Absolut federleicht - Sonja Krenn - E-Book

Absolut federleicht E-Book

Sonja Krenn

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Beschreibung

Nach einem Unfall verliert Stella ihr Gedächtnis. Zum Glück hat sie das vergangene Jahr in einem Tagebuch festgehalten. In Berlin beginnt die 23-Jährige ein Medizinstudium. Dabei findet sie nicht nur neue Freunde, sondern verliebt sich in einen ihrer Kommilitonen. Alles scheint perfekt zu sein, bis der vierte Mitbewohner ihrer Wohngemeinschaft von seinem Auslandsemester zurückkehrt und Stellas Leben komplett durcheinanderbringt. Ihr Kompass, ein Geschenk ihrer verstorbenen Eltern, sendet Stella geheimnisvolle Zeichen und weist ihr den Weg. Mit jedem Hinweis kommt sie der Wahrheit näher und muss sich gleichzeitig mit den Herausforderungen ihrer neuen Realität auseinandersetzen. Wird Stella es schaffen, ihre Erinnerungen zurückzugewinnen und ihr Leben wieder in die richtige Bahn zu lenken?

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Für meinen geliebten Beppo

Inhaltsverzeichnis

NACH DEM UNFALL IST VOR DEM UNFALL…

2021

JUNI 2021

JULI 2021

AUGUST 2021

SEPTEMBER 2021

OKTOBER 2021

EIN PAAR TAGE SPÄTER…

05. NOVEMBER 2021

WENIGE TAGE SPÄTER…

DER NOVEMBER GEHT ZU ENDE…

EIN PAAR TAGE SPÄTER…

DEZEMBER 2021

24. DEZEMBER 2021

DIE LETZTEN TAGE DES JAHRES …

31. DEZEMBER 2021

JANUAR 2022

FEBRUAR 2022

MÄRZ 2022

WENIGE TAGE SPÄTER…

APRIL 2022

ZURÜCK IM HIER UND JETZT

DANKSAGUNG

ÜBER DIE AUTORIN

NACH DEM UNFALL IST VOR DEM UNFALL…

In dem Moment, in dem ich meinen Körper wieder spüren konnte, fühlte sich dieser leicht an. Absolut Federleicht!

Doch wer war das? Wer lag da regungslos auf der Straße? Ich rieb mir die Augen. Konnte das wirklich sein? Die Person kannte ich. Es war ich selbst!

Neben meinem Körper zogen Reifen schwarze Spuren auf den Asphalt und aus der verbeulten Motorhaube eines roten Autos dampfte dunkler Rauch. Eine Menschentraube hatte sich um die Unfallstelle versammelt und folgte gespannt dem Geschehen.

Wieso konnte ich das sehen, wenn ich doch dort lag? Mit Martinshorn und Blaulicht düste ein Krankenwagen an.

So viel Hektik. Unzählige uniformierte Sanitäter kümmerten sich um den Fahrer des Fahrzeuges, dann wieder um mich. Chaos!

Aber das konnte nicht wahr sein! Wie sollte ich mich selbst beobachten können? Ich musste näher an meinen Körper gelangen, weshalb ich mich durch die Menge drückte.

Seltsamerweise beschwerte sich niemand, dass ich mich hindurchquetschte. Kurz vor meinem Ziel tauchte ein weißer Tunnel auf.

Gegen meinen Willen zog mich dieser in sich hinein. Das Licht strahlte so hell, dass es mich blendete. Erst konnte ich nichts mehr sehen, dann folgte ich Schritt für Schritt dem Leuchten, bis ich am Ende ein strahlendes Grün entdeckte, welches ich auf keinen Farbpalletten je so zu Gesicht bekommen hatte.

Je näher ich diesem kam, umso mehr konnte ich meine Umgebung erkennen: Vor mir erstreckte sich eine Wiese voller Blumen. Blühende Blumen. Inmitten von Grashalmen leuchteten diese in allen Farben. Gelb, rot, orange.

