Abgestoßen - Donna Wildfeuer - E-Book

Abgestoßen E-Book

Donna Wildfeuer

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ich liebte sie. Sie war alles für mich. Doch sie wies mich ab und ließ mich allein zurück. Bereit, alles für sie zu opfern, wurde ich von ihr zerstört. Sie hinterließ tiefe Wunden in mir, die ich für geheilt hielt – bis ich ihn traf. Er öffnete mir die Augen für die Schmerzen, die mein Leben und mein Verhalten bestimmten. Ich fühlte mich wertlos und suchte verzweifelt nach Anerkennung, was mich in die Prostitution trieb. Auf der Suche nach mir selbst verlor ich mich immer mehr, bis er alle alten Wunden aufriss und den Schmerz freisetzte. Ich fühlte mich leer und verloren. Ich dachte, ich sei in einer glücklichen Kindheit aufgewachsen, erinnerte mich an die guten Zeiten und malte mir die weniger schönen bunt aus. Doch ich wurde von Sinnlosigkeit und schweren Depressionen geplagt, von Krankheiten und endlosen Arztbesuchen. Niemand konnte mir helfen, und ich selbst wusste auch nicht weiter. Ich vegetierte dahin, bis ich in eine toxische Beziehung geriet, die all meine verdrängten Gefühle ans Licht brachte. Ich sank immer tiefer, bis ein entscheidender Schlag mich wachrüttelte und mir zeigte, wo ich stand – und dass ich mich selbst retten musste.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Abgestoßen

Donna Wildfeuer

 

Dieses Buch beruht auf wahren Begebenheiten. Um die Privatsphäre der betroffenen Personen zu schützen, wurden alle Namen und einige identifizierende Details geändert. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen, die nicht ausdrücklich erwähnt werden, ist rein zufällig.

 

 

Impressum:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Veröffentlicht bei Infinity Gaze Studios AB

1. Auflage

Mai 2024

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2024 Infinity Gaze Studios

Texte: © Copyright by Donna Wildfeuer

Lektorat: Barbara Madeddu

Cover & Buchsatz: Valmontbooks

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung von Infinity Gaze Studios AB unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.

Infinity Gaze Studios AB

Södra Vägen 37

829 60 Gnarp

Schweden

www.infinitygaze.com

 

Vorwort

 

Ich habe in diesem Buch das verarbeitet, was ich in meinem Leben durchlebt habe. Meine tiefsten Punkte werden durchleuchtet. Hoffnungslosigkeit, Ängste, durch was ich mich durchkämpfen musste und mich auch durchgekämpft habe. Es mag an gewissen Teilen sehr düster wirken. Es zieht einen runter. Das alles habe ich durchlebt, ich war dort. Es sind tiefe Einblicke in meine Seele, Empfindungen und Gedanken. Ich erzähle, wie ich mich wieder davon befreien konnte, wie ich aus diesen hoffnungslosen Zeiten wieder herauskam und dass ich immer wieder aufgestanden bin und weiter gemacht habe. Oder mir es nicht eingestehen wollte, dass ich gefallen war und mich auf die „Starke“ verstellt habe, mich selbst ignoriert, meine Bedürfnisse und Gefühle von mir gewiesen habe.

Die Ereignisse, die ich schildere, welche ich durchlebt habe, wie ich sie empfunden habe, beruhen auf meinen persönlichen Empfindungen. Ich schrieb dieses Buch aus meinem persönlichen Blickwinkel, was die Beziehungen und Begegnungen anderer betrifft und meine Empfindungen dabei. Ich möchte nicht, dass in diesem Buch andere Menschen, die mir begegnet sind, als schlecht dastehen, schlecht geredet werden und ich entschuldige mich dafür, wenn dies so rüberkommen sollte. Es sind alles wundervolle Menschen, die ihren Weg gehen und versuchen, das Beste zu machen, für sich selbst zu handeln, nach bestem Wissen und Gewissen. Jeder hat seine Erfahrungen gemacht im Leben, jeder kämpft mit seinen Verletzungen, Themen und Ängsten. In Beziehungen, egal welcher Art, werden diese hervorgehoben, zwei Persönlichkeiten treffen aufeinander und müssen lernen, wie sie damit umgehen. Andere Menschen sind meistens das Spiegelbild eines Selbst.

Ich bin auf Personen gestoßen, die in mir Themen hochgeholt haben, welche ich zu verdrängen versuchte, es aber wichtig war, mich mit diesen Themen zu konfrontieren. Ich konnte nicht weglaufen, ich habe gemerkt, wie sehr mir dies schadet und mich immer wieder einholt. Ich bin den Personen sehr dankbar, dass ich ihnen begegnen durfte, durch welche ich so viel lernen durfte. Mein besonderer Dank geht hierbei an Kevin, welcher mich so vieles gelehrt hat über mich selbst, wie ich ticke, wo meine verborgensten Themen liegen, wovor ich weggerannt bin. Ich bin mit ihm durch eine schwere Zeit gegangen, ich bin hart auf mich selbst gestoßen und musste lernen, mit mir umzugehen. Mit meinen Ängsten und Verletzungen. Er war immer für mich da, hielt mich, wenn ich es brauchte und zulassen konnte. Er hatte Geduld mit mir und stand an meiner Seite. Auch er hatte mit vielen Themen zu kämpfen, wir versuchten uns gegenseitig immer zu unterstützen, zusammen zu kämpfen.

Danke, dass du immer hinter mir standest und mich unterstützt hast, wenn ich um deine Hilfe gebeten habe. Mein Dank geht auch an meine große Schwester Joreen, die mich zu dem gemacht hat, die ich bin. Es hat alles seinen Sinn und Zweck im Leben. Sie hat mich geprägt, durch sie durfte ich die Schattenseiten des Lebens kennenlernen, konnte dadurch tiefe Kreativität lernen und Talente entwickeln. Die Welt, in die sie mich geführt hat, in die ich ihr so gern gefolgt bin, hat mich gelehrt, das zu schätzen, was ich sonst nicht hätte schätzen können. Es hatte den Eindruck ich würde mich in dieser Welt verlaufen. In diesem Buch habe ich das alles verarbeitet, habe meinen Weg beschrieben, wie tief ich gefallen bin und wie ich es geschafft habe, dort wieder hinaus zu klettern. Ich bin für jeden einzelnen Menschen, den ich im Leben kennenlernen durfte, sehr dankbar. Danke, dass es euch gibt und danke, dass ihr Lehrer über mich selbst, für mich selbst wart, an welchen ich wachsen durfte, an welchen ich weiterkommen durfte. Mein Dank geht auch besonders an meine Familie, mit der ich schwierige Zeiten durchlebt habe, welche irgendwo daran zerbrochen ist, aber immer zu mir steht, hinter mir steht, mich unterstützt.

Ich kann mich immer auf euch verlassen, ihr gebt mir Rückhalt. Ein riesiger Dank geht an meine kleine Schwester Karina, welche mich mit ihrer sonnigen, lebensfrohen Art oft einnimmt, mir Leichtigkeit und Freude schenkt. Es ist immer eine Freude sie zu treffen. Ich nehme Sie, liebe Leser, liebe Leserin nun mit in mein Leben, wie ich es durchlebt habe, wie ich versucht habe aus den gegebenen Situationen das Beste zu machen, Sie werden mitgenommen in die Zeit wo ich mich verloren habe und wie ich es immer wieder geschafft habe weiter zu machen, weiter zu kommen. Ich danke Ihnen für ihre Zeit in welcher Sie mich begleiten werden das alles zu verarbeiten.

Es tut mir leid, wie ich mich verhalte, wie ich mich innerlich spalte, kenne kein Vor und kein Zurück, bin nicht ganz, bin klein gestückelt. Ich habe mich verlaufen, bin dabei mich zu verkaufen, mach Verträge mit der dunklen Gestalt bis ich hinabgleite in den feurigen Spalt. Kann mich selbst nicht mehr greifen, lass meine Erfüllung schleifen, vergehe auf den Wegen, nehme mir die Luft zum Leben. Ich wandle durch die Menschenwelten, ohne selbst als etwas zu gelten. Ich gebe mich auf, die Verwesung nimmt ihren Lauf, werde allein zurückbleiben, brauch gar kein Testament schreiben. Ich habe nichts, da ich nichts bin, hatte gesucht nach einem Sinn, hab mich selbst vergessen, war von Vorstellungen zu versessen. Konnte und wollte nichts anderes mehr sehen und so wird mein Traum mit mir gehen. Ich habe es mir selbst zuzuschreiben, habe mich daran gehindert zu bleiben. Wo hätte ich sein sollen, düster durchs Leben trollen? Da mach ich lieber mit mir selbst Schluss, bekomme keinen Abschiedskuss, zu wenig habe ich irgendwas verdient, habe der Dunkelheit gedient. Ich habe sie gefüttert mit meinem zugeführten Leid, wodurch ich in qualvollen Situationen bleib, Situationen, welche ich mir selbst erschaffe, um daran leer zu erschlaffen. Nichts bleibt von mir bestehen, wird leise im Wind zergehen, bis man vergessen hat dass es mich mal gab, sieht man jetzt nur noch an meinem Grab. Dass ich mir dieses selbst geschaufelt habe erzählt euch der Todesverkündende Rabe, welchen ihr nicht zu lauschen fähig seid, euch lieber verbringt im Streit, gegenseitig die Schuld zuschiebt, man hätte mich nicht genug geliebt.

