Ab sofort nur noch Geschichten mit Happyend - Paul Holtmann - E-Book

Ab sofort nur noch Geschichten mit Happyend E-Book

Paul Holtmann

4,8

Beschreibung

Februar 2015 "Eine Schuld bleibt eine Schuld, bleibt eine Schuld. Aber ab sofort will ich nur noch Geschichten mit Happyend. Vielleicht schaffen wir ja noch ein Happyend für unsere Geschichte?" "Hättest du nicht irgendetwas für deinen Bruder tun können? Warum hast du nicht hingeschaut als es ihm immer dreckiger ging? Gab es für dich keine Möglichkeit zu verhindern, dass er so armselig und mitleidserregend sterben musste?" Die Fragen sprudeln aufgeregt aus ihrem Mund wie ein Stakkato von Vorwürfen. Dabei schaut sie ihn nicht einmal richtig böse an. Eher zweifelnd. Unschlüssig. Skepsis im Blick. Aber auch Trauer. Schließlich hatte ja auch sie nichts für Günther getan. Ihren Vater immerhin. Dieses Buch beschreibt stellvertretend für viele Familien der Nachkriegszeit Aspekte der Geschichte einer Familie in den Jahren von 1939 bis 2015. Eine Geschichte, die passiert ist und weiter passiert. Der Leser erlebt Beziehungen und Beziehungslosigkeit, Liebe, Hass, Trennungen und Lügen. Oft kommen sich die handelnden Personen so nahe, dass sie sich gegenseitig umarmen, miteinander im Bett liegen, sich küssen, kopulieren. Aus Gewohnheit, aus Angst, aus Lust, manchmal aus Liebe.

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Für Desiree und Anne, die nicht müde wurden, mir ihre Liebe zu geben, trotz allem. Für meine Mutter.

Ich bin ein Teil von allen, denen ich begegnet bin.

(Alfred Lord Tennyson)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Diese Geschichte

Erster Teil

Februar 2015

Oktober 2014

November 2009

Stablack, 19.11.1942

Sensburg, 22.11.1942

September 1991

Im Osten, 19.10.1943

Im Osten, 21.10.1943

Im Osten, den 2.11.1943

Herbst 2000

Im Osten, 24.11.1943

Frühjahr 2006

Im Osten, 5.12.1943

Zweiter Teil

Zeitzeugin

Im Osten zum Jahreswechsel 1943/44

Im Osten, 21.2.1944

Im Osten, 18.3.1944

Kriegsweihnacht 1944

Weihnachten 1944

Zum Jahreswechsel 1944/45

Im Osten, 23.2.45

Aus den Tagebüchern

Gründonnerstag, 29.3.1945

Karfreitag, 30.3.1945

Karsamstag, 31.3.1945

Ostern, 1.4.1945

Ostermontag, 2.4.1945

Dienstag, 3.4.1945

Mittwoch, 4.4.1945

Donnerstag, 5.4.1945

Ein Traum, Ende 1951

Kgf. Egon Kressebruch, U.d.S.S.R Lager 7.100/1, 3.Mai 1946

20. Oktober 1946

Im Osten, den 16.11.1946

5. Mai 1947

24.11.1947

Den 29. Februar 1948

Ostern 1948

15. August 1948

Frohe Weihnachten 1948

Dritter Teil

Tod der Mutter

1969: Sommer der Liebe

Vierter Teil

Scheidungskrieg

Amtsgericht Essen

Rechtsanwälte L. & Partner

Rechtsanwälte L. & Partner

Dr. Gisela Kressebruch, Ärztin

Heinrich und Bernadette Habicht

Ein Brief aus dem Nachlass von Günther Kressebruch an seine Frau und seine Kinder

Heinrich und Bernadette Habicht

Gisbert Frank

Rechtsanwalt W.

An das Amtsgericht Essen

Stadt Essen

Nicht öffentliche Sitzung des Amtsgerichts

Nicht öffentliche Sitzung des Amtsgerichts

W. Rechtsanwalt

Rechtsanwalt W.

Dr. L. und Partner

Dr. L. und Partner

Günther Kressebruch

Dr. L. und Partner

Rechtsanwalt W.

Vorläufiger psychologischer Bericht

Kinderklinik St. Hildegard

Dr. L. und Partner

Günther Kressebruch

Amtsgericht Essen Beschluss

Dr. L. und Partner

Dr. L. und Partner

Günther und Peter Kressebruch

Nicht öffentliche Sitzung des Amtsgerichts Essen

Dr. L. und Partner

Dr. L. und Partner

Dr. L. und Partner

Dr. L. und Partner

Rechtsanwalt W.

Rechtsanwalt W.

Amtsgericht Essen Familiengericht

Beschluss

Dr. L. und Partner

Dr. L. und Partner

Fünfter Teil

Besuch I, Sommer 2009

Sechster Teil

Herbst 2011

Klinik

Anamnese

Besuch II

„Hi Du, ....

Roberts Tod

Lieber Robert,

Nachwort

Robert Kressebruch

Robert

September 2014

November 2014

Dezember 2014

Prolog

Nur drei, vier Schritte wären es, denkt Robert. Er sitzt mit Brigitte, mit Dieter und Bärbel auf einer weißen Holzbank auf dem Oberdeck des Schiffes der Cruceros-Australis-Linie, das sich auf seiner Route von Punta Arenas nach Ushuaia befindet. Das gleißende Sonnenlicht schmerzt die Augen trotz Sonnenbrille und lässt das rot weiße Schiff in dieser Umgebung wie einen Fremdkörper erscheinen. Die Gletscherlandschaft lässt nur die Farben blau, weiß, grau und schwarz zu. Jede andere Farbe stört.

Drei bis vier schnelle Schritte, dann die Holz-Reling greifen, ein kräftiger Armzug, im Kopfsprung drüber hechten und sieben oder acht Meter tiefer eintauchen in das gräulich-blaue, eiskalte Wasser. Wie einfach. Die Vorstellung dieses Abgangs von einer immer düsterer werdenden Welt amüsiert ihn sogar ein wenig, auch wenn er Dieter und Bärbel diesen Schock nicht zumuten möchte.

Die aufgerissenen Augen seiner Frau, der schrille Schrei, den sie ausstoßen wird. Robert ist davon überzeugt: Alles Schauspielerei! Schauspielerei, auf die sie sich weitaus besser versteht, als Robert selbst zu diesem Zeitpunkt auch nur ahnt.

Die scharfen Eisschollen werden ihn verletzen, sein Blut wird direkt bei Austritt aus dem Körper gefrieren, die Wunden sich sofort schließen.

Das Eis wird sich über ihm zusammenschieben, ihn eintauchen lassen in die ewigen Tiefen der eisigen Seestraße.