Die bunten Blüten, die saftigen Blätter und die im Wind wehenden Stängel luden Hummeln, Bienen, Schmetterlinge und klitzekleine Käfer zum gemeinsamen Tanzen ein. Sie schwirrten und krabbelten friedlich umher, als würden sie gemeinsam ein Fest feiern.

Ich breitete meine Arme wie die Flügel eines Vogels aus, während ich quer über die malerische Wiese lief. Der Wind ließ dabei meine blonden, welligen Haare umherwirbeln.

Ich fühlte mich schön. Das Licht der Sonne schenkte den einzelnen Strähnen dazu einen anmutigen Glanz. Ein Blick nach unten verriet mir, dass meine Füße nichts bedeckte. Barfuß wandelte ich über die Frühlingswiese.

Wo waren meine Schuhe abgeblieben? Doch eigentlich genoss ich es, denn so spürte ich die Wärme des weichen Bodens. Auch meine Kleidung überraschte mich. Anstatt der Jeans und dem gestreiften Pullover trug ich nun ein weißes, knielanges Kleid, welches leicht im Takt des Windes wehte.

Doch eines konnte ich gewiss sagen: Ich war glücklich, einfach glücklich. Meine Gedanken waren leer.

Und ich?

Ja, ich war frei. Frei von Ängsten, Sorgen und all meinen Schmerzen. Die Luft um mich herum fühlte sich frisch an. Voller Sauerstoff.

Meine Arme weit über den Kopf gestreckt, blieb ich stehen. Beim Ausatmen ließ ich die Hände langsam fallen und glitt entspannt zu Boden.

Zufrieden blieb ich sitzen, um den verschiedenen Geräuschen lauschen zu können. Ich nahm das Zirpen der Grillen, das wohlklingende Summen der Bienen und das melodische Pfeifen des Windes, welcher durch die hohen Grashalme zog, wahr. Das Wiesenkonzert und die unzähligen Klängen hievten meinen Körper in ein Wohlbefinden, das ich bisher nie verspürt hatte.

Und trotz aller Geräusche war es ruhig. Ich blickte nach oben, doch statt einem Himmel umgab mich ein undefinierbares, friedvolles Weiß. Den seichten Wind spürte ich auf der nackten Haut meiner Oberarme.

Ich war allein, fühlte mich jedoch nicht einsam. Es fühlte sich gut an. Friedlich.

Die Blüten der Blumen, das Summen der Bienen und das sachte Geräusch des Windes gaben mir ein wohltuendes, warmes Gefühl. Ich schaute eine Weile in die Ferne, wo auf einmal ein riesiger Baum auftauchte.

Eine Weide. Sie strahlte in einem hellen Grün und wuchs erhaben in die Höhe. Überraschenderweise machte mir das keine Angst.

Wie von selbst zog sich mein Körper nach oben, worauf sich meine Füße vom Wind über die Wiese tragen ließen. Ich meinte, eine weiße Gestalt neben dem Stamm zu erkennen.

Bildete ich mir das ein? Oder war es ein Schatten? Oder eine Täuschung? Womöglich eine Fata Morgana?

Der Umriss wurde deutlicher. Nein, es waren zwei Umrisse.

Mein ganzer Körper pulsierte vor Glück. Eine Freudenträne rollte mir über die Wange.

„Papa! Mama!“, rief ich glückerfüllt und lief ungehalten auf die beiden zu. Die langen braunen Haare meiner Mutter umschmiegten meine Wangen. Ihr herzliches Lächeln füllte mein Herz mit Wärme. Aber auch mein Vater strahlte mit seinen breiten, starken Schultern Zuversicht aus. Es gelang ihm stets, mir einen Platz in seinen Armen zu geben.

Seine Stimme hörte sich vertraut und liebevoll an.

„Stella, mein Schatz! Lass dich umarmen.“

„Schön, dass ihr wieder da seid“, flüsterte ich. Ich zitterte am ganzen Körper, obwohl ich nicht fror.

