend sein.
Beim Betreten des Saals sah ich Kawan am Haupttisch sitzen, meine Mutter wie immer neben ihm.
Niemand gesellte sich je zu ihnen. Nicht einmal ich hatte bisher eine Einladung erhalten.
Der Rest der Armee saß, wo es ihm beliebte, und mischte sich unter die inoffiziellen Ränge.
Schon beim Betreten zog ich die Blicke auf mich. Gelassen schlenderte ich den Mittelgang hinab, die Hand auf den Schwertgriff gestützt. Die Gespräche erstarben, während alle die Hälse reckten, um einen besseren Blick zu erhaschen.
Meine Mutter entdeckte mich zuerst und musterte mich streng mit ihren graublauen Augen. Wenn sich jemand unseren Reihen anschloss, wurden Prunk und Roben durch eine Uniform ersetzt, und den meisten blieben nur wenige persönliche Habseligkeiten. Mutter wusste dies zu ihrem Vorteil zu nutzen. Jeden Tag kam sie in Gewändern zum Essen herunter, die nur ein einziges Mal von jemand anderem in der Burg getragen worden waren. Sie war die einzige Frau auf Vosino Castle, die sich dieses Recht herausnahm.
Zu ihrer Rechten saß Kawan, dessen Gesicht von dem Kelch verdeckt war, aus dem er gerade trank. Er knallte ihn auf den Tisch, wischte sich den langen Bart an dem ohnehin schon schmutzigen Hemdsärmel ab und richtete mit einem Seufzen den Blick auf mich.
»Was ist das?«, fragte er und deutete auf meine blutverschmierte Kleidung.
»Heute Morgen haben drei versucht zu desertieren«, informierte ich ihn. »Ihr solltet besser Wagen schicken, um die Leichen einzusammeln, bevor die Wölfe kommen.«
»Ist das alles?«, fragte Kawan.
Ist das alles?
Nein, das war nicht alles. Es war nur der letzte Akt in einer langen Reihe von Heldentaten, die ich für unser Volk erbracht hatte. Die ich in Kawans Namen ausgeführt hatte. Die ich erfüllt hatte, um mir selbst etwas zu beweisen. Nun stand ich hier, schweigend und mit Blut besudelt, und wartete darauf, endlich – endlich –seine Anerkennung zu erhalten.
Mutig stand ich vor ihm und forderte ein, dass er Notiz von mir nahm.
»Ich finde es ziemlich beeindruckend, bei Dunkelheit im Alleingang drei junge, gut ausgebildete Rekruten auszuschalten. Die Geheimhaltung sowohl unseres Standorts als auch unserer Pläne sicherzustellen und ohne auch nur einen einzigen Kratzer davonzukommen. Aber vielleicht liege ich da falsch.«
»Das tust du oft«, knurrte er. »Trista, sag deinem Sohn, dass er sich gefälligst beruhigen soll.«
Mein Blick wanderte zu meiner Mutter, doch sie sagte kein Wort. Ich wusste, dass er nur versuchte, mich zu provozieren, einer seiner liebsten Zeitvertreibe. Und ich war kurz davor, darauf einzugehen, doch der plötzliche Tumult im Korridor bewahrte mich davor.
»Platz da! Platz da!«, rief ein Junge und kam in den Saal gestürmt.
Wenn jemand so schrie, konnte das nur eines bedeuten: Der jüngste Raubzug war vorüber, und unsere Truppen waren zurückgekehrt.
Ich wandte mich um und beobachtete, wie Aldrik und seine Gefolgschaft den Saal betraten, jeder von ihnen mit zwei Kühen im Schlepptau.
Kawan lachte leise, und ich trat beiseite, denn mein Moment war nun überschattet worden.
Aldrik war alles, was für Kawan von Bedeutung war. Breite Schultern und Fügsamkeit. Das unordentliche braune Haar fiel ihm in die Stirn, als er an der Stelle niederkniete, an der ich eben noch gestanden hatte. Hinter ihm standen zwei weitere Soldaten, die er eigenhändig für diesen Auftrag ausgewählt hatte. Sie waren von rotem Schlamm bedeckt, und einer von ihnen trug nicht einmal mehr ein Hemd.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete die Szenerie. Sechs Kühe im Speisesaal.
Er hätte sie auch draußen stehen lassen können, doch Aldrik wusste, dass dies mit Abstand die bisher erfolgreichste Mission gewesen war.
Der schlimmste Ausgang? Ein Körper in einem Leinensack.
»Mächtiger Kawan. Ich habe ein halbes Dutzend Kühe für die Armee Dahrains mitgebracht. Ich übergebe sie hiermit an Euch und hoffe inständig, damit meine Loyalität und Würdigkeit zu beweisen«, sagte Aldrik mit gesenktem Haupt.
Einige klatschten, waren dankbar für den neuen Vorrat. Als würde das reichen, um auch nur einen Bruchteil von uns zu ernähren.
Kawan stand auf und ging hinüber, um die Kühe zu inspizieren. Nachdem er fertig war, klopfte er Aldrik auf die Schulter und wandte sich an die Menge. »Was sagt ihr? Seid ihr mit dieser Gabe zufrieden?«
»Ja!«, riefen alle. Nun, fast alle.
Kawan lachte bellend. »Da stimme ich zu. Erhebe dich, Aldrik. Du hast deinem Volk gut gedient.«
Applaus brach los, und die Menschen versammelten sich um Aldrik und dessen Gefolgschaft. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich davonzustehlen, konnte lediglich mit dem Kopf schütteln und fragte mich, wem er das Vieh wohl gestohlen hatte. Innerlich verurteilte ich seine Arroganz, doch dann fiel mein Blick auf mein blutiges Hemd, und ich erinnerte mich wieder daran, wer ich war, und ließ es gut sein.
Es war nur ein Auftrag gewesen. Und jetzt, da meine Aufgabe erledigt war, würde ich mich für eine Weile ausruhen. Nun, falls es das einzige weibliche Wesen, das mir auf dieser Burg etwas bedeutete, zulassen würde.
Als ich die Tür zu meinem Gemach öffnete, fing Thistle sofort an zu jaulen.
Ich lachte leise. »Ich weiß. Ich weiß.« Mit wenigen Schritten war ich bei meinem unordentlich gemachten Bett und kraulte sie am Hinterkopf.
Ich hatte Thistle als Welpe gefunden. Sie war verletzt gewesen, und wie es schien, hatte ihr Rudel sie verlassen. Wenn das jemand nachvollziehen konnte, dann ich. Graufüchse waren für gewöhnlich nachtaktiv – eine Tatsache, die ich auf die harte Tour hatte lernen müssen –, aber Thistle wurde immer dann lebhaft, wenn ich ins Zimmer kam.
Sie ließ sich wieder auf das Bett fallen und streckte mir ihren Bauch entgegen. Ich kraulte sie eine Weile, bevor ich die Holzbretter vom Fenster nahm.
»Tut mir leid«, sagte ich zu ihr. »Ich wollte nur nicht, dass du mich mit einem Schwert siehst. Zumindest nicht so. Aber jetzt kannst du raus, wenn du willst.«
Doch sie blieb liegen, während ich mich in dem kleinen zerbrochenen Spiegel auf dem Tisch betrachtete. Ich sah schlimmer aus als befürchtet. Dreck zog sich über meine Stirn, und meine Wange war voller Blutspritzer. Ich atmete tief durch, tauchte das Handtuch in die Wasserschüssel und wischte weg, was ich getan hatte.
Thistle ging nun auf dem Bett auf und ab und betrachtete mich mit sorgenvollem Blick. Zumindest kam es mir so vor. Graufüchse gehören zur Familie der Hunde. Thistle hatte die Sinne eines Wolfs, und ich war mir sicher, dass sie alles an mir riechen konnte. Ich hatte das Gefühl, sie wusste genau, was für ein Mensch ich war und was ich getan hatte. Doch sie konnte kommen und gehen, wann sie wollte – und sie kam immer wieder zurück, daher hoffte ich, dass sie es mir nicht allzu krummnahm.
Aber eigentlich spielte es keine Rolle, denn ich machte mir selbst schon genug Vorwürfe.
»Bitteschön, Mylady«, sagte Noemi, während sie das Vorderteil meines Kleids an das Mieder steckte. »Das ist die letzte Nadel.« Sie biss sich auf die Unterlippe und sah aus, als würde sie über etwas nachdenken.
