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Die Kriminalpsychologin und ihr schwerster Fall.
Hannah Jacob ist beim BKA Expertin für verschwundene Frauen und Kinder. Doch ihr neuer Fall ist vollkommen anders: Ihr Kollegen Daniel Hihmler wird verdächtigt, den Psychologen getötet zu haben, der seine Frau behandelt hat, bevor sie Selbstmord beging. Die Beweislage scheint erdrückend zu sein, doch Hannah hat ihre Zweifel. Dann entdeckt sie, dass es zwei weitere ungeklärte Kriminalfälle gibt, in die der Psychologe verstrickt ist. Und dass er mit einem ominösen Verein zu tun hat, der im Verdacht steht, Kinder von der Straße zu holen, um sie zu Straftätern zu machen ...
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Seitenzahl: 436
Katharina Peters, Jahrgang 1960, schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie ist passionierte Marathonläuferin, begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt am Rande von Berlin. An die Ostsee fährt sie, um zu recherchieren, zu schreiben – und gelegentlich auch zu entspannen.
Aus der Rügen-Serie mit Romy Beccare sind »Hafenmord«, »Dünenmord«, »Klippenmord«, »Bernsteinmord«, »Leuchtturmmord«, »Deichmord«, »Strandmord« und »Fischermord« lieferbar.
Mit der Kriminalpsychologin Hannah Jakob als Hauptfigur sind »Herztod«, »Wachkoma«, »Vergeltung«, »Abrechnung« und »Toteneis« lieferbar.
Aus der Ostsee-Serie sind »Todesstrand«, »Todeshaff«, »Todeswoge« und »Todesklippe« lieferbar.
Die Kriminalpsychologin und ihr schwerster Fall
Hannah Jacob ist beim BKA eigentlich Expertin für verschwundene Frauen und Kinder. Doch ihr neuer Fall ist vollkommen anders: Ihr Kollegen Daniel Hihmler wird verdächtigt, den Psychologen getötet zu haben, der seine Frau behandelt hat, bevor sie Selbstmord beging. Die Beweislage scheint erdrückend zu sein, doch Hannah hat ihre Zweifel. Dann entdeckt sie, dass es zwei weitere ungeklärte Kriminalfälle gibt, in die der Psychologe verstrickt ist – und dass er mit einem ominösen Verein zu tun hat, der im Verdacht steht, Kinder von der Straße zu holen, um sie zu Straftätern zu machen.
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Katharina Peters
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Thriller
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Über Katharina Peters
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Epilog
Hauptpersonen
Impressum
Für Nanouk. Einer wie Kotti.
Die Aufgabe klang einfach und harmlos. Malenka fuhr mit der U-Bahn bis zur Ullsteinstraße und lief von dort weiter Richtung Shoppingcenter am Tempelhofer Hafen. Sie wartete, bis eine größere Gruppe auf den Eingang zuströmte und schloss sich ihr an. Im breiten Flur vor dem Elektronikmarkt stand eine Bank, sie setzte sich an den äußersten Rand und beobachtete das Geschehen. Ein Saftverkäufer stapelte Obstkisten, zwei Mütter schoben ihre Kinderwagen dicht an ihr vorbei, ein junger Typ stülpte sich Kopfhörer über und schnippte mit den Fingern. Niemand achtete auf sie.
Der Mann, den sie erkennen musste, würde sich womöglich verkleiden, einen Bart tragen oder eine Brille – er könnte völlig anders aussehen als auf den Fotos, die Malenka sich angesehen hatte. Sie würde ihn trotzdem sofort wiedererkennen, dessen war sie sich hundertprozentig sicher. Zwei Tage lang hatte sie sich Hunderte von Bildern ansehen müssen, und egal, wie das Gesicht des Mannes verändert worden war, dessen Aufnahme sie sich zuvor minutenlang eingeprägt hatte – sie hatte ihn stets wiedererkannt. Das sei eine seltene Begabung, hatte man ihr gesagt. Mit der Bemerkung konnte sie nicht allzu viel anfangen. Sie vergaß kein Gesicht, und sie konnte es stets wiedererkennen – auf Fotos, irgendwo in der Menge, im Fernsehen, selbst bei schlechten Lichtverhältnissen. Das war schon immer so gewesen, und sie hielt diese Fähigkeit für nichts Besonderes, allenfalls für hilfreich. Malenka wartete fast zwanzig Minuten. Dann entdeckte sie ihn. Der Mann näherte sich langsam dem Eingang des Geschäfts, dabei wandte er sich immer wieder den Auslagen der Schaufenster zu. Es genügte ein Blick auf sein Gesicht, und Malenka wusste, dass er es war. Sie zückte ihr Handy und fotografierte den Mann unbemerkt. Das Foto verschickte sie an die Rufnummer, die sie sich gemerkt hatte.
Teil zwei der Aufgabe war auch nicht schwer zu bewerkstelligen. Sie sollte warten, bis er den Laden wieder verließ, und ihm zu seinem Wagen folgen – in ausreichendem Abstand. Darin bestand die eigentliche Herausforderung, niemals zu nah aufschließen und dadurch Verdacht erregen, aber auch keineswegs zu vorsichtig sein und den Anschluss verlieren. Malenka war auch in diesem Punkt ein Naturtalent – so sagte man ihr. Als der Mann in seinen Wagen stieg, hockte sie sich hinter einen Baum und fotografierte das Nummernschild.
Teil drei der Aufgabe stellte man ihr erst eine gute Woche später. Teil drei war ihre Bewährungsprobe. Falls sie bestand, durfte sie bleiben und die Ausbildung fortsetzen. Dann gehörte sie dazu. Und – das war das Wichtigste für sie – sie würde Ferdinand wiedersehen. Über die Möglichkeit, nicht zu bestehen, dachte sie gar nicht erst nach. Sie bereitete ihr einen dumpfen Schmerz, der in jeden Winkel ihres Herzens kroch und sich mit spitzen Krallen festhielt.
Der Mann besuchte mit zwei anderen ein Straßenfest mit Hüpfburg und Kinderkarussell. Die drei tranken Bier, aßen Grillwurst und schlenderten über den Festplatz, ohne zu bemerken, dass Malenka ihnen folgte. Eine Stunde später, als die Dämmerung gerade eingesetzt hatte, trennte sich der Mann von seinen beiden Begleitern und verließ das bunte Treiben. Er hatte in der Nähe einer Grünanlage geparkt. Bevor er zu seinem Auto ging, erleichterte er sich in einem Gebüsch. Malenka schloss zu ihm auf. Als er sich zu seinem Wagen umwandte, stolperte sie plötzlich, und fast wäre er über sie gefallen. Sie verzog schmerzverzerrt das Gesicht und hielt sich den Knöchel. Der Mann beugte sich zu ihr herunter und reichte ihr die Hand. »Komm, Kleine, ich helfe dir hoch.«
Sie nickte, gab ihm die linke Hand, mit der rechten umfasste sie das Cuttermesser und schob die Klinge vollständig heraus – die Bewegung hatte sie im Verlauf der letzten Tage immer wieder geübt, bis sie ihr in Fleisch und Blut übergegangen war. Der Mann zog sie behutsam hoch, und im gleichen Augenblick stach Malenka zu und schnitt eine lange und tiefe Wunde in die Innenseite seines Oberschenkels. Unzählige Male hatte sie den Schnitt an einer Puppe geübt, und er war ihr stets gut bis vortrefflich gelungen. Auch diesmal waren ihr Timing und die Ausführung perfekt. Und doch war alles anders. Das besorgte Lächeln des Mannes, den sie den Feind nannten, verwandelte sich in Sekundenbruchteilen zu Erstaunen und war plötzlich beherrscht von Verblüffung und Angst. Das Blut floss warm, klebrig und viel schneller, als Malenka je für möglich gehalten hatte. Der Mann sackte zwischen Beifahrertür und Gebüsch zu Boden und starrte sie an. Ein paar Meter weiter gingen Leute vorbei. Niemand achtete auf sie. Sein Körper verdeckte Malenkas zierliche Gestalt, und falls doch jemand in seine Richtung blickte und Umrisse erkannte, würde er annehmen, dass er auf dem Rummelplatz zu viel getrunken hatte und sich übergeben musste. Niemand würde es genauer wissen wollen. So war es meistens. Malenka lauschte einen Moment seinem immer stärker rasselnden Atem und dem leisen Stöhnen, in dem so unendlich viel Not und Bedrängung mitschwang. Sie wollte sich gerade aufrichten, als der Mann plötzlich nach ihrem Arm griff und ihr sein Gesicht zudrehte. Es war kalkweiß. Er atmete schwer, Schweiß tropfte von seinem Kinn. »Wer schickt dich?«, hauchte er.