„Du hattest einen schweren Unfall. Aber du gehörst hier nicht her, du gehörst auf die Erde. Du musst dort Einiges klären. Vor dir liegt so viel Schönes!“

„Hier gefällt es mir aber! Ich liebe die Blumen, die Wiesen und ich liebe euch! Wieso sollte ich von diesem wundervollen Ort weggehen?“

„Das glauben wir dir“, hauchte meine Mutter und gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Ich bitte dich trotzdem, all deinen Lebensmut zusammenzunehmen und zurück in dein Leben zu kehren. Wenn du deine Augen öffnest, werden Menschen auf dich warten. Menschen, die dich brauchen!“

Allmählich wurde mir bewusst, warum ich mich auf dem Boden liegen gesehen hatte. Das weiße Kleid, die Wiese, meine Eltern. Alles machte auf einmal Sinn.

„Ich träume gerade, stimmt's? Wenn ich aufwache, seid ihr wieder weg?“

Beide nickten mit einem warmherzigen Lächeln im Gesicht.

„Wir sind trotzdem für dich da“, versicherte mir mein Vater. „Du hast den Kompass von uns. Egal was passiert: Folge immer deinem Herzen, tu was deiner Seele guttut! Dann kannst du alles schaffen!“

Meine Mutter hatte einen letzten Rat für mich.

„Derjenige, der deine Hand in schlechten Zeiten hält, wird sie für immer halten. Aber lass dich nicht täuschen! Manches ist anders, als man denkt!“

Ich fing bitterlich an zu weinen. Nachdem ich mir Tränen von der Wange gewischt hatte, drückte ich meine Eltern so fest ich konnte, denn ich wusste, es würde wohl das letzte Mal für lange Zeit sein.

„Danke“, wisperte ich. Das Loslassen fiel mir schwer, dennoch wusste ich tief in mir, sie hatten recht. Ich musste noch Einiges klären und auf mich wartete mein Leben.

Die ersten Schritte waren hart. Es kam mir vor, als würden Bauklötze an meinen Füßen hängen, doch die Worte meiner Eltern erfüllten mich mit Zuversicht.

Ein letztes Mal blickte ich mich um, konnte aber die beiden nicht mehr sehen. Weder rechts noch links. Nirgendwo konnte ich sie entdecken. Sie waren bereits verschwunden.

Doch auf einmal tauchte vor mir ein undefinierbares Glänzen auf. Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass es Wasser sein musste.

Ich ging auf den breiten Fluss zu, bis ich an einen Steg gelangte, an dem ein hölzernes Boot befestigt war. Das Hineinsteigen forderte all meinen Mut, doch ich schaffte es und löste vorsichtig das Seil, worauf das Boot zugleich flussabwärts trieb.

Mit jedem Meter wurde alles um mich herum dunkler und kühler. Frische Luft streifte meine Haut. Mein Blick zur Wiese sagte mir, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Die Farben der Blumen und des Grases verblassten. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Fluss zu.

Er wurde ruhiger. Die Wellen liefen aus, das Blau des Wassers färbte sich weiß. Aus dem Nichts tauchte ein Loch auf. Alles färbte sich in schwarz.

„Frau Breitenbach? Frau Breitenbach, hören Sie mich?“, sagte eine ruhige Stimme zu mir.

Durch meine Adern flossen literweise Schmerzmittel. Mein Körper war mit tiefen Schrammen versehrt. Eine unangenehm kühle Luft umgab mich, die wohlige Wärme verschwand. Ich öffnete langsam meine von der Tränenflüssigkeit verklebten Augen.

Ich lag in einem kahlen Raum. Neben mir standen piepsende Geräte, die offenbar meinen Herzschlag stetig überwachten.

Erst die vielen Menschen, mein lebloser Körper am Boden, die Wiese, meine Eltern und nun dieser Raum. Was war nur los mit mir?

Eine Krankenschwester, die sich um die Infusionen und die vielen Pflaster kümmerte, sprach mit zarter Stimme zu mir.