Ich versuchte, sie so ermutigend wie nur möglich anzulächeln. »Was auch immer es ist, sag es einfach. Seit wann haben wir denn Geheimnisse voreinander?«
Nervös griff sie sich in die dunklen Locken. »Es ist kein Geheimnis, Mylady. Ich habe mich nur gefragt, ob Ihr schon bereit seid, ihn wiederzusehen. Überhaupt jemanden zu sehen.«
Noemi kaute auf ihrer Unterlippe, eine ihrer vielen liebenswürdigen Angewohnheiten.
Ich nahm ihre Hand. »Morgen ist der Gründungstag. Das Volk muss wissen, dass seine Prinzessin wohlauf ist. Meine Anwesenheit bei Hofe schenkt unseren Landsleuten Mut, was meine Hauptaufgabe ist.« Ich senkte den Kopf.
Wäre Noemi meine Schwester gewesen, hätte sie mir wahrscheinlich widersprochen, doch als meine Magd entgegnete sie schlicht: »Nun gut.«
Jetzt, da mein Haar gebürstet und mein Kleid festgesteckt war, half mir Noemi in das Paar Schuhe, welches mir den meisten Halt geben würde, und ich verließ den Raum.
Obwohl ich bereits mein ganzes Leben hier verbracht hatte, war ich immer noch ganz verzückt von Meckonah Castle mit seinen großen Fenstern, den Marmorböden und der Vielzahl an Galerien. Aber vor allem war es mein Zuhause.
Meine Eltern hatten sich damals gegen eine kirchliche Trauung entschieden und sich das Eheversprechen stattdessen draußen auf dem offenen Feld gegeben.
Ich war hier geboren worden. Meine ersten Worte, meine ersten Schritte, einfach alles hatte zum allerersten Mal hier stattgefunden. Ich war so stolz auf alles, so verliebt in den Palast und das Land. Es gab nur wenig, was ich dafür nicht getan hätte. Um ehrlich zu sein, hätte ich für Kadier alles getan.
Langsamen Schrittes näherte ich mich dem Speisesaal. Kurz vor der Tür blieb ich jedoch stehen. Vielleicht hatte Noemi recht und es war tatsächlich noch zu früh. Doch man hatte mich bereits entdeckt, von daher war es sowieso zu spät.
Escalus erblickte mich vor meinem Vater, schnellte von seinem Stuhl hoch und eilte mir entgegen, um mich zu begrüßen. Als er mich in seine Arme schloss, konnte ich zum ersten Mal seit Wochen wieder aufrichtig lächeln.
»Ich wollte dich unbedingt sehen, aber Noemi meinte, dir sei nicht nach Gesellschaft«, flüsterte er mir zu und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Escalus und ich hatten beide das aschblonde Haar und die braunen Augen unserer Mutter geerbt, und dennoch war Escalus eindeutig das Ebenbild von Theron Vedette, unserem Vater.
»Du hast nichts verpasst. Nichts außer meinem Gejammer. Außerdem hattest du bestimmt Wichtigeres zu tun.« Ich gab mir Mühe, möglichst heiter zu klingen, aber wahrscheinlich erfolglos.
»Du siehst irgendwie anders aus«, stellte er fest und legte vorsichtig eine Hand auf meine Schulter.
Ich zuckte mit den Achseln. »Ich fühle mich auch anders.«
Er schluckte schwer. »Dann ist es also beschlossene Sache?«
Ich nickte und senkte die Stimme. »Jetzt hängt alles nur noch von Vaters Zeitplan ab.«
»Komm und iss etwas. ›Es gibt kein Problem, das Zimt nicht lösen könnte.‹«
Kichernd erinnerte ich mich an Mutters Worte, während wir uns in Bewegung setzten.
Gegen Sorgen hatte sie einige Heilmittel gekannt. Sonnenschein, Musik, Zimt ...
Doch mein Lachen währte nur kurz, denn schon stand ich vor meinem Vater und machte einen Knicks. Wer er heute wohl war?
»Eure Majestät«, begrüßte ich ihn.
»Annika. Freut mich zu sehen, dass es dir wieder gut geht«, erwiderte er knapp, und ich wusste sofort, dass sich die Dunkelheit, die hin und wieder von seinem Geist Besitz ergriff, erneut wie dichter Nebel über ihn gelegt hatte.
Niedergeschlagen setzte ich mich zu seiner Linken und beobachtete, wie die Höflinge ihr Frühstück zu sich nahmen. Es war fast wie Musik, wie die Gabeln und Messer gegen das Porzellan schlugen. Wie eine helle Melodie, die sich unter das tiefe Stimmengewirr mischte. Das Sonnenlicht fiel durch die Bogenfenster, und der Morgen versprach einen wundervollen Tag.
»Jetzt, da du wieder auf den Beinen bist, müssen wir uns über ein paar geschäftliche Dinge unterhalten«, setzte mein Vater an. »Morgen ist der Gründungstag, daher wird Nickolas heute Abend anreisen. Und ich dachte, das wäre die ideale Gelegenheit für einen Heiratsantrag.«
»Heute Abend?« Ich hatte mit dieser Entscheidung so gut es ging meinen Frieden geschlossen, aber ich dachte, ich hätte mehr Zeit. »Woher wusstest du, dass ich heute zum Hofleben zurückkehren würde?«
»Das wusste ich nicht. Aber es hätte so oder so passieren müssen. Er kommt nur selten ohne Grund hierher, und je früher, desto besser. Du kannst ihn nach dem Abendessen fragen.«
Nun, das hatte er ja geschickt eingefädelt.
»Und ... ich muss ihn fragen?«
Vater zuckte mit den Schultern. »Hofprotokoll. Du stehst rangmäßig über ihm.« Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. Anscheinend war er immer noch wütend, weil ich ihm die Stirn geboten hatte. »Außerdem bist du ... eigensinniger, als wir es jemals vermutet hätten. Daher glaube ich kaum, dass du bei der Vorstellung, die Führung zu übernehmen, in Ohnmacht fällst.«
Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, ihn angefleht, mein lieber Vater möge zu mir zurückkehren. Hinter diesen Augen verbarg sich ein Mann, der mich verstand, der in meinem Gesicht meine Mutter erkannte. Und ich vermisste ihn so sehr, dass ich alles in meiner Macht Stehende tat, um diesen Mann nicht zu hassen.
Aber ich war immer noch die Tochter meiner Mutter. Ihr zuliebe lächelte ich, fest entschlossen, das zu bewahren, was von dieser Familie noch übrig war.
»Nein, Mylord. Das ist gar kein Problem.«
»Gut«. Damit widmete er sich wieder seiner Mahlzeit.
Escalus hatte nicht zu viel versprochen. Die glasierten Zimtschnecken waren zum Greifen nah. Doch so verlockend sie auch waren – der Appetit war mir vergangen.
Einige Stunden später erwachte ich mit Thistles Schnauze auf meinem Bein. Ich blickte zu ihr herunter und fragte mich, warum sie nicht abgehauen war – wo auch immer sie sich den Großteil des Tages aufhielt. Vielleicht wusste sie einfach, dass ich sie brauchte.
Die Beeren, die ich heute Morgen gepflückt hatte, steckten immer noch in der Tasche an meinem Gürtel. Ich legte sie ihr in einem Häufchen auf die Bettkante, bevor ich mich umzog. Eine schwarze Hose, die ich in die schwarzen Lederstiefel steckte, und ein weißes Hemd unter einem schwarzen Wams. Und obwohl ich nicht vorhatte, heute noch reiten zu gehen, legte ich auch meinen Umhang um.
Ich verließ die Tiefen der Burg und trat hinaus in das diesige Tageslicht. Die Brise vom Meer peitschte mir durch das Haar, während ich in Richtung der Felder ging.
Ich konnte den steinigen Weg hinunter bis zum Meer blicken und erspähte die Handvoll winziger Boote, die wir besaßen, auf den Wellen. Immer zu zweit saßen die Fischer darin und warfen ihre Netze aus. Auch auf den Feldern verteilt erkannte ich Menschen. Sie ernteten Getreide. Im umliegenden Wald und oben auf dem Berg wuchsen einige Früchte und Nüsse, und das Land hier ließ sich gut bewirtschaften, wenn man sich Mühe gab. Nur zu schade, dass es so viel Arbeit war.
