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Abigail lebt in einfachen Verhältnissen. Als sie gezwungen wird, in die Hafenstadt Satoori zu reisen, begegnet ihr zum ersten Mal ein Mann, der ihr den Kopf verdreht. Eine Liebe ist zwischen den beiden nicht möglich, zu groß sind die gesellschaftlichen Barrieren. Doch Abby ist bereits rettungslos verloren. Blind vor Liebe begeht sie eine folgenschwere Dummheit.Wohin wird ihr Weg sie führen?
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Abigail lebt in einfachen Verhältnissen. Als sie gezwungen wird, in die Hafenstadt Satoori zu reisen, begegnet ihr zum ersten Mal ein Mann, der ihr den Kopf verdreht. Eine Liebe ist zwischen den beiden nicht möglich, zu groß sind die gesellschaftlichen Barrieren. Doch Abby ist bereits rettungslos verloren. Blind vor Liebe begeht sie eine folgenschwere Dummheit. Wohin wird ihr Weg sie führen?
Emma Ruby schreibt Liebesromane aus Leidenschaft. Ihr Debütroman 'Abigails Geheimnis' ist eine Historical Romance.
Für Kenji.
Abigail (Abby) - Protagonistin, ein Mädchen aus dem Armenvierteln von Moya
Aiden - Stallbursche bei den Hills
Bixby - Leibarzt der Hills
Briar Hill - Graf senior
Caleb Hill - Graf junior
Dorian - fahrender Händler
Edwin – Abbys Bruder (Zwilling von Will)
Elisa - Dienstmädchen und Zofe der Gräfin Hill
Frieda - Köchin bei den Hills
Georgina - Küchenmagd der Hills
Holland Mudley - Calebs Braut
Hamilton - Baron in Cassadalia
John Hopper - Geschäftsmann in Cassadalia
Justin - persönlicher Diener des Grafen Briar
Marcus - persönlicher Diener des Grafen Caleb
Milo Jenkins - Schneider in Satoori
Missy - oberste Haushälterin der Hills
Mora - Assistentin von Dr. Sanderson
Nick - Straßendieb
Nieke - Dienstmädchen und Zofe der Gräfin Hill
Paislee - Spülmagd bei den Hills
Phillis - Ehefrau von Milo Jenkins, dem Schneider
Reed - 2. Kutscher bei den Hills
Remington - 1. Kutscher bei den Hills
Romina Hill - Gräfin
Ruth - Calebs Tante
Sanderson - Arzt aus Cassadalia
Savannah - Küchenmagd der Hills
Sebastian - Butler bei den Hills
Serina - Gräfin in Cassadalia
Talea - Abbys jüngere Schwester
Will – Abbys Bruder (Zwilling von Edwin)
Xeni - Dienstmädchen bei den Hills
Zev - Stallbursche bei den Hills
1. Moya
2. Der Händler
3. Zehn Gulden
4. Überfall
5. Der Kuss
6. Satoori
7. Hill Manor
8. Caleb
9. In die Stadt
10. Die verlorenen Hausmädchen
11. Nick
12. Drohungen
13. Ertappt
14. Der Schuppen
15. Wichtige Geschäfte
16. Ersatz
17. Die Überfahrt
18. Cassadalia
19. Ein neues Kleid
20. Baron Hamilton
21. Überfall
22. Im Hause des Arztes
23. Rückfahrt
24. Zurück in Hill Manor
25. Zweisamkeit
26. Fiebernacht
27. Bye bye Nick
28. Liebesnacht
29. Der Ball
30. Nächtlicher Ausflug
31. Die Münze
32. Auf dem Markt
33. Holland
34. Hochzeitsnacht
35. Die neue Zofe
36. Klavierspiel
37. Unterhaltung
38. Junge Ehe
39. Ein neuer Morgen
40. Besorgungen
41. Neuigkeiten
42. Böse Überraschung
43. Verdächtigungen
44. Trennung
45. In der Zelle
46. Die Flucht
47. Die Katakomben
48. Begegnung
49. Rückkehr
50. Vergeltung
51. Abby und Caleb
Abigail schmerzten die Arme vom Tragen der schweren, mit Wasser gefüllten Eimer. Es war bereits das zweite Mal, dass sie heute Morgen vom Haus den weiten Weg zum Brunnen auf dem kleinen Stadtteil-Marktplatz von Moya und zurück lief. Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen und der kalte Morgenwind zog ihr gnadenlos durch das dünne Leinenhemd. Sie hatte sich ihr Umschlagtuch eng um die Schultern gebunden, doch es deckte nur einen kleinen Teil des Rückens ab. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr die Zähne leise aufeinanderschlugen. Ihre langen, hellbraunen Haare waren locker zu einem Zopf geflochten und dieser lag ihr schräg über die Schulter. Abigail hatte ein weiches, schmales Gesicht, große Augen und lange Wimpern. Ihr schlanker Körper versank in einem viel zu großen Kleid. In der Taille hatte sie sich einen zerschlissenen Schal statt eines Gürtels umgebunden, damit es wenigstens einigermaßen eng anlag. Ihre nackten Füße fanden trotz der Dunkelheit ihren Weg, die gewundene Straße hinauf zum Haus, wo ihre Mutter bereits ungeduldig wartete.
Sie war noch müde und ihr Magen knurrte laut, während sie immer einen Schritt vor den anderen setzte. Jeder einzelne war anstrengender als der vorherige. Die Straße ging steil bergan und die Steine waren spitz und scharfkantig. An einer Wegbiegung passte sie kurz nicht auf und strauchelte. Dabei verspritzte sie eine kleine Menge des kostbaren Wassers, das in den Eimern wild umherschwappte. Aber sie hielt gerade noch ihr Gleichgewicht und ging mit zusammengebissenen Zähnen weiter voran.
Schließlich kam das Haus in Sicht. Die Morgendämmerung ließ die Konturen des Gebäudes in der Ferne erscheinen. Dieser Anblick war ihr so vertraut, dass er ihr ein leichtes Gefühl von Verbundenheit gab. Doch das Gefühl verflog, kaum dass sie die scharfe Stimme der Mutter schon von Weitem keifen hörte. Es war doch noch viel zu früh, um schon wieder aus der Haut zu fahren. Doch ihre Mutter fand immer einen Grund, erzürnt zu sein. Und das von der Minute an, in der sie die Augen aufschlug bis zum späten Abend, wenn sie sich Schlafen legte.
Abigail beschleunigte ihre Schritte. Welches ihrer Geschwister war diesmal das Opfer? Sie konnte die Worte zwar nicht verstehen, doch am Ton erkannte sie, dass irgendeine Arbeit schon wieder nicht zu ihrer vollen Zufriedenheit erledigt worden war. Darunter gab es nichts. Entweder es war genau so, wie sie es wollte, oder es gab Schläge.
Abigail war mit siebzehn die Älteste von vier Geschwistern. Sie waren zwei Mädchen und zwei Jungen. Talea war ihre jüngere Schwester. Sie hielt sich meist von Problemen fern. Also betraf die Schelte mit großer Wahrscheinlichkeit einen ihrer Brüder. Die Zwillinge Edwin und Will hatten die Aufgabe, die Feuerstätte zu säubern und neues Feuerholz zu besorgen.
Die Familie lebte hier schon sehr lange. Ihre Mutter beschwerte sich über alles. Nichts konnte man ihr recht machen: Das Feuer war zu groß oder zu klein, die Suppe versalzen oder geschmacklos, der Hof war nicht gefegt, die Geschwister waren zu laut, zu spät, zu faul, zu ungehorsam. Und jeden Tag ließ sie sich darüber aus, dass Abigail in ihrem Alter noch immer keinen Mann gefunden hatte. Das war jedoch nicht so einfach, da Abigail praktisch nie die Gelegenheit bekam, überhaupt das Haus zu verlassen. Die Mutter drückte ihr alle anfallenden Arbeiten auf, so dass sie von früh bis spät nur damit beschäftigt war, die Wäsche zu waschen, zu kochen, die Geschwister zu betreuen und Wasser und Nahrung heranzuschaffen. Da blieb keine Zeit für Freunde oder gar Freizeitbeschäftigungen übrig. Und wenn sie schon mal aus dem Haus gehen durfte, musste sie bei einem Bauern auf den Feldern aushelfen. Dafür bekam sie meist einen Korb voll Gemüse oder Getreide, der ihnen dann für eine Weile wieder die Mägen füllte. Aber das passierte leider auch nicht allzu oft. Daher kannte sie in ihrer Heimatstadt auch nicht mehr als ihr ärmliches, kleines Viertel.