Sie zuckte mit den Achseln. Der Schmerz, der plötzlich in ihrem Herzen aufflammte, war groß und feuerrot. Ich musste es tun, dachte sie. »Es tut mir leid«, stammelte sie zu ihrer eigenen Verwunderung. »Ich sehe sonst meinen Freund nicht wieder, verstehst du? Er ist alles für mich.«
Er starrte sie an. »Wie alt bist du?«
»Zwölf.«
»Zwölf«, wiederholte er und wollte noch etwas hinzufügen, doch sein Kinn sackte vorher auf die Brust.
Malenka blieb einen Augenblick sitzen, gefangen von seltsamer Taubheit. Es ist getan, alles ist getan, Probe bestanden, Ferdinand, wir sehen uns wieder, alles wird gut. Dann fasste sie nach seiner Hand und löste den Griff mit klammen und zitternden Fingern. Stimmen näherten sich, jemand lachte schallend. Sie atmete tief aus und kroch ins nächste Gebüsch, dann erhob sie sich und begann schließlich, Richtung Rummelplatz zu gehen. Kurz bevor sie den ersten Wagen der Schausteller erreichte, wurden ihre Schritte langsamer, ihr Atem beruhigte sich, auch wenn sich das Bild des sterbenden Mannes tief in sie eingebrannt hatte, egal, wohin sie blickte. Es wird immer in meinen Augen eingeschlossen bleiben, durchfuhr es sie – sein Blick, das langsame Verstehen, die Fassungslosigkeit und sein Tod. Fotos verblassen, dieses Bild ist ewig.
Sie sah an sich herab – Blut, überall Blut. Es war klebrig wie Rübensaft. Sie blieb stocksteif stehen. Niemand hatte daran gedacht, dass sie frische Klamotten brauchte bei all dem Blut. Ein Handy hatte sie diesmal auch nicht dabei. Sie trat hinter einen Baum. Denk nach, denk nach, denk nach! Das Blut muss weg, das Blut muss weg, es muss weg, sonst war alles umsonst, alles umsonst. Ferdinand! Mit brennenden Augen tastete sie die Umgebung ab – Buden, lachende Menschen, Karussellgetöse, laute Musik, die Wagen der Schausteller, eine Wäscheleine, auf der Shirts, Hemden und Hosen im Abendwind flatterten …
Minuten später hatte Malenka Hose und Shirt von einer Wäscheleine gestohlen – beides war ihr viel zu groß – und ihre eigenen Klamotten in einem Müllcontainer am Rande des Parks entsorgt. Sie wusch sich die Hände mit Wasser aus einer Plastikflasche. Als sie am vereinbarten Treffpunkt ankam, war es später Abend. Sie setzte sich erschöpft auf den Boden hinter eine Litfaßsäule. Fünf Minuten später fuhr der Wagen vor. Die Scheibe auf der Beifahrerseite glitt mit leisem Flüstern herunter. Sie sah seine Zähne aufblitzen und wusste, dass er lächelte. Sie hatte bestanden.
Hannah ließ sich Zeit. Die Fortbildung begann erst um zehn Uhr, und Kotti war derart begeistert über das strahlende Frühlingswetter, dass er mit entschlossenen Schritten eine zweite Morgenrunde im Treptower Park einläutete. Seine Ohrspitzen zuckten höchstens für einen winzigen Moment in ihre Richtung, und er drosselte das Tempo gefühlt um wenige Millisekunden, als sie den Ausgang passierten, dann trabte er hechelnd weiter, und Hannah folgte ihm. Ihre Fitness war durchaus ausbaufähig. Am Karpfenteich verschnaufte sie einen Moment und absolvierte ein paar Dehnübungen, die Kotti kritisch beäugte. Sie zog die Brauen hoch. »Was ist? Hältst du das etwa für einen Trick, mit dem ich mir eine Pause erschleiche?«
Kotti gähnte und warf ihr einen Blick zu, den sie lieber nicht deutete. Auf der Rückrunde beschleunigte sie allerdings das Tempo, obwohl sie das dumme Gefühl nicht loswurde, dass Kotti genau darauf spekuliert hatte – was natürlich Blödsinn war. Wie viele andere Hundebesitzer neigte auch sie dazu, das Verhalten ihres Vierbeiners auf grobe Weise zu vermenschlichen. Wenigstens war es ihr bewusst. Änderte das etwas? Nein.
Vielleicht wird es Zeit für Veränderungen, dachte Hannah, als sie später unter der Dusche stand. Seit ungefähr drei Jahren war sie als Kriminalpsychologin sowohl bundesweit unterwegs als auch in Berlin und Brandenburg mit aufreibenden Ermittlungen befasst. Ein vielschichtiger Fall hatte dabei weite Kreise gezogen, wie sich herausgestellt hatte – erschreckend weite Kreise, deren Auswirkungen sie auch Monate später nicht zur Ruhe kommen ließen, obwohl die Nachforschungen inzwischen zum größten Teil abgeschlossen waren. Besser gesagt: Sie konnte sich nicht verzeihen, dass ihr ein Täter aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität über gut anderthalb Jahre hatte folgen können, ohne dass sie es bemerkt hatte. Dabei spielte es keine oder höchstens eine untergeordnete Rolle, dass Mirko Sehler alias Sven Möller offenbar mehrfach und aus welchen Beweggründen heraus auch immer seine schützende Hand über sie – und Kotti – gehalten hatte, nachdem er sich von seinen Leuten losgesagt hatte und seine eigenen Wege gegangen war, die ihn an Hannahs Seite geführt hatten. Der Mann war ihr wie ein Schatten gefolgt, hatte Ermittlungen beeinflusst, der Polizei die Bälle zugespielt und getötet. Und niemand war ihm auf die Schliche gekommen … Mit Ausnahme einer Beamtin, die sich jedoch zu allem Überfluss auf sein eigenmächtiges Spiel eingelassen und dabei ein Dutzend Regeln und Gesetze gebrochen hatte. Becky Hinrich war inzwischen versetzt worden, wie Hannah mitbekommen hatte, und Sehler war untergetaucht, mal wieder. Sie selbst hatte sich seitdem ausschließlich mit internen Aufgaben befasst – Fortbildungen, Lehrgänge, Vorträge, wissenschaftliche Expertisen, Forschungsarbeit – und sich in keine einzige laufende Ermittlung eingeschaltet, obwohl es genügend Anlässe gegeben hätte. Und so sollte es auch bleiben.
Während Kotti sein Frühstück innerhalb von vier Sekunden vertilgte, gönnte Hannah sich einen Latte macchiato zu ihrem Müsli und feilte innerlich an dem kleinen Vortrag, den sie ihrem Chef halten wollte. Sie war sicher, dass er Verständnis zeigen und ihrem endgültigen Rückzug aus aktueller Ermittlungsarbeit zustimmen würde. Nun, sie hoffte, dass er ihr keine großen Steine in den Weg legen würde. Bevor sie aufbrach, rief sie Krüger über Kurzwahl an, um sich einen Morgentermin zu sichern.
»Du hast es also auch schon gehört?«, fiel er ihr ins Wort, kaum dass sie sich gemeldet hatte, und seine Stimme klang angespannt.
»Was habe ich gehört?«
»Hihmler ist verhaftet worden.«
»Wie bitte?« Hannah stockte der Atem. »Du sprichst doch nicht etwa von …?«
»Doch. Am besten kommst du sofort ins Präsidium.«
»Natürlich, aber …«
»Er steht unter Mordverdacht.«
»Das ist doch …«
»Absurd – ich weiß. Mach dich auf den Weg.«
Hannah unterbrach die Verbindung und starrte einen Moment ins Leere. Dann sagte sie ihre Fortbildung ab.
Daniel Hihmler war Experte für Rechtsextremismus, tätig für Verfassungs- und Staatsschutz. Bei zurückliegenden Fällen hatte er BKA und LKA in Berlin mit seinem Hintergrundwissen und umfangreichen Recherchen unterstützt. Hannah kannte ihn seit vielen Jahren als kompetenten, engagierten und pragmatischen Kollegen; ihre private Freundschaft hatte sich gerade in den letzten Monaten zunehmend vertieft. Seine schwer depressive Ehefrau war bei dem Therapeuten Doktor Johann Kling in Behandlung gewesen, bevor sie sich vor ungefähr einem Jahr das Leben genommen hatte. Und nun stand Daniel unter dem Verdacht, den Psychologen getötet zu haben.