In der Ferne hörte ich den Klang von aufeinanderkrachenden Schwertern, also machte ich mich auf in Richtung des Turnierplatzes, um meine Hilfe beim Training anzubieten. Dort angekommen stellte ich jedoch fest, dass die Gruppe bei Inigo bereits in guten Händen war, was mich vollkommen überflüssig machte. Ich stellte einen Fuß auf die unterste Sitzbank der Arena und hielt Ausschau nach neuen Talenten.
»Das ist er«, hörte ich jemanden flüstern. »Hat heute Morgen drei Männer umgebracht, die versucht haben wegzulaufen. Man sagt, er sei Kawans Augen und Ohren.«
»Wenn sie jemand Wichtiges fangen, ist er der Einzige, der sich ... um ihn kümmert«, erwiderte eine weitere wispernde Stimme. »Nicht einmal Kawans Wachen sind kaltherzig genug, um jemanden einfach umzulegen.«
»Kawan ist zwar stark, aber nicht herzlos«, warf ein Dritter ein.
»Meint ihr, er kann uns hören?«
»Wenn ich doch angeblich Kawans Augen und Ohren bin, solltet ihr lieber davon ausgehen, dass ich euch immer hören kann«, rief ich, ohne in ihre Richtung zu schauen.
Dann beging ich den Fehler, den Blick durch die Arena schweifen zu lassen. Jedes Mal, wenn ich zu jemandem Blickkontakt herstellte, sah derjenige schnell weg.
Ich wusste, wie es sich anfühlte, erkannt zu werden, aber ich fragte mich, wie es wohl wäre, bekannt zu sein.
Dann brach sich ein noch tieferer Schmerz Bahn, und ich fragte mich, wie es wohl war, Vergebung zu erfahren.
Ich behielt eine ausdruckslose Miene, während ich die Kämpfe beobachtete, doch meine Gedanken rasten und stolperten übereinander.
»Irgendjemand Beeindruckendes dabei?«
Kawan war neben mir aufgetaucht. Schnell richtete ich mich auf und straffte die Schultern.
Ich riskierte einen Blick und hoffte, er würde nicht die Verachtung in meinen Augen sehen.
Er verschwendete keine Energie darauf, mit seiner Kleidung Eindruck zu schinden. Stattdessen war er in mehrere Lagen altes Leder gehüllt. Das dunkle ungekämmte Haar hatte er zusammengebunden, doch eine verfilzte Strähne fiel über seine rechte Schulter. Ich hatte Mutters Augen, aber mein Haar war der Grund, warum die neuen Rekruten häufig dachten, er wäre mein Vater.
»Schwer zu sagen.«
Er schnaubte. »Diese Woche haben wir zwei Jungs aus Sibral bekommen.«
Die Worte hingen zwischen uns in der Luft. Sibral lag so weit im Westen, dass es direkt an Feindesland grenzte.
»Das ist eine weite Reise«, erwiderte ich.
»In der Tat. Wie sich herausgestellt hat, haben sie nicht nach uns gesucht. Wussten nicht mal, dass wir überhaupt existieren. Aber sie sind bis an unsere Landesgrenze gewandert und haben sich uns für Unterkunft und warme Kleidung nur zu gern angeschlossen.«
»Wussten nicht, dass wir existieren«, murmelte ich.
»Keine Sorge. Alle werden noch früh genug von uns erfahren.« Er griff an seinen Bund und zog die schwere Hose ein Stück hoch. »Was deinen Kampf heute Morgen angeht ... Drei gegen einen ist keine Kleinigkeit. Aber mir wäre es lieber, wenn du sie davon abhalten würdest, überhaupt davonzulaufen, statt sie wieder einzufangen. Damit würdest du deine Zeit sinnvoller nutzen. Außerdem brauchen wir so viele Männer wie möglich.«
Ich biss mir auf die Zunge. Es war nicht meine Schuld, wenn sein kleines Königreich nicht den Erwartungen der Leute entsprach.
»Was schlagt Ihr vor?«
»Eine angemessene Warnung.« Er blickte hinauf in den Himmel. »Wie ich gehört habe, gibst du heute Abend noch eine Unterrichtsstunde. Mach ihnen die Konsequenzen eines Desertierversuchs klar.«
Seufzend wandte ich den Blick ab. »Ja, Sir.«
Er klopfte mir auf den Rücken. »Braver Junge. Halt die Augen auf und gib Bescheid, wenn du jemand Vielversprechendes entdeckst.«
Dann schritt er davon, und die Leute wichen ihm aus, als er auf sie zukam. Das taten sie auch, wenn ich irgendwo langging, aber bei ihm war es wesentlich auffälliger. Ich blickte ihm nach und dachte mir, dass es durchaus etwas für sich haben könnte. Wenn ich schon nicht bekannt werden und man mir nicht vergeben würde, reichte es womöglich schon, gefürchtet zu werden.
Der Geruch von alten Büchern schlug mir sofort entgegen, als ich die Türen zur Bibliothek öffnete, und ich spürte, wie ein Teil der Last von meinen Schultern fiel. Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen, sog alles in mich auf, badete in dem Frieden, den mir die Bibliothek bescherte.
In diesem Raum steckten so viele Informationen, so viele Geschichten. Im vorderen Bereich standen niedrige Regale, zwischen denen man hindurchgehen konnte, beinahe wie ein Labyrinth, und Schreibtische zum Studieren. Wenn die Nachmittagssonne durch die Fenster fiel, war es einfach atemberaubend. Hier drin zu lesen erlaubte es mir, zu lernen und mich gleichzeitig wie eine Katze in der Sonne zu aalen. Die pure Wonne.
Der Raum war riesig, mit einem Aufgang zu einer zweiten Ebene im hinteren Teil, und im vorderen Bereich standen Leitern, bei denen mir schon schwindelig wurde, wenn ich nur zu den obersten Sprossen hochblickte. Ein paar der älteren Bücher waren an die Regale gekettet. Wollte sie jemand aus der Bibliothek entfernen, musste zuerst der König höchstpersönlich um Erlaubnis gebeten werden und dann Rhett, der die Bibliothek bewachte, als wäre sie ein Lebewesen, dazu überredet werden, dem Befehl auch wirklich Folge zu leisten. Unsere Sammlung war so umfangreich, dass manchmal sogar Menschen aus benachbarten Königreichen vorbeikamen, um sich Bücher zu leihen. Unter den Holzbänken mit den Schnitzereien standen Eimer mit Sand, um im Falle eines Brands so viel wie möglich von der Bibliothek zu retten. So etwas war bisher zum Glück noch nicht vorgekommen.
Während ich die friedliche Atmosphäre auf mich wirken ließ, trat Rhett leise lachend hinter einem hohen Regal hervor.
»Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst!«, rief er, legte einen Stapel Bücher auf dem nächstgelegenen Tisch ab und kam auf mich zu, um mich zu umarmen.
Rhett war der einzige Mensch im Palast, der sich, was mich anging, nicht um Konventionen scherte. Vielleicht lag es daran, dass wir uns von Kindesbeinen an kannten oder dass er als Stallbursche begonnen hatte und es gewohnt war, mich im Stall laut und schmutzig zu erleben, doch Rhett behandelte mich so, als wäre das Krönchen auf meinem Kopf nichts weiter als ein Fussel.
»Ich war ein wenig angeschlagen«, erwiderte ich.
»Hoffentlich nichts allzu Ernstes«, sagte er, ließ mich los und schenkte mir ein breites Lächeln.
»Nein, überhaupt nicht.«
Er grinste. »Wonach ist dir heute?«
»Märchen. Welche, in denen die Figuren alles bekommen, was sie sich wünschen. Welche mit gutem Ausgang.«
Das Grinsen blieb auf seinen Lippen, und er krümmte den Zeigefinger, als wollte er sagen: Folge mir. »Du hast Glück. Wir haben erst letzte Woche etwas Neues bekommen. Und da ich dich so gut kenne, Mylady, weiß ich genau, dass du das hier«, er schnappte sich ein Buch aus den oberen Regalreihen, »schon viel zu lange nicht mehr gelesen hast.«
Er drückte mir das abgegriffene Buch in die Hand, und ich fragte mich, ob es außer mir jemals jemand gelesen hatte. Manchmal hatte ich das Gefühl, die Einzige im gesamten Palast zu sein, die sich für die Bibliothek interessierte.
»Das hier ist perfekt. Tröstlich.«
»Nimm dir auch ein neues mit«, forderte er und legte ein weiteres obendrauf. »Du liest unheimlich schnell.«
»Nicht schnell genug«, erwiderte ich lächelnd.