Als Abigail jetzt das Haus betrat, herrschte hier ein heilloses Durcheinander. Die Feuerstelle war nur zur Hälfte ausgeräumt und Kohlen und Asche verteilten sich über den halben Zimmerboden. Die Mutter hatte Will an den Haaren gepackt und holte gerade mit dem Schürhaken aus. Edwin stand mit den Holzscheiten im Arm noch in der Hintertür und starrte geschockt auf die Szene.
Abigail setzte schwungvoll die Eimer ab und stürzte sich auf den Arm der Mutter. Sie bog ihn so weit nach hinten, dass diese die schwere Metallstange fallen ließ. Damit hatte sie zwar den Züchtigungsversuch der Mutter unterbunden, doch richtete sich ihre Wut dafür jetzt auf Abigail.
»Du elendiges Weibsbild. Wie kannst du es wagen, dich einzumischen?« Sie beugte sich herab, um wieder nach dem Haken zu greifen, doch Abigail war schneller und trat ihn mit dem Fuß außer Reichweite. Ihre Mutter fuhr herum und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Abigail griff sich an die schmerzende Wange und schloss kurz die Augen, während ein Pfeifen in ihrem Ohr immer lauter wurde.
Will jammerte noch immer mit den Händen an der gnadenlosen Faust, die ihn weiter an den Haaren festhielt. Die Mutter ließ ihn schließlich doch los und er glitt zu Boden. Während er sich den Hinterkopf rieb, ließ Edwin das Holz zu Boden fallen und kam zu ihm.
Die Mutter wandte sich jetzt mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit Abigail zu und schlug nun mit beiden Händen auf sie ein. Diese krümmte sich zusammen und ertrug die Schläge auf den Rücken für einen Moment klaglos.
Dann entdeckte Abigail nicht weit entfernt Schaufel und Feger auf dem Boden. Geduckt huschte sie hin und hob sie auf.
»Ich mach das sauber, Mutter«, rief sie jetzt besänftigend. »Lass die Jungs doch das Vieh versorgen.«
Die Bezeichnung Vieh war etwas übertrieben. Sie hatten eine altersschwache Ziege und ein paar Hühner, die nur noch ab und zu ein paar kleine Eier legten. Außerdem gab es noch Nekko, einen einäugigen Kater, der Abigail sehr am Herzen lag und der in diesem Moment heranschlich, um zu sehen, was der Lärm zu bedeuten hatte. Im Durchgang blieb er jedoch stehen und blickte alarmiert mit einer erhobenen Pfote in die Runde.
Die Mutter hielt inne und blickte auf ihre Tochter herab, die sich sofort daranmachte, den Boden sauberzufegen. Mit wenigen gezielten Strichen hatte sie bereits den halben Boden schon wieder gereinigt, bevor die Mutter überhaupt reagieren konnte.
Noch immer in Rage fuhr sie zu den Zwillingen herum und keifte sie an: »Ihr habt es gehört. Raus mit euch!«
Edwin half Will auf die Füße und die beiden rannten gemeinsam durch die Hintertür hinaus.
»Sieh zu, dass du das Feuer anfachst. Ich will einen Eintopf kochen.« Die Mutter keuchte angestrengt und schob sich eine Haarsträhne nach hinten, die sich im Handgemenge gelöst hatte.
Abigail nickte bekräftigend und fegte emsig die Reste zusammen. Sie war geschickt im Feuer machen. Damit hatte sie kein Problem und daher dauerte es auch nicht lange, bis die Flammen sich um die Holzscheite legten und den Raum mit einer wohligen Wärme füllten. Sie schleppte den großen Kessel hinaus in den Hinterhof, um ihn zu putzen, und musste dort feststellen, dass die Jungs sich durch den Zaun gezwängt hatten, um ihren Aufgaben zu entkommen. Die beiden wussten zwar, dass sie dadurch ihrer Strafe nicht entgehen würden, sondern sie nur aufschoben. Aber sie konnte es ihnen auch nicht verdenken. Vermutlich würden sie erst spät zurückkehren, wenn die Mutter bereits zu müde oder zu betrunken war, ihre Strafen zu verhängen.
So blieb es nun auch noch an Abigail hängen, die Tiere zu füttern und die wenigen Eier einzusammeln. Es war eine der schöneren Aufgaben in ihrem entbehrungsreichen Leben. Diese Zeit konnte sie nutzen, um durchzuatmen, Ruhe zu finden und einen kurzen Moment sehnsüchtig in den Himmel zu schauen. Sie kuschelte mit der Ziege, die nur bei ihr wirklich zahm war. Von der anderen Seite kam dann auch Nekko wieder angeschlichen. Er hatte eine sehr ausgefallene Fellfärbung und war schon immer von Weitem zu erkennen. Der Kopf war beinahe vollständig schwarz, der Rest des Körpers rot-schwarz gefleckt. Während er sich jetzt gegen Abigails Bein schlängelte und sie dann mit seinem einen Auge herausfordernd beäugte, konnte diese nicht anders und musste ihn streicheln. »Mein lieber Nekko.« Er war noch recht jung und sehr dünn. Sie zog ihn zu sich auf den Schoß und schmuste einen Moment mit ihm, bis Nekko genug hatte und gemächlich wieder von dannen zog.
Während sie dann anschließend den Hühnern die wenigen Körner hinwarf, die ihnen zur Verfügung standen, kamen diese schnell herangelaufen und eines pickte ihr schmerzhaft auf den nackten Fuß. Abigail nahm das Huhn hoch und wog es leicht hin und her. »Sei nicht so frech«, schalt sie es. »Ich kann doch auch nichts dafür, dass wir nichts Gescheites zu essen haben. Kannst du nicht nach Regenwürmern suchen?«
Das Huhn sah sie mit neugierigen Augen an. Dann bäumte es sich auf, flatterte mit den Flügeln und sprang wieder von Abigails Arm herunter. Sie sah noch einen Augenblick lang zu, wie die Hühner herumscharrten und die Körner aufpickten.
Dann zwängte sie sich in den engen Stall und sammelte die wenigen Eier ein, die sich darin befanden, um sie ins Haus zu tragen. Als ihr eines davon, das ohnehin schon einen Knacks gehabt hatte, zerbrach, gerade als sie es in der Küche auf den Tisch legte, blickte ihre Mutter sofort auf. Sie sagte nichts, gab nur ein knurrendes Grollen von sich und drückte ihr zur Strafe den heißen Löffel, den sie eben aus der Suppe gezogen hatte, auf den Arm. Abigail schrie auf vor Schmerz und sprang sofort zur Seite. Dennoch entstand an der Stelle auf der Haut augenblicklich eine leuchtend rote, brennende Wunde. Sie steckte ihre Hand in den Wassereimer, in dem sich schon wieder kaum noch Wasser befand, schöpfte ein wenig davon heraus und kühlte damit die Stelle, so gut es ging.
Abigail blickte verstohlen zu ihrer Mutter rüber, während diese sich Talea zuwandte und ihr die Haare flocht. Abigail hatte kein gutes Gefühl, wenn sie an diesen Tag dachte. Wenn Mutter einen Eintopf kochte, konnte das nur eines bedeuten: Dorian, der Händler, würde heute wieder vorbeikommen. Der stinkende alte Mann, der einen Narren an ihrer Mutter gefressen hatte. Er kam ungefähr einmal im Monat durch die Stadt und kehrte dabei immer hier bei ihnen ein. Einmal, um das Geld für ein Zimmer in der Schänke zu sparen. Und zum anderen, um sich ein nächtliches Vergnügen zu sichern, das ihm sonst auch nirgendwo so kostengünstig zur Verfügung stand. Dafür bekam die Familie manchmal eine Kiste voller aussortierter Waren, die sich nicht mehr verkaufen ließen. Darunter viele alte Nahrungsmittel. Das ging schon lange so. Und nicht nur mit dem Händler. Eigentlich schon seit Abigail denken konnte. Sie hätte sich nicht gewundert, wenn einige ihrer jüngeren Geschwister in diesen Nächten entstanden wären. Denn dieses Treiben hatte schon begonnen, lange bevor ihr Vater sie verlassen hatte.