Aber ich bin an mir selbst zugrunde gegangen, hatte ein unstillbares Verlangen, die dunklen Welten kennen zu lernen bis ich mich selbst habe lassen entfernen. Die Person, welcher ich am meisten innigst vertraut habe, hat sich gegen mich verschworen und mich verraten. Nah ist sie hier, doch nicht nah bei mir. Sie steht in meiner Nähe, doch nicht nah bei mir. Ich liebte sie immer. Dachte, wir stünden uns für immer nahe, egal wie weit weg wir voneinander sind. Wir besaßen das gleiche Leben, ich lebte ihr Leben, war mit ihr, bin ihr immer gefolgt, war bei ihr, in Liebe, in Vertrautheit, in Angst sie zu verlieren. Und dann einfach das. Geht sie einfach so. Hat mich die ganze Zeit ausgenutzt. Wusste, dass ich hinter ihr bin, sie verfolge. Hat mich so weit hineingeführt. In die Falle. Ich war blind. Dachte, sie sei blind, bemerkte mich nicht, wollte ihr einfach Unterstützung geben, innerlich, liebende. Und dann, diese Falle! Sie wusste es. Lockte mich mit Absicht hier hinein. Mich. Damit sie verschwinden kann. Während ich hinter den Gitterstäben hänge. Sie nicht mehr verfolgen kann. Sie ihr verlogenes Leben leben kann. Ich stehe hier, schrei nach ihr, will ihr wieder vertrauen, will mit ihr gemeinsam gehen. Bin hier, hinter ihren aufgebauten Gitterstäben, in ihrem Käfig. Und zu fett, als dass ich hindurch passen könnte. Genau in dieser Situation hat sie zugeschnappt. Die Falle sinken lassen. Genau dann, als ich mein Traumleben nach außen führen wollte. Nicht mehr hinter dieser Maske leben. Mein Leben leben. In einer Welt des Verderbens. In der Welt meines Hasses. In der Welt ihrer Liebe. In der Welt unseres Jenseits. Gib mir deine Hand, du wusstest, ich verfolge dich. Hast mich hierhergelockt. Mein Vertrauen ausgenutzt, um von dir abzulenken, dass du gehen kannst, mich hier in deiner Falle lassend. Nun stehe ich hier, schrei nach dir, ohne zu wissen, wohin du gegangen bist. Bist du weit fort? Warst du schon immer so weit weg? Bist du erreichbar? Ich hasse dich dafür. Stehe hier, schrei dir nach. Nach wahrer Liebe, nach wahrem Vertrauen. Nach dir. Nach dir, meine Liebe.

 

 

 

Erster Teil

 

Kapitel 1

 

Familie und aufgewachsen

 

Ich habe eine Schwester. Eigentlich habe ich drei, aber die eine ist tot und die andere hat mich nicht so nachhaltig geprägt wie die Erste. Meine ältere Schwester, Joreen. Mein Lichtblick in meinem Leben, das zur Dunkelheit und zum Schatten wurde. Ob allerdings ich der Schatten war oder sie, kann ich nicht so recht sagen. Ich folgte ihr überall hin, ich war überall bei ihr. Wir teilten alles. Wir waren ein Herz und eine Seele. Wir waren eine Einheit. Bis sie mich verließ und zunichte machte. Heute noch schleppe ich meine Verhaltensmuster in Beziehungen durch mein Leben, welche ich mir damals als Überlebensstrategie angeeignet hatte. Um die ganze Sache zu überstehen. Ich lernte Mauern zu bauen und ich lernte, wie man fällt, ohne dabei einen Ton von sich zu geben. Still und stumm lernte ich eine Fassade aufrecht zu erhalten, während alles in mir kaputt ging. Aber ich funktionierte. So, wie es die Gesellschaft erwartete. So, wie es meine Eltern erwarteten. Ich spielte ein Leben, das nicht meines war. Ich spielte Stärke, während ich mich innerlich schwach fühlte. Ich spielte Durchhaltevermögen, während ich hilflos war. Ich spielte bei einer Familie mit, während wir alle voneinander getrennt waren. Und doch alle so miteinander verstrickt und verbunden, dass wir uns alle gegenseitig nicht gut taten. Und wir wussten auch nicht, wie wir das alles sonst handhaben sollten. Wir alle wussten nicht weiter und jeder versuchte so zu tun, als ob. Keiner wusste so richtig, was zu tun war. Und so trieben wir umher, jeder für sich selbst gefangen.

Geleitet von meiner dunklen Schwester. Welche auch nur hilflos war. Und uns alle damit zerstörte. Jeden auf seine eigene Art und Weise. Vielleicht holte sie auch nur das hervor, wovon meine Eltern schon vorher davonrennen wollten. Vielleicht zeigte sie, wo der Fehler lag. Und man wollte nicht hinsehen, wollte es nicht wahrhaben. Die schöne Fassade sollte nicht bröckeln. Wir sollten eine schöne Familie bleiben, das typische Gold was glänzt. Ich glaubte diese Lüge, für mich war es damals keine. Ich hatte die schönste Kindheit, wie man sie nur haben konnte. In meinen Augen war sie wunderschön und perfekt. Bis meine Schwester anfing alles durcheinander zu bringen. Sie riss mich aus meiner schönen Kindheit und ich musste plötzlich stark werden. Sie holte ein Trauma in mir hervor, welches tief in mir verborgen war.

Mein Weg war nicht immer einfach, aber durch ihn durfte ich all das lernen, wovon ich heute profitiere, was mir bei meiner persönlichen Transformation geholfen hat. Ich war tief in der Dunkelheit, sah alles nur noch schwarz. Ich verirrte mich dort drin und musste erst wieder lernen, das Licht zu sehen. Das Licht in mir zu finden. Das Licht strahlen lassen und mir Heilung bringen. Es war nicht einfach für mich, dieses Licht zu finden, da ich mich sehr tief in die Dunkelheit begeben hatte. Ich lernte, Zeichen zu deuten, die mir das Universum geschickt hat. Ich lernte, diese anzunehmen und umzusetzen. Ich lernte wieder Vertrauen ins Leben zu finden, fand wieder Sinn in meinem Sein. Es war nicht einfach, wieder aus meinem Grab zu klettern, aber schließlich schaffte ich es. Und im Nachhinein bin ich dankbar für all die Erfahrungen, die ich dadurch haben konnte. Ich konnte das Licht und Glück nicht als solches erkennen, bevor ich gelernt hatte, was es bedeutet zu fallen, wie sich die Dunkelheit anfühlt. Also fiel ich. Und lernte wieder aufzustehen, egal, wie sehr mich der Sumpf versuchte, runter zu ziehen. Ich fiel mit und für meine Schwester und für mich lernte ich wieder aufzustehen. Um das Wunder des Lebens zu erkennen.

Schon bevor ich auf die Welt kam, erlebte ich einen schmerzhaften Verlust, der mich prägte. Ich startete im Mutterleib mit meiner Zwillingsschwester, die dann aber starb und die restlichen Monate noch mit mir umher schwamm. Tod lag sie mit mir in meiner Mutter und ich fürchtete mich davor, sie zu berühren. Wir starteten gemeinsam, waren uns so nah, so verbunden und dann starb sie und ich dachte, es wäre meine Schuld gewesen. Ich hätte ihr zu viel Platz weggenommen, hätte ihr Essen weggegessen. Damals schon entstanden meine immensen Schuldgefühle anderen gegenüber, meine Schuldgefühle überhaupt am Leben zu sein, andere zu belasten, ein Problem zu sein.