Kurz starrte er mich an, und etwas Fremdes huschte über seine Züge. »Würdest du gern noch ein bisschen bleiben und einen Tee trinken? Oder noch besser: Ich habe ein neues Türschloss für dich gefunden ...«
Ich seufzte, denn ich wäre wirklich gern geblieben. Aber morgen würde ein anstrengender Tag werden. Und der heutige Abend sogar noch schlimmer.
»Heben wir uns das Schloss lieber fürs nächste Mal auf. Eines Tages werde ich das besser können als du.«
»Wirst du mal eine überragende Herrscherin? Ja. Kannst du schneller lesen als ich? Natürlich. Aber schneller im Schlösserknacken?«, empörte er sich gespielt. »Niemals!«
Ich kicherte. »Erstens werden wir das ja noch sehen. Und zweitens werde ich niemals das Land regieren, sondern glücklich unter der Herrschaft meines Bruders leben. Eines Tages.«
»Trotzdem«, erwiderte er immer noch zufrieden lächelnd.
»Danke für die Bücher.«
»Jederzeit, Eure Hoheit.«
Ich verließ die Bibliothek. Mir war bewusst gewesen, dass mir meine Beine heute womöglich Schwierigkeiten bereiten könnten, aber so lange auf zu sein, war schmerzhafter, als ich es erwartet hätte. Auf halber Treppe entglitten mir die Bücher. Ich sprang schnell nach vorn, um sie aufzufangen, und wusste sofort, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Als ich hinten in meinem linken Bein einen stechenden Schmerz spürte, zog ich scharf die Luft durch die Zähne und sah mich schnell um, doch ich war zum Glück allein.
Ich ging vorsichtig, brauchte viel länger, als mir lieb war, doch ich war nicht in der Lage, mich schneller zu bewegen.
Endlich erreichte ich mein Zimmer und drückte die Tür auf.
»Eure Hoheit!«, kreischte Noemi, eilte auf mich zu und schloss hastig die Tür.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht hob ich den Rock. »Wie schlimm ist es?«
»Sieht aus, als wäre einer der Schnitte wieder aufgegangen. Die gute Nachricht ist aber, dass es nur einer ist. Bringen wir Euch ins Bett.« Sie stützte mich, und langsam bewegten wir uns auf mein Bett zu. »Was um alles in der Welt habt Ihr angestellt?«, fragte sie.
»Ich habe gegessen. Bin in die Bibliothek gegangen. Du weißt doch, wie unvernünftig ich sein kann.«
Noemi kicherte, während sie mir half, mich bäuchlings auf die Matratze zu legen. »Schön zu hören, dass Ihr wieder scherzen könnt.«
Das hatte ich mich auch schon gefragt. Ob ich jemals wieder würde lachen können. »Könntest du mir bitte die Bücher reichen? Damit ich etwas zu tun habe?«
Eilig holte sie die Bücher und legte sie auf meinen Nachttisch. Ich betrachtete den zerfledderten Einband neben dem makellosen und war froh, dass Rhett auf beide bestanden hatte, denn ich würde den gesamten Nachmittag im Bett verbringen müssen.
»Seine Majestät hat ausrichten lassen, dass Ihr heute Abend ein wichtiges Treffen habt. Er will, dass ich Euer bestes Kleid vorbereite. Eigentlich würde ich das silberne vorschlagen, aber jetzt, da sich die Wunde geöffnet hat, wäre das dunkelrote vielleicht sicherer.«
»Das ist sehr klug von dir, Noemi. Danke.«
»Das wird jetzt brennen.«
»Ich weiß.«
Ich gab mir größte Mühe, keinen Laut von mir zu geben, während sie ihre Arbeit verrichtete. Je weniger sie von meinem Schmerz wusste, desto besser. Da lag ich nun und überlegte, wie ich den Heiratsantrag am besten formulieren sollte, vor allem, weil ich keinerlei Interesse daran hatte, diesen Mann zu ehelichen.
Ich seufzte und versuchte, meinen Widerwillen beiseitezuschieben. Mutters und Vaters Hochzeit war auch arrangiert worden, und dennoch war ihre Liebe so groß gewesen, dass ihr Ende meinen Vater von innen heraus zerstört hatte. Nach Mutters spurlosem Verschwinden war er monatelang untröstlich gewesen.
Ich wusste also aus erster Hand, dass eine Zweckehe nicht unbedingt etwas Schreckliches war. Außerdem war der Palast so groß, dass wir es bestimmt schaffen würden, uns hauptsächlich zu den Mahlzeiten zu begegnen. Ich hätte immer noch mein Zimmer, meine Bibliothek, meinen Bruder und Noemi. Ich hätte immer noch den Pferdestall und all die Menschen, die ich ins Herz geschlossen hatte und denen ich vertraute. Ich würde lediglich zusätzlich einen Ehemann haben. Das war alles.
Während sich Noemi um meine Wunde kümmerte, schlug ich eines der Bücher auf und verlor mich in einer Welt, in der Träume wahr wurden.
»Nicht trödeln«, befahl ich und führte die Gruppe junger Rekruten die sanfte Steigung hinauf, vermied jedoch absichtlich die Stelle, an der ich erst heute Morgen die Deserteure niedergestreckt hatte.
Der Wind blies vom Meer her, ließ die Grasbüschel rascheln und zwang mich zu schreien, um gehört zu werden. Doch das war in Ordnung. Die Leute waren es gewohnt, dass ich schrie.
»Versammelt euch hier«, wies ich das Dutzend Soldaten an, das sich nun auf der Spitze des Hügels eingefunden hatte.
»Nehmen wir mal an, ihr seid auf Mission und werdet von eurer Gruppe getrennt. Ihr verirrt euch im Wald oder verliert euren Kompass. Was macht ihr dann?«, fragte ich in die Runde, doch als Antwort erhielt ich nur angespanntes Schweigen. »Niemand?«
Sie standen einfach da, die Arme vor der Brust verschränkt, zitternd.
»Nun gut. Wenn ihr tagsüber unterwegs seid, ist es ziemlich einfach. Die Sonne wandert von Osten nach Westen.« Ich blickte zu Boden und fand beinahe umgehend, wonach ich suchte. »Nehmt euch einen Stock, etwa zwei bis drei Fuß lang, und rammt ihn kerzengerade in den Boden.« Ich steckte den Ast in den Boden, sodass er nun als kurze Stange diente. »Wenn die Sonne aufgeht, oder sobald es euch möglich ist, legt ihr einen Stein auf das Ende seines Schattens.« Ich platzierte einen Stein auf dem imaginären Schatten. »Dann wartet ihr ungefähr fünfzehn Minuten. Bis dahin wird die Sonne bereits gewandert sein und somit auch der Schatten des Stocks. Legt dann einen zweiten Stein auf das Ende des neuen Schattens.« Ich legte einen weiteren Stein auf den Boden. »Die unsichtbare Linie zwischen den beiden Steinen bildet die Ost-West-Linie. Wenn ihr in Richtung Osten geht und dann nach Norden einschert, steuert ihr früher oder später direkt auf die Burg zu. Oder auf den Ozean. Hoffen wir mal, dass ihr schlau genug seid, um den Unterschied zu erkennen.«
Nichts. Nun, wenigstens ich fand es lustig.
»Wenn ihr jedoch nachts unterwegs seid, ist die Lage eine ganz andere. Deshalb müsst ihr lernen, mit Hilfe der Sterne zu navigieren.«
Nun verlagerten sie alle das Gewicht von einem Bein auf das andere und drängten sich noch dichter zusammen. Warum kapierte niemand, wie wichtig das war? Auf der anderen Seite von alldem wartete ein Königreich auf uns, aber alles, was die Leute interessierte, war die Kälte.
»Richtet den Blick nach oben. Seht ihr die vier Sterne, die zusammen ein unregelmäßiges Quadrat bilden?« Noch mehr Stille. »Irgendjemand?«
»Ja«, meldete sich endlich eine Stimme.
»Können es alle sehen? Falls nicht, müsst ihr es mir jetzt sagen. Ich kann euch nichts beibringen, wenn ihr mir nicht mal bis hierher folgen konntet.« Schweigen. »Nun gut. Das ist der große Bär. Wenn ihr der Linie der letzten beiden Sterne folgt, solltet ihr den hellsten Stern am Nachthimmel entdecken: den Polarstern. Sieht ihn jeder?«
Ein zögerliches Murmeln ging durch die Gruppe.