Mutter sprach nie von Milo Jenkins. Manchmal zweifelte Abigail fast daran, dass es ihn je gegeben hatte. Und wenn sie doch einmal von ihrer ersten Ehe anfing, dann behauptete sie immer, dass Milo nur fortgegangen war, weil er Dreck am Stecken hatte und sie mit so einem Nichtsnutz nicht zusammenleben wollte. In ihrer Version hatte sie Milo aus dem Haus geschmissen und war nicht im Geringsten daran interessiert, diesen Verlierer noch einmal wiederzusehen.
Abigail, die sich mehr an ihn erinnern konnte, als sie es jemals vor ihrer Mutter zugegeben hätte, hatte eine andere Version in ihrem Herzen. Sie konnte sich sehr wohl noch daran erinnern, dass ihre Mutter auch damals schon ein schwieriger und überaus zorniger Mensch gewesen war und ihren Vater schon immer wie Dreck behandelt hatte.
Milo hatte Abigail eines späten Abends im Hof erzählt, dass er plante, in einer anderen Stadt sein Glück zu versuchen, damit sie aus diesem Elend entkommen konnten. Tatsächlich war Milo kein Verlierer gewesen. Ganz im Gegenteil. In Wahrheit war er sehr klug und belesen. Er hatte Abigail von klein auf schon das Lesen und Schreiben beigebracht. Allerdings hatte die Mutter das nie erfahren und Abigail wollte auch, dass das so blieb.
Und obwohl Abigail damals noch sehr jung gewesen war, hatte sie doch die Ahnung, dass er damals mit 'wir' nur sich selbst und die Kinder gemeint hatte. Er hatte sie gebeten, stark zu sein und ihm Zeit zu geben. Sein Versprechen, dass er niemals aufgeben würde, hatte sie sich in ihr Herz geschlossen und immer insgeheim daran festgehalten. Ihre Mutter war nie ein Teil dieser Vorstellung gewesen.
Am folgenden Morgen war Milo Jenkins dann wahrhaftig verschwunden. Anfangs waren ab und zu noch Briefe angekommen, die er an die Kneipe am Stadtteil-Marktplatz geschickt hatte, damit ihre Mutter das nicht mitbekam. Er hatte ihr zunächst nur über Misserfolge zu berichten gehabt. Erst nach und nach hatte es kleinere Fortschritte gegeben. Sie gaben Abigail Hoffnung. Keinen dieser Briefe hatte sie je behalten. Sie fürchtete zu sehr, ihre Mutter könnte davon erfahren. Das wäre einer Katastrophe gleichgekommen, daher las sie die Briefe nur einmal und verbrannte sie dann schweren Herzens. Irgendwann verstarb der Wirt der Kneipe und es hatte keinen Nachfolger gegeben. Die Briefe kamen nicht mehr bei ihr an und da sie keine Adresse von ihrem Vater hatte – sie wusste nicht einmal, in welchem Ort er gerade war – konnte sie ihm auch nicht zurückschreiben. Es fühlte sich für sie so an, als hätte sie ihn nun für immer verloren. Sie vermisste ihn sehr. Aber sie hoffte weiter, er würde eines Tages sein Versprechen einlösen und sie zu sich holen. Es war der einzige Traum, der ihr noch erhalten geblieben war.
Abigail erinnerte sich daran, wie sie früher gemeinsam den Hügel hinaufgestiegen waren, um den Tag zu begrüßen. Der Sonnenaufgang über den Weizenfeldern war die schönste Erinnerung, die sie besaß. Sie wünschte sich jeden Tag, dass ihm nichts Schlimmes zugestoßen war. Und ihr blieb nur die Hoffnung, dass er zu ihr zurückkehrte. Arm oder reich. Das war ihr egal.
Aber vielleicht war auch alles anders. Vielleicht hatte er sie längst vergessen, hatte sich in einer großen Stadt eine neue Frau gesucht und lebte nun ein glückliches Leben. Sie machte sich keine Illusion darüber, dass die Wahrheit bitter sein konnte.
Als Mutter mit den Haaren von Talea fertig war, half Abigail ihr dabei, das restliche Gemüse zu schneiden, das sie für den Eintopf verwenden wollte. Es war von minderer Qualität und das karge Stück Fleisch, was sie noch aus einem geheimen Versteck gezaubert hatte, hatte schon eine gräuliche Farbe angenommen. Nur das Beste für den Händler, dachte Abigail zynisch und versuchte, mit der stumpfen Klinge des Messers die pelzige Oberfläche ein wenig abzuschaben. Mutter warf alles in den Kessel und ließ den Eintopf für mehrere Stunden über dem Feuer kochen.
Wie erwartet, wurde Abigail in den Wald geschickt, Kräuter zu suchen, die den herben Geschmack überdecken sollten. Für sie war das eine willkommene Abwechslung. Sie nahm Talea mit und die zwei streiften die ihnen bekannten Wege hinein in die Ruhe der Natur. Sie ließen sich Zeit. So oft bekamen sie keine Gelegenheiten wie diese.
Abigail zeigte ihrer Schwester Wildkräuter, Gewürzpflanzen, Beeren und Pilze, erklärte ihr, was essbar war und was sie nicht pflücken durfte. Talea war sehr wissbegierig und hatte ein grandioses Gedächtnis. Was sie ihr einmal erzählte, konnte sie auch nach Wochen und Monaten noch korrekt wiedergeben. Sie suchten gemeinsam nach Veilchen, Waldmeister und Steinklee, fanden aber auch Hirtenkraut und Minze.
Talea pflückte am Wegesrand eine Handvoll Ringelblumen und Schachtelhalm. »Das können wir auf deinen Arm machen«, schlug sie vor und zeigte auf Abigails Wunde. Gerührt zog sie ihre jüngere Schwester in den Arm und küsste ihr aufs Haar. »Ja, das machen wir.« Mit einem Korb voll Kräuter kehrten sie nach Hause zurück.
Als sie den Wald verlassen hatten und auf die Seitengasse traten, die in einer Richtung direkt zum Stadtteil-Marktplatz führte, hörten sie einen kleinen Tumult. Neugierig geworden, folgten sie dem Lärm.
Schon von Weitem erkannten sie, dass natürlich die Zwillinge schon wieder darin verwickelt waren. Und der Aufrührer des Viertels. Immer wieder gerieten ihre Brüder mit anderen Burschen aneinander. Sie waren hitzköpfig und fühlten sich unbesiegbar. Allerdings mussten sie auch sehr häufig Prügel einstecken.
Abigail wollte verhindern, dass sie in den nächsten Ärger schlitterten und anschließend zuhause auch wieder mit dem Rohrstock Bekanntschaft machen mussten. Sie drückte Talea das Körbchen in den Arm und drängte sich dann durch die Traube von Kindern, die sich hier schon als Schaulustige angesammelt hatten, nach vorn.
Sie riss Edwin am Arm zurück und schob sich vor ihn, seinem Widersacher entgegen. »Was gibt es denn schon wieder?«, fuhr sie ihn an.
Der Junge, der einen Kopf größer war als sie, grinste gehässig. »Was willst du denn?«
»Was immer hier passiert ist. Verschwinde!«
Er lachte auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du reißt ja ganz schön das Maul auf für ein Mädchen.«
»Und? Willst du dich mit mir anlegen?« Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und stellte sich breitbeinig hin. »Könnte ganz schön blöd für dich ausgehen.«
»Sie ist ziemlich stark!«, raunte ein Junge ihm zu, der sie gleichzeitig mit einem ehrfürchtigen Blick musterte.
»Pah!«, machte der Große, »Blödsinn.«
Abigail trat einen Schritt auf ihn zu und instinktiv wich er einen Schritt zurück.
»Wieso sollte das blöd für mich ausgehen?«, fragte er jetzt stumpf. »Ich mach dich mit einem Schlag klein.«
»Oder ich prügel dich windelweich«, konterte sie mit einem Augenbrauenzucken. »Das wäre wirklich nicht so gut für deinen Ruf.«
»Niemals«, lachte er, war aber längst nicht mehr so selbstsicher, wie noch zuvor.
»Oder du verprügelst mich und bekommst dann den Ruf, nur Mädchen verhauen zu können.« Sie zog die Nase kraus und atmete dann demonstrativ schwer aus. »Ob das deinem Ruf hilft, weiß ich auch nicht.«
Er machte einen weiteren Schritt zurück, betrachtete sie einen Moment nachdenklich. Dann stieß er seine Freunde an und nickte in Abigails Richtung. »Die ist doch irre. Da mach ich mir nicht die Finger schmutzig. Los, Leute. Wir gehen!«
Abigail und ihre Geschwister sahen zu, wie die Gruppe die Straße hinunter verschwand. Die Zwillinge lachten und lobten ihre Schwester für ihre Taktik. Diese drehte sich jedoch wütend nach ihnen um und packte beide an den Ohren, um diese zu verdrehen. »Wie oft hab ich euch gesagt: Haltet euch aus Ärger raus? Wieso ist das so schwer?«
Sie schrien beide auf und gingen in die Knie. Schließlich ließ sie sie wieder los.