„Haben Sie gut geschlafen?“

Mein Kehlkopf brannte. Ich kämpfte mit meiner Stimme.

„Mein Kopf schmerzt.“

Als die Schwester den Raum verließ, trat ein junger, gutaussehender Mann an mein Krankenbett.

„Stella! Willkommen zurück!“

Er streichelte meine Wange und gab mir einen seichten Kuss. Ich wusste zwar nicht genau, welche Rolle er in meinem Leben spielte, aber ich erkannte ihn an seinen blonden, strubbeligen Haaren. Durch seinen Pullover zeichneten sich seine Muskeln ab und ich erinnerte mich, dass er gerne Sport trieb. Joggen oder so. Mehr konnte ich in meinen Gehirnzellen nicht über ihn finden.

„Bist du Paul?“, fragte ich ihn. Er nickte.

„Wir haben uns Sorgen gemacht. Ich habe mir Sorgen gemacht“, verbesserte er sich selbst. „Schön, dass du zurückgekommen bist.“

Es fiel mir schwer seinen Worten zu folgen. Mein Blick schweifte über ihn hinweg zur Wand, an dem ein Kalender hing. Ein Foto zeigte eine alte Kapelle an einem Waldrand, neben dem eine Wiese wuchs. Das saftige Grün erinnerte mich an meinen Traum.

Ich wünschte mich dorthin zurück. Die Ruhe, die Seligkeit. Hier hatte ich das Gefühl, von Hektik umgeben zu sein. Weiter unten erblickte ich das Datum. Der 25. April 2022 wurde durch einen gelben Rahmen markiert.

War etwas Besonderes an diesem Tag? Mir fiel nichts ein.

„Alles wird gut, Stella“, sprach Paul mir gut zu und streichelte mir über meine Wange.

Die Erschöpfung nahm mir die Kraft zu sprechen, dazu schmerzte mein Kopf, als würden neben hundert Hammerschlägen tausende Messer hineinstechen. Schon eine leichte Bewegung erschütterte mein Gehirn wie ein gewaltiges Erdbeben.

Schwungvoll trat ein Arzt ein, dessen Kittel hinter ihm nachwehte. Die Krankenschwester von soeben hatte er im Schlepptau. Neben dem Bett blieben beide stehen.

Bevor der Doktor zum Sprechen ansetzte, holte er tief Luft. Sein Gesicht war knallrot und mit Schweißperlen besetzt.

„Frau Breitenbach, sie sind im Uniklinikum. Sie hatten einen Unfall. Und jede Menge Glück. Überaschenderweise haben sie außer wenigen Schrammen und ihrer Platzwunde am Kopf keine weiteren Verletzungen. Wir gehen davon aus, dass Sie gar nicht von dem Auto erwischt wurden. Kann das sein?“

„Ich kann mich an gar nichts erinnern“, ächzte ich.

Der Arzt blickte in seine Notizen. „Eine Amnesie ist bei solchen Kopfverletzungen nicht ausgeschlossen. Vor allem auch, nachdem man ohnmächtig war.“

„Amnesie?“, wiederholte Paul, der durchweg meine Hand hielt.

„Gedächtnisverlust“, erklärte der Mediziner. „Es wird dauern, bis ihre Erinnerungen zurückkehren. Es sei denn, sie bekommen Unterstützung.“

„Wie meinen Sie das?“, hakte ich nach, obgleich mir jedes Wort schwer über die Lippen kam.

Der Arzt schüttelte lediglich meine Hand.

„Sie schaffen das. Ich glaube, sie sind eine taffe junge Frau!“

Nachdem er die Messwerte der Krankenschwester entgegengenommen hatte, verschwand er so schnell, wie er gekommen war.

Die Schwester stellte mir ein frisches Glas Wasser bereit und ging ebenso ihrer Arbeit in den anderen Krankenzimmern nach.

Verzweifelt suchte ich Pauls Blick.