Ich hatte Angst erwischt zu werden, dass ich überhaupt nicht leben durfte, dass es ein Irrtum war, dass ich auf die Welt gekommen bin, da es meine Zwillingsschwester auch nicht geschafft hatte. Was mir das Recht dazu gab, mich ohne sie raus gewagt zu haben. Ich hatte Angst, entlarvt zu werden, dass ich meine eigene Schwester getötet hatte indem ich ihr das Leben nahm durch meine Anwesenheit und meine Bedürfnisse. Ich hatte immer Angst, es würde irgendwann rauskommen, dass ich dafür verantwortlich war. Ich konnte mich als Kind schon nicht richtig öffnen, Nähe konnte ich nur mit bestimmten Personen zulassen und ich machte sehr vieles mit mir aus, sprach nicht mit meinen Eltern oder Freunden darüber, was mich bedrückte. Ich saß in der Krabbelgruppe in der Ecke und beobachtete andere Kinder, wie sie spielten, deren Sozialverhalten und lernte dadurch extrem viel über die Psychologie der Menschen, deren Verhaltensmuster, warum und wie ich das alles deuten konnte. So bekam ich ein extremes Feingefühl im Umgang mit Menschen, konnte mich allgemein sehr gut in diese hinein fühlen und wahrnehmen, was sie fühlten.

Eine Diagnose zum Autismus wurde immer wieder angeschlagen, aber das wollte meine Mutter nicht hören, sie wollte eine normale Familie haben ohne Probleme. Ich trug eine Last mit mir herum, fühlte mich schuldig, nicht liebenswert, nicht dazu bemächtigt zu leben. Ich hatte das Gefühl, jemandem den Platz weggenommen zu haben, verdrängt zu haben, verantwortlich dafür zu sein, dass sie es nicht geschafft hatte. Ich vermisste sie und suchte einen Ersatz für sie und meine große Schwester Joreen gab mir diesen, wir wurden eine sehr starke Einheit, sie war alles für mich. Bis sie das Trauma aus dem Mutterleib wieder in mir hervorholte und verschlimmerte und mich richtig tief hineindrückte. Ich wuchs mit meinen beiden Schwestern, die drei Jahre ältere Joreen und der fünf Jahre jüngeren Karina, in einem schönen Häuschen in einer Siedlung mit unserer Mutter und Vater auf. Wir bauten dieses Haus, als ich drei Jahre alt war, und zogen dann dort für zehn Jahre ein. Besser hätte es für uns Kinder gar nicht passen können, wenn es auch für meinen Vater zu normal war. Er war schon immer eher ein Rebell, ein freiheitsliebender Mensch. Da war die Siedlung, in welcher jeder das gleiche Haus baute und ein normal bürgerliches Leben lebte, nichts für ihn. Aber er fügte sich meiner Mutter und seinen Schwiegereltern, welche sehr konservativ waren. Zum Glück, denn dort konnten wir eine wunderschöne Kindheit genießen. Unsere Mutter musste nur die Tür aufmachen und uns rausschicken und schon hatten wir Spaß mit Gleichaltrigen. Die ganze Siedlung war voller Kinder. Ich war am liebsten im Wald unterwegs, ich war schon immer der Natur und den Tieren sehr verbunden. Ich brauchte nicht viele Freundinnen, mir reichten ein paar wenige, dafür aber gute. Im Winter waren wir Schlittenfahren und haben im Schnee getobt, im Sommer waren wir viel im Wald unterwegs, haben Spiele in der Siedlung gemacht und kindliche Abenteuer erlebt. Ich selbst würde mich als ein glückliches, frohes Kind bezeichnen, kess, aber auch sehr in sich gekehrt, nachdenklich und ich hinterfragte sehr vieles, was nicht viele Kinder taten. Ich fühlte mich nie ganz dazugehörig, auch wenn ich nie ausgeschlossen wurde, im Gegenteil, ich wurde gemocht und mit mir wurde gerne etwas ausgemacht, ich war beliebt.

Mein Vater war oft in der Arbeit unterwegs, auch mal über Nacht. Er war so ein typischer Arbeiter, von morgens bis abends unterwegs und am Wochenende daheim. Er hatte auch immer tolle Ideen, was wir unternehmen könnten, war aber auch recht faul und lag gerne einfach mal rum. Er hat sich immer um uns bemüht, wir hatten viel Spaß miteinander. Er hat das Geld verdient, damit unsere Mutter für uns daheimbleiben konnte und sich mit uns beschäftigte. Und das hat sie fabelhaft gemacht.

Sie hat immer versucht, mit uns viele Sachen zu machen. Wir waren sehr regelmäßig im Schwimmbad, sie hat mich einmal die Woche in den Reitunterricht gefahren, wir haben gebastelt, gepuzzelt, gespielt und Ausflüge erlebt. Sie war immer für uns da, sie war für mich das Licht, welches ich erblickte, wenn ich sie suchte. Als ich im Schwimmbad war und sie suchte, sah ich Licht, als ich sie erblickte. Ich wusste, ich konnte mich immer auf sie verlassen, sie wäre da, wenn ich nach Hause kam und mich empfangen hätte. Sie gab mir Vertrauen, Licht, Geborgenheit und Wärme. Sie war für mich die beste Mutter, die ich mir vorstellen konnte. Sie hat geleuchtet, sie war mein sicherer Fels. Ich fühlte mich sicher bei ihr. Sie war immer für ihre Kinder da, blieb für uns daheim, um sich bestmöglich kümmern zu können. Sie erzog uns nach ihren Grundsätzen und Glaubenssätzen, so wie sie es von ihren Eltern gelernt hatte. Sie hinterfragte nicht vieles, tat wie es ihr beigebracht wurde und brachte es auch uns so bei. Ich würde mal behaupten, das ist in den allermeisten Fällen der Kindererziehung so, dass die Eltern vorschreiben und die Kinder müssen es einfach so machen, am besten ohne quengeln und hinterfragen. Es wird absoluter Gehorsam verlangt, wodurch das Kind runterschlucken muss, sich fügen und anpassen, lernen, wie man in der Gesellschaft überlebt, ohne aufzufallen.

Neben meiner Mutter war Joreen der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich konnte nicht ohne sie. Sie war alles für mich. Ich folgte ihr überall hin, ich hatte das Gefühl, ohne sie wäre ich aufgeschmissen. Sie beschützte mich, sorgte sich um mich und passte auf mich auf. Wir hatten eine intensive Verbindung. Wir teilten alles miteinander. Ich ging mit ihr in den Flötenunterricht im Kindergarten, weil ich nicht ohne sie sein konnte. Ich saß dann einfach still da, bis alle fertig waren und danach ging ich mit meiner großen Schwester wieder raus. Hauptsache bei ihr sein. Ich traute mich nichts ohne sie. Ich war schon immer recht zurückhaltend, habe eine Bezugsperson gebraucht, jemand, der mir Sicherheit gab und auf mich aufpasste. Und das waren entweder meine Mutter oder Joreen. Es war für mich schrecklich, als meine große Schwester vom Kindergarten in die Schule kam und ich allein zurückblieb. Unter den ganzen anderen Kindern. Mein Anker war weg, niemand mehr da, auf den ich mich verlassen konnte, der mir half, wenn ich nicht mehr klarkam. Ich fühlte mich aufgeschmissen, war verängstigt, wollte nicht mehr in den Kindergarten. Aber schließlich schaffte ich es mich allein durch zu kämpfen. Das musste ich auch lernen, da Joreen andere Freundinnen auf der Schule fand und sich ihr Leben einfach änderte.

Als ich fünf war, kam Karina auf die Welt. Ich fand das gar nicht gut, Joreen kümmerte sich plötzlich sehr um die neue Schwester. Ich fühlte mich ausgeschlossen. Ich hatte Angst, dass ich nicht mehr genug war, dass mich Joreen verließ, indem sie sich Karina widmete. Ich wollte Joreen für mich alleine, Karina war eine Konkurrentin, welche das Band zwischen mir und Joreen zerstören konnte. Ich fühlte mich nicht mehr gebraucht. Ich war nicht mehr alles für meine große Schwester, weil diese kleine Schwester auf die Welt gekommen war. Und dafür konnte ich sie nicht leiden. Ich wollte diese Karina nicht haben. Sie nahm mir Joreen weg. Dieses kleine Baby nervte mich sehr. Ich arrangierte mich schließlich mit der ganzen Situation, aber zu Karina konnte ich lange keine wirkliche Verbindung aufbauen. Sie war ein kleines, unschuldiges Wesen und wir hätten auch zu dritt gut klarkommen können, eine harmonische Beziehung haben können. Aber ich sah sie als eine Gefahr, die das Band zwischen Joreen und mir durchschneiden könnte, indem sie sich dazwischendrängte.