Nach spätestens ein bis zwei Minuten wird er besinnungslos sein. Die exakte Sterbeminute interessiert niemanden.

Ob sein Körper dann sofort untergehen wird, gezogen von der Winterkleidung, oder ob sein roter Anorak ihn eine Zeit lang über Wasser halten wird? Von ihm wird nichts mehr zu sehen sein, bis das Schiff gestoppt wird und ein Rettungsboot ausgebracht werden kann. Verschwunden im Meer der tiefblauen Gletscher.

Mein Körper wird dort nicht allein sein. Nur eine Leiche mehr, wo viele Forscher und Seefahrer ihre letzte, ewige Ruhe gefunden haben. Ruhe in Frieden eben. Und in Eis. Fast ein wenig warm fühlt sich dieser Gedanke für Robert an.

Keine Klinik, keine Depressionen mehr, kein Ehestreit, kein Tunnelblick, keine Dunkelheit, kein endloses, ergebnisloses Sinnieren.

„Robert, sollen wir uns ein Bier bringen lassen?“

Roberts Gedanken werden jäh unterbrochen von der Frage seines Freundes Dieter. Hat Dieter etwa Roberts trübe Gedanken geahnt, an seinem Gesichtsausdruck Verzweiflung abgelesen?

„Ja, ein Bier wäre gut.“

Doch nicht gesprungen. Noch nicht.

Robert kommen Szenen in den Sinn von lustigen Erlebnissen mit seinen Kindern. Er denkt an guten Sex mit seiner Frau, an tolle Feste mit Freunden. Und an Desiree.

Diese Geschichte

„Eine Schuld bleibt eine Schuld, bleibt eine Schuld. Aber ab sofort will ich nur noch Geschichten mit Happyend.“

Diese Sätze sagt Robert, letzter überlebender Sohn der Familie Kressebruch. Aber hat auch ihre Geschichte ein Happyend? Wer weiß schon, was das ist und ob jede Geschichte überhaupt ein Ende hat. Oder einen Anfang?

„Was meinst du? Wann hat unsere Geschichte begonnen?“ Desiree schaut irritiert.

„Zu welchem Zeitpunkt unsere Geschichte beginnt? Keine Geschichte beginnt an einem speziellen Punkt der Zeit, noch nicht einmal beim Urknall. Also auch unsere nicht. Alle Abläufe wie auch alle Personen jeder Geschichte sind verschachtelt, ineinander verwoben, voneinander abhängig. Niemand kann die Fragen der Kausalität der Historie eindeutig und stimmig beantworten. Das zwingt den Blick auf wesentliche Aspekte von zeitlichen Abläufen.“

Seine Antwort kommt ein wenig dozierend. Viel zu abgeklärt. Auch für seinen eigenen Geschmack.

Welche Aspekte sind eigentlich wesentlich und für wie lange Zeit bestimmen sie unser Schicksal?

Sind es etwa Familienbande mit ihren unzähligen Enden, welche sich am Schluss meist herausstellen als Schlingen, die sich immer enger zusammenziehen?

Wie sich beispielsweise zwei von drei Brüdern einer Familie zugrunde richten? Nachkriegskinder, die wie Tiere auf der Flucht ohne Aussicht auf Überleben von den vor ihnen auftauchenden Klippen herabspringen, eine Art erzwungenen Suizid begehen?

Suizide, die sich noch dazu über Jahre hinziehen?

Immer wieder fragt sich Robert, wann er wohl die Strafe als Quittung dafür bekommen wird, dass er seinen Brüdern nicht genug geholfen hat. Aber auch dafür, dass er nie gelernt hatte, mit Nähe umzugehen. Nicht lernen konnte. Urvertrauen wurde ihm jedenfalls nicht auf seinen Lebensweg mitgegeben. Robert hat überlebt, obwohl auch er vom schrecklichen Ende seiner Brüder nur drei bis vier Schritte entfernt ist, als er darüber nachdenkt, vom Deck dieses Schiffes ins Eismeer der Gletscherstraße zu springen.

Doch er wird seine Quittung bekommen! Da ist er sich ganz sicher. Sind seine Brüder durch ihre spezifischen Biographien lebensuntüchtig und beziehungsunfähig geworden? Sind diese unseligen Familienverstrickungen ursächlich für ihr Scheitern?

Sind es nicht aufgearbeitete Traumata von Großeltern und Eltern, die vielleicht mehr als vorhergehende Generationen leiden mussten? Diese fordern irgendwann ihren Tribut, auch und vor allem von deren Kindern und Kindeskindern.

Dieses Buch beschreibt teils wesentliche und teils unwesentliche Aspekte der Geschichte einer Familie in den Jahren von 1939 bis 2015. Eine Geschichte, die passiert ist und weiter passiert.

Es geht um Beziehungen und Beziehungslosigkeit. Um Schlingen und Verschlingungen. Um Liebe und Hass, die oft so nahe beieinander liegen, dass sie sich gegenseitig umarmen, miteinander im Ehebett liegen, sich küssen, kopulieren. Aus Gewohnheit, aus Angst, aus Lust, manchmal sogar aus Liebe.

Es geht um Sterben und andere Trennungen. Trennungen von Familienmitgliedern, Freunden, Ehe- und Lebenspartnern, wobei Auseinandersetzungen eher die Ausnahme darstellen. Aber auch um schmutzigen Scheidungskrieg, wie ihn Günther Kressebruch erlebt, als ihm perfide ein Strick um den Hals gelegt wird, der ihn letztlich ein paar Jahre später erwürgt. Als Selbstmord getarnter Mord? Oder das logische Ende einer Entwicklung, die wesentlich früher begann als diese Ehe?

Eine Geschichte von Einsamkeit, die ohne Ende weh tut, die schreien möchte in der Stille, und um eine Geschichte von fröhlichen Festen.

Eine Geschichte von Träumen, die verflogen, obwohl sie manchmal ganz nahe an der Realität lagen. Träume, die manche Menschen tatsächlich in Realität umzuwandeln in der Lage sind, wenn die Umstände es zulassen. Umstände, die sich meistens wandelbar („O schwöre nicht beim Mond, dem wandelbaren, der immerfort in seiner Scheibe wechselt, damit nicht wandelbar dein Leben sei.“)* und flatterhaft zeigen.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden und verstorbenen Menschen ist trotzdem rein zufällig.