»Jetzt ab nach Hause. Wehe, ich erwische euch noch einmal dabei, wie ihr Unfug treibt. Oder mich mit eurer Arbeit hängen lasst.«
Sie entschuldigten sich kleinlaut, doch bereits zwei Minuten später auf dem Heimweg, hatten die zwei alles wieder vergessen und rangelten ausgelassen, kletterten über Mauern und jagten die Hühner der Nachbarn durch die enge Gasse. Abigail verdrehte die Augen, konnte ihnen aber nicht wirklich böse sein.
Die Mutter nahm die Pflanzen unbesehen, zerriss sie grob und warf sie in die Suppe. Abigail nahm das mit einer gewissen Abneigung zur Kenntnis. Was wäre wohl gewesen, wenn ihr aus Versehen auch nur eine falsche Pflanze dazwischengerutscht wäre? Dann hätte sie den ganzen Eintopf leicht in eine tödliche letzte Mahlzeit verwandeln können. Manchmal wünschte sie sich insgeheim, den Mut dafür zu haben. Doch dann schämte sie sich wieder für diesen Gedanken. Auch wenn ihre Mutter ihr beinahe jeden Tag das Leben zur Hölle machte, hätte sie das doch nie tun können.
Dieses Vertrauen ihrer Mutter war sehr unüblich. Für gewöhnlich glaubte sie immer, jeder wolle ihr etwas Böses und sie traute niemandem. Auch ihren Kindern nicht. Doch wenn Dorian, der Händler kam, änderte sich alles. Es war fast so, als wäre sie eine andere Frau.
Und tatsächlich. Während Abigail nun die Aufgabe bekam, den Eintopf im Auge zu behalten, sollte sie mit Talea noch einmal die Stube ausfegen und Edwin und Will den Tisch decken. Mutter begann derweil mit ihrem ungewöhnlichen Ritual. Sie nahm einen der Eimer mit in den Hinterhof und wusch sich damit von Kopf bis Fuß. Dann zog sie sich ihr einziges schönes Kleid an, das sie nur für diese Gelegenheit herausholte. Anschließend saß sie in der Sonne und öffnete sich die Haare, um sie sich ausgiebig und inbrünstig zu kämmen. Diese Prozedur zog sich eine Ewigkeit hin, so dass ihre Geschwister schon unruhig zu werden begannen.
Die Mutter kam schließlich wieder herein und stellte Abigail den leeren Eimer vor die Füße. Außerdem drückte sie ihr einen Pfennig in die Hand. Sie musste nichts dazu sagen. Abigail wusste, was es zu bedeuten hatte. Die Geschwister machten sich sogleich auf den Weg zum Marktplatz. Hier füllten sie den Eimer am Brunnen wieder mit Wasser und dann befahl sie ihren Geschwistern, damit zu warten. Sie betrat die Schänke gegenüber und bestellte eine Maß Bier. Der Wirt betrachtete sie wie immer mit einem kritischen Blick. Abigail hatte aufgehört, sich darüber einen Kopf zu machen, denn sie hatte über die Zeit festgestellt, dass er jeden so ansah. Dann nahm sie das Bier und balancierte die schwere Maß nach Hause. Ihre Brüder mussten den Wassereimer gemeinschaftlich tragen.
Dann konnten sie nur noch warten. Sie wurden mit Hausarbeiten beschäftigt. Die Mädchen wurden zum Wäschewaschen an den Fluss geschickt, während die Jungs den Hof aufzuräumen hatten. Der Abend kam schneller, als alle gefürchtet hatten. Und wieder einmal wurde Abigail klar, dass alle Geschwister diese Besuche des Händlers trotz der Aussicht auf reichliches Essen und ein paar Geschenke alle gleich abgrundtief hassten.
Erschöpft saß die Familie um den Esstisch. Die Geschwister waren schon so müde, dass sie beinahe im Sitzen einschliefen. Dennoch mussten sie mit dem Essen warten, bis der Gast eingetroffen war. Er ließ sich mal wieder Zeit.
Als er sich dann schließlich durch die Tür zwängte und mit seinen dreckigen Stiefeln über den ganzen Boden lehmige Drecksbrocken verteilte, fiel Abigail nicht zum ersten Mal auf, wie abstoßend sie ihn fand. Er war groß und speckig. Die wenigen Haare, die ihm geblieben waren, hingen in dünnen Flusen über seine glänzende, rotpickelige Kopfhaut, sein Backenbart war struppig und ungepflegt, seine Augen schielten gierig aus dem feisten Gesicht.
Während er sich an den Tisch setzte, knarzte die Bank bedrohlich unter seinem Gewicht. Er machte sich eilends über den Eintopf her, den die Mutter ihm hinstellte und griff sich wie selbstverständlich das ganze Brot, was eigentlich für alle gedacht war. Es wirkte beinahe, als hätte er tagelang gehungert. Schmatzend und schlürfend blickte er über die Kinder hinweg.
»Sollten die nicht längst im Bett sein?«, fragte er mit piepsiger Stimme, die so gar nicht zu seiner Statur passen wollte.
Die Mutter schenkte ihm ein Lächeln und nickte eifrig. Doch noch bevor sie die Geschwister von der Bank ziehen konnte, sprang Abigail von ihrem Stuhl auf und begann, reihum die Teller zu füllen. »Zuerst essen wir«, erklärte sie bestimmt und warf ihr einen bösen Blick zu. Sie sollte es nur nicht wagen, ihnen das wohlverdiente Mahl zu streichen. Selbst wenn ihre Mutter ihr später dafür eine Tracht Prügel verabreichen würde, konnte Abigail das auf gar keinen Fall zulassen.
Mutter seufzte und setzte sich dann neben Dorian. Er schmatzte mit offenem Mund und Bierschaum blieb in seinem Schnauzer hängen, während er sich weiter das Essen hineinstopfte. Die Geschwister hatten ebenfalls die Situation erfasst und beeilten sich, ihre Teller zu leeren, bevor die Mutter womöglich auf die Idee kam, sie ihnen wieder fortzunehmen.
Als alle fertig waren, begleitete Abigail die Geschwister in den Nebenraum. Hier war gerade mal Platz für ein einziges großes Bett. Darin schliefen die Zwillinge und Talea gemeinsam. Abigail sorgte dafür, dass sie alle ins Bett kamen. Dann deckte sie ihre Geschwister fürsorglich zu und gab jedem einen Kuss auf die Stirn. Wie jeden Abend setzte sie sich ans Fußende und sah in die müden Gesichter. Sie begann, die Geschichte von der kleinen Fee zu erzählen, die sich in einem Spinnennetz verfangen hatte und die Spinne nun überzeugen musste, sie wieder frei zu lassen. Die Jungs protestierten meistens und wollten lieber Geschichten über furchtlose Piraten oder bogenschießende Waldläufer hören. Doch heute waren sie so müde, dass sie nur noch ihre Augen schlossen und innerhalb weniger Minuten einschliefen.
Abigail kehrte eilig in die Stube zurück und zog den Vorhang vom Schlafraum zu. Eine Tür gab es nicht. Sie begann, das Geschirr abzuräumen und abzuwaschen. Sie beeilte sich dabei schon so sehr, wie sie nur konnte. Dennoch ging es ihrer Mutter nicht schnell genug und sie begann, zu nörgeln: »Wie lange willst du da noch herumtrödeln?«
Abigail blickte auf. Sie ließ den Rest stehen und ging ohne ein weiteres Wort zurück in den Schlafraum. Mit einem Blick konnte sie feststellen, dass ihre Geschwister ruhig schliefen. Da in dem Raum kein Platz für ein weiteres Bett war, hatte ihr Vater, der früher einmal zur See gefahren war, ihr in der hinteren Ecke seine alte Hängematte aufgehängt. Es war eine Besonderheit, die es so kein zweites Mal gab. Abigail war besonders stolz auf diese ungewöhnliche Schlafstatt. Auch wenn es manchmal sehr kalt war, wenn kein wärmender Körper neben ihr lag. Außerdem zog die Kälte auch zusätzlich von unten hoch. Dennoch hätte sie sie niemals gegen etwas anderes getauscht. Sie kletterte hinein und zog sich die kratzige Leinendecke bis ans Kinn. Und obwohl sie furchtbar müde war, konnte sie nicht einschlafen. Die Geräusche aus der Stube hielten sie wach. Ihre Mutter kicherte immer wieder auf und Dorians helle, krächzende Stimme war nicht in der Lage, leise zu sprechen. Auch wenn sie seine Worte nicht verstand, lag sein Gebrabbel die ganze Zeit in der Luft.