Als Joreen anfing viel mit ihren Freundinnen unterwegs zu sein, sich langsam, Stück für Stück von der Familie abkapselte und sehr selbstständig war, bekam Karina mehr Wert für mich. Mit ihr konnte man auch langsam etwas anfangen da sie schon kein Baby mehr war. Ich konnte mit ihr spielen und was unternehmen. Sie folgte mir überall hin, ich hatte die Ideen und sie machte einfach mit. Plötzlich war ich die große Schwester, hatte die Macht darüber was geschehen konnte, was wir taten und Karina folgte mir bedingungslos. Und wenn nicht, konnte ich sie so gut manipulieren, das sie mir immer meinen Willen erfüllte und wir spielten und unternahmen das, was ich wollte. Wenn ich sie unter Kontrolle hatte konnte sie mich zumindest nicht verlassen, ihr eigenes Ding machen. Wir hatten sehr viel Spaß miteinander, spielten stundenlang im Schwimmbad miteinander, bauten uns Welten mit Schleichtieren auf. Sie hätte lieber mit Puppen gespielt, aber ich wollte mit Schleichtieren Höfe aufbauen, auf denen ich, wenn ich groß war, leben wollte. Und sie machte mit, da ich nicht mit Puppen spielen wollte. Ich hatte Phasen, in welchen ich Karina abstieß, sie von einem auf den nächsten Tag ignorierte. Da fielen Mauern in mir herab welche mich schützen wollten. Tief innerlich hatte ich Angst davor die nächste Schwester welche mir sehr nahe stand würde sich von mir entfernen und ich stünde wieder alleine da, hätte mein Herz für jemanden geöffnet welcher mich dann verließ. Karina machte dies widerstandslos mit, mein Vater bezeichnete mich in der Zeit als eiskaltes Arschloch. Aber als ich durch diese Zeit gegangen war, sah, dass Karina immer noch da war, konnte ich mich ihr wieder öffnen, sie annehmen und mit ihr dort weitermachen, wo wir aufgehört haben. Wir teilten unsere Kindheit miteinander, erlebten so vieles zusammen und mit unserer Mutter. Wo Joreen zu dem ganzen Zeitpunkt war, wusste ich nicht, sie war immer unterwegs, war in der Pubertät und interessierte sich für andere Dinge.

Es gab immer wieder Stress daheim, mein Vater wollte nicht, dass seine älteste Tochter Interesse für Jungs bekam und verweigerte ihr immer wieder den Ausgang. Meine Mutter fand das gar nicht gut und es gab nun auch zwischen den beiden immer wieder Streit. Sie wollte dass Joreen keine Beschränkungen bekam da sie aus eigener Erfahrung wusste, dann würde man es erst recht machen und zwar heimlich. Sie wollte ein freundschaftliches Verhältnis haben, damit ihre größte Tochter immer Vertrauen hatte, zu ihr kam, wenn es Probleme gab, ihr vieles erzählte. So hätte es sich meine Mutter gewünscht und womöglich auch hinbekommen, aber ihr Mann machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Die beiden fingen an, sich nicht mehr sonderlich gut zu verstehen, vertraten sie doch andere Meinungen und mein Vater war keiner der nachgab, sondern eher dann anfing genau das zu machen, womit man ihn bat, aufzuhören. So wurde das Verhältnis immer angespannter, geladener und Joreen kapselte sich immer mehr ab, machte immer mehr heimlich und erzählte gar nichts mehr. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, wollte nicht, dass es wegen ihr so viel Streit daheim gab. Sie kapselte sich völlig ab, stieß die Familie von sich. Sie verließ mich.

Mit einem harten Knall. Mit einem Erdbeben. Mit Narben in meiner Seele. Narben und Wunden. Wunden, von denen ein paar schon zugeheilt sind. Vernarbt sind. Ihre Spuren hinterlassen haben. Und manch eine Wunde tropft noch, tut weh, reißt immer wieder auf. Sie verließ mich. Und machte mich fertig. Ihre einstige Liebe verwandelte sich in Hass. In Abscheu. Sie machte mich fertig, machte mich nieder. Sie wollte mich von sich fernhalten, damit ich das alles nicht mitbekam, was sie durchmachte. Sie wurde immer dunkler, verhasster. Ich konnte das alles nicht verstehen, fragte mich, wo sie hin gegangen war, wo sie hin wollte. Warum sie mich zurückließ und mich so fertig machte. Sie lud alles auf mir ab, alles was in ihr war, ihren ganzen Frust, Hass und Abscheu. Es ging erst schleichend und dann von einem auf den nächsten Tag, wo nichts mehr so war wie davor. Sie holte in mir mein Trauma wieder hoch und verstärkte dieses enorm.

 

Wenn du gehst, werde ich mit dir gehen. Auch wenn du es nicht merkst, mich nicht siehst, ich werde bei dir sein. Ich bin zwar nicht dein Leben, aber du bist meins. Und wenn du denkst, es wäre Zeit, die Sonne vom Himmel zu holen, ich werde dir dabei helfen, den Vögeln den Absturz zu geben. Ich bin immer bei dir, egal welchen Schritt du tust. Und wenn du meinst, dein Leben weg zu schmeißen, wirst du mich nicht los, ich bin nicht dein Leben, du bist meins. Ich werde immer bei dir sein, ich werde mich so tief in dir verstecken, dass wir zusammen sterben werden, ich in dir, so tief, dass unsere Herzen nach dem Tod noch weiter zusammen sein können. Wenn du gehst, werde ich dir folgen, mit dir gehen, dicht hinter dir. Ich komm nicht los von dir, ich kann mein Leben nicht wegschmeißen, ich schaffe es nicht zu gehen, nicht weg von dir.

Aber wenn du bleibst, wann wirst du mich sehen? Wann wirst du mich bemerken, so nah wie ich an deiner Seite stehe? Hier, ich bin hier, spürst du meinen vertrauten Atem nicht? Meinen Atem, der in deinen fließt? Ich bin hier, halte mich fest, halte mich vor dem Absturz fern, den ich durch dich nicht mehr hingeben kann, solange du darauf zusteuerst. Erhöre mich, lass dich von mir leiten. Du hast dieses Leben hinter dir gelassen, dachtest, es wäre alles geschafft, doch du bemerkst mich hier genauso wenig wie dort vorne. Dort hinten. Hinter dieser Grenze. Die du überschritten hast. Mit mir an deiner Seite. Mich durch dich geleitet. Ich durch deinen Atem am Leben gehalten. Der Atem, der mir Hoffnung gibt, dass du noch lebst, ich dich noch retten kann. Ich folge dir, soweit ich kann, soweit der Atem nicht einfriert, mein Leben überdeckt wird, ich genug Kraft habe, dir zu folgen. Doch die Kraft schwindet, bei jedem Schritt mehr. Mach nicht so große Schritte, nicht so schnell, warte auf mich. Meine Kraft fängt zu zittern an, doch ich werde dir auch noch ohne Kraft folgen, ich werde über dir schweben, tot, aber ich werde da sein, immer, ewig, wenn du mich brauchst, bei dir.

 

Kapitel 2

 

Joreen veränderte sich und stieß mich ab

 

Ich litt sehr darunter, wie Joreen mich behandelte. Sie kam in ihre schwere Zeit, ich sah das lange bevor meine Familie was mitbekam. Sie kotzte das Essen wieder raus und fing an, Essen zu verweigern. Und ich war diejenige, welche es zuerst mit bekam und nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte. Ich wusste damals nicht einmal, was das war, ich dachte, sie sei krank.

Wir waren mit unseren Großeltern im Wanderurlaub in den Bergen in Österreich. Mein Verhältnis zu Joreen war damals schon sehr angespannt, sie zog sich zurück und wies mich ab. Ich versuchte, es ihr Recht zu machen und wusste nicht einmal, was sie genau brauchte. Ich versuchte still zu sein, wenn ich dachte, ich nerve sie, zog mich zurück, wenn ich meinte, sie hat keinen Bock auf mich und versuchte mich einfach so zu verhalten, dass es ihr am angenehmsten war und sie mich dadurch noch leiden konnte. Und eines Tages sah ich, wie sie aus dem Supermarkt rannte wo wir gerade zu zweit einkaufen waren und sich vor dem Supermarkt übergab.

Ab dem Zeitpunkt beobachtete ich es immer wieder, dass sie sich übergab und nach dem Essen lange auf dem Klo war. Ich wusste nicht, was sie da tat, aber es fiel mir auf. Zu dem Zeitpunkt war ich 13 und hatte noch nie etwas von Bulimie gehört und mitbekommen. Woher auch? Ich konnte sie allerdings auch nicht danach fragen, sie wäre wütend geworden. Ich musste so tun, als ob ich sie überhaupt nicht wahrnehmen würde, sie wollte Distanz zu mir und diese gab ich ihr.

Hätte ich sie drauf angesprochen, hätte sie bemerkt, dass ich ihr gegenüber aufmerksam war. Und das wollte ich vermeiden. Aus der Angst heraus, sie würde sich dann vollständig verschließen und es noch geheimer machen, sodass ich komplett aus ihrem Leben geschmissen werde. Also beobachtete ich im Stillen, nahm im Stillen an ihrem Leben und ihrem Leiden teil.