»Der Polarstern steht ziemlich exakt im Norden. Er bewegt sich nicht, während die anderen Sterne ihn umkreisen. Wenn ihr nach oben schaut, euch auf den Punkt direkt über euch konzentriert und dann eine Linie zum Polarstern zieht, wisst ihr, wo Norden liegt. Wenn ihr immer Richtung Norden geht, solltet ihr in der Lage sein, zur Burg zurückzufinden.«
Ich blickte in die Runde, um zu überprüfen, ob es jemand verstanden hatte. Für mich war das alles ein Kinderspiel, aber ich hatte den Himmel schon studiert, bevor ich lesen konnte. Damals, als es noch Bücher gab. Da niemand eine Frage stellte, fuhr ich fort.
»Eine weitere Möglichkeit besteht darin, zwei Stöcke zu benutzen. Ihr sucht euch einen hellen Stern aus und stellt die Stöcke einen Meter voneinander entfernt direkt darunter auf. Dann wartet ihr, genau wie bei der Sonne, ungefähr zwanzig Minuten. Währenddessen bewegen sich die Sterne. Steigt der Stern über die Stöcke, blickt ihr nach Osten, versinkt er jedoch hinter ihnen, nach Westen. Bewegt er sich nach rechts, blickt ihr in Richtung Süden, bewegt er sich nach links, blickt ihr nach Norden. Verwechselt niemals die Himmelsrichtungen, ansonsten seid ihr hoffnungslos verloren. Eure Aufgabe ist es nun, in den folgenden Nächten rauszugehen und zu üben, selbst wenn es bewölkt ist. Innerhalb eines Monats solltet ihr das Navigieren beherrschen. Und jetzt seht mich an«, befahl ich und bekam schnell die Aufmerksamkeit jedes einzelnen Soldaten. »Ich habe euch erklärt, wie man mit Hilfe des Himmels den richtigen Weg findet, aber damit ich mich klar ausdrücke ...« Ich ließ mir Zeit, stellte zu jedem von ihnen Blickkontakt her. »Benutzt ihr diese Fähigkeiten, um abzuhauen, bekommt ihr es mit mir zu tun. Solltet ihr versuchen zu desertieren, werdet ihr eure Entscheidung bitter bereuen.«
»Jawohl, Sir«, murmelte eine mutige Seele.
»Gut. Abtreten.«
Als auch die letzte schattenhafte Gestalt über dem Gipfel des Hügels verschwunden war, atmete ich tief durch, legte mich ins Gras und blickte hinauf in den Himmel.
Manchmal war die Burg, selbst in meinem Zimmer, zu laut. Hallende Schritte, idiotische Zankereien und unnötiges Gelächter. Aber hier draußen ... Hier draußen konnte ich klar denken.
Ich erschrak, als es neben mir raschelte, und beruhigte mich erst, nachdem ich festgestellt hatte, dass Thistle mich gefunden hatte.
»Ah. Bist du gerade auf der Jagd? Hast du was Gutes erwischt?«
Ich wollte sie am Hinterkopf kraulen, doch sie war bereits auf dem Sprung, also wandte ich den Blick wieder gen Himmel.
Darin lag eine Schönheit, die mich schmerzvoll daran erinnerte, wie klein wir doch alle waren. Vater hatte mir alle Sternbilder gezeigt und mir von den Figuren und Geschichten erzählt, die damit verknüpft waren. Damals wusste ich noch nicht, wie viel ich davon ernst nehmen sollte, doch nun gefiel mir der Gedanke, dass es irgendwo da draußen einen anderen Vater gab, der seinem Sohn die gleichen Geschichten erzählte. Und dieser Junge malte sich aus, was das Leben zu bieten hatte. Dass er zu den Menschen gehören könnte, die zu Legenden wurden. Zu den Menschen, die einen Platz am Himmel bekamen.
Der arme Junge. Eines Tages würde diese Illusion zerstört werden. Aber ich hoffte, dass er immer noch davon träumte, wenn auch nur für eine weitere Nacht.
Draußen stieg der Mond immer höher, und die Sterne funkelten wie Diamanten, auch wenn sie nicht alle weiß waren. Manche von ihnen waren blau oder gelb, andere eher rötlich. Der Nachthimmel war wie die Dame am Hofe mit dem schönsten Kleid, gesponnen aus Sternen, und auf ihrem Haupt trug sie den Mond als Krone.
Der Raum war voller Musik und fröhlicher Menschen. Paare, jung und alt, drängten sich auf der Tanzfläche. Und ich lehnte an einer Wand und ließ den Blick aus dem Fenster schweifen.
Cousin Nickolas war hier, wie angekündigt, stand kerzengerade da und blickte gelangweilt drein. Nicht dass er jemals anders aussah.
Nickolas – der Öffentlichkeit bekannt als Duke von Canisse – war groß und schlank mit kastanienbraunem Haar und Augen voller unausgesprochener Gedanken. Da ich für gewöhnlich viel zu viel von mir preisgab, war das einmal eine Eigenschaft gewesen, die ich sehr bewundert hatte. Er war kultiviert, anständig und Mitglied der einzigen Familie, die laut Vater von Bedeutung war.
Seine Eltern waren auf Befehl meines Großvaters exekutiert worden, weil man sie verdächtigt hatte, eine Gefahr für die Krone zu sein. Seine Mutter, Lady Leone, hatte durch einen weit entfernten Verwandten königliches Blut gehabt, doch der Ast war so weit am Rande des Stammbaums gewesen, dass er einfach abgefault war. Nickolas war verschont geblieben, denn er war damals noch ein Baby gewesen, und als er alt genug war, schwor er unserer Familie die ewige Treue. Es war gut möglich, dass er irgendwo da draußen Unterstützer hatte, aber soweit ich wusste, war er der Vedette-Linie gegenüber immer loyal geblieben. Doch das brachte das Geflüster nicht zum Verstummen, was ausreichte, um Vater zum Handeln zu zwingen. Seit langer Zeit konzentrierte er sich nur noch auf Escalus' und meine Zukunft.
Für Escalus eine Ehe zu arrangieren war schwierig; jede potenzielle Braut hatte einen Haken, jede brachte für das Königreich einen anderen Vorteil. Aber ich? Der einzige Mann, der meiner würdig war, war der, der mir meine Position nehmen konnte. Wer Teil unserer Familie wurde, stellte für Escalus keine Gefahr mehr dar. Da war keine Mathematik nötig und auch keine ausschweifende Erläuterung. So einfach war das ... nur für mich nicht.
Für meinen Vater hatte ich keine bessere Antwort als ein klares Nein. Doch mein Nein wurde einfach ignoriert. Also war ich hier gefangen, während mir Nickolas auf Schritt und Tritt folgte. Selbst wenn ich ihm auswich und versuchte, mich mit den anderen Gästen zu unterhalten, stand er nur wenige Minuten später wieder hinter mir – und zwar ein wenig zu nah.
»Normalerweise tanzt du immer«, bemerkte er.
»Ja. Ich war die letzten Tage krank und muss mich noch schonen«, erwiderte ich.
Er machte ein nichtssagendes Brummgeräusch, blieb neben mir stehen und beobachtete die Menge.
»Du reitest doch gern, nicht wahr? Du reitest morgen doch sicherlich mit Seiner Majestät und mir aus, oder nicht?«
So sprach er immer. Hängte seinen Feststellungen immer eine Frage an, um höflich zu wirken.
»Ja, ich reite sehr gern. Falls es mir gut genug geht, werde ich mich bestimmt anschließen.«
»Sehr gut.«
Warum lächelte er nicht, wenn es doch angeblich so gut war? Warum lächelte er nie?
Ich sah mich im Raum um und versuchte, mir vorzustellen, mein ganzes Leben so zu verbringen. So wie ich es in fast jeder Situation tat, fragte ich mich auch diesmal, was meine Mutter getan hätte. Doch ich konnte nicht darüber nachdenken, ohne mir auch zu überlegen, was sie in den Momenten getan hätte, die zu diesem hier geführt hatten. Erstens hätte sie mich unterstützt. Daran bestand keinerlei Zweifel. Selbst wenn es bedeutet hätte, sich gegen Vater zu stellen. Selbst wenn er wütend geworden wäre, hätte sie mir immer den Rücken gestärkt. Zweitens hätte sie immer das Positive gesehen, selbst wenn wir verloren hätten. Unermüdlich hätte sie alles durchkämmt, um das Gute darin zu finden.