Abigail schloss fest die Augen und versuchte, es zu ignorieren, doch es wollte ihr nicht gelingen. Dann wurde es für eine Weile auffällig still. Doch auch das half ihr nicht, in den ersehnten Schlaf zu sinken. Jetzt begann sie, ohne dass sie es wollte, zu lauschen. Dann hörte sie, was sie erwartet hatte: das Stöhnen der Mutter und das Keuchen des Händlers. Es ging eine Ewigkeit. Abigail hielt sich die Ohren zu und konnte das Geräusch dennoch nicht ausblenden. Erst unendlich viel später wurde es endlich wieder ruhig und als das laute Schnarchen des Händlers den Raum erfüllte, wusste sie, dass es vorbei war. Trotzdem dauerte es noch eine ganze Weile, bis es ihr gelang, durch das leichte Schaukeln der Hängematte, in einen traumlosen Schlaf zu sinken.
Abigail trat am nächsten Morgen in die Stube hinaus. Diese war leer. Sie ging in den Hof und schöpfte sich mit einer Hand einen kleinen Rest Wasser aus dem Eimer, um sich das Gesicht zu waschen. Dann blickte sie auf. Ihre Mutter saß ein Stück hinter dem Haus am Waldrand und kämmte sich ihr Haar in der aufgehenden Sonne. Sie hatte ihr den Rücken gekehrt und daher bemerkte sie sie nicht. Schleunigst schnappte Abigail sich die Eimer und machte sich zum Brunnen auf, bevor sie noch eine Predigt zu hören bekam, dass sie so spät dran war. Als sie das Haus verließ, hörte sie in der Kammer die jüngeren Geschwister wach werden. Das war gut. Dann musste sie da nicht mehr hinterherdrängen. Sie beeilte sich.
Als sie zurückkam, war die Mutter noch immer nicht wieder im Haus, aber die Geschwister hatten angefangen, ihre Pflichten zu erfüllen. Abigail rührte routiniert den Haferbrei an, den es für gewöhnlich zum Frühstück gab, und sie setzten sich alle um den Tisch. Als sie noch beim Essen waren, kam die Mutter durch die Hintertür wieder herein und setzte sich dann neben ihre älteste Tochter. Abigail fürchtete sich ein wenig vor dem verklärten Blick, den ihre Mutter aufgesetzt hatte. Sie kannte den schon und er bedeutete niemals etwas Gutes.
Wie zur Bestätigung sprach die Mutter zu ihr mit sanfter Stimme, während sie nach ihrer Hand griff, um sie mit ihren beiden zu umschließen: »Meine liebe Abigail.«
Die älteren Jungs blickten alarmiert auf. Auch ihnen war klar, dass die Lage brenzlich wurde.
»Du bist jetzt schon so groß. Es ist unglaublich, die Zeit vergeht so schnell.«
Abigail schluckte nur, sagte aber nichts.
»Darum ist es jetzt so weit. Du bist bereit für den nächsten Schritt in deinem Leben.« Mutter strich ihr eine Strähne aus der Stirn. »Ich habe wundervolle Neuigkeiten für dich.«
Abigail schwante Schreckliches.
»Dorian wird dich mitnehmen. In die große Stadt. Dort gibt es viel Arbeit für gutes Geld, vor allem für ein junges Mädchen, wie dich.«
»Woher weißt du das?«, fragte sie matt, aber sie wusste die Antwort bereits.
»Dorian hat mir davon berichtet.« Sie strahlte sie breit an und ihre Augen leuchteten dabei.
Abigail drehte sich der Magen um. Ihre Mutter schickte sie fort? Ohne sie vorher gefragt zu haben? Das konnte sie doch nicht tun. Aber ihre Mutter war da ganz anderer Meinung.
»Dorian hat heute noch auf dem Markt zu tun, aber morgen in aller Frühe bricht er wieder auf und dann nimmt er dich mit sich. Ist das nicht eine gute Nachricht?«
Abigail sprang auf. »Aber ich will nicht fort.« Auch die Geschwister erhoben sich. Talea begann zu weinen.
Ihre Mutter erhob sich ebenfalls und zog die Stirn kraus. »Jetzt sei mal nicht so undankbar. Du kannst froh sein, dass er sich diese Last ganz uneigennützig aufbürdet. Ich will, dass du dich bei ihm bedankst und dich gefälligst gut benimmst. Verstanden?«
»Kann ich nicht hierbleiben?« Abigail blickte auf ihre Geschwister. »Wer soll sich denn um euch kümmern und das Essen kochen und die Tiere versorgen?«
Die Mutter winkte ab. »Die Jungs sind alt genug, deine Stelle einzunehmen.«
Die beiden protestierten einstimmig, doch die Mutter warf ihnen nur einen warnenden Blick zu und sie verstummten augenblicklich wieder. Abigail sah aber in ihren Augen, dass sie ihre älteste Schwester nicht hergeben wollten. Es brach ihr das Herz. Abigail zog Talea in ihren Arm und drückte sie tröstend an sich.
Mit zusammengebissenen Zähnen wandte sie sich enttäuscht an ihre Mutter: »Was bin ich dir wert?«
»Was?«
»Wie viel zahlt er dir für mich?«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Du tust ja so, als würde ich dich verkaufen wollen.«
Abigails Stimme wurde lauter, als sie es beabsichtigt hatte: »Ja, ist es etwa nicht so?«
»Nein. Natürlich nicht. Ich verkaufe doch nicht mein eigen Fleisch und Blut.«
Sie blickte auf ihre Mutter und die Wut in ihr stieg immer stärker an, bis nur noch Abscheu übrig blieb. Am liebsten hätte sie auf sie gespuckt. Aber das tat sie natürlich nicht. Sie ließ ihre Schwester los, drängte sich an ihrer Mutter vorbei und stürmte aus dem Haus. Sie rannte die Straße zum Wald hinauf und scherte sich nicht darum, dass sie über Stock und Stein laufen musste und die Äste der Bäume ihr ins Gesicht schlugen.
Die Tränen liefen ihr die Wangen herunter. Hier draußen konnte sie ihnen freien Lauf lassen und das tat sie auch. Sie lief, bis sie keine Luft mehr bekam und neben einem riesigen, gefallenen Baumstamm zusammenbrach. Sie warf sich auf den Boden und wartete, dass der Schmerz in ihrer Brust wieder nachließ. Als sie schließlich wieder normal atmen konnte, drehte sie sich auf den Rücken und blickte durch das Blätterdach auf den blauen Himmel, der zwischen dem Grün der Baumkronen hervorleuchtete.
Was sollte aus ihr werden? Von hier fortzugehen machte ihr so große Angst, dass es ihr die Kehle zuschnürte und sie wieder nach Luft zu schnappen begann. Ihr Leben hier war nicht das Schönste, aber hier wusste sie wenigstens, was sie erwarten konnte. Was würde da draußen auf sie lauern? Und das Schlimmste war die Vorstellung mit dem alten, fetten Dorian mitgehen zu müssen. Sie verabscheute diesen Mann. Er erweckte in ihr einen Ekel, wie es keinen zweiten gab, und sie befürchtete das Schlimmste, wenn sie mit ihm allein durch die Lande ziehen musste.
Wie lang war wohl die Fahrt bis zur nächsten Stadt? Und was sollte an einer anderen Stadt so viel besser sein als an dieser? Konnte sie nicht doch noch einen Grund finden, die Mutter zu überzeugen, dass sie sie hierbehalten wollte?
Sie fuhr hoch, als ein Schatten auf sie fiel. Es war Talea, die sich wie ein Tier angeschlichen hatte. Ihre Augen waren verquollen und die Nase lief. Sie wischte sich mit dem Ärmel darüber. Die Schwestern fielen sich in die Arme und weinten gemeinsam. Dann saßen sie lange neben dem Baumstamm und redeten.
»Mutter wird verlangen, dass ich deine Arbeiten verrichten muss«, fürchtete Talea.