Und erfuhr erst, was das sein könnte, als ich darüber mit meiner besten Freundin Larissa redete. Ich lernte Larissa 2008 kennen, als wir in Spitz ein Haus gebaut hatten und dorthin umgezogen waren, um mehr Platz zu haben. Wir wurden alle drei aus unserem früheren Leben in unserem schönen kleinen Häuschen in der großen Siedlung gerissen, aber ich freute mich darauf, weil es in Spitz viele Pferde gab und da hätte ich die Möglichkeit, eine Reitbeteiligung zu bekommen. Für Karina war es auch gut, sie wechselte die Schule und diese tat ihr viel besser. Joreen war davon nicht begeistert, aber schon zu dieser Zeit war sie von nichts begeistert, was mit der Familie zu tun hatte. Sie und ich blieben auf der Schule und fuhren dann mit dem Bus täglich dorthin.

In Spitz durfte ich Larissa kennenlernen, welche meine beste Freundin wurde. Sie war die Freundin, die ich mir immer schon gewünscht hatte, ich konnte mit ihr draußen im Wald das spielen, was ich schon immer wollte. Sie folgte mir überall hin, ich konnte mich ausleben und sie machte einfach bei meinen ganzen Ideen mit. Ich tat gerne so, als wäre ich Waldmensch und mit ihr konnte ich das total gut ausleben. Wir bauten uns Höhlen, machten sogar in der Schlucht in einer Steinhöhle ein Feuer, mahlten Korn, welches wir von den Feldern geklaut hatten, vermischten dies mit Wasser aus einem Bach und machten uns somit Stockbrot. Ich fand dieses Gefühl im Wald zu leben toll, ich war sehr naturverbunden und stellte mir schon von klein auf ein Leben vor, welches mit Tieren und Natur zu tun hatte. Am liebsten wollte ich mal einen Bauern heiraten, so dachte ich mir, dann könnte ich mich den ganzen Tag um Tiere kümmern und draußen arbeiten. Ich machte Wettrennen durchs Maisfeld mit Larissa, wir gingen auf fremde Pferdekoppeln und ritten dort heimlich die Pferde, wir trafen uns nachts um außen rum zu laufen. Sie teilte alles mit mir, machte bei all meinen verrückten Ideen mit. Larissa wurde über vieles daheim aufgeklärt und es wurde viel mit ihr geredet, was bei uns leider nicht so richtig der Fall war. Ihre Mütter waren lesbisch und hatten eine ganz andere Offenheit als meine Mutter. So war es dann auch Leonie, welche mich über meinen Ausfluss aufklärte und wie ich zu agieren hätte, wenn ich meine Tage bekommen würde. Ich hätte das alles auch mit meiner Mutter besprechen können, aber es war mir zu peinlich, zu ihr zu gehen und dieses Thema anzuschneiden. Sie hätte schon offen mit mir darüber geredet aber ich wusste nicht wie ich es ansprechen sollte. Und dachte mir dann eben, ich schaffe das auch alleine. Ich war schon immer so, dass ich anderen keine Probleme machen wollte und lieber Dinge mit mir selbst ausmachte.

So war es dann Larissa, die mit ihren Müttern über Joreens Symptome redete, ohne meine Schwester zu erwähnen. Und so erfuhr ich, was Bulimie ist. Dass es dies sein könnte. Und ich behielt es weiterhin für mich, sagte nichts zu meinen Eltern. Und machte mir Sorgen um Joreen und war damit völlig alleine. Was war das, was sie tat, warum tat sie das? Warum hatte sie mich so ausgeschlossen, warum war ich nichts mehr für sie? Im Gegenteil, warum verabscheute sie mich so, hielt mich fern von ihr?

Sie nahm sehr viel ab und da bemerkte es auch meine Mutter. Sie sprach darüber mit meinem Vater, der dies als Spinnerei abtat. Er wollte es nicht sehen und gab meiner Mutter das Gefühl, sie würde übertreiben, sich in etwas hineinsteigern. Es wurde noch schwieriger zwischen meinen Eltern. Sie waren schon immer recht unterschiedlich und mein Vater recht herrisch, aber es hatte immer gut zwischen den beiden geklappt und sie haben sich Mühe gegeben. So empfand ich es als Kind, ich empfand es als harmonisch. Aber dann kamen Schwierigkeiten, welche man nicht so einfach unter den Tisch kehren konnte und genau dann hätten sie zusammenhalten sollen. Aber mein Vater redete alles schlecht, was von meiner Mutter kam, nahm sie nicht ernst, stellte sie als unzurechnungsfähig hin und hatte so versucht, das Problem unsichtbar für ihn bleiben zu lassen. Was natürlich nicht klappte.

Es sprachen immer mehr Menschen meine Eltern an und schließlich sah es auch mein Vater ein, dass es ein Problem gab. Und löste es nicht auf die schönste Art und Weise. Er zerrte meine Schwester ins Auto und fuhr mit ihr zum Arzt. Dieser gab die Diagnose einer Essstörung. Wir versuchten es dann daheim wieder hin zu bekommen, was immer mehr zu Konflikten zwischen unseren Eltern und Joreen führte. Die Stimmungen wurden immer geladener, es gab nur noch Stress. Es ging nur noch ums Essen. Und Joreen verschloss sich immer mehr, ihre aggressive Haltung wurde Standard und ich war diejenige, an welcher sie all ihren Frust ablassen konnte. Und ich war und blieb immer auf ihrer Seite. Ich versuchte sie zu decken, in Schutz zu nehmen, meine Eltern abzulenken, wenn ich merkte Joreen geht aufs Klo um das Essen wieder auszukotzen. Sie stieß mich von sich, aber ich blieb ihr immer treu. Ich versuchte mich so zu verhalten, wie ihr es am rechtesten war, ohne aufdringlich zu sein, aber sie trotzdem spüren zu lassen, ich sei immer für sie da. Mein Herz fühlte, was sie fühlte, meine Seele fühlte ihren Schmerz. Wir waren verbunden und so bekam ich all das mit was sie durchmachte und erlebte es in mir selbst, ohne es zeigen zu dürfen. Ich wollte stark für uns beide bleiben. Es fiel mir nicht leicht, da sie mich drangsalierte, runtermachte und mir immer wieder in mein Herz und Seele stach. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, war hilflos ausgeliefert, konnte dies aber nicht zeigen. Ich wollte für sie da sein, auch wenn sie mich abstieß. Sie mobbte mich, ließ all ihren Frust auf mich ab. Und ich stand da, nahm es für sie auf, in der Hoffnung, ihr würde es dadurch besser gehen.

Ich wusste und fühlte wie schlecht es ihr ging, hörte sie oft heimlich weinen und weinte dann heimlich in meinem Bett mit ihr. Sie wusste nicht, was ich alles wusste und mitbekam, aber ich war immer für sie da, wenn sie dann doch mal mit mir geredet hatte – bis sie mich danach wieder abstieß und schlimmer fertig machte als zuvor.

 

Kapitel 3

 

Schuldgefühle

 

Ich fühlte mich für ihre Probleme, ihren Hass und Frust schuldig. Dieses Gefühl gab sie mir auch. Es holte meine eh schon vorhandenen Ängste hoch, welche ich durch den Verlust meines Zwillings erlitten habe und bestätigte meine versteckten Ängste. Sie gab mir die Bestätigung dafür, dass ich wirklich das Problem war, ich es nicht anders verdient hätte und ich hatte das Gefühl, es war nun Zeit, dass ich dafür bezahlen musste, was ich im Mutterleib angerichtet hatte. Sie holte mein Trauma hervor, holte es tief aus mir heraus, trat es mit den Füßen, krallte ihre Nägel hinein, stieß die Dunkelheit und den Schmerz mit einem Messer in mich und drückte es wieder tief in mich hinein.

Ich fing an, mich für alles und jeden verantwortlich und schuldig zu fühlen. Ich hatte das Gefühl, alle retten zu müssen, wollte von allen das Leid auf mich nehmen, nur damit niemand mehr leiden musste. Ich sah dies als meine Aufgabe und fühlte mich dafür verantwortlich und dachte, es geschah mir ganz recht. Ich hatte die Hoffnung, so alles wieder gut machen zu können.

Ich hatte das Gefühl, für die Probleme meiner Eltern verantwortlich zu sein, diese übernehmen zu müssen, für sie zu lösen. Mir lag die ganze Last der Familie auf meinen Schultern, ich übernahm die Verantwortung. Es war so ein Chaos daheim, keiner unterstützte sich mehr gegenseitig, die Familie drohte unterzugehen, indem sich alle gegenseitig fertig machten. Und ich versuchte, das alles irgendwie auszugleichen, zu lösen, versuchte, uns alle wieder zusammenzubringen, indem ich versuchte alles auf mich zu nehmen. Jeden zu schützen, indem ich all die dunklen, bösartigen Energien auf mich nahm. Es war eindeutig zu viel für mich, aber das sah ich damals nicht. Ich sah mich nicht mehr, ich sah nur noch die anderen, und für diese wollte ich da sein.