Hannah saß ihrem Chef gegenüber und hatte Mühe, die Informationen zu verdauen. »Ich kann das nicht glauben«, wiederholte sie. »Das ist unmöglich.«
»Indizien und Beweise sprechen eine deutliche Sprache«, erwiderte Krüger. »Hihmler war zur Tatzeit mit Kling verabredet – der Termin ist im Kalender des Opfers vermerkt –, es gibt DNA-Spuren, sein Alibi für die Tatzeit ist sehr dünn, und ein Motiv ist auch herleitbar, zumindest für den Staatsanwalt. Was soll ich sagen? Es ist ein Alptraum.«
Hannah hob das Kinn und fixierte Krüger.
»Ich erläuterte lediglich die Lage«, erklärte er rasch mit erhobenen Händen. »Der Staatsanwalt hält es nach Prüfung der ersten Ermittlungsergebnisse für möglich, dass Hihmler den Therapeuten für den Suizid seiner Frau verantwortlich machte und im Verlauf eines Streits im Affekt tötete.«
»So ein …«
»Ich weiß«, warf Krüger rasch ein. »Wir halten das für undenkbar, und Hihmler selbst bestreitet die Tat ja auch. Es habe weder das besagte Treffen noch eine Auseinandersetzung gegeben, geschweige denn eine tödliche.«
»Selbstverständlich nicht!«, bekräftigte Hannah energisch. »Daniel wusste, dass seine Frau schwer krank war – unheilbar, um genau zu sein. Keine Therapie hat auch nur mittelfristig geholfen, das Gleiche galt für Medikamente. Nach all den Jahren hat sie es nicht mehr ausgehalten. Warum sollte er ein Jahr später ausgerechnet diesen Therapeuten töten? Das ist ein mehr als schräges Motiv.«
»Kling war der Letzte, der ihr zu helfen versucht hatte und dabei scheiterte. Ich muss gerade dir garantiert nicht erklären, dass zwischen Himmel und Erde die absonderlichsten Dinge geschehen. Und weil das so ist, konzentrieren sich die Ermittler auf das, was sie vorgefunden haben und sachlich belegen können – DNA, herleitbares Motiv, nachweisliche Zusammenkünfte …« Krüger brach ab. »Auch wenn dieser ganze Scheiß manchmal nicht das Geringste zu bedeuten hat, wie wir auch wissen.«
Hannah starrte einen Moment ins Leere. »Ich will mit ihm reden«, sagte sie schließlich. »Wir sind nicht nur langjährige Kollegen, sondern auch Freunde.«
»Ich weiß. Ich kümmere mich darum und melde mich bei dir.«
Hannah stand schon in der offenen Tür, als Krüger noch einmal das Wort ergriff. »Was wolltest du eigentlich vorhin von mir?«
»Bitte?«
»Du hast angerufen, und ich habe dich gar nicht erst zu Wort kommen lassen.«
Hannah überlegte nur einen Augenblick, dann schüttelte sie den Kopf. »Das ist jetzt unwichtig.«
Das war es in der Tat. Rückzugsgefechte und persönliche Karriereplanungen waren im Moment denkbar fehl am Platz. Hannah verkroch sich in ihr Büro; Kotti schlüpfte unter den Schreibtisch. Nachdem sie eine halbe Stunde die Wand angeblickt hatte, rief sie Lone Geising an, eine herausragende Recherchespezialistin beim LKA, mit der sie mehrfach erfolgreich in kleineren und auch größeren Teams zusammengearbeitet hatte. Die Nachricht von Hihmlers Festnahme hatte sich natürlich längst wie ein Lauffeuer unter den Kollegen verbreitet.
»Wer ermittelt eigentlich in dem Fall?«, fragte Hannah nach wenigen einleitenden Worten. Die waren bei Lone selten nötig und in diesem Fall schon mal gar nicht.
»Keiner von uns – zumindest zurzeit nicht.«
»Wir gelten als befangen?«
»Ja. Die Interne hat kurzerhand übernommen. Hauptkommissar Robert Malin.«
Der Name sagte Hannah nichts.
»Mark hatte vor einigen Jahren mal mit ihm zu tun«, fuhr Lone fort. Ihrem Tonfall nach zu urteilen, hatte der Kollege nicht die besten Erfahrungen mit ihm gemacht. Allerdings galt Mark Springer selbst als schwieriger Typ, der nicht in jedes Team passte, auch wenn er in den letzten zwei Jahren bewiesen hatte, dass in ihm ein ausgefuchster und ideenreicher Ermittler steckte – sobald man ihm an den richtigen Stellen einen etwas größeren Handlungsspielraum zugestand und Verantwortung übertrug.
»Und?«, fragte Hannah, als Lone ihren Hinweis nicht erläuterte.
»Mark hält wohl nicht viel von ihm.«
Wie gut, dass wir kein Team bilden müssen, dachte Hannah.
»Am besten fragst du ihn selbst.«
»Mach ich bei Gelegenheit. Wir bleiben in Kontakt.«
»Natürlich.«
Eine Stunde später meldete sich Krüger mit der Nachricht, dass ein Besuch in der JVA auf die Schnelle nicht genehmigt werden konnte – ein Telefonat aber schon. »Besser als gar nichts. Was heißt auf die Schnelle?«
»In zehn Minuten.«
»Das klingt gut.«
Hannah besorgte sich einen Kaffee. Als sie Minuten später Daniels dumpfe Stimme hörte, sank ihr das Herz. »Hannah, wie gut, dich zu hören.«
Als er seine Frau tot aufgefunden hatte, war Hannah die Erste gewesen, die er angerufen hatte. Mit brüchiger und zugleich aufgewühlt bebender Stimme.
»Was um Gottes willen ist los?«, fragte sie.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Es ist, als würde ich in einem komplett verrückten Alptraum feststecken und wäre nicht in der Lage aufzuwachen … Ich habe mit dem Tod des Therapeuten nicht das Geringste zu tun.«
»Natürlich nicht! Margret war bei Kling in Behandlung, und du kennst ihn?«
»Ja. Er war nicht besser, aber auch nicht schlechter als alle anderen Ärzte und Therapeuten, die ihr über all die Jahre zu helfen versuchten. Ihr Fall war aussichtslos.« Leises Räuspern.
»Ich weiß.«
»Das war nicht Klings Schuld. Warum also sollte ich einen Termin mit ihm vereinbaren – nach so langer Zeit? Und ihn dann erschlagen? Eine völlig abwegige Vorstellung!«
Hannah sah ihn förmlich vor sich – schmal, bleich, zutiefst verzweifelt und völlig aus der Balance. »Krüger konnte in Erfahrung bringen, dass der Staatsanwalt von einem sehr dünnen Alibi für die Tatzeit ausgeht«, fuhr sie schließlich betont sachlich fort. »Was sagst du dazu?«
»Tja, das ist wohl so. Ich habe einen langen Spaziergang gemacht und war auf dem Friedhof – an Margrets Grab. Das Handy hatte ich ausgestellt. Das tue ich dort immer.«
»Könnte dich jemand gesehen haben?«
»Keine Ahnung. Ich hoffe, dass die Ermittler dem nachgehen.«
»Notfalls gehe ich dem nach.«
»Danke.«
»Dafür musst du dich nicht bedanken.« Hannah atmete tief ein. »Auch wenn es platt und banal klingt, Daniel – du musst einen kühlen Kopf bewahren. Wir sind uns wohl darüber einig, dass du diesen Mann nicht getötet hast. Das angebliche Motiv ist Quatsch. Wie es aussieht, will man dir die Tat unterschieben. Die Frage lautet: warum? Wer hat dich auf dem Kieker? Bist du mit einer heiklen Sache beschäftigt? Kurzum – was war in letzter Zeit in deinem Job los?«
»Nur das Übliche, nichts, was auf besondere Weise hervorsticht oder hohe Wellen geschlagen hatte. Wir halten die Augen auf, wir legen die Finger in die braune Wunde, vielmehr in all die braunen Wunden und weisen auf die Risiken hin. Das ist übel genug, heikel oftmals, und häufig spucke ich gefährlichen Leuten in die Suppe. Aber etwas Spektakuläres hat sich gerade in letzter Zeit nicht abgezeichnet, sieht man einmal davon ab, dass braune Umtriebe an sich spektakulär genug sind. Nun, du weißt schon, worauf ich hinauswill. »
Daniel hatte sich über die Jahre hinweg zahllose Feinde im rechtsextremen Milieu gemacht und war immer wieder Hassattacken und Anfeindungen ausgesetzt. Hannah war der Ansicht, dass es keineswegs ausgeschlossen werden konnte, dass er mit seinen Nachforschungen mal wieder den falschen – oder eher: richtigen – Leuten auf die Füße getreten war. Leuten, die geduldig einen günstigen Zeitpunkt abgewartet hatten, um ihn in große Schwierigkeiten zu bringen. Andererseits …
»Das Ganze passt nicht zu den üblichen Attacken vom rechten Rand«, fügte er hinzu und nahm ihr damit ihre eigenen Einwände aus dem Mund. »Die beschimpfen mich im Netz, beschmieren mein Haus, stechen Autoreifen auf und so weiter. Aber ein untergeschobener Mord? So eine Tat ist relativ aufwändig, es gehört viel Hintergrundwissen dazu.«
»Das stimmt wohl, aber … Na ja, man kann nie wissen.«
Einen Moment blieb es still. »Kannst du was für mich tun?«
»Natürlich. Ich mache mich schlau zum Stand der Ermittlungen, und dann sehen wir weiter. Was sagt eigentlich dein Anwalt?«
»Nicht viel. Im Moment bemüht er sich um Haftverschonung. Ob er damit durchkommt, ist allerdings fraglich.«
Das befürchtete Hannah auch. Daniel war alleinstehend und finanziell abgesichert, was die Fluchtgefahr in den Augen des Staatsanwalts deutlich erhöhte – eine Einschätzung, die der zuständige Haftrichter teilen dürfte.