Ich musterte Cousin Nickolas erneut. Ja, er war ernst. Kalt. Aber vielleicht ging damit auch ein gewisses Verantwortungsbewusstsein einher. Wahrscheinlich würde er sein Leben dem Erhalt dessen widmen, was wichtig war. Und als seine Ehefrau würde ich bestimmt in diese Kategorie fallen.
Und Liebe ... Ich wusste nicht, ob er in der Lage war, so etwas wie Liebe zu empfinden. Ich hingegen hatte zumindest einen Funken davon als Kind gespürt. Lächelnd dachte ich zurück an den Ausritt mit Mutter und an das Haus am Wegesrand. Ich vermisste es, die Welt zu sehen. Ich vermisste ihre führende Hand.
Mein Vater stellte Blickkontakt mit mir her und gab mir stumm zu verstehen, ich solle die Sache endlich hinter mich bringen. Also schluckte ich schwer und straffte die Schultern.
»Nickolas?«
»Du brauchst etwas zu essen, richtig?«, mutmaßte er. »Du hast beim Abendessen nicht viel gegessen.«
Meine Güte, er beobachtete mich wirklich mit Adleraugen. »Nein. Danke. Aber könnte ich kurz mit dir sprechen?«
Zwar runzelte er irritiert die Stirn, folgte mir aber dennoch in einen abgelegenen Korridor.
»Wie kann ich dir behilflich sein?«, fragte er und sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
Du könntest einfach verschwinden, dachte ich bei mir.
»Ich muss gestehen, dass ich nicht so recht weiß, wie ich dieses Gespräch beginnen soll, aber ich hoffe, du besitzt die Güte, mir zuzuhören.« Ich hasste den Klang meiner eigenen Stimme. Sie klang abwesend. Monoton. Aber Nickolas schien es nicht zu bemerken. Er nickte nur knapp, als würden ihn ein paar Worte zu viel Energie kosten.
Ich spürte, wie mir der Schweiß auf die Stirn trat. Wie sollte ich ihn durch Lügen dazu bewegen, sich mit mir zu verloben?
»Verzeih mir, aber die Etikette besagt, dass ich diejenige sein muss, die diese Frage stellt.« Ich räusperte mich, denn die Worte wollten nicht von selbst herauskommen. »Nickolas, willst du mich heiraten? Wenn nicht, verstehe ich das und werde nicht ...«
»Ja.«
»Ja?«
»Ja. Das wäre auf jeden Fall klug.«
Klug. Ja, das war das erste Wort, das einer Dame in den Sinn kam, wenn sie über eine Heirat nachdachte. Keine Worte aus Liebesromanen wie wilde Hingabe und Schicksal. »Sehr richtig. Und ich glaube, das Volk wäre auch zufrieden. Dann muss sich nur noch Escalus zur Ehe entschließen.«
Er nickte. »Dann gehen wir eben mit gutem Beispiel voran.«
Und dann küsste er mich ohne Vorwarnung. Da es sein Mund nicht einmal schaffte, sich zu einem Lächeln zu formen, hätte ich eigentlich damit rechnen müssen, dass er auch nicht küssen konnte. Damit hatte ich zwei große Meilensteine – meine Verlobung und meinen ersten Kuss – auf einen Schlag hinter mich gebracht. Und beide waren eine einzige Enttäuschung.
»Lass uns wieder hineingehen«, sagte er und hielt mir seine Hand hin. »Seine Majestät wird umgehend davon erfahren wollen.«
Ich seufzte. »In der Tat.«
Er nahm meine Hand in seine und marschierte zurück in den Ballsaal. Vater beobachtete uns und sah mich fragend an. Ich antwortete ihm mit einem angedeuteten Nicken.
Sah er denn nicht, dass es mir das Herz brach? Sah er nicht, was er mir angetan hatte? Ich wusste nicht, was schlimmer war: der Gedanke, dass er es nicht sah, oder dass er es sah, sich aber nicht darum scherte.
Nein. Ich weigerte mich, das zu glauben. Er war immer noch irgendwo da drin. Das wusste ich.
Escalus eilte auf uns zu und schob sich zwischen uns. »Verzeih mir, Cousin Nick, aber ...«
»Nickolas«, korrigierte er ihn. »Niemals Nick.« Er verzog das Gesicht, als wäre ein einsilbiger Name weit unter seiner Würde.
Escalus verkniff sich schnell ein amüsiertes Grinsen. »Aber natürlich. Nickolas, bitte erlaube mir, euch kurz zu stören. Es ist viel zu lange her, dass ich mit meiner Schwester getanzt habe.«
Nickolas runzelte die Stirn. »Wir haben Neuigkeiten zu verk...«
»Das kann doch sicher noch einen Tanz lang warten. Komm, Annika.« Escalus zog mich fort. Sobald wir außer Hörweite waren, begann er, schnell zu sprechen. »Du siehst aus, als würdest du gleich in Tränen ausbrechen. Versuch, dich zusammenzureißen. Wenigstens noch ein paar Minuten.«
»Alles gut«, versicherte ich ihm. »Bitte lenk mich einfach ab.«
Wir begannen, uns hin und her zu wiegen, und ich war der Meinung, dass ich lächelte, aber sicher war ich mir nicht. Ich spürte eine seltsame Leere, die sich vielleicht sogar noch schlimmer anfühlte, als Mutter zu verlieren.
»Habe ich dir jemals von dem einen Mal erzählt, als ich versucht habe abzuhauen?«, fragte Escalus.
Ich zog die Stirn kraus. »Das ist nie passiert.«
»Doch«, bekräftigte er. »Ich war zehn Jahre alt und hatte eben erst herausgefunden, dass ich eines Tages König sein würde. Ist das nicht komisch? Man sollte meinen, das wäre mir schon viel früher bewusst gewesen. Warum hatte niemand außer mir Leute, die ihnen sagten, wie ihr Tagesablauf gestaltet war? Warum durfte ich keine Freundschaften schließen, wie es mir beliebte? Warum sprachen unsere Eltern schon jetzt über meine Hochzeit?«
»Das ist in der Tat merkwürdig«, gestand ich. »Ich glaube, ich wusste schon, dass du mal König wirst, bevor ich überhaupt sprechen konnte.«
»Nun, ich habe auch nie behauptet, so klug zu sein wie du. Ich habe es erst verstanden, als mir Vater den Familienstammbaum gezeigt hat und wo wir darauf eingezeichnet sind. Die Tinte war heller an der Stelle, daran erinnere ich mich. Unsere Linie war schon alt, und wir waren noch jung. Aber wie dem auch sei. Ich hatte Angst. Ich hatte gehört, wie Vater von der Verteidigung der Grenzen und von Abkommen gesprochen hatte. Es gab so viele Dinge, die für jemand so Kleines wie mich viel zu groß schienen.«
Ich blickte zu ihm hoch und legte voller Mitgefühl den Kopf schief. »Keiner hat von dir erwartet, dass du das Königreich mit nur zehn Jahren regierst, du Dummerchen.«
Er lächelte und blickte sich im Saal um. »Siehst du, das ist noch etwas, das ich nicht ganz verstand. In dem Moment, in dem ich erfuhr, dass die Krone einmal mir gehören würde, hatte ich das Gefühl, es würde sofort passieren. Es fühlte sich an, als müsste ich sofort alles beherrschen. Und das wollte ich nicht, also beschloss ich davonzulaufen. Das muss etwa sechs Monate, nachdem Rhett zu uns kam, gewesen sein. Und er war ja selbst noch ein Kind. Aber ich vertraute ihm, und er half mir, eine Tasche zu packen, und gemeinsam überlegten wir, welches Pferd ich am besten nehmen sollte.«
»Moment mal«, unterbrach ich ihn und schüttelte verwirrt den Kopf. »Willst du mir damit sagen, Rhett wollte dir dabei helfen davonzulaufen, als du gerade einmal zehn Jahre alt warst?«
»Ja. Ohne zu zögern. Aber ich glaube, mittlerweile würde er so etwas nicht mehr machen.«
Ich kicherte. »Inzwischen ist er ein wenig zur Vernunft gekommen.«
»Das stimmt. Jedenfalls half er mir beim Packen, und ich schrieb einen Brief an Mutter und Vater, in dem ich mich für meine Flucht entschuldigte. Und ich schrieb auch: ›Bitte gebt Annika die Krone. Sie wird das Land besser regieren als ich.‹«
Ich wandte den Blick ab. »Das hast du nicht getan.«
»Doch. Ich war der Meinung, dass du mit sieben Jahren schon mehr konntest als ich mit zehn. Und ich glaube immer noch, dass du das Königreich regieren könntest, wenn du müsstest, Annika. Ich glaube, die Menschen würden für dich sogar von einer Klippe springen, wenn du es befehlen würdest.«
»Das ist doch lächerlich.«
Er zog mich näher zu sich, wollte mich dazu bringen, dass ich ihm genau zuhörte. »Annika, der Grund, warum ich als König Erfolg haben werde, ist, dass ich dich an meiner Seite habe. Ich weiß, dass du mir immer sagen wirst, wenn ich mich töricht verhalte. Und wenn ich etwas vergesse, wirst du dich mit Sicherheit daran erinnern. Und ich weiß, dass du gerade das Gefühl hast, als ob ein Teil von dir gestorben wäre. Ich habe es gesehen, als du um die Ecke kamst.«
Ich wandte den Blick ab. Nickolas hatte recht: Mein Gesicht war zu leicht zu lesen.