Meiner Mutter versuchte ich den Partner zu ersetzen, da mein Vater sie für alles schuldig machte und sie abwertend behandelte, worunter sie litt. Sie tat mir sehr leid, sie war so alleine, gab sich so viel Mühe und wollte eine heile, glückliche Familie für welche sie ihre eigenen Bedürfnisse hintenanstellte, wollte es jedem recht machen. Und bekam dadurch Stress mit ihrem Mann und zwischen ihrer Ältesten und ihr war es auch nur noch angespannt. Sie konnte mit Joreen kein normales Wort mehr reden, Joreen griff sie in einer Tour an. Wenn man was zu ihr sagte, was man sich eh schon selten traute, da Joreen dauerangespannt war, platzte der Ballon und ihre Aggressionen kamen raus, ungehindert wurde auf uns geschossen. Das Meiste traf mich, gefolgt von meiner Mutter.

Karina war außen vor und mein Vater fast nie daheim. Wenn er daheim war trafen zwei aggressive Charaktere aufeinander was die ganze Situation nicht einfacher machte. Es wurden Türen geschlagen, rumgeschrien, Verbote ausgeteilt und er wollte sie einsperren. Meine Mutter hat versucht ihrer ältesten Tochter auf die Beine zu helfen während mein Vater meist abwesend war und dann auch noch meine Mutter für die schlechte Stimmung verantwortlich machte. Also versuchte ich, ihr eine schöne Zeit zu mache. Und dadurch gab ich vieles auf, ich ließ Freundschaften hängen, wie auch die von Larissa. Daheim gab es genug zu tun, ich hatte das Gefühl jeden unterstützen und retten zu müssen. Ich schaute mit meiner Mutter Filme, ging mit ihr spazieren, spielte Spiele, hörte ihr zu und verbrachte den Abend mit ihr. All das, was sie sich von ihrem Partner wohl gewünscht hätte und nicht mehr bekam. Ich gab dafür meine eigene Jugend auf, war die brave die nur daheim war um für sie da zu sein.

Von meinem Vater nahm ich seinen ganzen verzweifelten Hass auf mich, versuchte alles abzufangen, was sonst auf Joreen übergegangen wäre. Ich habe sie in Schutz genommen, für sie das Gröbste schon mal abgenommen. Ich habe versucht, meinen Vater von ihr abzulenken, versuchte ihm irgendwie das Gefühl zu geben, es wäre alles in Ordnung mit der Joreen. Während ich wusste, dass es ihr gerade beschissen ging. Und sie wollte einfach ihre Ruhe, wollte in Frieden gelassen werden. Ich wusste einfach nicht, was sie brauchte, wie ich ihr helfen konnte. Aber ich war mir sicher, dass dieser ganze Stress daheim nicht dazu beitrug, dass es ihr besser ging oder dass sie wieder anfing, sich zu öffnen. Es wäre besser gewesen, sie ehrlich zu fragen, wie es ihr ging, was sie sich wünschte, worunter sie litt. Anstatt ihr vorzuwerfen, was sie alles falsch mache, dass sie die Familie zerstöre und dass sie mit ihrem ganzen Verhalten und ihrer Krankheit alles nur schlimmer machte anstatt besser. Meine Eltern wussten es nicht besser, sie waren einfach überfordert. Und so reagierte eben jeder auf seine Art und Weise und anstatt zusammenzuhalten, machte sich nun jeder gegenseitig fertig. Ich versuchte, das alles abzufedern, jeden vor jedem zu retten, alles auf mich zu nehmen. Und so bekam ich auch viel ab.

Bei Joreen habe ich ihren ganzen Hass versucht abzunehmen. Und diesen habe ich dann auch abbekommen. Sie litt und das fühlte ich. Ich wusste, sie würde einfach mal von meinen Eltern eine liebevolle Umarmung brauchen, aber das gab es nicht. Mein Vater überspielte seine Angst und Verzweiflung mit Aggressivität und Ablehnung, meine Mutter war vollends überfordert mit der Situation und reden konnte man sowieso nicht mit Joreen. Man lernte, in ihrer Gegenwart die Luft anzuhalten, bevor man etwas Falsches sagte oder falsch guckte, weil sie sonst wieder völlig eskaliert wäre. Auf ihre dunkle, bösartige Art und Weise, welche jeden mit runterzog. Und das Gefühl gab, man trage dafür die Schuld und wäre das Problem. Für Karina versuchte ich eine heile Welt zu spielen, wollte sie schützen, dass sie das alles gar nicht mitbekam. Ich glaube, das ist das Einzige, was mir gelang.

Wenn ich heute mit ihr rede, meint sie, sie hätte von alledem gar nichts mitbekommen, außer dass Joreen oft nicht daheim war. Da muss ich ihr im Nachhinein Recht geben, ich sehe Joreen auch nicht mehr, wenn ich jetzt zurückblicke. Ich habe alles, was mit ihr war, aus meinem Gedächtnis gestrichen. Aus meinen Gefühlen ging das leider nicht so einfach.

 

Keine Ahnung wann, keine Ahnung wo, ich bin nicht mehr froh, bin in meinem Leid verwaltet, meine Trauer gespaltet, diese Entscheidung, ob ja oder nein, und dann lass ich es doch wieder sein. Immer wieder aufs Neue diese Gedanken, in denen sich meine Gefühle verkannten, in denen meine Fantasien spinnen, mich zu tiefer Verzweiflung bringen. Ich renne hier, ich renne dort, manchmal bin ich an einem ganz anderen Ort, ich habe keine Ahnung wann, keine Ahnung wo, das macht mich alles nicht mehr froh. Wo gehöre ich am besten hin? Wo wird es sein, dass ich bin? Ich finde mich nicht, bin überall und nirgendwo, und nie im Ganzen wirklich froh. Ich renne hier, ich renne dort, und bin trotzdem nie an irgendeinem Ort. Wo gefalle ich mir am besten? Kann ich mich dort festen? Bring mich nie zu einem Stand, flüchte vor Entscheidungen wie vor einem Brand. Dabei bin ich selbst das Feuer, was alles zerstört, selbst das, was in mich gehört. Das, was ich noch glaube, irgendwo zu sein, wird von Brand zu Brand immer mehr klein. Wo kann ich Zuflucht finden, wenn meine Seele an so vielen verschiedenen Stellen immer mehr beginnt zu sinken. Wer kann mich jemals bekommen, wenn ich vor mir selbst bin verronnen? Weg von dem, wo und was ich nicht weiß zu sein, vor all dem was mir selbst trügt der Schein. Nicht wissen wer, nicht wissen wo, das macht mich alles, im Gegenteil, froh. In Stücke gerissen, da, oder dort, oder doch an einem ganz anderen Ort. Keine Ordnung in meinem Scheines Ich, spür ich in jeder meiner Welten einen Stich. Dort, ganz tief in mir verschlossen, lodert das verbrennende Feuer, ohne dass es jemals wird vergossen.

 

Kapitel 4

 

Distanzieren und zurückziehen

 

In dieser ganzen Zeit habe ich mich sehr zurückgezogen. Keiner wusste mehr so recht, was in mir vorging. Ich zog mich aus Freundschaften zurück und somit verlor ich Larissa komplett. Ich hatte eine wunderschöne Zeit mit ihr, sie hat mir sehr viel bedeutet. Sie hatte mir so vieles geschenkt, eine wunderschöne Zeit. Wir hatten uns sehr gut verstanden und waren ein eingespieltes Team. Aber ich war dann fast nur noch daheim, wollte mich um meine Familie kümmern. Kümmern hieß in dem Fall alles abnehmen und auf mich nehmen, was dort so an Negativem anfiel. Und so verlor ich meine damals beste Freundin.