»Hannah?«
»Ja?«
»Hol mich hier raus.«
»Ich bin dabei.«
Sie wusste, dass das mehr als ein vollmundiges Versprechen war. Eine Viertelstunde später hatte sie Krügers Zustimmung eingeholt, zum Ermittlungsteam dazuzustoßen, und machte sich auf den Weg in die Interne.
Robert Malin war höchstens mittelgroß und schmal gebaut. Sein Gesicht war hager, das Haar dicht, eisgrau, tendenziell zu lang. Er trug ausgewaschene Jeans zu Sneakern und Sakko und musterte Hannah aus dunklen Augen. Sein Blick wirkte desinteressiert. Hannah spürte sofort, dass sie nicht willkommen war – eine Ausgangssituation, die nicht neu für sie war. Wenn sie zu unbekannten Teams dazustieß und sich in Fälle einmischte, sah man zunächst häufig die arrogante Besserwisserin vom BKA in ihr. Eine Vorverurteilung, die sie meistens entschärfen, ja, auflösen konnte, doch diesmal ging es nicht darum, einen Fall zu begleiten, der im weitesten Sinne mit ihrem Ressort zu tun hatte oder bei dem ihre speziellen Kenntnisse in Fragen der Vermisstensuche gefordert waren. Es ging um ihren Freund Daniel, und sie hatte nicht vor, lange für ihre Mitarbeit zu werben und dabei Rücksicht auf die Befindlichkeiten oder das Ego des leitenden Ermittlers zu nehmen.
Malin bot ihr einen Kaffee an, den sie dankend ablehnte, und machte keinerlei Anstalten, sie zu einem Vieraugengespräch in sein Büro zu bitten, sondern blieb neben dem Kaffeeautomaten stehen. Der große Besprechungsraum diente zugleich als Zentrale der Interne, in dem zurzeit mindestens ein Dutzend Leute arbeitete. Mehrere Augenpaare waren Hannah gefolgt, als sie Malin begrüßt hatte und Kotti neben ihr Platz nahm.
»Mein Team ist vollständig«, erklärte er. »Wir haben den Fall im Griff. Er ist eindeutig.« Er trank einen Schluck Kaffee und musterte sie gelangweilt.
Hannah nickte ungerührt. »Davon habe ich gehört. Und Sie sind fest überzeugt?«
»Selbstverständlich. Die Beweislage ist völlig überzeugend. Wenn es doch nur immer so einfach wäre.«
»Daniel Hihmler ist alles Mögliche – nur kein Mensch, der im Affekt tötet.«
»Woher wollen Sie das so genau wissen?«
»Ich kenne ihn sehr gut, und außerdem …«
»Sehen Sie – und darum leite ich die Ermittlungen«, fiel er ihr in gleichbleibendem Tonfall ins Wort. »Ich kenne ihn nicht, zumindest nicht persönlich. Mein Blick ist ungetrübt, neutral. So soll es sein, oder? Darüber hinaus bin ich davon überzeugt, dass jeder Mensch in der Lage ist zu töten, wenn man ihn zur richtigen Zeit am richtigen Punkt trifft. Er hat die Nerven verloren und sollte die Karten auf den Tisch legen, statt abzustreiten. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.«
Hannah starrte ihn an. Sie hatte große Mühe, gelassen zu bleiben. »Sie räumen der Möglichkeit, dass man ihm aufgrund seines Jobs übel mitgespielt hat, nicht einmal die geringste Chance ein? Es wäre nicht das erste Mal, dass man ihm schaden will.«
»Frau Jakob – bei allem Respekt, aber es gibt keinerlei Anzeichen für diese These.«
»Er war zur Tatzeit auf dem Friedhof, am Grab seiner Frau.«
»Sagt er.«
»Haben Sie es …«
»Natürlich.« Er deutete ein Kopfschütteln an. »Es gibt keine Zeugen. Außerdem schließt das eine das andere nicht aus. Es passt sogar gut zusammen. Er könnte auf dem Friedhof gewesen sein und ist anschließend zu Kling gefahren – emotional entsprechend aufgewühlt. Wir haben den Eintrag im Terminkalender, DNA und ein klares Motiv. Mehr kann man sich gar nicht wünschen, abgesehen von einem Geständnis.«
Hannah verschränkte die Arme. »Er war es nicht. Der Verdacht ist absurd.«
»Ihre Überzeugung reicht nicht aus, um ihn zu entlasten, und das ist auch gut so.«
Hannah hob das Kinn. »Nun, wenn Sie so sicher sind, dass Sie Ihren Täter bereits haben, dann können Sie mich auch nach den Lücken suchen lassen.«
»Es gibt keine Lücken.«
»Lassen wir es auf einen Versuch ankommen.«
Malin stellte seine Kaffeetasse ab und fixierte sie. Dann zuckte er mit den Achseln. »Na schön. Wir wissen beide, dass ich Ihr Mitwirken nicht ablehnen kann, ohne dass ich früher oder später die Quittung dafür bekäme. Wenn Sie also sonst nichts zu tun haben, steigen Sie mit ein, aber eins ist klar …«
»Sie sind der Chef, das habe ich verstanden.«
»Gut.« Er wies auf einen Kollegen, der am anderen Ende des Raumes hinter zwei überquellenden Schreibtischen thronte. »Colin hält hier die Fäden zusammen und dokumentiert den Fortgang der Ermittlungen. Er wird Ihnen alles zur Verfügung stellen, was Sie benötigen. Lesen Sie sich ein.«
»Das werde ich. Danke.«
Er nickte. »Sie dürfen keine Unterlagen mit nach Hause nehmen oder sich Kopien machen.«
»Das ist mir bekannt.«
»Gut. Noch was.« Er warf Kotti einen schnellen Blick zu, den dieser mit einem herzhaften Gähnen kommentierte. »Ich bin nicht gerade als Hundefan verschrien …«
»Nein? Nun, damit kann ich leben und Kotti sowieso.« Damit wandte sie sich um und steuerte den überfüllten Schreibtisch an, Kotti im Schlepptau.
Hannah geriet in ihrem Beruf nicht schnell aus dem Gleichgewicht, Temperamentsausbrüche und wüste Beschimpfungsarien überließ sie in der Regel anderen, vorzugsweise ihrer Freundin und Lübecker Kollegin Dagmar, die recht schnell rot sah und auch mal mit Kraftausdrücken um sich warf. In diesem Fall jedoch fehlte nicht viel. Malin war ein arroganter, selbstgefälliger Kotzbrocken, und dass Mark mit ihm aneinandergeraten war, wunderte sie keine Sekunde.
Sie griff sich einen Stuhl und setzte sich vor Colins Schreibtisch. Der Beamte war keine dreißig, schätzte Hannah. Er deutete ein vorsichtiges Lächeln an, und in seiner Mimik spiegelten sich dezentes Mitleid und Neugier.
»Ich möchte alles lesen, was mit dem Fall zu tun hat«, erklärte sie.