„Was ist mit mir?“

Er drückte meine Hand fester, womit er ein kleines bisschen meine Angst vertrieb.

„Du hattest einen Unfall. Egal was kommt, wir schaffen das!“

Sein Gesicht kam mir blass vor, geradeso, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Mit großem Kraftaufwand zog ich mich am Griff des Bettes nach oben. Ich drehte meinen Kopf in alle Richtungen, musste aber enttäuscht feststellen, dass nur Paul anwesend war.

„Suchst du wen?“, erkundigte sich dieser, der seine Augen keine Sekunde von mir ließ.

„Wo sind meine Eltern?“

„Deine Eltern sind vor Jahren gestorben.“

„Niemals!“, dementierte ich mit einer Überzeugung in der Stimme, die ich mir selbst in diesem Zustand nicht zutraute. „Ich habe sie doch gerade eben gesehen.“

Vorsichtig schob er seine Hände unter meinen Rücken und half mir damit zurück in eine bequeme Liegeposition.

„Das ist lange her, du hast inzwischen viel erlebt. wahrscheinlich hast du von ihnen geträumt!“

„Bist du mein Freund?“, stutzte ich. „Oder wer bist du?“

Kurzes Schweigen. Er schwieg gefühlt einige Minuten, dann schluckte er.

„J-Ja … Also irgendwie …“, stammelte er und rutschte mit seinem Stuhl ein Stück zurück. Die ganze Situation verwirrte mich. Durchweg strich ich mir über mein Gesicht, wo ich die tiefen Kratzer erfühlen konnte.

„Aber ich habe meine Eltern doch vorhin gesehen“, wiederholte ich abermals. „Sie waren da.“

„Du hast geträumt, Stella! Hör auf, sie ständig zu erwähnen!“

Durch meinen Kopf schwirrten unzählige Fragen, ich brauchte dringend Antworten. Die Unwissenheit brachte mich allmählich um meinen Verstand.

„Kanntest du meine Eltern?“

„Ja, sie waren wundervolle Menschen“, schwärmte Paul. Seine Augen glänzten kurzzeitig auf, dann erlosch die Freude wieder. „Aber das ist sehr lange her.“

„Kannst du mir mehr über sie erzählen?“, fragte ich. Meine Gesichtsmuskeln entspannten sich nach und nach. Seine Laune hingegen sank unerwartet.

„Ich glaube, das verlegen wir auf ein anderes Mal. Ich muss weg!“

Obwohl mein Kopf zu explodieren drohte, wollte ich nicht, dass er mich allein ließ.

„Bitte bleib! Ich brauche Antworten!“

„Ein anderes Mal, okay?“

„Woher kennst du meine Eltern? Was passierte mit ihnen?“

Paul löste sich von seinem Stuhl und strich ein letztes Mal über meine Hand.

„Du brauchst deine Ruhe.“

Dass er scheinbar Wichtigeres zu tun hatte, gefiel mir nicht. Ich drehte mich in Richtung Fenster.

Jede Bewegung löste unglaubliche Schmerzen in mir aus. Jeder Muskel schrie auf, meine Sehnen zogen, als würden sie gleich zerreißen, und mein Kopf hämmerte. Die Schmerztabletten nahmen mir immerhin langsam das Stechen der tiefen Verwundungen.

Doch eigentlich hatte ich keine Ahnung, was überhaupt geschehen war und warum sich Paul so seltsam verhielt.

Ich schloss meine Augen, um ein Nickerchen zu machen. Weil ich nicht schlafen konnte, drehte ich mich in dem unbequemen Bett auf alle Seiten.

Zum Glück war ich alleine in dem Raum. Das Piepsen der Geräte reichte mir.

Dazu wollte mein Kopf nicht still sein und mein Körper schmerzte.

Es war kein Wunder, weshalb ich wach im Bett lag. Einschlafen war unter diesen Bedingungen schier unmöglich.