»Erstmal müssen die Zwillinge ran.«
»Das glaubst du ja selbst nicht.« Sie schniefte leise. »Ich bin nicht so gut wie du und ich spüre jetzt schon ihre Schläge.«
Abigail seufzte. »Ich wünschte, ich könnte dich einfach mitnehmen.«
»Ja. Nimm mich mit, bitte!« Talea warf sich ihr um den Hals. »Zusammen können wir alles aushalten.«
»Du musst stark sein«, hauchte Abigail, die wusste, das es ihnen nie erlaubt sein würde. »Nutze deine Gaben. Du kennst dich mit Tieren und Pflanzen aus, du kannst dich lautlos anschleichen – und fortschleichen, du bist schlau und hast ein Gefühl für gefährliche Situationen. Halt dich einfach von Ärger fern. Egal ob zuhause oder woanders, versprochen?«
Talea nickte. »Ich kann aber Edwin und Will nicht helfen, wenn sie mal wieder in Schwierigkeiten sind. Das kannst nur du.«
»Sie werden selbst lernen müssen, zu überleben. Aber mach dir keine Sorgen. Die schaffen das. Sie sind ja zu zweit. Und die beiden kann nichts trennen.«
Abigail und Talea kehrten erst spät zum Haus zurück und erwarteten eine Tracht Prügel für ihr langes Fortbleiben, doch diese blieb überraschenderweise aus. Der Abend kam schneller als gedacht.
In der Nacht hatte Abigail zunächst Schwierigkeiten, einzuschlafen, dann warf sie sich hin und her und wurde von Alpträumen gequält. Immer wieder schreckte sie auf, sank dann aber sogleich wieder in die Traumwelt zurück. Gegen Morgen erwachte sie gerädert und todmüde. Sie quälte sich dennoch hoch und weckte ihre Geschwister. Dann trug sie die Eimer ein letztes Mal zum Brunnen und zurück.
Ihren Frühstücksbrei bekam sie kaum herunter. Es wurde an diesem Morgen nicht gesprochen. Die Mutter war abwesend und offensichtlich auch müde, aber sie sah zufrieden aus. Ein Zustand, der selten vorkam. Abigail wagte es nicht, sie noch einmal zu bitten, bleiben zu dürfen. Sie umarmte ihre Geschwister, packte ein kleines Bündel mit ihren Sachen zusammen und trottete ergeben dann dem buckeligen Dorian durch die langsam erwachende Stadt hinterher. Er hatte seinen Pferdewagen in einer verlassenen Scheune am Stadtrand abgestellt. Während er seine Pferde noch einmal tränkte und dann vor den Wagen spannte, stand sie da, hielt ihr kleines Bündel im Arm und zitterte in der Morgenkälte. Sie bemühte sich, ihm nicht im Weg zu stehen, und wartete auf Anweisungen. Der Händler sprach aber nicht mit ihr. Seit sie losgezogen waren, hatte er kein Wort gesagt. Er keuchte nur leise vor sich hin, während er seine routinierten Handgriffe verrichtete. Er wirkte, als fiele ihm jede Bewegung schwer. Immer wieder drehte er sich zur Seite und spuckte aus. Abigail wandte sich angeekelt ab. Sie blieb am besten die ganze Zeit so unsichtbar wie nur möglich.
Schließlich hatte er den Wagen vorbereitet und drehte sich zu ihr um. Während er ihr hinaufhalf, spürte sie seine speckigen Finger, die sich um ihre legten. Sie war froh, als er sie wieder losgelassen hatte, und wischte sich die Hände unauffällig in ihrem Rock ab. Dann kletterte er auf den Bock neben sie und der Wagen setzte sich in Bewegung.
Die Sonne ging auf, als sie die Felder passierten, in denen sie erst letzte Woche gearbeitet hatte. Die Stadt blieb hinter ihnen zurück. Abigail wagte keinen Blick mehr darauf. Wenn sie sich jetzt umdrehte, würde sie womöglich vom Wagen springen und zurücklaufen. Sie zog ihr Umschlagtuch enger um sich, doch das Zittern wollte nicht aufhören.
Dorian neben ihr murmelte ununterbrochen vor sich hin. Allerdings so leise, dass keine wirklichen Worte zu verstehen waren. Der Wagen rumpelte die unwegsame Strecke entlang. Irgendwann warf er ihr einen abschätzigen Seitenblick zu und seine Stimme wurde lauter: »Ich hoffe, du bist dein Geld wert, Schätzchen.«
Sie erwiderte seinen Blick stumm.
»Zehn Gulden hat es mich gekostet und eine Menge meiner kostbaren Waren. Deine Mutter ist ein harter Verhandlungspartner.«
Abigail trieb es die Tränen in die Augen. Zehn Gulden? Obwohl ihr nicht ganz klar war, wie viel Geld das war, klang es für sie wie ein Vermögen. Wie viel es auch sein mochte, entscheidend war jedoch die Tatsache, dass sie es doch verkauft hatte – ihr eigen Fleisch und Blut.
Der Tag zog sich endlos hin und doch kam der Abend schneller, als Abigail es sich gewünscht hätte. Der Karren war endlos durch die Landschaft gezogen. An Feldern, Wäldern und Bächen vorbei. Sie waren schon lange an keinen Ansiedlungen mehr vorbeigekommen. Als die Dunkelheit hereinbrach, stellte Dorian den Wagen auf einer großen Wiese unweit eines schmalen Flusses ab und ließ die Pferde grasen.
Abigail sah sich um. Auf dem gegenüberliegenden Ufer begann der Wald. Auf dieser Flussseite lag eine ausgedehnte Blumenwiese, die nur durch den schmalen Pfad durchschnitten wurde, den sie gekommen waren. Am Tag wäre es hier sicher sehr schön gewesen, doch jetzt, wo die Sonne untergegangen war, tauchten überall Schatten auf, die ihr eine Gänsehaut bescherten. Jedes kleinste Geräusch ließ sie herumfahren. Sie sah zu Dorian, der in der Nähe des Ufers ein kleines Lagerfeuer entfacht hatte und in keiner Weise beunruhigt zu sein schien. Sie hatte noch nie im Freien übernachtet und es bereitete ihr große Sorgen. Sie würde sicher kein Auge zutun. Konnten sie nicht wenigstens im Karren schlafen?, dachte sie. Doch der war voll mit Waren aller Art und entsprechend war darin auch kein Platz zum Schlafen.
Mit einer Angel holte er nacheinander mehrere kleine Fische aus dem Fluss und briet sie dann über dem Feuer. Als sie fertig waren, reichte er ihr einen davon und verputzte alle übrigen innerhalb von wenigen Minuten ganz allein. Dazu gönnte er sich eine dicke Scheibe Brot, die er mit seinem Messer von einem frischen Laib abschnitt. Ihr reichte er wortlos ebenfalls eine kleine Scheibe. Abigail aß stumm. Sie war nicht sehr satt geworden, doch sie wagte nicht, nach mehr zu fragen.
Danach räumten sie alles zusammen und Dorian warf die Fischreste zurück in den Fluss. Dann nahm er sich seine Decke und legte sich neben das Feuer auf den Boden. Er gab ihr ein Zeichen heranzukommen. Abigail zögerte. Was wollte er von ihr? Nachdem sie nicht sofort gehorchte, grummelte er genervt: »Komm schon her oder willst du da drüben erfrieren?«
Sie näherte sich ihm vorsichtig. Als sie in Griffweite war, packte er ihren Arm und zog sie zu sich herunter. Sie musste sich neben ihn legen und er schlang seine riesigen Arme um sie. Während sie so dalag und sein Arm schwer auf ihr ruhte, glaubte sie zunächst, erdrückt zu werden und keine Luft mehr zu bekommen. Doch die Wärme seines Körpers ließ sie dann realisieren, wie sehr sie die ganze Zeit gefroren hatte. Es war, als wäre sie ein Eisklotz, der jetzt endlich aufzutauen begann und die Wärme tat gut. Außerdem glaubte sie daran, dass sie hier vor wilden Tieren geschützter lag, als auf der anderen Seite ganz allein. Und obwohl sie das Grunzen und Stöhnen hinter ihr furchtbar abstieß, sein Atem einen unangenehmen Geruch von Fisch und Tabak abgab und sein Körper schwer nach Schweiß roch, sank sie schließlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Sie waren bereits drei Tage unterwegs. Inzwischen waren sie an ein paar kleinen Dörfern vorbeigekommen, in denen Dorian mit den Bauern Waren getauscht hatte. Sie hatten den Wagen voll mit frischem Gemüse. An diesem Abend, als sie am Lagerfeuer saßen und gerade mit dem Essen angefangen hatten, erklärte Dorian ihr: »Wir kommen morgen in die Hafenstadt Satoori. Dort werden unsere Wege sich trennen.«
Sie sah erschrocken auf. Hatte sie richtig gehört? Wollte er sie etwa zurücklassen? Aber sie wusste doch gar nicht, was sie dort ganz alleine tun sollte. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass das ganze Vorhaben einen bösen Fehler hatte. Sie hatte keine Zeit gehabt, alles genau zu durchdenken. Ihre Mutter hatte sie einfach so verscherbelt und nun war sie auf sich selbst gestellt. Dorian hatte das natürlich nicht aus reiner Herzensgüte getan. Er versprach sich etwas davon. Aber was? Wie wollte er mit ihr Geld verdienen? Würde er sie wieder verkaufen? Musste sie für ihn arbeiten? Was für eine Arbeit würde das sein? Sie konnte sich kaum ausmalen, was auf sie zukam.