Colin sah über Hannahs Schulter hinweg kurz zu seinem Chef hinüber. »Alles klar. Papier oder …«
»Ich lese lieber am PC.«
»Gut. Ich kümmere mich um eine Zugangs-ID, dauert nicht lange.«
»Prima.« Sie lehnte sich zurück.
Colin räusperte sich. »Sie wollen darauf warten?«
»So ist es.«
»Okay. Ähm, ich beeile mich …«
»Das ist nett.«
Eine Viertelstunde später nahm Hannah im hintersten Winkel des Büros hinter einem verstaubten Monitor Platz und vertiefte sich in die Akte. Sie benötigte nicht lange, um festzustellen, dass der Fall lupenrein dicht war. Die Putzfrau hatte Johann Kling am frühen Morgen tot aufgefunden. Er war erschlagen worden. Die Tatwaffe – eine Wasserflasche – lag neben ihm. Der Rechtsmediziner ging in einer ersten Einschätzung davon aus, dass sein Tod am Abend zuvor eingetreten war, zu einem Zeitpunkt, da niemand mehr in der Praxis war. Kling war Single, demnach wunderte sich niemand, dass er abends nicht nach Hause kam. Der Eintrag im Kalender, in dem Daniel als letzter Besucher eingetragen war, und seine DNA-Spuren – wie viele Polizeibeamte und Ermittler hatte er sein DNA-Profil hinterlegt – führten schnell zu einer vorläufigen Festnahme. Seine Aussage wurde unverzüglich geprüft, ein Haftbefehl wenig später ausgestellt.
Hannah notierte sich die Kontaktdaten der Befragten. Sie war sicher, dass Malin alles andere als begeistert reagieren würde, wenn sie die Angaben prüfte und Rücksprache hielt. Es war ihr herzlich egal. Sie würde nicht eher ruhen, bis sie fündig geworden war.
Nach zwei Tagen intensiver Nachforschungen musste Hannah wohl oder übel zugeben, dass Malin recht hatte – auf den ersten Blick. Es gab keine einzige Lücke, sondern einen zweifelsfrei feststehenden Täter mit einem überzeugenden Motiv, und das wiederum konnte nur bedeuten, dass ein Profi am Werk gewesen war. Jemand, der das Umfeld von Kling und Daniel erforscht sowie einen perfekten Mord geplant und umgesetzt hatte. Und nun gab es zwei Opfer – den Ermordeten und einen Unschuldigen, dem die Tat in die Schuhe geschoben worden war.
Hannah war bewusst, dass sie keinen Schritt weiterkam, solange sie ihre Recherchen nicht ausweiten konnte, und zugleich war ihr klar, dass weder Malin noch der Staatsanwalt einer Ausweitung zustimmen würden – weil keine Notwendigkeit bestand. Beide freuten sich über den raschen Ermittlungserfolg, niemand hinterfragte ihn ernsthaft, obwohl der angebliche Täter ein hochgeschätzter Beamter im Polizeidienst mit blütenreiner Weste war, der sich mit seiner akribischen Arbeit so manchen Feind gemacht haben dürfte. Die Erklärung, dass auch ein hochgeschätzter Beamter mit ansonsten blütenreiner Weste die Nerven verlieren konnte, war offenbar völlig ausreichend, das Bild von Hihmler zu zerstören und seine Beteuerungen beiseitezuschieben. Das allerdings war durchaus erschreckend.
Bei einem dreißigminütigen Besuch in der JVA gelang es Hannah nur unter allergrößter Anstrengung, einen halbwegs optimistischen Eindruck zu hinterlassen. Daniel war bleich, die Untersuchungshaft zehrte an ihm, und sein Blick sprach Bände, als sie ihm von ihren bisherigen Ergebnissen berichtete.
»Es gibt also tatsächlich nicht einmal den Hauch eines Zweifels, der gegen mich als Täter spricht«, resümierte er schließlich. Einen Moment wirkte er fassungslos.
Das war die bittere Wahrheit. Hannah suchte seinen Blick. »Daniel, da hat dich jemand so richtig vorgeführt, darüber sind wir uns einig, oder?«
Er starrte sie an. »Du glaubst mir, oder?«
»Was für eine Frage – natürlich!«
»Jeder Mensch ist fähig zu töten. Das weißt du nur allzu gut.«
»Stimmt. Aber wenn du es getan hättest, würdest du die Tat nicht bestreiten«, entgegnete sie energisch. »Also brauchen wir einen anderen Ansatz. So einfach ist das.«
Daniel schloss kurz die Augen. »Einfach?«
»Nun, die Frage lautet, wer dich auf dem Zettel haben und zugleich über die Möglichkeiten verfügen könnte, einen derart ausgeklügelten Plan umzusetzen.«
»Tja, da kommen wahrscheinlich einige in Frage.« Daniel blinzelte. »Aber vielleicht geht es gar nicht vorrangig um mich – oder nur am Rande, weil ich da gerade so gut hineinpasse.«
Hannah nickte nachdenklich. »Das ist mir auch schon durch den Kopf gegangen. Es ist kaum vorstellbar, dass der Mord ausschließlich begangen wurde, um dich in allergrößte Schwierigkeiten zu bringen. Wir müssen uns also auch fragen, wer Kling aus welchen Gründen im Visier gehabt haben könnte und zugleich so gut über dich Bescheid weiß. Kennst du ihn – abgesehen von seiner therapeutischen Arbeit mit Margret?«
Daniel nickte. »Er ist – vielmehr er war – auch als Gutachter für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche tätig«, erklärte er. »Mein Büro kam mit Kling ins Gespräch, als wir vor einiger Zeit eine städtische Einrichtung für Kids aus dem Obdachlosen- und Straßenmilieu sowie einen Verein überprüft haben, der sich dort seit einiger Zeit engagiert …«
»Eine Routinemaßnahme?«
»Mehr oder weniger. Soweit ich mich erinnere, waren zwei oder drei Jugendliche, die dort betreut wurden, durch Gewalttaten im rechtsextremen Milieu aufgefallen. Und da Kling häufig in diesem Bereich tätig wurde, haben wir ihn angesprochen. Er versprach, einem Verdacht auf Verbreitung rechten Gedankenguts nachzugehen. Einige Zeit später war das Thema allerdings komplett erledigt.« Daniel hob kurz die Hände.
»Weißt du mehr über diesen Verein?«
»Er nennt sich ›Aufbruch‹ und unterstützt und fördert Jugendliche, die ohne familiären Zusammenhang aufwachsen. Bei dem Check zeigten sich keinerlei Auffälligkeiten hinsichtlich rechtsextremer Tendenzen – weder in dem Verein noch in der Einrichtung.«
»Und was war mit den gewaltbereiten Jugendlichen?«
»Die hatten einfach Lust auf Randale gehabt, ohne irgendeine politische Ausrichtung.« Daniel winkte ab. »Klingt nicht gerade aufregend, aber falls du da nachhaken willst …«
»Will ich, ja.«
Daniel hielt ihren Blick fest. »Du greifst nach einem Strohhalm«, sagte er leise.
»Ich suche nach einem Ansatz, und das Stichwort rechtsextreme Tendenzen hinterlässt grundsätzlich ein mulmiges Gefühl bei mir.«
»Selbst wenn sich der Verdacht nicht bestätigte?«
Irgendwo muss ich doch anfangen, dachte Hannah. »Ja, selbst dann«, bekräftigte sie.
»Na gut. Sprich mit meinem Büroleiter.«
»Wird er mit mir reden – abseits der offiziellen Ermittlungen, meine ich?«
»Er wird, wenn du ihm ein Stichwort nennst. Ich habe es mal für den Notfall mit ihm vereinbart, falls ich nicht erreichbar bin und der Zugriff auf meine Unterlagen wichtig ist.« Er sah sie mit einem traurigen Lächeln an.
»Euer Hochzeitstag?«
»Fast – Hochzeitstag und Ort unserer letzten Reise. Laredo, im Norden Spaniens. Sie erlebte dort ein paar glückliche Stunden.«
Wenig später brach Hannah auf. Ein Strohhalm? Ja. Aber sie griff nicht zum ersten Mal einen winzigen Hinweis auf, der die meisten Ermittler kaum hinter dem Ofen hervorlocken würde, von Malin ganz zu schweigen.