Da erschallte ein Klopfen. Ein junger Mann mit einer Schachtel Pralinen in der Hand kam herein und setzte sich unbeirrt ans Bett. Das wäre ja noch in Ordnung gewesen, doch zu meiner Überraschung küsste er mich auf meine Lippen. Er sprach kein Wort, wobei sein mitleidiger Blick genug aussagte.

Auch er war kein Fremder. Dunkle Haare, braune Augen, verschmitztes Lächeln. Ich kannte diesen Mann sehr gut.

Nur, woher?

Neugierig fuhr ich mit meinen Fingern entlang seines Armes über sein Tattoo hinweg. Es faszinierte mich, denn das Schwert auf seiner Haut kam mir sehr vertraut vor.

„Wer bist du?“, flüsterte ich und sah ihm tief in die Augen. Zwischen uns schwang eine tiefe Verbundenheit.

Gerade, als er mir verraten wollte, wen ich vor mir hatte, stolperten zwei andere Besucher herein. Zumindest anklopfen hätten sie können.

„Oh Mann, Alexander! Du bist da. Tut uns leid, wir wollten euch nicht stören. War Paul schon hier? Wir können ihn nicht erreichen. Wir dachten er kommt mit uns ins Krankenhaus.“

„Marie, mach mal `ne Atempause. Stella braucht Erholung, keinen Stress!“, unterbrach sie eine männliche Stimme, die allerdings nicht zu Paul gehörte. Sie klang nach einem kürzlich überstandenen Stimmbruch.

„Langsam werde ich verrückt“, hauchte ich und drückte das Kissen an meinen Kopf, der unaufhörlich pochte. „Wer seid ihr alle?!“

„Entschuldigung, du hast ja alles vergessen. Ich bin Marie“, gluckste die junge Frau. Der Mann an ihrer Seite rammte ihr den Ellenbogen in die Seite. Seine Stimme erhob sich.

„Das ist nicht lustig! Ihr geht es nicht gut!“

„Tim, Marie! Schluss jetzt!“, mischte sich der Mann neben meinem Bett ein, der seine Hand seit einigen Minuten auf meinem Bauch liegen hatte.

„Wer seid ihr alle?“, ächzte ich erneut, nachdem ich die Schmierenkomödie einige Minuten schweigend beobachtet hatte.

„Irgendwie bist du süß, wenn du mich mit deinen großen Rehaugen ansiehst“, schwärmte der Mann direkt an meinem Bett.

Rehaugen. Ein Schlüsselwort! Es hatte auf jeden Fall mit meiner Vergangenheit zu tun. Aber was?

„Wir haben dir Schokolade mitgebracht. Ich bin Tim, dein ehemaliger Mitbewohner“, stellte sich der junge Mann vor, dessen Hygiene zu wünschen überließ. Seine langen, fettigen Haare sehnten sich nach einer warmen Dusche und sein Bandshirt brauchte dringend eine Karussellfahrt in der Waschmaschine. Doch er machte einen sympathischen Eindruck auf mich und das war viel wichtiger als das Aussehen.

„Und ich war auch deine Mitbewohnerin. Der hübsche junge Mann hier ist Alexander. Dein Freund“, plapperte die junge Frau unentwegt weiter.

Jetzt begann es in meinem Gehirn zu rattern.

„Warte. Mein Freund war vorhin hier.“

Alexanders Gesicht entgleiste. Auch Maries Begeisterung flog über unsere Köpfe durch den Fensterspalt hinweg. Die gute Stimmung kippte von einem Moment auf den anderen.

Ich zog mich nach oben, verstand allerdings die Welt nicht mehr.

„Was ist plötzlich los mit euch?“

Meine Besucher sahen sich ratlos an, bis Tim das Wort ergriff.

„War Paul bei dir?“

Ich nickte. Ohne ein Wort nahm Alexander seine Hand von mir und verließ mit gesenktem Kopf das Krankenzimmer. Marie folgte ihm fluchend.

„So ein mieser Vollidiot. Ich wusste es!“, hallten die Worte aus ihrem Mund und füllten den leeren Krankenhausgang mit Empörung. Meine Wangen mussten knallrot sein. Ich spürte, wie sie glühten.