*Quelle: Romeo und Julia II, 2. (Julia), William Shakespeare

Erster Teil

Februar 2015

„Eine Schuld bleibt eine Schuld, bleibt eine Schuld. Aber ab sofort will ich nur noch Geschichten mit Happyend. Vielleicht schaffen wir ja noch ein Happyend für unsere Geschichte?“

„Hättest du nicht irgendetwas für deinen Bruder tun können? Warum hast du nicht hingeschaut, als es ihm immer dreckiger ging? Gab es für dich keine Möglichkeit zu verhindern, dass er so armselig und mitleidserregend sterben musste?“

Ihre Fragen sprudeln aufgeregt aus dem Mund wie ein Stakkato von Vorwürfen. Dabei schaut sie ihn nicht einmal richtig böse an. Eher zweifelnd. Unschlüssig. Skepsis im Blick. Aber auch Trauer.

Schließlich hatte ja auch sie nichts für Günther getan. Ihren Vater immerhin.

Oktober 2014

Hier in der Nähe des Friedhofs sind die Straßen verkehrsberuhigt. Nur wenige Autos begegnen Robert und Anne auf ihrem Spaziergang. Um diese Zeit am frühen Nachmittag fahren Menschen zum Shoppen in die Innenstadt. Sie wollen zum Friseur oder zum Altersheim. Verwandte besuchen. Manche Fahrer suchen etwas abseits einen Parkplatz.

Die Turmuhr des Münsters schlägt ein Mal. Es ist viertel nach eins. Auf immer gleichem Rundweg zeigt sie unverdrossen die Zeit, schlägt den Takt der Viertelstunden, jetzt im Herbst wie zu allen anderen Jahreszeiten.

„Wenn eine Kirchturmuhr stehen bleibt, geschieht ein Unglück.“ sagt Anne.

Weiße Wolken haben sich in die Täler des nahen Schwarzwalds zurückgezogen. Hier ist es sonnig, ein angenehmer Herbsttag.

In der Spielstraße fährt ein Auto viel zu schnell. Sie müssen an den Straßenrand ausweichen. Die Fahrerin scheint sehr in Eile zu sein. Woher sie wohl kommt, fragt sich Robert. Von ihrer Arbeitsstelle, vom Arzt, von der Kita oder von ihrem Liebhaber? Robert ist misstrauisch geworden.

Die Sträucher an der Friedhofsmauer tragen rote und schwarze Beeren. Spatzen fliegen umher, pfeifen und suchen eifrig auf dem Boden nach Leckerbissen. Immer auf dem Absprung aus Angst vor Gefahren.

Unter einer Statue, die zu einem Kreuzweg gehört, steht: Gelobt seist Du Christus.

„Glaubst du an Gott?“ Roberts Frage kommt fast beiläufig.

„Meine Mutter hat immer gesagt: Die Mutter Gottes wird´s schon richten. Alles. Jede Tat. Das ganze Leben. Das glaube ich auch, ganz ehrlich.“

Anne ist völlig überzeugt von diesen Gedanken.

Sie ist einfach eine faszinierende Frau, denkt Robert. So frisch, so fröhlich, so verständnisvoll und offen. Er hat eine solche Frau noch niemals zuvor kennengelernt. Welches Glück für ihn.

Die wie spanischer Rotwein tiefdunkel gefärbten Blätter der Ahornsträucher erwarten den Herbst und ihre Verwendung in Friedhofs- und Adventsgestecken.

Ein Eichhörnchen hat eine Nuss unter dem nahen Baum gefunden und trägt sie in irgendein Versteck. „Eichhörnchen finden oft ihre Verstecke der gesammelten Nüsse im Winter nicht mehr wieder. Wenn´s darauf ankommt, wenn sie Hunger haben.“ Robert wirkt belustigt.

Durch das schwere Metalltor, an dem die schwarze Farbe abblättert, betreten die beiden den alten Friedhof in Freiburg Herdern.

Dort hinten an der rückwärtigen Seite in der Nähe der Kapelle liegt das berühmte uralte Grabmal. Es zeigt aus Stein gemeißelt den verführerischen Körper eines jungen Mädchens, wie in friedlichem Schlaf da liegend. Täglich wird hier eine frische Rose abgelegt. Von wem? Niemand weiß dies ganz genau. Niemand möchte es ganz genau wissen. Das Mädchen hat hier seine ewige Ruhe und seinen seligen Frieden gefunden.

Wie oft hatte sich Robert diese Ruhe auch für sich gewünscht. Seine Welt zeigt sich gelegentlich noch in düsteren Farben.

Sie setzen sich auf eine Holzbank ganz nah an diesem Grabmal, nicht kümmernd, dass die Bank durch Vogeldreck und andere Ausscheidungen ziemlich verschmutzt ist.

Ein Zitronenfalter lässt sich gegenüber auf einer Statue nieder.

„Hast du gewusst, dass nur die männlichen Zitronenfalter gelb sind, während die Weibchen blassweiß aussehen?“ Sie redet weiter, ohne seine Antwort abzuwarten. „Außerdem sind sie sehr widerstandsfähig und können nahezu ungeschützt Temperaturen bis minus 20 Grad überleben. So zierlich und verletzlich. Trotzdem so stark.“

Robert interessiert sich nicht besonders für Schmetterlinge, obwohl ihre Widerstandskraft ihm doch imponiert. Wie lange wird seine Kraft reichen, sein Leben mit den Belastungen weiter zu ertragen?

Im Moment ist er gefangen in seinen Erinnerungen. Heute möchte er Anne endlich davon erzählen. Die Geschichte seiner Familie.

Die er selbst so lange verdrängt, verlogen, zurechtgebogen und ignoriert hat. Bis sie auch ihn selbst tragisch und unerwartet erfasste und überrollte.

Anne hat ihn so oft darum gebeten. Sie möchte verstehen. Verstehen wie sein Leben verlief. Verstehen, warum er oft so traurig ist.

Wieder bemerkt sie, dass Robert mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger seiner rechten Hand den Ringfinger seiner linken Hand knetet, fast massiert.

Er bemerkt ihren Blick. „Irgendwie spüre ich an dem Finger manchmal einen seltsamen Schmerz. Das fühlt sich fast wie Phantomschmerz an.“

Robert hatte seinen Ehering immer an der linken Hand getragen, da die Verkäuferin des Schmuckgeschäfts damals den Fingerumfang am linken Ringfinger gemessen hatte und bei der Anprobe als Entschuldigung nur die flapsige Bemerkung machte: „Ich dachte, sie seien Linksträger.“

Robert erzählt. Anfangs zögerlich, ungeordnet, später sprudelnd.

„Weißt du, es war nur ein Satz am Telefon. Der Anruf kam im November 2009. Dieser Satz stellte mein gesamtes bisheriges Leben auf den Kopf:

„Hier ist Desiree. Ich möchte dich fragen, wie mein Vater gestorben ist.“

November 2009

Am Telefon blinkt das rote Lämpchen. Es zeigt an, dass ein neuer Anruf eingegangen ist in der Zeit ihrer Abwesenheit. Eine unbekannte Nummer in der Anrufliste, deren Vorwahl auf einen Anruf aus Nordrhein-Westfalen hindeutet. Durch einfachen Druck auf den grünen Knopf kann Robert zurückrufen:

„Desiree Brand“, kommt die Antwort nach zweimaligem Klingeln.