»Aber du musst diese Stärke in dir finden und dich daran festhalten. Wir brauchen dich. Ich brauche dich.«
Vorsichtig führte er mich über die Tanzfläche, und ich dachte über seine Worte nach, die mich nun aus einem ganz anderen Grund beinahe zu Tränen rührten. Durch Nickolas und die Ketten der Verpflichtung hatte ich jegliche Hoffnung verloren, doch Escalus und sein Glaube an mich erweckten sie wieder zum Leben.
»Warte. Hast du es geschafft, aus dem Palast zu fliehen? Hat Vater nach dir gesucht?«
Escalus seufzte. »Ich habe den großen Fehler begangen, der Köchin zu sagen, dass ich etwas zu essen brauche. Um es mitzunehmen. Und sie erzählte es Mutter ... die mich dann im Stall fand und mich zum Bleiben überredete.«
»Natürlich hat sie das getan.«
»Natürlich hat sie das getan«, wiederholte er. »Was auch immer du gerade fühlst ... Du musst wissen, wie dankbar ich für dich bin. Was auch immer geschieht – ich bin für dich da.«
Ich blickte hoch zu meinem törichten, mutigen, wundervollen großen Bruder. »Und ich für dich.«
Im Speisesaal war alles genau wie immer: laut, unorganisiert und dunkler, als er bei Sonnenschein eigentlich hätte sein sollen. Ich trat ein und wollte gerade die Hand auf den Griff meines Schwerts stützen, als mir einfiel, dass ich es vor dem Frühstück nicht umgelegt hatte. Jetzt, da ich die vielen Gesichter sah, die mich umringten, beschlich mich das Gefühl, dass dies keine gute Idee gewesen sein könnte.
Wenn möglich, aß ich vor oder nach der Stoßzeit. Wenn das nicht ging, nahm ich mir, was ich bekommen konnte, und ergriff die Flucht. Ich stand in der Ecke, dachte darüber nach, mir einfach ein Stück Brot zu nehmen und zu gehen, obwohl ich großen Hunger hatte.
Letzten Endes spielte es jedoch keine Rolle. Ein kleines Mädchen kam auf mich zu, blieb schlotternd vor mir stehen und blickte mit großen Augen zu mir hoch.
»Was ist?«, fragte ich ungeduldig.
Sie öffnete den Mund, doch es kam kein Ton heraus.
»Keine Sorge. Wenn du mir etwas mitzuteilen hast, werde ich dich schon nicht dafür umbringen.«
Sie schien nicht überzeugt, und es dauerte noch ein paar Atemzüge, bis sie sprechen konnte.
»Kawan verlangt nach Euch«, stotterte sie.
»Ach ja?«, fragte ich ungläubig.
Sie nickte. Jetzt, da sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, verschwand sie so schnell wie nur möglich, ohne zu rennen. Was um alles in der Welt wollte er von mir? Seufzend ließ ich das Frühstück links liegen und ging in Richtung seiner Gemächer, die bestimmt einmal dem König gehört hatten, als die Burg errichtet worden war.
Ich rief mir drei Dinge ins Gedächtnis. Erstens verlangte er nach mir, ich kroch ihm also nicht hinterher. Zweitens musste ich meinen Stolz so gut es ging zurückdrängen. Und drittens musste ich mich unbedingt an die Regeln halten.
Niemals davonlaufen, niemals den Blick abwenden, sich niemals erklären. So überlebte ich.
Ich klopfte an der Tür, und er wartete ein paar Atemzüge, bevor er jemanden schickte, der mir öffnete. Es war Aldrik, der mich mit arrogantem Gesichtsausdruck begrüßte. Er öffnete die Tür weit, und ich sah Kawan an seinem Schreibtisch sitzen. Hinter ihm standen seine Leibwachen: Slone, Illio, Maston – und Aldrik, der sich nun wieder zu ihnen gesellte.
Vermutlich hätte man erwartet, dass ein so wichtiger Posten an jemanden wie mich gehen würde, nicht wahr? Schließlich war ich der Sohn der Frau in seinen Armen. Ich war der, der den Großteil seiner Drecksarbeit verrichtete. Ich war der, den die meisten Menschen auf dieser Burg am meisten fürchteten.
Aber wenn ich etwas von Kawan wollte, musste ich hart darum kämpfen – und ich weigerte mich, mich so zu erniedrigen. »Ihr habt mich gerufen, Sir?«, fragte ich und betonte das letzte Wort, um möglichst respektvoll zu erscheinen. Als einziger Nachfahre des lang verschollenen Anführers unseres Volkes sollte Kawan eigentlich als König bezeichnet werden, doch er meinte, er wolle sich den Titel aufheben, bis er das Königreich auch wirklich zurückerobert habe. Jedes Mal, wenn ich mir Kawan mit einer goldenen Krone auf dem zotteligen Haupt vorstellte, konnte ich nicht anders als zu denken, dass ihn ein Ortswechsel auch nicht majestätischer werden ließe.
»Das habe ich.« Er sah zu mir hoch, und sofort beschlich mich das Gefühl, dass ich für irgendetwas bestraft werden sollte. »Die Zeit ist gekommen, dich zu beweisen. Ich habe einen Auftrag für dich.«
Fast hätte ich gelächelt. Ein Auftrag. Endlich!
Kawans Aufträge waren seine Art, Menschen auf die Probe zu stellen. Herauszufinden, wie loyal sie waren. Nur die, bei denen man sich sicher war, dass sie nicht desertieren würden, kamen dafür in Betracht, und alle, die zurückkehrten, hatten danach etwas ... Unberührbares an sich. Bisher hatte mir mein Schwert einen Hauch davon eingebracht, aber ich wollte, dass die Menschen nicht nur Furcht empfanden, wenn sie meinen Namen hörten, sondern auch Respekt.
Jede Person stellte ihren eigenen Trupp zusammen und überlegte sich selbst eine Mission. Die einzige Voraussetzung war, dass der Ausgang dem Volk zugutekommen musste. Manchmal brachten sie Nahrung mit nach Hause, manchmal Vieh, manchmal sogar mehr Soldaten.
Aber ich hatte das Gefühl, was auch immer es war – es änderte nichts an unserer Situation.
Das würde durch mich ein Ende finden.
»Ich akzeptiere, Sir. Nur zu gern.«
»Wie du weißt, kannst du dir selbst aussuchen, was du tun willst. Jedoch –« Er legte eine bedeutungsschwangere Pause ein. Wieder überkam mich das ungute Gefühl von Bestrafung. »Ich wähle die Soldaten aus, die dich begleiten werden.«
»Wie bitte?!«
Ein Lächeln umspielte Kawans Lippen. Mein Blick wanderte zu meiner Mutter, doch sie schwieg wie immer, sah mich nicht einmal an.
»Du musst dich beweisen, aber du bist zu draufgängerisch. Ich werde deine Gefolgschaft sorgsam auswählen, Menschen, die dafür Sorge tragen werden, dass du es nicht übertreibst«, erklärte er.
Menschen, die mir ein Klotz am Bein sein werden, dachte ich.