Dorian hatte sich die ganze Zeit anständig verhalten. Er hatte ihr am zweiten Tag eine Decke zur Verfügung gestellt, damit sie auf dem Kutschbock nicht so fror und ihr sogar ein paar einfache Wickelschuhe geschenkt. Er sorgte immer für gute und reichliche Mahlzeiten, gab ihr zu trinken. Und wenn er sie auch komplett anwiderte, hatte er sich nicht die kleinste Verfehlung zuschulden kommen lassen. Bis jetzt.
Aber nun kam etwas so Großes und Unbekanntes auf sie zu. In einer Stadt, die sie noch nie gesehen hatte und wo sie niemanden kannte. Wo würde sie in Zukunft schlafen? Mit wem würde sie zu tun bekommen? Musste sie vielleicht betteln gehen? Ihr Herz rutschte ihr in die Hose.
»Mach dir keine Sorgen. Ich habe schon jemanden, der sich um dich kümmern wird.« Es war, als könnte er ihre Gedanken lesen und sie sah ihm direkt ins Gesicht. Meinte er das ernst?
»Wen?«, fragte sie leise.
»Der Mann ist ein reicher Geschäftsmann. Er lebt in einem großen Haus in der Oberstadt. Vermutlich braucht er eine Dienerin oder sowas. Es wird dir dort richtig gut gehen. Nicht so wie in der Bruchbude, in der du bisher gelebt hast.« Er sprach mit vollem Mund und schmatzte unappetitlich wie immer. Winzige Essensteilchen flogen dabei durch die Luft. »Ich hoffe für dich, du kannst dich benehmen.« Dann lachte er gehässig auf.
Abigail wusste nicht, was sie davon halten sollte. Wieder ein fremder Mann. Vermutlich so alt und unangenehm, wie Dorian es war. Was anderes konnte sie sich kaum vorstellen. Dann rückte Dorian näher. Er legte ihr seinen Arm auf die Schulter. Abigail war wie betäubt von dem Gedanken, was ihr Schicksal für sie bereithielt, dass sie die Zeichen nicht erkannte.
Dorians Hand legte sich auf ihre Brust und sein Gesicht war mit einem Mal ganz dicht vor ihrem. »Wir sollten unsere letzte Nacht wirklich ein wenig feiern«, erklärte er.
Sie schrak zusammen und wollte sich von ihm lösen, doch er hielt sie in seinem Griff so fest, dass sie kaum Spielraum hatte, sich zu bewegen.
»Nein!«, rief sie aus und stemmte sich gegen seinen mächtigen Leib.
Er lachte auf und drückte ihr seine fettigen Lippen auf den Mund. Abigail wurde schlecht. In ihrem Inneren sträubte sich alles gegen diese Berührungen, doch seine Hände waren überall. Er zog ihren Rock hoch und ließ seine schrundigen Finger über ihre weichen Oberschenkel gleiten. Sie riss sich von ihm los und ließ einen gellenden Schrei hören, der eine ganze Schar von Vögeln aufschreckte. Dorian griff nach ihren Handgelenken und packte sie fest, damit sie nicht entfliehen konnte. »Jetzt stell dich nicht so an, Liebchen. Der feine Herr Schneider wird sich ohnehin mit dir vergnügen wollen, das steht fest. Da kann ich dir genauso gut jetzt schon mal zeigen, wie der Hase läuft. Der gute Mann wird sich sicher freuen, wenn seine Gespielin sich nicht so ziert.«
Sie schlug mit dem Kopf hin und her und versuchte, sich mit ihrem ganzen Körper aus seinem Griff zu winden. Doch er war stark und zog sie grob wieder zu sich heran, als sie es bereits geschafft hatte, ein wenig Platz zwischen sie beide zu bringen. Abigail gab nicht auf. Sie setzte ihren Fuß auf seinen Oberschenkel und stieß sich dann ab. Da er sie noch am Handgelenk gepackt hatte, kam sie nur nicht sehr weit. Sie erreichte lediglich, dass seine Ungeduld jetzt in Wut umschlug. Er holte aus und versetzte ihr mit der flachen Hand einen kräftigen Schlag ins Gesicht. Es klatschte laut und ihr Kopf flog zur Seite. Sie keuchte schwer und schloss aus Reflex die Augen. Als sie sie wieder öffnete, konnte sie nur verschwommen sehen. Im selben Moment ließ er sie los und sie fiel nach hinten.
Der Schreck fuhr durch ihre Glieder und sie ruderte wild mit den Armen. Dann landete sie im feuchten Gras und schlug mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf, was eine weitere Schmerzwelle auslöste. Nun wurde ihr für Sekunden gänzlich schwarz vor Augen. Die Geräusche um sie herum schienen wie ein lautes Rascheln und Stöhnen, das sie nicht einordnen konnte. Erst als sich allmählich vor ihren Augen wieder ein klares Bild formte, stellte sie fest, dass sie nicht mehr allein waren.
Mehrere dunkel gekleidete Männer hatten sich um das Lagerfeuer versammelt. Einer hielt Dorian mithilfe eines Seils, dass ihm eng um den Hals geschnürt war, so fest, dass er kein Wort mehr sagen konnte, sondern nur leise röchelte. Seine Hände versuchten verzweifelt, das Seil zu lösen, und er zappelte wild mit den Füßen. Ein Zweiter kam dem Ersten zu Hilfe und sie zurrten das Band noch etwas fester. Dorians Kopf lief feuerrot an und seine Augen, die noch immer auf Abigail geheftet waren, sprangen ihm fast aus den Höhlen.
Abigail rappelte sich erschrocken hoch und sah auf die vermummten Angreifer um sich herum. Sie zählte fünf Männer, die alle bewaffnet waren. Waren sie Wegelagerer? Diebe? Rebellen? Sie wagte kaum zu atmen, während sie zwischen ihnen hin und herblickte. Einer von ihnen trat hinter sie und half ihr hoch. Dabei sah sie direkt in sein Gesicht. Ein Halstuch verdeckte Mund und Nase, doch seine Augen verrieten ihr, dass er noch sehr jung war. Er hätte einer ihrer Brüder sein können. Trotzdem war sein Blick reserviert und ohne Mitleid. Er packte ihre Hände und fesselte sie mit einem rauen Seil auf dem Rücken zusammen.
Dorian keuchte noch immer, während er nun auf Knien über den Boden zu fliehen versuchte. Doch die Männer hielten ihn eisern fest. Sein Hemd war hochgerutscht und sein speckiger Bauch glänzte im Schein des Feuers. Dann trat der Größte von den Angreifern nach vorn, zog sich das Tuch vom Gesicht und beugte sich über den Händler: »Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst dich hier nicht mehr blicken lassen, Dickerchen?«
Dorians Antwort war nur ein ängstliches Quieken. Abigail sah, wie ihm der Schweiß über die Schläfe lief.
Der Räuber schnalzte ungehalten mit der Zunge. »Hab ich mich denn so undeutlich ausgedrückt?«
Dorian schüttelte eingeschüchtert den Kopf. Er begann, vor Aufregung zu sabbern.
Der Fremde seufzte. Er trug einen Vollbart, der regelrecht gepflegt aussah, war von drahtiger Statur und hatte leuchtend blaue Augen, die im Feuerschein funkelten. Er zog mit betonter Langsamkeit sein Schwert aus der Scheide. Dorians Augen wurden groß. Das Schwert machte einen Bogen durch die Luft und seine Spitze blieb nur wenige Millimeter vor der Nase des Händlers stehen.