„Kressebruch. Sie haben bei uns angerufen?“

„Robert Kressebruch“?

„Ja, Robert Kressebruch.“

„Hier spricht Desiree, ich möchte dich fragen, wie mein Vater gestorben ist.“

„Ich verstehe nicht. Wer spricht, bitte?“

„Hier ist Desiree!“

Irgendwann musste dieser Moment ja kommen! Ja, unbewusst hatte Robert darauf gewartet. Er hatte nur nie eine konkrete Vorstellung davon, wie und wann er über ihn hereinbrechen würde.

Er hätte sich auch lieber in einer aktiven Rolle gesehen. Als derjenige, der handelt und dem Ablauf seinen Stempel aufdrückt. Aber das war ja bereits eine Lebenslüge an sich. Robert, der Handelnde! Hatte er sich doch meistens treiben lassen, speziell in dieser Angelegenheit. Ein Treibholz! Nur zu gern war er der weit entfernte Beobachter! Hatte ein Leben lang nur abgewartet! Abgewartet weit über die Suizide seiner Brüder hinaus bis fast zum eigenen Selbstmord! Abgewartet, dass er seine Quittung bekommt. Die Quittung dafür, dass er kein Urvertrauen gelernt hatte.

Manchmal warf er sich vor, dass er ganz bewusst speziell seinem Bruder Günther die notwendige Unterstützung verweigert hatte! Hilfe, um die dieser nicht gebeten hatte, aber Hilfe, die nach Roberts Ansicht unbedingt erforderlich gewesen wäre.

Jegliche Hilfe wäre notwendig gewesen! Not wendig. Um Not zu wenden.

Der graue Marmorboden ihrer Wohnung, Nobel-Penthouse am Rhein, verschwimmt vor Roberts Augen. Wie durch eine matte Glasscheibe schaut er durch den beigen Boden hindurch wie in ein Hologramm, zurück in seine Vergangenheit. Bilder einer Zeit, die er längst vergessen zu haben glaubte, tauchen dort schemenhaft auf.

Robert beachtet nicht, dass Brigitte neben ihm steht und ihn mit fragendem Blick anschaut. Er ist gerade viele Jahre von hier und ihr entfernt.

Er denkt an seine Schuld. Lange Zeit hatte er versucht, diese Gedanken zu ignorieren. Jetzt tauchen sie wieder auf.

Immer wieder diese Selbstvorwürfe, wenn er an Günther denkt! Bereits damals habe ich mich ihm gegenüber schuldig gemacht. Eine Schuld, die immer mein Leben beschweren wird.

Und Peter? Ihn hatte Robert manchmal gehasst. Dann wieder war er dankbar, dass er ihm und Günther die Fürsorge für die altersschwache und später demente Mutter abnahm. Doch sein Dank hatte sich nur darin erschöpft, ihm gelegentlich aus seinen ständigen finanziellen Engpässen zu helfen. Ein paar Geldscheine als Pflaster für schlechtes Gewissen! Geldscheine statt Empathie! Geldscheine statt Gespräche! Geldscheine statt Fürsorge, statt Liebe!

Doch dann kam dieser Moment völlig unerwartet und unvorbereitet: Dieser Augenblick, der alles wieder aufbrechen lässt. Alles das, was gekonnt verdrängt war, erledigt, vergessen, nie gewesen. Ereignisse aus grauer Vorzeit ohne irgendeine Relevanz für die Leidtragenden in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Völlig unwichtig, ohne konkrete, schreckliche Folgen an Seelen und sogar Leben.

Wobei dies auch umgekehrt Sinn machen würde, denkt Robert. Sogar an Seelen! Denn was ist schlimmer: Der ständig nagende Zahn eines Defektes der Psyche oder der Verlust des Lebens? Der Verlust des Lebens dauert meist nicht so lange wie das Ertragen von Verwundungen der Psyche! Aber genau darin hat sich ja diese Generation, die von allen vergessene Kriegs- und Nachkriegsgeneration, als stark erweisen müssen, von Anfang an. Stark im Ertragen, Aushalten, Verdrängen.

In diesem Augenblick jedenfalls taucht das Elend von einem Moment zum nächsten wieder auf:

Diese ganze schmerzhafte Geschichte seiner Familie im Speziellen und von Generationenbeziehungen im Allgemeinen. Von außen betrachtet ist die Geschichte seiner Familie völlig normal in jener Zeit. Jedenfalls so normal wie die Geschichte vieler anderer Familien.

Robert weiß jetzt, wer die Anruferin ist. In Bruchteilen der nächsten Sekunde rasen weitere Erinnerungen durch seinen Kopf, überschlagen sich, lückenhaft, aber deutlich:

Desiree, die Tochter seines Bruders Günther.

Günther sein „großer, starker“ Bruder.

Günther als Kind, oft benachteiligt, Günther mit Problemen in der Schule, Günther als Jugendlicher, oft im Schatten seines Zwillingsbruders Peter und sogar im Schatten des jüngeren Bruders, also in seinem Schatten, stehend, besuchten Peter und Robert doch im Gegensatz zu Günther das Gymnasium.

Günther, der erst nach einer Lehre als Schreiner auf dem zweiten Bildungsweg zu höheren Abschlüssen gekommen war.

Zu Selbständigkeit, Erfolg und Misserfolg.

Der Bruder, für den sich Robert schämte.

Günthers Sterbebett ...... Die Intensivstation ......

Seine Tochter Desiree ...... Die kleine Desiree ......

Robert ist verstummt, sprachlos.

Desiree unterbricht die im Zeitraffer über ihn hinweg rasende Springflut der Erinnerungen.

„Das Jugendamt hat mir gesagt, dass er gestorben ist, aber keiner hat mir mitgeteilt, woran und wieso. War er krank?“

„Ja, dein Vater war schwerkrank. Und das bereits seit vielen Jahren. Viel kränker, als jeder von uns gewusst hat. Er hatte eine schwere Herzkrankheit. Und er hat nicht dem entsprechend gelebt. Dazu kam, dass er völlig aus der Bahn geraten ist, nachdem er euch verloren hatte.“

Günther als Jugendlicher mit vielen, meist attraktiven, geilen Freundinnen, um die Robert ihn oft beneidete.

Günther als erfolgreicher Unternehmer. Günther der Weiberheld in Rio.

Dann Günther, der gebrochene Mann nach geschäftlicher Insolvenz und Trennung von Frau und Kindern.