Am nächsten Morgen war Hannah die Erste im Büro und ging die Ermittlungsakte erneut durch. Als Malin auftauchte und sie entdeckte, stutzte er nur kurz und trat mit seinem Kaffee zu ihr. »Und? Haben Sie etwas entdeckt, Kollegin?«
Sie lehnte sich zurück. Sein Ton klang mäßig interessiert und bemerkenswert beiläufig. »Es gibt durchaus einige Punkte, die mich stutzen lassen«, erwiderte sie. »Zum einen war Kling als Gutachter auch für Hihmlers Büro tätig. Dabei ging es um …«
»Kling war für alle möglichen Behörden als psychologischer Gutachter tätig«, unterbrach er sie.
»Aber an diesem Punkt kreuzen sich die Wege von Hihmler und Kling im beruflichen Umfeld«, entgegnete Hannah.
»Die haben sich bereits vorher überschnitten – als Hihmlers Frau bei Kling in Therapie war.«
Hannah kniff die Lippen zusammen. »Finden Sie nicht, dass Ihre Sichtweise stark eingrenzend oder auch ausgrenzend ist?«
Er lächelte schmallippig. »Ganz und gar nicht. Der Fall löst sich ja quasi von selbst. Hihmler kommt aus der Geschichte nicht heraus, auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen. Und selbst wenn sich noch ein Zeuge fände, der ihn ungefähr zur Tatzeit entlasten könnte, würde das die DNA am Tatort nicht erklären.«
»Sie wissen doch selbst, dass es nicht besonders schwierig ist, DNA zu platzieren, schon mal gar nicht, wenn man sich mit Ermittlungsarbeit auskennt.«
»Ist es nicht, nein. Was fehlt, ist ein schlüssiger Beweis dafür, dass und warum jemand so agiert hat. Es gibt an der Stelle einfach keinen Spielraum.«
Den gibt es sehr wohl, dachte Hannah. Fast war sie versucht, ihn zu fragen, ob ihn ein persönliches Interesse an der schnellen Verurteilung von Hihmler antrieb. Sie hob das Kinn. »Wissen Sie, was ich merkwürdig finde?«
»Sie werden es mir gleich verraten.«
»Ich habe mir heute früh noch einmal das kriminaltechnische Gutachten im Detail angesehen. Es listet akribisch die vorgefundene DNA von Hihmler auf …«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist bekannt.«
»Was aber nicht erwähnt wird, sind Fingerabdrücke«, fuhr Hannah fort. »Haben Sie dafür auch eine Erklärung?«
»Eine ziemlich plausible noch dazu – er hat sie abgewischt. Der Kriminaltechniker hält das auch für wahrscheinlich.«
»Davon steht nichts im Bericht.«
»Er ist vorläufig, wie Sie wissen.«
»Nun, immerhin tippen Sie nicht darauf, dass er Handschuhe trug«, fügte Hannah in sarkastischem Ton hinzu.
»Nein, davon gehe ich nicht aus.«
»Das würde auch nicht zu Ihrer These vom Affekt passen.«
»Schon klar, Kollegin. Und Sie wissen, dass es mehr als eine These darstellt.«
»Hihmler macht sich also die Mühe und beseitigt seine Fingerabdrücke. Passt das zu einer Affekthandlung, zumal er weiß, dass ihn seine DNA verraten wird?«, fuhr Hannah fort. »Und wenn er schon Spuren beseitigt, warum vergisst er, den Terminkalender zu prüfen, der auf dem Schreibtisch liegt und in dem sein Name eingetragen ist? Für wie blöd halten Sie ihn eigentlich? Immerhin ist er ein Polizeibeamter, dem diese Zusammenhänge auch in einer Stresssituation klar sein dürften. Den Kalender hätte er ja zumindest erst mal verschwinden lassen können, oder?«
Malin strich sich das Haar zurück und seufzte leise. »Ich halte ihn nicht für blöd, Frau Jakob. Ich halte ihn für einen verzweifelten Mann, der im Affekt zum Mörder wurde und in der Folge alles andere als logisch handelte, was auch die von Ihnen erwähnten Punkte betrifft. Nach meiner Einschätzung wird es nicht mehr lange dauern, bis ihm klar wird, dass ein Geständnis der einzig vernünftige Weg ist. Es wird eine Erleichterung für ihn sein.«
»Wie kommt sein Name eigentlich in den Terminkalender? Die Verbindungsdaten bestätigen, dass ein Telefonat nachweislich nicht stattfand …«
»Nicht von Hihmlers Handy oder seinem Festnetz.«
»Er hat also von irgendeinem Apparat angerufen, um keine Spur zu hinterlassen? Das klingt weniger nach Affekt als nach planvollem Vorgehen.«
»Oder das Telefonat hat sich zufällig ergeben, und Hihmler streitet die Kontaktaufnahme im Nachhinein ab.«
Wir drehen uns im Kreis, und du bist um keine noch so billige Ausrede verlegen, um alle Aspekte gegen ihn auszulegen, dachte Hannah. Ihre Entrüstung war bedrohlich angewachsen. »Ich werde mir einen Überblick darüber verschaffen, woran er in letzter Zeit gearbeitet hat. Und dann sehen wir weiter.«
»Tun Sie das und halten Sie mich gerne auf dem Laufenden«, erwiderte Malin gelassen und trank seinen Kaffee aus. Er wandte sich zur Tür um, als zwei seiner Leute eintraten, und ging ihnen entgegen. Die Unterredung war beendet.
Hannah blieb einen Moment stumm sitzen und ließ das Gespräch sacken, während Kotti seine Schnauze quer über ihre Füße gelegt hatte. Wenig später verließ sie das Büro, um in Ruhe mit Krüger zu telefonieren.
»In diesem Team macht sich niemand die Mühe, auch nur wenige Zentimeter abseits der üblichen Wege nach Erklärungen und Hinweisen zu suchen, und Malin ist heilfroh, wenn er mich endlich wieder los ist«, schloss sie ihren Bericht. »Die Akte soll so schnell wie möglich vom Tisch. Warum eigentlich? Meine Güte, der Mann ist ein Kollege!« Sie hörte selbst, dass ihre Stimme bebte.
»Darum ermittelt ja die Interne«, wandte Krüger vorsichtig ein. »Die Gründe sind nachvollziehbar.«
»Aber da stimmt was nicht!«
Schweigen.
»Ich brauche etwas Spielraum«, sagte sie dann.
Leises Räuspern.
»Chef?«
»Ja. Ich verstehe.«
»Gut. Außerdem benötige ich Unterstützung von einer bewährten Recherchefrau.«
»Das habe ich auch verstanden.«
»Ich fasse das als inoffizielle Zustimmung auf.«
»Würde ich an deiner Stelle auch tun. Und es wäre prima, wenn Malin oder wer auch immer aus der Internen nicht das Geringste davon mitbekommt.«
»Das habe ich verstanden.«
»Gut.« Damit legte Krüger auf.
Hannah ließ das Handy sinken, sah kurz auf die Uhr und machte sich auf den Weg in die Cafeteria. Nach einem kurzen Imbiss drehte sie eine Hofrunde mit Kotti und rief Lone an. »Ich brauche deine Hilfe, genauer gesagt – Daniel.«
»Ich verstehe.«
»Inoffiziell.«
»Auch klar. Ich bin dabei.«
Hannah schloss kurz die Augen. »Wir müssen Kling unter die Lupe nehmen und mit Daniels Arbeit abgleichen.«
»Das kriege ich hin.«
»Wir müssen vorsichtig kommunizieren.«
»Ja.«
Hannah lächelte. Lone galt als einsilbig. Sie war keine Plaudertasche, und je mehr sie sich auf eine Aufgabe konzentrierte, desto wortkarger wurde sie. Es gab Kollegen, die damit gar nicht gut klarkamen, Mark zum Beispiel.
»Ich fahre in sein Büro und melde mich wieder.«
»Okay.«
Daniels Büroleiter Andreas Ebert wirkte zutiefst betroffen und irgendwie auch erleichtert, als ihm klarwurde, dass Hannah auf eigene Faust und mit stillschweigender Duldung des BKA ermitteln würde. »Was immer ich tun kann, ich bin dabei«, hatte er sofort erklärt.
Die Suche nach Überschneidungen mit Kling führten zu den von Daniel erwähnten Jugendlichen. Es handelte sich um zwei Fünfzehnjährige, die seit früher Kindheit befreundet waren und einige Monate zuvor ins Visier des Staatsschutzes geraten waren. Sie hatten sich einer Gruppe von Gewalttätern aus der rechten Szene angeschlossen, die ein junges Paar aus Somalia verfolgt, mit rassistischen Sprüchen beleidigt und verprügelt hatte. Beide waren zu Jugendknast und Sozialstunden verurteilt worden, weil sie nicht zum ersten Mal straffällig geworden waren.