Äußerlich tat ich auf stark, um das alles auszuhalten, ich hatte das Gefühl, wenn ich zusammenbreche bricht alles zusammen. Ich hatte das Gefühl, ich wäre die Säule, die alles trägt. Und so lernte ich keine Schwäche mehr zu zeigen, keine Verletzlichkeit. Ich stand stramm und hart, ich hielt alles in meinen Händen. Mein Körper hielt all das leider nicht so stark aus. Er machte auf sich aufmerksam, all das, was ich immer runterschluckte, meine Ängste und Sorgen machten sich in meinem Bauch bemerkbar. Ich hatte ständige Bauchschmerzen, wofür ich auch noch Verachtung von meinem Vater bekam. Krank sein ging nicht für ihn, er erwartete absolute Stärke. Dafür bekam man Lob von ihm. Liebe gab es durch Leistung, Anerkennung und ein Lob durch Durchhaltevermögen und Stärke. Und wenn man Schmerzen hatte und sich diesen beugte, galt es als Schwäche. Also versuchte ich auch, gegen diese Schmerzen anzukämpfen, um von ihm anerkannt zu werden. Um ihn stolz zu machen, um ihm eine starke Tochter zu geben, worüber er sich endlich mal wieder über etwas freuen könnte. Wo ich ihm Erleichterung geben könnte, indem ich ihm zeigte, ich wäre stark. Ich wollte es unbedingt und es misslang mir. Ich schämte mich für mein Leiden, ich versuchte auch dieses zu unterdrücken. Meine Mutter nahm mich ernst, sie machte sich Sorgen um mich. Sie wusste, dass ich unter der ganzen Situation mit Joreen litt und wusste mir nicht zu helfen, da ich dicht gemacht hatte. Ich wollte keine Gefühle zeigen, ich selbst hatte Angst vor diesen Gefühlen. Und ich dachte, ich sei stark, wenn ich diese Gefühle unterdrückte. Wenn man mir nicht mit Gesprächen helfen konnte, das alles zu verarbeiten und ich so verschlossen war, half sie mir dann mit meinen Bauchschmerzen. Sie sorgte sich um mich, ging mit mir zum Arzt und schrieb mich auch von der Schule krank. Das führte zu einem Zwiespalt meiner Eltern. Mein Vater war der Meinung, sie würde mich verweichlichen, ich solle mich nicht so anstellen und durchbeißen. Ich glaube, meine Mutter war froh darüber, dass ich sie mit meiner Gesundheit brauchte. Es war für sie eine Eintrittskarte, sich um mich zu kümmern. Ich blockte ja alles ab, ließ niemanden mehr an mich ran, was meiner Mutter sehr weh tat. Ich war für sie da, aber ich wollte nicht über mich und meine Gefühle reden. Und so konnte sie mir zeigen, wie sehr sich sich um mich sorgte und sich um mich kümmerte.

Ich war dankbar dafür, dass sie mich regelmäßig krank meldete in der Schule. Ich hatte Angst vor der Schule, es war schwer für mich dorthin zu gehen. Es war schon immer schwer für mich, Menschen zu treffen und in Gruppen zu sein. Da ich mich immer mehr in mich zurückzog, wuchsen diese Ängste auch immer mehr, ich bekam Panik vor Menschenmengen. Im Unterricht kam ich nicht richtig mit, verstand den Stoff oft nicht, es war zu schwer für mich, obwohl ich mich bemühte. Und das zeigte mir wieder, wie sehr ich versagte. Meine Mitschüler schrieben fleißig mit und bekamen gute Noten. Ich fühlte ich mich dumm und schwach weil ich das alles nicht schaffte. Die Schule zeigte mir zusätzlich meine Fehler auf, anstatt meine Stärken. Ich halte nichts von unserem Schulsystem, ich bin ja selbst jahrelang dort durchgegangen. Und es hat mich an meiner Persönlichkeitsentwicklung gehindert und geschädigt, anstatt mich zu bestärken und zu beflügeln.

Wir lernen in der Schule nur das, was wir nicht können. Uns wird das reingedrückt, worin wir schlecht sind. Das, worin wir versagen, wird zum großen Thema gemacht, wir müssen uns dort bessern. Statt in dem gefördert zu werden, wo unsere Talente liegen. Wir werden beurteilt für Dinge, die wir lernen müssen: nachzusprechen, auswendig zu lernen und das so wieder zu geben. Dafür werden wir benotet, wie gut uns das gelingt, das wieder zu geben, was in uns eingetrichtert wird. Eigene Meinungen, Gedanken und Werte zählen nichts. Werden niedergemacht, man lernt mal wieder, sich anzupassen und sich selbst zu verstecken. Man wird nicht gern gesehen, es wird gern gesehen, wie wir etwas repräsentieren. Nicht das, was wir sind. Auch in der Schule lernen wir wieder wie Marionetten zu sein, uns anzupassen, sich an Regeln zu halten. Wir werden neben der Erziehung der Eltern auf die Gesellschaft vorbereitet, wie wir da am besten zu funktionieren haben. Wie wir lernen zu gehorchen, ohne Fragen zu stellen, ohne etwas in Frage zu stellen. Wir müssen so handeln und funktionieren, wie es uns beigebracht wurde. Individualität hat keinen Platz. Es wird einem immer aufgezeigt, worin man schlecht ist, wo man sich zu verbessern hat und dafür werden Noten verteilt. Und wer keine guten Noten schreibt gilt als dumm und unfähig. Die persönlichen Werte dahinter werden nicht gesehen. Die Individualität wird nicht gefördert. Anstatt das zu erkennen und zu fördern, wo man gut ist, wird das hervorgehoben, wo man schlecht ist. Darauf beruht unser Schulsystem. Und ich tat mir damit sehr schwer. Dieser zusätzliche Druck fiel mir sehr schwer. Und dadurch, dass ich alles runterschluckte und versuchte, stark zu sein und zu funktionieren, wie es andere von mir erwarteten, nährte ich mir ein Zwölffingerdarmgeschwür. Dieses entstand durch Ängste und Sorgen. Die Ärzte waren schockiert, dass ich so etwas schon im Alter von 13 Jahren hatte.

Als ich diese Diagnose erhielt, zeigte mein Vater ein bisschen Gnade. Es missfiel ihm natürlich, es zeigte ja auf, dass etwas nicht in Ordnung war. Dass diese ganze familiäre Situation Auswirkungen hatte. Es war nicht zu leugnen, bei uns lief etwas schief. Ich hatte so sehr versucht, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, aber mein Bauch verriet mich nun. Und erst bei dieser Diagnose wurde mein Vater etwas sanfter. Musste ich erst so krank sein, damit ich ernst genommen wurde? Als ich meinte, ich hätte Bauchschmerzen, ging er meine Mutter immer an, sie steigerte sich da zu sehr rein, sie würde mich verweichlichen. Und jetzt, mit der Bestätigung vom Arzt, erkannte er erst an, dass ich echte Schmerzen hatte. Mein Wort galt also nichts. Ich wurde nicht ernst genommen. So lernte ich also für mein zukünftiges Leben, ich bräuchte eine Diagnose um glaubhaft zu sein, um krank sein zu dürfen. Das verinnerlichte ich sehr und dies wurde mir in meinem weiteren Leben zum Verhängnis, dass ich selbst erst auf meinen Körper hörte, wenn er wirklich fast vorm Zusammenbruch wäre und ich dann nicht mal Mitgefühl für ihn hätte, sondern ihn dafür verabscheuen würde.

Als meine Eltern und ich selbst es akzeptierten, dass ich für die Realschule nicht geeignet war, habe ich die Schule gewechselt. Ich kam auf eine Hauptschule auf den mittleren Zweig. Und dort lernte ich Luise kennen. Luise war für mich ein dreiviertel Jahr meine beste Freundin. Ich liebte sie sehr. Ich hatte das Gefühl, mit ihr eine Seelenverwandte getroffen zu haben und fühlte mich mit ihr stark verbunden. Wir verstanden uns nur durch Blicke, konnten in Insidern sprechen und keiner verstand uns. Wir hatten so unsere eigene Sprache, durch Blicke und Insider. Wir waren eine perfekte Einheit, wir passten perfekt zusammen. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, gingen shoppen, ritten auf ihren Ponys. Wir verbrachten Nächte in der Großstadt, machten dort Partys und erzählten unseren Müttern, wir übernachteten bei der jeweils anderen. Meine Mutter wollte irgendwann dann mal mit Luises Mutter reden, sie fragen, ob es für sie ok war, wenn ich ständig dort schlief, aber wir konnten dieses Treffen zum Glück verhindern.

Luises Mutter hatte ja auch schon ein schlechtes Gewissen, dass ihre Tochter ständig bei einer anderen Familie schlief. Aber wir schliefen bei keinem von uns, wir waren nachts unterwegs, lernten das Nachtleben zusammen kennen, trafen uns mit Jungs, tranken Alkohol und waren unbeschwert und frei zusammen. Sie war alles für mich, ich brauchte immer eine solch tiefe Verbindung zu einem Menschen, eine Bezugsperson mit der ich alles teilen konnte, welcher ich mich Voll und Ganz hingeben konnte. Und dann ging sie für ein halbes Jahr nach Australien. Es traf mich sehr, es fühlte sich an, als würde sie mich verlassen. Wieder eine, die ich liebte, die mich verließ. Ich dachte, jetzt wäre die Freundschaft vorbei, ich hätte auch sie verloren. Sie meldete sich regelmäßig, schrieb mir, bemühte sich um unsere Freundschaft. Aber ich blockte ab, baute wieder eine Mauer auf. Ich hatte ihr alles von mir gegeben wie zu Zeiten mit Joreen und es fühlte sich an, wieder verlassen zu werden, als riss etwas aus mir heraus. Ich verschloss meine Gefühle, verschloss mich, tat so, als würde mir das alles nichts ausmachen. Als würde ich Luise gar nicht brauchen, auch wenn alles in mir nach ihr rief, ich hatte ein großes Loch in meinem Herzen. Ich vermisste sie sehr und stieß sie deswegen ab. Ich wollte nicht abhängig sein. Ich wollte nicht, dass jemand so mächtig über meine Gefühle war. Ich wollte meinen Gefühlen nicht so ausgesetzt sein, es tat weh, also verschloss ich sie. Ich hatte Angst, wieder verlassen zu werden, nichts wert zu sein, hatte Angst, es war alles nur Illusion, ich hätte mich aufgegeben und bedeutete dem Anderen gar nichts. Ich verließ sie zuerst, bevor sie mich verlassen konnte, das mit mir machen konnte, was meine Schwester getan hatte. Ich ignorierte sie, tat, als wäre sie mir nicht mehr wichtig. Als würde ich sie nicht mehr brauchen. Aus der Angst heraus, sie würde mich verlassen, bessere Freundinnen finden und Spaß haben, ohne mich. Ich hatte Angst, verlassen zu werden, also hatte ich sie verlassen. Ich war feige und rannte vor mir selbst weg, verschloss mich mehr, verdrängte mich. Und bereue es bis heute, aber es ließ sich nicht mehr gut machen.