Günther, den verschiedenste Gerichtsverfahren immer tiefer in den Sumpf von Alkohol und Desinteresse an seiner Umgebung getrieben hatten. Der sich zurückzog.

Robert versucht, sich zu sammeln, seine Gedanken, die Jahrzehnte zurückgesprungen sind, auf den jetzigen Moment zu konzentrieren. Er möchte der jungen Frau am anderen Ende der Leitung gerecht werden.

„Wie geht es dir, Desiree? Wie und wo lebst du jetzt?“

Brigitte an seiner Seite. Unruhig. Fragend hochgezogene Augen brauen. Deutlich demonstrierend, wie lästig ihr seine Familie ist.

In ihrer Familie läuft ja alles tadellos. Bis auf die Vorkommnisse, die einfach unter den Tisch gekehrt werden und wurden.

„Mir geht es gut. Ich lebe mit meinem Freund zusammen in Duisburg“, kommt Desirees klare Antwort.

Welche selbstbewusste Stimme sie hat! Und dies trotz ihrer schlimmen Erfahrungen, von denen Robert Kenntnis hat! Aber er hat sie etwa 15 Jahren nicht gesehen, nicht mit ihr gesprochen, fast nichts über ihren Verbleib gehört.

Dabei hätte ich mich bereits damals um diese Angelegenheit kümmern müssen. Das stets vorhandene Schuldbewusstsein holt Robert in diesem Moment wieder ein. Gnadenlos.

„Wie alt bist du jetzt, Desiree?“ Die Frage bringt seine Gedanken zurück zum heutigen Tag.

„Ich werde bald 19.“

„Ja ich erinnere mich jetzt. Du bist ein Jahr jünger als mein Sohn Paul. Der wurde kürzlich 20. Deine Cousine Bettina ist 22, wird im August 23.“

„Dann ist sie gleich alt wie mein Freund. Was machen die zwei jetzt?“

„Sie studieren beide. Bettina in Hamburg Medizin, Paul in Tübingen Französisch und Englisch fürs Lehramt Gymnasium. Was machst du?“

„Ich mache im nächsten Jahr mein Wirtschaftsabitur.“

„Was macht Rolf? Wie alt ist der jetzt eigentlich?“

„Rolf geht’s gut. Er geht zum Gymnasium. Er ist jetzt 16 Jahre. Hatte mein Vater nicht ein Haus?“

Daher weht also der Wind! Ruft sie also doch nicht an, um etwas über ihren Vater, sein Leiden, sein verkorkstes Leben, seine Ver zweiflung nach dem Verlust der Familie und dem verbotenen Um gang mit seinen Kindern, sein schreckliches Sterben zu erfahren.

Um das vermeintliche Erbe geht’s also! Dabei hatte Desirees Mutter das Erbe wegen vermuteter Überschuldung nicht antreten wollen und auch für ihre Kinder darauf verzichtet. Das war Robert vom Amtsgericht mitgeteilt worden und gleichzeitig wurde ihm als Bruder das Erbe angeboten. Aber auch er verzichtete.

„Er hatte kein Haus mehr. Das war bereits einige Jahre vor seinem Tod zwangsversteigert worden.“

„Lebte er in einer Wohnung?“

„Doch, das war aber nicht sein Eigentum, die Wohnung war gemietet. Ich habe dort nach seinem Tod aufgeräumt. Ich habe noch Mietrückstände und Nebenkosten bezahlt.“

Roberts Antworten erfolgen jetzt völlig emotionslos. Er möchte auch nicht daran erinnert werden. Auch will er ihr im Moment nicht zumuten zu erfahren, unter welch fürchterlichen Umständen ihr Vater gelebt hatte. Über die letzten Tage vor seinem Tod will er erst recht nicht sprechen.

„Ich freue mich, dass du endlich anrufst. Ich hatte ja keine Adresse von dir. Ich habe aus der Wohnung drei Kisten mit Dingen mitgenommen, die mir wichtig erschienen.“ Robert hat sich gefangen.

Wichtig für mich, um meinen Bruder in seinem letzten Lebensabschnitt zu verstehen, aber auch wichtig für seine Kinder, wenn sie einmal Interesse zeigen sollten, denkt er.

„Auch zwei Fotoalben von euch als Kleinkindern habe ich mitgenommen. Ich dachte mir, dass euch das irgendwann interessieren wird. Alles Übrige habe ich entsorgen lassen.“

„Ja, wir haben gar keine Fotos aus dieser Zeit. Das ist alles damals bei meinem Vater geblieben.“

„Ja, Desiree, wenn du willst, kannst du uns gern mal besuchen.

Dann können wir gemeinsam die Kisten durchschauen.

Und über die ganze Geschichte reden. Ich denke, das wäre auch für dich interessant.“

Was sie wohl noch aus jener Zeit weiß? Ob ihre Mutter ihr Alles gesagt hat? Eine objektive Betrachtungsweise kann sicher nicht von diesem Mädchen, dieser jungen Frau, erwartet werden. davon ist Robert überzeugt.

„Ich habe aber leider kein Auto, mein Freund auch nicht.“ Fast ein wenig trotzig kommt diese Erwiderung.

Was kann ich dafür? Möchte er erwidern, sagt aber:

„Hierher kann man gut mit dem Zug fahren. Du fährst nach Freiburg. Dauert etwa 5 Stunden. Da hole ich dich dann ab. Ich bezahle euch die Fahrt. Weißt du übrigens, dass du noch eine Oma hast?“

„Ja, wie alt ist die jetzt?“

Sicher ist mit ihr nach der Trennung nicht mehr darüber geredet worden, dass sie noch eine Oma hat. So vergisst jedes Kind sehr schnell auch Menschen, die vorher Bezugspersonen gewesen sind. Totschweigen eben. Mit System.

„Die ist mittlerweile 89 Jahre alt. Gott sei Dank ist sie so verwirrt, dass sie kaum noch etwas mitbekommt.“

Manchmal ist der Herrgott eben doch gnädig. Und Mutter hat diese Gnade sicher verdient. Roberts Gedanken überstürzen sich. Mit seiner Mutter hat er Frieden geschlossen, hat ihr vergeben. Er sieht sie auch als Opfer. Opfer der Zeit und der speziellen schlimmen Umstände eben.

„Sie weiß auch nichts mehr vom Tod ihrer beiden Söhne. Als das mit deinem Vater passierte, war sie schon so dement, dass man es ihr verschweigen konnte. Sie hat auch niemals mehr nach ihm gefragt. Euch hatte sie ja bereits früher aus ihren Gedanken streichen müssen. Das Ausleben ihrer Großmuttergefühle euch gegenüber war ihr ja bereits verunmöglicht worden.“

Robert hat den Eindruck, Desiree möchte das Telefonat zu Ende bringen, denn sie stellt jetzt keine Fragen mehr. Er erkundigt sich noch nach ihrer genauen Adresse und Telefonnummer, lädt sie nochmals auf einen Besuch ein und beendet das Gespräch.