Der Therapeut hatte sie als orientierungslos und grundsätzlich gewaltbereit eingestuft, wie Hannah in seinem Gutachten nachlas. Beide stammten aus sogenannten Problemfamilien; sie lebten vornehmlich auf der Straße und tauchten im Umfeld von Jugendbanden auf. Eine ausschließliche Tendenz und damit die Gefahr der Radikalisierung im rechtsextremistischen Milieu sah Kling allerdings nicht. Seiner Einschätzung nach hatten die beiden den Anschluss an gesellschaftliche Werte und Normen verloren und nutzten Gewalt – unabhängig davon, gegen wen sie sich aus welchem Grund richtete – als Ventil. Einer langfristigen therapeutischen Maßnahme hatten sich beide entzogen, die Erziehungsberechtigten waren nicht zur Zusammenarbeit bereit.
Hannah atmete tief durch. Die nüchternen Erklärungen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, was hinter Klings Charakterisierung durchschimmerte – er sprach von zwei jungen haltlosen Menschen, deren Weg in den tiefen Sumpf der Kriminalität vorgezeichnet war, falls nichts Entscheidendes geschah. Darüber hinaus stellte sich allerdings auch die Frage, inwiefern dieser Vorgang auch nur ansatzweise mit dem Mord zusammenhing oder geeignet war, weitere Erkenntnisse zu gewinnen.
Daniel hatte seinerzeit die Namen weitergegeben und um eine Überprüfung gebeten, die auch die Kinder- und Jugendeinrichtung sowie den Verein Aufbruch einschlossen. Eine besorgniserregende Beurteilung bezüglich rechtsextremistischer Bestrebungen war nicht dabei herausgekommen. Somit war das Ganze als alltäglicher, sogar vergleichsweise unauffälliger Vorgang in seinem Arbeitsalltag einzustufen. Berührungspunkte zum Mord an Kling, verübt angeblich von einem Polizeibeamten, existierten nicht, nicht auf den ersten Blick.
Hannah überlegte, Klings Praxis ohne Voranmeldung einen Besuch abzustatten. Das Risiko, dass Malin davon erfuhr, wenn sie Mitarbeiter befragte, war groß. Andererseits würde sie auf keinen grünen Zweig kommen, wenn sie sich ausschließlich darauf beschränkte, vorsichtige Hintergrundrecherche zu betreiben.
Kling hatte in einer Gemeinschaftspraxis mit zwei weiteren Therapeuten, einer Internistin und einer Psychiaterin in der Wiener Straße in der Nähe des Görlitzer Parks praktiziert. Als Hannah eintraf, war die Tür verschlossen. Sie stöhnte leise und sah dann auf die Uhr – Mittagspause. Sie klopfte dennoch. Nach einer Minute drehte sich ein Schlüssel im Schloss, und die Tür schwang ein Stück auf.
Eine junge Frau blickte ihr aus dunklen Augen entgegen. »Die Praxis öffnet erst in einer Stunde«, erklärte sie.
»Es ist sehr dringend«, meinte Hannah.
»Geht es Ihnen nicht gut?«
Hannah zögerte.
»Brauchen Sie ein Rezept?«
»Ich bin keine Patientin. Aber ich muss dringend mit Ihnen reden.« Hannah zückte ihren Ausweis. »Es geht um den Mord an Doktor Kling«, fügte sie leise hinzu.
»Ich dachte, die Ermittlungen seien abgeschlossen. Der Täter sitzt doch bereits im Gefängnis.«
»Es gibt einen dringend Tatverdächtigen«, gab Hannah zu. »Inzwischen haben sich allerdings noch weitere Fragen ergeben.«
»Ich habe meine Aussage längst gemacht. Außerdem hatte ich zur fraglichen Zeit frei.«
»Frau …«
»Pätzold, Sina Pätzold.«
»Geben Sie mir fünf Minuten?«
Pätzold nickte nach kurzem Zögern und zog die Tür auf. »Na schön. Kommen Sie herein.«
»Gilt das auch für ihn?«
Hannah wies auf Kotti, der wie abgesprochen neben ihr Platz nahm und seinen schönsten Schmelzblick aufsetzte.
Ein Lächeln flog über Pätzolds Gesicht. »Ausnahmsweise.«
Hannah folgte ihr durch eine helle Diele in einen kleinen Aufenthaltsraum. Zahlreiche Blumensträuße mit Grußkarten standen in Vasen oder lagen in Wickelpapier eingeschlagen auf einer Anrichte. Pätzold wies auf einen Tisch. »Nehmen Sie Platz. Möchten Sie einen Tee oder etwas anderes?«
»Danke, nein.« Hannah ließ kurz den Blick schweifen.
»Er war sehr beliebt«, sagte Pätzold und setzte sich zu ihr. »Die Leute bringen Blumen vorbei und zünden Kerzen vor dem Haus an …« Sie schluckte. »Ich glaube, ich habe es noch gar nicht so richtig begriffen. Er ist tot, noch dazu ermordet.« Sie schüttelte den Kopf. »Unfassbar.«
»Sie kannten ihn lange?«
»Ich arbeite seit fünf Jahren als medizinische Fachangestellte in der Praxis. Er war ein guter Therapeut und ein toller Chef. Auch die Zusammenarbeit mit den anderen Ärzten war und ist ganz hervorragend«, begann sie zu erzählen. »Man unterstützt sich gegenseitig, und in den Teamsitzungen kommt jeder und jede zu Wort. Das ist durchaus nicht üblich. Kling hat dafür gesorgt. Nun ist alles aus der Balance geraten. Wir stehen unter Schock, könnte man sagen, und versuchen trotzdem, den Praxisbetrieb aufrechtzuerhalten, die Patienten zu betreuen oder andere Therapeuten um Hilfe zu bitten. Die Leute brauchen uns ja. Aber das dürfte Sie wohl weniger interessieren.«
»Und ob mich das interessiert.«
Pätzold schwieg einen Moment. »Der Täter …«
»Der mutmaßliche Täter.«
Pätzold blinzelte, dann zuckte sie mit den Achseln. »Na schön, dieser Hihmler ist noch nicht verurteilt, aber alles spricht gegen ihn, wenn ich es richtig verstanden habe.«
»Sie kennen seinen Namen?«
»Ja, natürlich. Ich konnte mir in der Befragung einiges zusammenreimen, war auch nicht so schwer. Er stand zur fraglichen Zeit im Kalender, und seine Frau war bei Kling in Behandlung. Sie hat Suizid begangen. Es heißt, dass er die Nerven verloren hat.«
Hannah nickte. »So heißt es – ja.«
Pätzold legte den Kopf schief. »Zweifeln Sie daran?« Sie klang erstaunt.
»Um ehrlich zu sein – ja«, gab Hannah zu, obwohl sie wusste, dass sie sich damit auf dünnes Eis wagte. »Ich möchte trotz der zahlreichen Indizien zumindest nicht ausschließen, dass auch ein anderer Tathergang denkbar wäre.«
»Warum?«
Daniel ist ein liebenswerter Mensch und Freund, dem Gewalt und Extremismus zuwider sind, hochengagiert in seinem Beruf, klug, ernsthaft, hilfsbereit, warmherzig, hätte sie am liebsten geantwortet. Als Ermittlerin und Kriminalpsychologin wusste sie aber nur allzu gut, dass all seine Vorzüge und Eigenschaften im Fall der Fälle keinen tatsächlichen Widerspruch darstellten. Sie überlegte kurz. »Lassen Sie es mich so formulieren: Mir sind ein paar Aspekte aufgefallen, denen ich nachgehen möchte.«
Pätzold lehnte sich zurück, ihr Blick verschärfte sich plötzlich. »Er ist auch im Polizeidienst, also ein Kollege von Ihnen. Geht es Ihnen darum?«
»Nein. Ich würde auch nachhaken, wenn er Automechaniker oder Buchhalter wäre und wir uns nicht kennen würden.« War das nicht etwas vollmundig ausgedrückt? Nein. Sie befand sich als Ermittlerin nicht zum ersten Mal in der Situation, einen angeblich lupenreinen Fall bis ins kleinste Detail zu überprüfen und dabei jeden einzelnen Gesichtspunkt in Frage zu stellen.