Ich hatte durch mein Verhalten hervorgeholt, wovor ich so Angst hatte. Sie suchte sich dann natürlich andere Freundinnen als sie zurückkam und hatte mit ihnen Spaß. Es tat weh, sie zu sehen, ich war in dem halben Jahr in mir zusammengefallen. Ich war unfair und gemein zu ihr gewesen, kein Wunder, dass sie dann keine Lust mehr auf mich hatte. Und es tut bis heute weh.

Ich lief Joreen lange, lange hinterher. Innerlich war ich immer für sie da. Ich folgte ihr in ihre schwärzesten Gegenden, ich verfolgte sie innerlich überall hin. Ich streckte immer meine Hand nach ihr aus und hoffte, sie würde sie greifen, damit ich uns zusammen aus diesem dunklen Loch ziehen könnte. Und ich rechnete immer damit, dass die Polizei eines Tages klingeln würde und mir mitteilen, dass meine große Schwester Selbstmord begangen hätte. Sie schwand immer mehr, wurde immer weniger, hasste sich und ihr Leben. Das Einzige was an ihr Zunahm war ihre Distanz, ihr Hass und mich zu mobben. Sie ließ all ihren Schmerz und Frust an mir aus, alles was in ihr schlummerte haute sie auf mich. Und ich hielt stand. Wenn ich ihr was geben konnte, wenn ich ihr irgendwie dadurch behilflich sein konnte – sollte es so sein, dass sie all ihren Schmerz, ausgedrückt in Wut und Hass, auf mich ablud. Und so bekam ich all den dunklen, zerfressenden Frust voller Selbsthass ab. Ich tat immer auf die Starke und war innerlich schon lange gebrochen. Aber ich musste stark bleiben, ich hatte das Gefühl, ich würde die Familie halten und irgendwie ausbalancieren, ich müsse meiner Aufgabe nachkommen, bevor alles in tausend Stücke zerfiel. Ich hoffte so sehr, ich könnte Joreen retten und merkte dabei gar nicht, wie kaputt ich selber wurde.

Nachts schrieb und zeichnete ich mir alles von der Seele, meine dunkelsten Gefühle kamen dabei raus. Ich schrieb darüber wie tief ich gefallen war, dass mich nur noch Kälte und der Tod umgibt, dass ich meine Seele verloren hätte und mein Herz geopfert damit Joreen eine kleine Überlebenschance hätte. Ich gab ihr alles und verlor dadurch alles von mir. Ich gab mich auf, ich leerte mich, um sie irgendwie wieder füllen zu können.

Mich umgab nur noch Schwärze, ein totes Meer in welches ich nach unten absackte, leise erstickte und ertrank. Und keiner da, der mich sah. Keiner da, der wusste, wie leer ich war. Keine Hand welche mir hätte helfen wollen. Ich war allein. Völlig allein in meiner eigenen Finsternis von Joreen erbaut. Ich folgte ihr dorthin und wusste nicht, auf welches Spiel ich mich einließ. Ich dachte, ich hätte alles unter Kontrolle gehabt, wüsste den Weg zurück, wüsste, wie man den Lichtschalter wieder an bekam. Und umso länger ich hier unten war umso mehr vergaß ich den Rückweg, ja, dass ich überhaupt zurück wollte.

 

Kapitel 5

 

Ich erbaute mir meine eigene Welt

 

Was würde mich erwarten? Eine kaputte Familie? Leere in der realen Welt? Also baute ich mir lieber meine eigene Welt voller Illusionen hier unten. Ich lag da und starrte in den dunklen Himmel, welchen nichts umgab und malte mir mein wunderschönes Leben aus. Was wäre, wenn, wie könnte es sein, wer ich war, wenn ich die sein könnte, die ich schon immer gern gewesen wäre? Klug genug, um von meinem Vater Respekt zu bekommen, stark genug, um von ihm Liebe zu bekommen. Liebe gab es nur durch Leistung. Ihm passte es gar nicht, wie sich meine Mutter um mich kümmerte, sich um mich sorgte. Dadurch galt ich für ihn als schwächlich und kränklich. Und es war der Beweis, dass etwas bei uns schief lief. Man konnte es nicht länger ignorieren. Auch, wenn man es noch so sehr versuchte. Ich glaube, meiner Mutter war es ganz recht, dass sie sich so um mich kümmern konnte. Sie hatte dadurch das Gefühl, wenigstens einer kranken Tochter helfen zu können, gefragt zu sein. Gebraucht zu werden. An Joreen kam man nicht mehr ran. Es war unmöglich, sie stieß uns alle ab und brachte eine unerbittliche Schwärze und Dunkelheit in die Familie. Wo sie hin kam, verstummten wir, wagten uns nicht mehr zu atmen. Die Luft war zum Schneiden, es hatte geknistert und der kleinste Funken hätte alles zum Explodieren gebracht.

So lernte ich möglichst unbemerkt durchs Leben zu gehen. Ich war nie eine Rampensau, stand lieber nicht im Mittelpunkt. Aber nun lernte ich mich so zu platzieren, dass mich keiner wahrnahm.

Ich war zwar irgendwie dabei, aber unbemerkt und unbeteiligt. Ich hoffte, mich würde bloß niemand ansprechen, nicht bemerken, dass ich überhaupt existierte. Ich lernte, vollständig zu verschwinden. Ich war zwar da, aber für niemanden existent. Ich wollte nicht unangenehm auffallen, nicht stören und niemanden verärgern. Durch Joreen hatte ich immer das Gefühl, ich sei ein Störfaktor, es nervte, dass ich da war und es wäre besser, ich sei fort. Es fing in der Früh an, als wir uns beide im Bad für die Schule fertig machen mussten. Sie stand schon immer sehr früh auf, um sich ausgiebig schminken zu können und es war jeden Morgen eine Tortur für mich, in dieses Bad rein zu gehen. Ich hatte Panik davor, fühlte mich elendig und hatte Angst. Ich störte sie und dies ließ sie mich deutlich spüren. Ich musste aber dringend pinkeln also nahm ich meinen Mut zusammen, ging in dieses Bad rein, setzte mich auf die Toilette und es kam einfach nichts raus. Ich stand unter Stress, wollte so schnell wie möglich wieder raus und es war mir peinlich, vor ihr zu pinkeln. Aus Angst sie könnte wieder was an mir auszusetzen haben, über mich lachen, mich verabscheuen. Wir hatten noch ein anderes Bad im Haus, aber dort traute ich mich auch nicht hin, da es neben dem Schlafzimmer meiner Eltern lag und ich Angst hatte, meinen Vater aufzuwecken, welcher dann sauer auf mich gewesen wäre. Ich schämte mich für meine Bedürfnisse, hasste es, dass ich solche hatte. Sie machten mich angreifbar und ich konnte sie nicht kontrollieren. Ich lief in ständiger Angst und Panik durch dieses Haus, wollte nicht auffallen, wollte niemanden verärgern mit meiner Person. Ich hatte ständig Angst, etwas falsch zu machen. Ich lernte, mich lautlos zu bewegen, um niemanden mit meinen Geräuschen zu stören. Das gab aber auch Ärger, mein Vater erschreckte sich sehr leicht und war dann sehr sauer auf mich. Also trampelte ich, wenn ich in seine Nähe kam.

Einmal wollte ich Joreen helfen, indem ich versuchte, den Kuchen zu retten, den sie für einen Freund zum Geburtstag gebacken hatte. Der Kuchen war schon fast schwarz, viel zu lange drin im Backofen und ich holte ihn schnell raus, damit er nicht noch vollständig verkohlte.