Ein Gespräch, das ihn aufwühlt und seine Gedanken weit in die Vergangenheit zurückwirft. In eine Zeit, deren Vorgänge mit einem Mal geradezu plastisch greifbar in seine Erinnerung zurückkehren.

Ging es bei diesem Telefonat nur um ein etwaiges Erbe oder echtes Interesse am Schicksal ihres Vaters?

Was für ein Mensch ist Desiree geworden? Hat sie die traumatischen Kindheits-Erinnerungen verarbeitet? Kann man derartige Geschehnisse überhaupt verarbeiten?

Es fällt Robert ein, wann er zuletzt etwas über Desiree gehört hat. Es war etwa 3 Monate vor Günthers Tod, als dieser ihm bei einem seiner seltenen Anrufe voller Verzweiflung mitteilte, Desiree sei im Frauenhaus. Sie wäre von daheim ausgerissen und dorthin geflüchtet. Mit tränenerstickter Stimme brach es aus ihm heraus, dass Ihr Stiefvater sie wohl sexuell missbraucht habe. Das Jugendamt hatte ihn angerufen, denn als leiblicher Vater einer noch Minderjährigen sei er für die Bezahlung des Aufenthaltes im Frauenhaus zuständig.

Er hätte sogar mit ihr telefonieren dürfen.

Sie allerdings wollte nicht mit ihm sprechen. Nach ihrem kurzen „Hallo“ sagte Günther „Hallo Desiree, hier ist Papa.“

Sie antwortete kurz und knapp: „Mit dir will ich nicht sprechen.

Du hast dich ja seit Jahren nicht um mich gekümmert!“

Dann hatte sie den Telefonhörer bereits aufgelegt.

„Was soll ich jetzt tun? Ich bin doch ihr Vater? Ich muss ihr doch helfen!“ Seine Fragen klangen verzweifelt.

„Du kannst ihr wahrscheinlich nicht helfen. Nach all den Jahren, in denen du keinen Kontakt zu deinen Kindern hattest! Wieso wird der Stiefvater nicht festgenommen, wenn er sich an ihr vergangen hat? Desiree ist doch noch ein Kind!“

Robert antwortet bereits nüchtern die Situation abwägend. Wie ein unbeteiligter Außenstehender eben. Nicht wie ein Bruder. Realistisch, kühl und distanziert. Für Günther in seiner Situation keinerlei Hilfe.

Was war nur geschehen, dass wir uns so weit voneinander entfernt hatten? fragt sich Robert in diesem Moment.

Ebenso sachlich, so wie ihr Verhältnis mittlerweile geworden war, antwortet Günther: „Angeblich hat der freiwillig eine Therapie begonnen. Dann liegt es im Ermessen des Jugendamtes, ob Anklage erhoben wird.“

Wahrscheinlich ist Günther in diesem Moment bereits bewusst, dass es ein Fehler war bei Robert anzurufen.

„Kann es denn sein, dass der ihr schon damals etwas angetan hat, als du verdächtigt und verurteilt wurdest?“

Roberts heimliche, schon damals gehegte Befürchtungen scheinen mit einem Mal der Wahrheit nahe zu kommen.

Günther murmelt eine Antwort, die Robert nicht versteht.

Robert empfiehlt ihm noch, einen befreundeten Rechtsanwalt in dieser Angelegenheit zu befragen und beendet das Gespräch zügig. Einfach nur störend diese Anrufe, denkt er.

Bereits mit dem Auflegen des Telefonhörers verschiebt Robert jeden weiteren Gedanken daran, wie schlecht es seinem Bruder jetzt geht und wie hilflos er vor dieser Angelegenheit steht. Jeden Gedanken daran bloß weg aus dem Kopf. Weg geschoben zu dem anderen unerledigten Gedankenmüll. In einen Bezirk des Gehirns eben, wohin man Probleme aussortieren und von Problemen des Alltags getrennt irgendwie gespeichert begraben kann.

Nur leider verharren diese Probleme nicht auf Ewigkeit an dieser Stelle: Sie kriechen hervor im falschen Augenblick, sie verdrehen, verändern, verselbständigen sich und nehmen Einfluss auf Träume, Gedanken und Handeln, einmal losgelassen aus ihren dunklen Höhlen und Verstecken, in denen sie sich krakengleich festklammern.

Ihm fällt noch ein, dass Peter und er ja von ihrem Vater als richtige Kressebruchs bezeichnet worden waren, Günther dagegen wurde als typischer Altmann bezeichnet, also als einer, der mehr nach den Vorfahren der Mutter geraten war. Und das war in dieser Familie irgendwann fast ein Schimpfwort.

Stablack, 19.11.1942

Mein allerliebstes Frauchen!

Hoffentlich erschreckt es Dich nicht sehr, daß ich hier aus Stablack mit Bleistift schreibe. Es ist aber nichts daran zu ändern. Das, was ich in bangen Stunden vermutet hatte, ist nun eingetreten.

Dieser ist also der letzte Brief, den ich Dir aus Stablack schreibe. Heute Morgen bekam ich Bescheid, daß das OKH. mich und noch verschiedene Kameraden mit sofortiger Wirkung zur Führerreserve Nordfront versetzt hat.

Ich habe dann meine Adjutantengeschäfte noch abgewickelt und habe angefangen, meine Sachen zu packen. Dem Oberst tat es sehr leid, daß ich gehen muss, gerne hätte er mich behalten. Aber ich bin KV. und darum muss ich wieder zur Front.

Vollständig niedergeschlagen bin ich nun und kann mir vorstellen, daß Du nicht minder enttäuscht bist als ich. Nun können wir unsere Hochzeit noch weiter hinausschieben. Wer weiß, wie lange. Oh, ich bin unglücklich, nicht ob der Tatsache, daß ich nun zum zweiten Winter nach Russland komme, nein, damit musste ich ja als junger Offizier rechnen, aber daß wir nicht haben heiraten können, das liegt mir so schwer am Herzen.

Nun bin ich wahrlich nicht aus der Welt, das bei Leibe nicht, aber wir werden uns jetzt wieder daran gewöhnen müssen, daß die Post nicht 2 oder 3 Tage läuft, sondern 2 bis 3 Wochen, daß ich nicht mehr in Deutschland bin, oder wenigstens nicht mehr, wenn Dich dieser Brief erreicht. Es ist nun mal Soldatenlos und es tut mir leid, daß ich Dir dieses und nicht den Termin unserer Hochzeit habe mitteilen können.