»Ich fürchte, ich muss wohl noch ein wenig deutlicher werden.«
Dorian kreischte entsetzt auf.
Der Räuber hielt inne. »Wie bitte?«, fragte er gespielt freundlich. »Hast du etwa eine Entschuldigung vorzubringen?«
Die beiden Männer, die Dorian festhielten, lachten, dann ließen sie das Seil leicht locker und der Händler schnappte gierig nach Luft. »Ich habe die Aufgabe, dieses Mädchen nach Satoori zu bringen. Sie wird dort erwartet. Es ist äußerst wichtig«, quäkte er, arg bemüht, bedeutsam zu klingen.
»Ich verstehe«, erklärte der Bärtige und zog das Schwert zurück. Er blickte zum Wagen des Händlers hinüber. »Du weißt aber schon, dass wir deine Waren konfiszieren müssen?«
»Was?«, fuhr Dorian erschrocken auf. »Aber–«, das Seil ließ ihn wieder verstummen.
»Und was hattest du mit der Kleinen vor?«
Abigail zuckte zusammen. Bisher war sie nur Zeugin gewesen. Eine Randfigur wie schon immer in ihrem Leben. Niemand schenkte ihr besondere Aufmerksamkeit. Die wirklich schlimmen Sachen passierten immer nur anderen Menschen. Jetzt spürte sie mit einem Mal alle Blicke auf sich gerichtet. Der Junge stand noch immer dicht hinter ihr und hielt das Ende des Seils, das um ihre Handgelenke gebunden war, in der Hand. Die Fesseln fühlten sich mit einem Mal viel zu fest an.
»Gar nichts«, jammerte Dorian erbärmlich und ein Schweißtropfen lief ihm aus dem kläglichen Haaransatz über die Stirn hinab.
»Das sah aber eben noch ganz anders aus.« Jetzt streckte der Räuber wieder seinen Arm und zeigte mit dem Schwert auf seinen Bauch. »Du weißt doch noch, was auf das Begrabschen von Jungfrauen steht?«
»Nein!« Der Ton seiner Stimme bedeutete, dass er es sehr wohl wusste und nur die Konsequenzen abzuwenden versuchte. Sein Gesicht sprach Bände. Sie standen einen Moment unbewegt da. Abigail hielt unbewusst die Luft an. Dann wandte der Räuber sich langsam ab. Dorian atmete auf. Zeitgleich blitzte über seinem Kopf eine Klinge auf. Es geschah so schnell, dass Abigail nicht sofort verstand, was passierte. Einer der Männer hinter ihm hatte einen Dolch gezückt, griff um seinen Kopf herum und fuhr mit der scharfen Klinge über den vorderen Hals. Eine breite rote Spur bildete sich auf der Haut und ein Schwall Blut sprudelte heraus. Der andere Mann ließ das Seil los und Dorians Hände fassten erstaunt dreinblickend danach. Er versuchte, sich zu artikulieren, doch aus seinem Mund kam kein Ton. Wie in Zeitlupe fiel er nach vorn in den Dreck.
Abigail gab einen leisen Schrei von sich und kniff die Augen zu. Unkoordiniert machte sie einen Schritt nach hinten. Sie stieß gegen den Jungen hinter sich und riss den Kopf herum. Der Junge blickte beinahe gleichgültig auf die Szene. Dann wandte er den Blick ab und zog sie ein Stück weiter, fort vom Feuer in Richtung Pferdewagen.
Hier war der Anführer der Räuber bereits dabei, den Inhalt des Wagens zu inspizieren. Als sie neben ihm stehen blieben, drehte er sich um. Mit einem kritischen Blick musterte er Abigail eingehend von oben bis unten. Dann winkte er einen bulligen Kerl heran. Er blickte auf den Jungen und drückte ihm etwas in die Hand, das Abigail nicht genau sehen konnte, und gab ihm dann ein Zeichen. »Rauf mit ihr und dann bringst du die Sachen weg, Nick. Und diesmal keine Sperenzchen, klar?«
Nick gehorchte. Er bugsierte Abigail auf den Platz, auf dem sie schon neben Dorian die ganze Zeit gesessen hatte. Da sie gefesselt blieb, konnte sie nicht alleine hinaufsteigen. Er packte sie mit beiden Händen an den Hüften und schob sie an den Platz. Als sie sich gesetzt hatte, stieg er auch hinauf und setzte sich auf den Kutschbock. Der Bullige trat noch einmal heran und brummte mit einem Kopfnicken Richtung Abigail: »Sie ist eine Kandidatin für Missy. Bruno trifft dich gegen Morgen. Er wird sich darum kümmern.«
»Alles klar.« Nick nahm die Zügel und lenkte die Pferde von der Lagerstatt fort. Einer der Anderen durchsuchte noch die Kleidung des Händlers, ein Weiterer löschte das Feuer mit Erde. Der Anführer hatte bereits sein Pferd bestiegen. Jetzt erst sah Abigail, dass auch die anderen Räuber Pferde besaßen, die sie offensichtlich für den Überfall versteckt gehalten hatten. Der fünfte Mann führte diese gerade zum Lagerplatz.
Als sie an dem Körper von Dorian vorbeifuhren, warf Abigail noch einen letzten, verstohlenen Blick auf ihn. Er rührte sich nicht mehr. Mit dem Gesicht nach unten lag er im Dreck, Arme und Beine von sich gestreckt. Ihr letzter Gedanke war, ob Mutter ihn wohl vermissen würde? Doch es war ihr im Grunde auch egal. Sollte sie sich nach dem Widerling ruhig verzehren. Das hatten sie nicht besser verdient. Beide nicht. Dann schob sie diesen Gedanken fort. Sie sollte sich lieber darüber Sorgen machen, was nun mit ihr selbst passierte. Den Schneider würde sie alsbald sicher nicht mehr kennenlernen. War das etwas, worüber sie froh sein konnte? Wenn sie sich vorstellte, was ihr da erspart geblieben war, war sie tatsächlich auch ein wenig froh. Dennoch konnte sie die Räuber nicht einschätzen. Waren sie ihr wohlgesonnen? Sie hatten sie immerhin vor schlimmem Unglück bewahrt und getötet hatten sie sie auch nicht. Aber was sie wirklich im Schilde führten, konnte sie sich nicht ausmalen.
Während sie durch die Nacht fuhren, wurde es immer kälter und Abigail begann, mit den Zähnen zu klappern, ohne dass sie es verhindern konnte. Nick sah zu ihr rüber. Sie traute sich nicht, sich zu rühren. Dann lachte er auf. Er zog sich das Tuch vom Mundund fragte amüsiert: »Alles in Ordnung mit dir?«
Sie sah ihn an. Jetzt erkannte sie trotz der Dunkelheit, dass er gar nicht so jung war, wie gedacht. Und sein Blick war nicht mehr so kühl wie noch zuvor. »Mir ist kalt«, gab sie leise zu.
Er lenkte die Pferde locker mit einer Hand, während er mit der anderen nach hinten griff und eine Decke heranzog, die hinter dem Sitz lag. Er versuchte, sie ihr über die Schultern zu drappieren, doch sie rutschte immer wieder weg. Da ihre Hände noch auf dem Rücken gefesselt waren, begannen auch ihre Schultern allmählich zu schmerzen. »Kannst du mir die Fesseln nicht auch vorne anlegen?«, fragte sie ebenso leise und sah ihn bittend an. Sie versuchte, sich ein wenig zu strecken, doch die Muskeln taten dadurch nur noch mehr weh.
Er blickte sie ungläubig an. Dann schüttelte er den Kopf. »Damit du abhauen kannst? Nein, ganz sicher nicht.«
Sie sah sich um. Der Weg war schmal. Rechts und links nur Bäume und unwegsame Wildnis. Es war inzwischen stockdunkel geworden und nur eine kleine Öllampe, die am Dach des Wagens festgemacht war, beleuchtete die unmittelbare Umgebung. Sie hatte bemerkt, dass die Räuber ihnen nicht mehr folgten. Sie waren sicher schon wieder dabei, ihren nächsten Raubzug zu organisieren, während Nick die Aufgabe hatte, ihre Beute zu sichern. Also waren sie ganz alleine. Sie konnte nachvollziehen, dass er nicht wollte, dass sie etwas Krummes versuchte. Er trug die Verantwortung für sie und den Wagen ganz allein.