»Na schön. Was genau interessiert Sie? Aber bedenken Sie bitte, dass ich, wie gesagt, an dem Tag nicht in der Praxis war.«
»Um diesen speziellen Tag geht es mir gar nicht. Mich interessieren andere Aspekte. Wie hat Doktor Kling seinen Terminkalender geführt?«
»Es gibt einen digitalen Praxiskalender mit einer üblichen Terminvergabefunktion, und Kling hat zusätzlich eine Kalenderkladde auf seinem Schreibtisch gehabt«, erwiderte sie ohne Zögern. Sehr wahrscheinlich beantwortete sie diese Frage nicht zum ersten Mal. »Darin hat er handschriftlich private oder halbprivate Termine außerhalb der üblichen Sprechzeiten notiert – seine Arztbesuche, Theater, irgendwelche Treffen, Geburtstage und so weiter.«
»Und der Termin mit Hihmler war in der Kladde vermerkt und nicht im PC?«
»Genau.«
Hannah entsann sich des Berichtes in der Akte. Es bestand kein Zweifel an der Echtheit der Notiz und daran, dass Kling den Termin selbst eingetragen hatte.
»Wissen Sie, wann er diesen späten Abendtermin mit Hihmler notiert hat?«, fuhr sie einen Augenblick später fort.
»Nein. Aber feststeht, dass zu diesem Zeitpunkt niemand mehr in der Praxis war. Also abgesehen von Kling, der häufig die Ruhe nutzte, um Gutachten zu schreiben«, erklärte Pätzold. »Es war schon seit Stunden kein Praxisbetrieb mehr. Am Mittwochnachmittag findet nämlich keine Sprechstunde statt.«
»Auch nicht bei den anderen Ärzten?«
»Nein. Wir arbeiten an den anderen Tagen bis abends. Der halbe freie Tag am Mittwoch ist uns heilig.«
»Ich verstehe. Kling war also hier, hat womöglich in Ruhe gearbeitet und dann auf Hihmler gewartet, dem er am Abend einen Termin eingeräumt hatte.«
»So ist es.«
»Warum?«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, der freie Mittwoch ist heilig, wie Sie gerade erläutert haben. Kling nutzte gerne die Ungestörtheit – warum empfing er Hihmler, den er lediglich aus beruflichen Zusammenhängen kannte, und trägt den Termin in seiner eher privaten Kladde ein?«
»Nun, vielleicht passte es zeitlich nicht anders, und Kling hat grundsätzlich immer alle Termine eingetragen. Das war so seine Art. Außerdem lag er ja außerhalb der üblichen Sprechzeiten.«
Hannah nickte.
»Haben Sie Hihmler je persönlich kennengelernt?«
Pätzold nickte. »Er hat manchmal seine Frau begleitet …« Sie überlegte kurz und schüttelte den Kopf. »Nie und nimmer hätte ich ihm zugetraut, derart die Kontrolle zu verlieren. Aber das heißt ja nun gar nichts.«
Vielleicht doch. Hannah schlug ein Bein über das andere. »Können Sie sich an das Gutachten erinnern, das Kling vor einiger Zeit im Auftrag von Hihmlers Büro anfertigte? Darin ging es um zwei gewalttätige Jugendliche …«
»Selbst wenn – dazu darf ich Ihnen nichts sagen!«
»Ich kenne das Gutachten, Frau Pätzold. Mir geht es um den Ablauf der gutachterlichen Tätigkeit und das nähere Umfeld seines Auftrags. Gab es Probleme mit der Einrichtung, die sich um Kinder und Jugendliche im Straßenmilieu kümmert? Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
Pätzold blies die Wangen auf und schüttelte den Kopf. »Nein, nicht das Geringste. Kling hat sich vor Ort ein Bild gemacht, die Jugendlichen waren zum Gespräch hier, und das war es auch schon. Er hat das Gutachten geschrieben, und fertig. Im Übrigen war er dort häufiger als Berater und auch Therapeut tätig, zum Beispiel in Fällen, in denen es um Gewalt in der Familie geht und das Jugendamt involviert ist. Es lief alles wie immer ab, nur dass in diesem Fall der Schwerpunkt der Untersuchung ein anderer war.«
Hannah nickte. »Hat er sich mal zu dem Verein geäußert, der sich dort engagiert?«
Pätzold schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Wenn ich das richtig verstanden habe, fördert der Verein Jugendliche, die sich auf den Weg machen, vermittelt Ausbildungsplätze und Jobs und spendet regelmäßig.«
»Das klingt großartig.«
»Finde ich auch.«
Hannah ließ das Gespräch kurz darauf ausklingen. Sie stand schon in der Tür, als sie sich noch einmal zu Pätzold umdrehte. »War Doktor Kling irgendwie anders in letzter Zeit?«
»Nein …« Sie zögerte. »Na ja, er wirkte ein bisschen überarbeitet, aber das tun wir ja alle hin und wieder mal.«
»Ja, natürlich. Hatten Sie das Gefühl, dass er mit persönlichen Problemen beschäftigt war?«
Pätzold lächelte traurig. »Er hat sein Privatleben nie thematisiert. Als er sich vor Jahren scheiden ließ, hat das hier in der Praxis niemand mitbekommen. Später ließ er mal beiläufig fallen, dass er und seine Exfrau gute Freunde geblieben seien. Aber das war es dann auch schon.«
»Verstehe«, entgegnete Hannah. Als sie sich von ihrem langjährigen Lebensgefährten getrennt hatte, war auch von der Freundschaft nicht allzu viel übriggeblieben. Und das Scheitern kurzfristiger Beziehungen ließ selten Spielraum – insbesondere wenn man die Verlassene war.
Bevor sie in den Wagen stieg, ließ sie Kotti ein paar Minuten laufen und nahm Kontakt mit Lone auf. Es gab keinerlei Hinweise und damit nicht mal den Ansatz eines Ermittlungsspielraums, aber sie bat die Kollegin dennoch, so viel wie möglich zu Kling, dem Kinder- und Jugendhaus sowie dem Verein herauszufinden.
»Notiert«, sagte Lone gewohnt knapp.
»Danke.« Hannah öffnete die Wagentür, um Kotti auf die Rückbank springen zu lassen. Bevor ihr ständiger Begleiter einstieg, drehte er sich noch einmal um, hob die Nase und starrte einen Augenblick Richtung Straße.
»Später drehen wir noch eine ausgedehnte Runde«, versprach Hannah.
Hauptkommissar Robert Malin steckte sein Handy wieder ein. Der Hinweis des Kollegen wunderte ihn nicht länger als einen Wimpernschlag. Hannah Jakob war bekannt dafür, dass sie ihre eigenen Wege ging – in diesem Fall hätte er eine Wette darauf abschließen können, dass sie auf ihre Art nachforschen und dabei seine Anweisungen links liegen lassen würde.
Solange es dabei blieb, dass sie ihre Fühler ein wenig ausstreckte, um den Freund zu unterstützen, brauchte er sich keine Sorgen zu machen und sollte geflissentlich und mit großer Gelassenheit darüber hinwegsehen. Eine Nachfrage in Klings Praxis war nicht weiter tragisch. Riskant wurde die Sache erst in dem Moment, in dem sie tiefer und weitverzweigt zu graben begann. Erst dann war er zum Handeln gezwungen. Seiner Einschätzung nach würde sie bald die Flinte ins Korn werfen.
Lone hatte sich mit der ID eines IT-Kollegen, der zurzeit im Urlaub war, in die Polizeidatenbank eingeloggt, nachdem sie bei der Suche im Netz nichts Aufregendes entdeckt hatte. Sicher war sicher. Aber auch hier waren die Ergebnisse zunächst bescheiden. Es gab über die üblichen allgemeinen Infos und Rahmendaten hinaus kaum etwas zu Kling, das Gleiche galt für das Kinder- und Jugendhaus und den vor drei Jahren gegründeten Verein sowie dessen Gründungsmitglieder – allesamt unauffällige Geschäfts- oder Privatleute, die sich für die Förderung von sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen einsetzten.
Vorsitzender war der fünfundvierzigjährige Sandor Kittner, Geschäftsführer einer Unternehmensberatung, die auf den osteuropäischen Raum spezialisiert war und mit individuellem Marketing sowie Geschäftsanbahnungsstrategien warb. Ein Bezug zu Hihmler fehlte komplett, allerdings fand sich ein beiläufiger Hinweis auf ein eingestelltes Ermittlungsverfahren.
Wenigstens etwas. Lone konkretisierte ihre Recherche. Staatsanwalt Henrik Kausch hatte nach einer Betriebsprüfung des Finanzamtes wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung gegen Sandor Kittner beziehungsweise die Unternehmensberatungsfirma ermittelt. Auch der Verein war in diesem Zusammenhang überprüft worden – ohne Ergebnis. Das Ganze lag ein gutes Jahr zurück.