Und doch wollen wir stark bleiben. Ich werde nun in nächster Zeit an der Nordfront aufkreuzen, zunächst komme ich nach Petseri, dem Sammelort der Offiziere. Dort werde ich einige Tage in Reserve bleiben, wie lange, kann ich Dir noch nicht sagen. Ich denke, Weihnachten noch dort zu sein, aber das

richtet sich ganz nach den Anforderungen der Front. Schreiben kannst Du mir ja vorläufig auch nicht, aber ich werde Dir unterwegs bis zum Bestimmungsort unregelmäßige Grüße und Küsse zukommen lassen. Halte Dich tapfer, ich werde es bestimmt auch tun. Heute Abend bekam ich Deinen Brief vom 16.11. Ich bin ganz sprachlos, daß Du 5 Tage ganz ohne Post gewesen bist. Ich habe wenigstens jeden 2. Tag geschrieben. Die Post ist auch regelmäßig abgegangen. Ich will doch stark hoffen, daß Du inzwischen Nachricht von mir hast. Es tut mir ja immer so weh, wenn ich lese, daß Du in banger Sorge um mich bist. Vorläufig ist es noch nicht nötig. Ich kann ja noch nichts über die Zukunft sagen, aber ich habe immer Glück gehabt, so wird auch Gott mir beistehen.

Mama und Papa, überhaupt ihr alle zu Hause werdet doch ziemlich platt sein, genau wie ich, Dein Egon. Morgen fahre ich nach Sensburg und übermorgen gleich wieder über Königsberg, Riga nach Osten. Zu welcher Division Ich komme, weiß ich noch nicht, aber das werde ich schon bald gewahr werden. Meinen Füller hatte ich heute Abend auf dem Büro liegen gelassen, den muß ich morgen früh noch holen.

Ich wollte, ich hätte erst mal wieder meine feste Stelle und meine neue Feldpostnummer, damit ich wieder laufend Post von Dir bekommen kann. Vielleicht bekomme ich morgen noch einen netten Brief, der dann vorläufig der letzte ist. Sei also bitte nicht allzu traurig, wir hoffen weiter auf den nächsten Urlaub.

Ich grüße Dich recht innig und küsse Dich tausendmal, Dein Egon.

Viele Grüße an Mutter, Vater, Hilde und Liesel.

Sensburg, 22.11.1942

Mein allerliebstes Frauchen!

Ich bin abmarschbereit und schreibe Dir nun den versprochenen Sonntagsbrief aus Sensburg.

Um 17:53 fährt mein Zug von hier nach Königsberg. Wann ich von dort weiter fahre, weiß ich noch nicht, aber zum Osten gehen ja alle Augenblicke Züge, da kommt man schon weiter. Für 5 Tage habe ich Marschverpflegung erhalten, verhungern werde ich also auch nicht.

Ich sitze nun bei einem Kameraden auf der Stube, der auch heute Abend mit mir fährt. Der war in Dortmund in Urlaub und ist telegraphisch zurückgerufen worden. Der wollte auch noch heiraten, bevor es wieder zum Osten ging.

Nun sind wir also Leidensgenossen in seelischer Beziehung. Hoffentlich bleiben wir auch bei der Feldeinheit in der gleichen Einheit, dann hat man wenigstens etwas Heimat bei sich.

Gestern bekam ich eine auszugsweise Beförderungsverfügung von Coesfeld geschickt. Danach bin ich dem Friedenstruppenteil des Inf. Regt. 58 zugeteilt. Nun kann mir hier niemand sagen, wo das Regiment beheimatet ist.

Das muss in Münster oder sonst da in der Nähe liegen. Vielleicht kannst Du Dich mal danach erkundigen und es mir schreiben. Dann werde ich meine Versetzung dahin beantragen, damit ich mal endlich eine Garnisonstadt habe, die nahe bei der Heimat liegt. Wenn ich dann dort auch noch 3 Jahre Soldat bin, dann langt es mir für mein Leben!!

In diesem Ort meines Friedenstruppenteils werde ich dann später auch meine Übungen machen, von denen ich schon mal mit Dir sprach.

Du wolltest dann für die Zeit ins Bad fahren, wenn ich mich recht erinnere.

Nun kannst Du, da ich in den ersten Wochen doch noch nicht in Urlaub komme, ja mit aller Ruhe Deine Sachen fertig machen zur Hochzeit, die dann doch endlich wohl 1943 stattfinden wird. Schade, schade, ich wäre so gern als Verheirateter wieder hinausgezogen, vielleicht mit dem wonnigen Bewusstsein, zu Hause eine hoffende und erwartende Frau zu haben. Dein größter Wunsch war, wie ich es aus Deinen Briefen in Vorjahr schließe, mein größtes Verlangen ist es geblieben und wird es immer sein, genau wie das Deine, bald Kinder zu bekommen. Es ist ja nur so unendlich traurig, daß wir beide so alt dabei werden. Nun haben wir ja die eine Gewissheit, daß im nächsten Urlaub geheiratet wird. Es ist mir selbst, obschon ich persönlich nicht einen Punkt daran ändern kann, nicht mehr gut genug Dir, meiner liebsten Marie, gegenüber, weil Du doch aus Liebe zu mir auf alles andere freiwillig verzichten musst und auch freiwillig verzichtest.

Ach käme doch einmal die Zeit, wo ich Dir dieses alles wieder gut machen kann. Zu unserem dann kommenden Familienglück gebrauchen wir dann sicherlich nichts anderes mehr. Wir wollen also weiter hoffen und weiter sehnen, einmal kommt der Tag, an dem uns keiner mehr voneinander trennt.

Ich werde nun Dir laufend von der Fahrt schreiben, damit Du jeweils unterrichtet bist, wo ich in der Welt umherschwirre. Ich umarme Dich nun zärtlich, grüße Dich mit recht innigen Küssen und bin auf ewig Dein Egon.

September 1991

„Ja, so is´ es nun mal!“

Robert hätte seine Mutter ein wenig emotionaler, ein wenig empathischer begrüßen können, als er an diesem Septemberabend nach Hause kommt. Etwas mehr der Situation angepasst, in der sie sich gerade befinden. Immerhin ist heute sein Vater verstorben. Der Mann, mit dem seine Mutter fast 50 Jahre verheiratet war.

Doch Robert hat sich schon längst eine realistische Einstellung zu Abschied, Tod und Sterben angewöhnt. Glaubt er jedenfalls.

Hatte sein Vater mit seiner Geschichte nicht lange genug gelebt?

Er war ja immerhin fast 77 Jahre alt geworden. Schließlich hatte er den Weltkrieg in vorderster Front überlebt. Zwei Russlandfeldzüge und anschließend vier lange Jahre russische Kriegsgefangenschaft inklusive.