»Und zwar Andre.«
Ich kniff die Augen zusammen. »Der, der kaum spricht?«
»Griffin.«
Ich rollte mit den Augen. »Er nimmt überhaupt nichts ernst.«
»Sherwin.«
»Keine Ahnung, wer das sein soll.«
»Blythe.«
»Eine Frau?«
»Und Inigo«, schloss er höchst zufrieden. Warum sollte er mit dieser Wahl auch unzufrieden sein? Wenn jemand meine Mission ruinieren konnte, dann Inigo. Er trug eine lange Narbe im Gesicht, die ich ihm höchstpersönlich zugefügt hatte. Er würde von mir ganz sicher keine Befehle entgegennehmen.
Hinter Kawan schlug Slone die Hand vor den Mund und versuchte, sein Lachen zu kaschieren. Nach allem, was ich getan hatte, nach all den Leben, die ich genommen hatte ... Warum musste ich mich diesen Menschen immer noch beweisen?
Wieder blickte ich zu meiner Mutter. »Willst du einfach weiter schweigen? Eine stümperhafte Mission hat dir deinen Ehemann genommen, und jetzt stellt er sicher, dass meine ebenfalls scheitern wird. Hast du denn gar nichts dazu zu sagen?«
Sie schien vollkommen unbeeindruckt. Das eisblonde Haar fiel ihr über eine Schulter, und in ihren Augen lag ein Lächeln. »Wenn du wirklich der Anführer bist, für den wir dich halten, wird es für dich ein Leichtes sein, die Truppe zu leiten. Ich glaube an dich.«
Wieder zog sie eine klare Grenze – und ich machte wieder einen Rückzieher.
»Nun gut. Ich werde euch schon zeigen, wozu ich in der Lage bin.«
Die Glocken hatte ich schon immer geliebt. Einmal war Mutter mit mir hinauf auf den Turm gestiegen und hatte den Hüter gebeten, mich herumzuführen. Ich hatte die riesigen Messingglocken berührt, und er hatte mich sogar an dem Seil ziehen lassen, doch ich war noch zu klein gewesen, um sie zum Läuten zu bringen. Doch wenn ihr froher Klang aus dem Palast hallte, bedeutete dies, dass es etwas zu feiern gab. Sie läuteten, wenn ein königliches Kind geboren wurde, wenn wir einen großen Sieg zu verzeichnen hatten und – der einzige Grund, warum ich sie je gehört hatte – an Feiertagen.
Heute läuteten sie anlässlich des Gründungstages. Jeder in Sichtweite des Palasts würde Ausschau halten, ob wir uns auf dem Balkon blicken ließen. Es war unsere Aufgabe, der Menge unter uns zuzuwinken. Für manche mochte es eine eher belanglose Pflicht sein, doch für mich war es eine der wenigen Möglichkeiten, dem Volk von Kadier zu zeigen, dass ich da war. Dass mir die Menschen hier wichtig waren. Ich blickte so vielen von ihnen in die Augen, sie warfen mir Kusshände zu, und ich lächelte und hoffte, dass sie nicht merkten, wie wenig begeistert ich von meiner Position war.
Der Wind peitschte mir durch das Haar. Ich strich es über meine Schulter und wandte mich Escalus zu. Seine Uniform mit den Auszeichnungen seiner militärischen Ausbildung, die links auf seiner Brust prangten, stand ihm wirklich ausgezeichnet.
Ich kicherte, als er errötete, weil eine weitere Dame seinen Namen gerufen hatte. »Du wirst dich daran gewöhnen müssen«, zog ich ihn auf. »Die Ehe ist das Einzige, was dich davor bewahren kann. Und selbst dann werden sie dir wahrscheinlich ihre Taschentücher zuwerfen. Vielleicht würde das aber auch aufhören, wenn du sie nicht immer aufheben würdest.«
Ungläubig sah er mich an. »Wie könnte ich so etwas tun? Eine Dame braucht doch ihr Taschentuch!«
Ich musste erneut lachen, und es mischte sich unter das Glockengeläut. Vater zu Escalus' anderer Seite lehnte sich vor und warf mir einen Blick zu. Das Funkeln in seinen Augen verriet mir, dass er heute Morgen er selbst war, ganz er selbst.
»Heute bist du genau wie sie«, sagte er. »Mit dem Haar über der Schulter und dem lieblichen Lachen.«
Diese Worte aus seinem Mund zu hören, rührte mich beinahe zu Tränen. »Wirklich?«
Wenn er so war, wenn sich der Nebel der Wut, der sich seit Mamas Verschwinden über seinen Geist gelegt hatte, kurz lichtete, veränderte sich meine Welt. Ich spürte Hoffnung. Ich sah den Mann, der früher so stolz auf mich gewesen war, voll des Lobes. Ich fragte mich, ob sich dieser Mensch vielleicht für seine Worte und Taten entschuldigen würde. Ob er vielleicht einlenken und mich aus den Fesseln dieser Verlobung befreien würde. Ich war versucht, ihn zu fragen, aber vielleicht würde er dann wieder verschwinden.
Genau wie sie.
Diese Worte hörte ich fast täglich von den Leuten, und manchmal machte es mich nachdenklich.
Ich hatte die Stupsnase und das aschblonde Haar meiner Mutter, und in einem der abgelegenen Korridore hing ein Porträt von ihr, das mich immer wieder daran erinnerte, dass ich auch ihre Augen hatte. Aber ich fragte mich, ob es noch mehr gab.
Ich dachte daran, wie Escalus manchmal dastand, wie er das Gewicht selbstbewusst auf den linken Fuß verlagerte und wie Vater dies auch immer zu tun pflegte. Oder das Geräusch, wenn sie husteten ... Allein vom Hören konnte ich sie nicht auseinanderhalten. Hatte ich solche Dinge auch von Mutter geerbt? Details, die ich seit ihrem Verschwinden vergessen hatte?
»Hallo, Liebling«, begrüßte mich Nickolas, als er zu uns nach vorn an die Balkonbrüstung trat.
Ich fragte mich, ob es Mutter je so schwergefallen war zu lächeln. Ob wir auch diese Eigenschaft teilten. »Hallo.«
»Wirst du uns bei der zeremoniellen Fuchsjagd begleiten?«, fragte er, während er der Menge unter uns zuwinkte.
Es passte mir nicht, mir diese Möglichkeit entgehen zu lassen, denn es kam nur noch selten vor, dass Vater mir erlaubte, das Gelände des Palasts zu verlassen. Doch selbst wenn ich mitgeritten wäre – auf die Gesellschaft hatte ich gewiss keine Lust.
»Wie ich gestern Abend bereits erwähnt habe, fühle ich mich im Moment nicht besonders wohl. Ich würde nur zu gern mitkommen, aber es wäre wohl besser, heute Nachmittag hierzubleiben«, entschuldigte ich mich. »Aber ich weiß ja, dass du ein hervorragender Reiter bist, von daher wirst du auch allein zurechtkommen.«
»Vermutlich«, entgegnete er. »Es sei denn, du willst, dass ich bei dir bleibe.«
Ich versuchte, mit fester Stimme zu sprechen. »Das ist nicht nötig. Ich werde ohnehin schlafen.« Dann richtete ich den Blick wieder in die Menge, lächelte und winkte.
»Ich habe nachgedacht«, setzte er an, während wir uns weiter dem Volk widmeten. »Ich will unsere Verlobung nicht unnötig in die Länge ziehen. Meinst du, du könntest die Hochzeit innerhalb eines Monats arrangieren?«
Ein Monat?
Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich. Als würde sich eine unsichtbare Hand um meinen Hals legen.
»Ich ... da muss ich Seine Majestät fragen. Ich habe noch nie eine Hochzeit geplant«, erwiderte ich und versuchte, meine Angst mit einem Scherz zu kaschieren.
»Verständlich. Aber lass uns keine Zeit vergeuden.«
Ich versuchte, mir eine Ausrede zu überlegen, doch mir wollte nichts einfallen.
»Wie du wünschst«, sagte ich schließlich. Die Glocken hörten auf zu läuten, und wir nickten der Menge ein letztes Mal zu, bevor wir uns zum Gehen wandten. Nun würde noch die Fuchsjagd folgen und die jungen Mädchen würden mit Bändern in ihrem Haar auf dem Marktplatz tanzen. Wenn ich auf dem Balkon bliebe, könnte ich es aus der Ferne beobachten. Später würde für die Kinder noch die Suche nach bemalten Steinen stattfinden, die im ganzen Palast versteckt worden waren. Danach würde der Tag mit einem Festmahl ausklingen. Den Gründungstag mochte ich von allen Feiertagen am liebsten.