Ein Mann, der nie auch nur ein Wort über seine Kriegserlebnisse und die in vielen Jahren erlittenen Traumatisierungen gesprochen hat. Der diese sicher mehr passiv als aktiv verdrängt hatte, verdrängen musste, um überhaupt weiterleben zu können. Trotz allem später beruflich sehr erfolgreich, sehr kommunikativ, lange Zeit von vielen geachtet.

Ausgestattet mit einer Affenliebe für seine Kinder, was ihn letztlich in den psychischen und fast auch materiellen Ruin führte. Ein Mann, der mit seiner Ehefrau, die jetzt so um ihn trauerte, Jahr zehnte lang nur in einer merkwürdigen Art von Hassliebe verbunden war. Der schließlich mehrere Jahre lang an diversen Erkrankungen bis hin zum Lungenkrebs litt. Der gezeichnet war von einem Leben, das ganz anders hätte verlaufen können, wenn nur an irgendeiner Kreuzung ein anderer Weg eingeschlagen worden wäre. Möglichkeiten dazu hatte es wie in vielen anderen Lebensläufen auch reichlich gegeben.

Und so kam es, dass Robert nach seinem Ableben regelrecht wütend ist. Wütend, weil sein Vater eben nicht irgendwann einmal eine andere Richtung eingeschlagen hatte. Ein wie auch immer gearteter anderer Weg hätte sich für diese Familie auf jeden Fall positiv ausgewirkt. Jeder andere Weg! Vielleicht ein Weg der Offenheit, der Anerkennung, ein Weg der Konsequenz, der Empathie allen Familienmitgliedern gegenüber?

Robert nimmt seine Mutter in den Arm. Die Nähe ist ihm nicht gerade angenehm. Er hatte es eben nicht gelernt, Nähe oder Bedürfnis nach Nähe zu zeigen. Von ihr war auch selten warmherzige Nähe ausgegangen, so dass ihm heute schon eine einfache Umarmung schwerfällt. Irgendwo auf ihrem Lebensweg hatte auch sie ihre Herzlichkeit verloren oder vielleicht nur vor sich und anderen verstecken müssen.

Sie jammert. Immer wieder wiederholt sie: „Jetzt ist er tot. Wir können nichts mehr für ihn tun!“

Dabei hatte gerade sie mehr als genug für ihn getan! Gerade sie hatte unter ihm gelitten, mehr als auf die berühmte Kuhhaut geht?

Er wird 4 Tage später beerdigt. Viele Menschen geben ihm die letzte Ehre. Manche trauern.

Eine Woche später feiert Robert seinen vierzigsten Geburtstag.

Die Feier abzusagen angesichts des Todesfalls hält er nicht für notwendig. Er ist ja schließlich Realist, der sich von unausweichlichen Todesfällen nicht beeinflussen lässt. Selbst vom Tod des eigenen Vaters nicht. Dabei fühlt er sich stark und glaubt sogar, dass andere ihn ob dieser Haltung bewundern müssten.

Im Osten, 19.10.1943

Mein allerliebstes Frauchen!

Da fängt doch tatsächlich mein Federhalter an zu streiken, denn die Tinte ist alle. Morgen werde ich mir wieder welche vorkommen lassen. Du wirst also nichts dagegen haben, wenn ich mit diesem Bleistift weiter schreibe. Heute Abend bekam ich Dein Päckchen mit den Socken und den Äpfeln. Das Obst war ja noch ausgezeichnet, die Äpfel schmecken tadellos.

Habe recht vielen Dank dafür. Ich war ja schon schonend darauf vorbereitet, daß Du aus Zeitmangel keinen Brief zulegen konntest. Es lässt sich nicht immer so machen wie man gern möchte.

Heute war mal wieder so ein verrückter Tag.

Der Betrieb riss vom frühen Morgen bis zum späten Abend nicht ab. Ich bin mal gespannt, wie oft ich nun noch unterbrochen werde. Aber

die heutige Plauderei per Brief mit dir wird beendet, ganz gleich, wie spät es noch werden wird.

Ich bin mit meinen Gedanken nach meinem gestrigen Brief schon oft wieder bei Dir gewesen. Ich denke nun besonders viel an unsere Wohnung, die du also in den nächsten Tagen übernehmen wirst. Ich wäre ja so gern dabei, wenn alles ausgepackt und aufgestellt wird.

Aber ich setze mich nach meiner Rückkehr auch gern ins fertige Nest.

Du bist ja mit Arbeit reichlich überlaufen, denn ich kann mir vorstellen, daß Du noch manchmal in Essen weite Wege laufen musst, ehe alles fertig ist. Aber die Zeit eilt ja auch nicht.

Papa wird Dir ja nach seinen besten Kräften helfen und die Kisten werden mit einem Wagen hingebracht. Hoffentlich geht bei dem Transport nichts von dem entzwei, was wir uns so „zusammengeschachert“ haben.

Du musst auch mal mit Papa wegen eines Herrenzimmers sprechen. Das kann er Hölscher am besten beibringen. Es fehlen nur ein Bücherschrank und ein Schreibtisch.

Dann gebrauchen wir vorläufig nichts mehr und könnten unsere Wohnung herrlich einrichten. Küche, Schlafzimmer, Herrenzimmer.

Ich weiß nicht genau, ob noch ein viertes Zimmer vorhanden ist. Dann machen wir daraus einfach ein Fremdenzimmer mit einem Bett bei uns vom Balken und einer Wäschetruhe!! Dann wäre ja alles bestens. Die Badewanne wird ja wohl im Badezimmer stehen geblieben sein, denn sonst müssten wir eine Waschschüssel aufstellen!!! Du kannst also mal sehen, wie sehr sich meine Gedanken mit unserer Wohnung beschäftigen.

Dabei möchte ich Dich, meinen Liebling, für den ich ja dieses in erster Linie mache, nicht vernachlässigen. Oh nein. Ich bin ja derart glücklich, daß es geklappt hat, auch wenn wir dort die ersten 6 Wochen noch nicht gemeinsam leben und wirtschaften können. Aber die Zeit kommt bald wieder. Dann werden die Nachbarn wohl aufpassen, wie lange täglich die Blendläden vor den Fenstern zu bleiben, weil wir die Zeit ganz intensiv miteinander im Bett verbringen werden. Ich nehme an, Liebling, daß es Dir noch genauso gut geht wie mir und bin mit vielen Grüßen und Küssen Dein Egon.

Im Osten, 21.10.1943

Mein allerliebstes Frauchen!

Für heute nur einen kurzen Gruß, der Dir zeigen soll, daß es mir noch ausgezeichnet geht.

Nur über Arbeitsmangel kann ich nicht klagen, aber zu dem Punkt kennst Du ja meine Einstellung, lieber viel Arbeit und zufrieden sein, als sich mit Langeweile zu plagen.