„Was habe ich falsch gemacht?“

„Du nichts“, versuchte Tim mich zu beruhigen. „Ich glaube, ich muss die Situation klären. Ich komme später wieder!“

„Bitte, erkläre zuerst mir´, was los ist!“, wimmerte ich, denn mittlerweile machte überhaupt gar nichts mehr Sinn.

Ich dachte doch, die Situation verstanden zu haben, und dann tauchten plötzlich viel zu viele Leute auf, die wiederum unter seltsamen Gefühlsentgleisungen litten.

Tim fasste mir kurz an den Arm.

„Später!“

Mit einem Sprint stürzte er aus dem Raum und hinterließ tausend Fragezeichen in meinem Kopf.

Ich vergrub mich tiefer unter der Decke. Die Tabletten halfen mir zwar gegen die Schmerzen, meine tausend Gedanken konnten sie allerdings nicht stoppen.

Am liebsten würde ich mich wieder zu der Wiese zurückträumen, aber schlafen konnte ich nicht.

Als es plötzlich erneut an meiner Tür klopfte, stieg mein Blutdruck ins Unermessliche. Ich brauchte endlich meine Ruhe. Kurz überlegte ich, mich zu verstecken.

Doch das Klopfen war anders als die ersten Male. Ganz zart und leise, aber dennoch unüberhörbar. Genervt schaute ich unter den Laken hervor.

„Herein!“

Durch den Spalt der Tür schob sich ein schmaler, grüner Schuh. Kurzzeitig war ich erleichtert, dass kein weiterer Mann hereinkam, der potenziell mein Partner hätte sein können.

Der Fuß gehörte einer mir fremden, älteren Frau. Ihr leicht gebückter Körper versteckte sich unter einem langen Mantel.

Ihre linke Hand umklammerte den Griff eines kaputten Koffers mit rotem Gepäckgurt und grünem Namensschild, den sie mühevoll hinter sich herzog. Die andere Hand hatte sie tief in die Jackentasche gesteckt.

„Das ist mein Koffer“, erbaute ich mich und setzte mich mühsam auf. Mein Gepäcksstück erkannte ich sofort.

Kein zweites zierte diese grausame Rot-Grün-Kombi, die schrecklich und stilvoll zugleich war. Zumindest irgendetwas, an das ich mich erinnern konnte.

„Ganz richtig“, bejahte die Fremde. „Darf ich mich setzen?“

Die Stimme der Frau klang zittrig. Auch ihre Hände bewegten sich andauernd, als würde ein Beben ihren zerbrechlich wirkenden Körper fortwährend durchziehen.

„Ja, natürlich“, stimmte ich zu und deutete auf die Sitzfläche des Holzstuhls.

„Ich habe deinen Koffer gefunden“, erklärte sie mir. „Also eigentlich muss ich mich entschuldigen.“

Ihr fiel es sichtlich schwer den Blick zu mir zu halten, denn sie sah beständig aus dem Fenster. Ab und zu versuchte die Frau ihre Augen auf mich zu richten.

„Wofür müssen Sie sich entschuldigen?“

Sie schluckte.

„Mein Mann und ich haben diskutiert. Wir haben dich schlichtweg übersehen. Bei seiner Vollbremsung drehte sich das Auto und blieb am Gehsteig hängen. Und du hast vor Schreck die Straßenlaterne übersehen.“

Ihr Gesicht wurde blass. Mir steckten die Worte in der Kehle fest. Weil ich nichts darauf sagte, sprach sie weiter.

„Es tut uns wirklich leid! Auf jeden Fall sollst du deine Sachen wiederhaben!“ Sie holte den Koffer näher an sich heran. „Ach ja, noch etwas!“

Aus ihrer Manteltasche holte sie ein goldfunkelndes Schmuckstück heraus.

„Das ist doch deine Kette. Sie hat sich scheinbar bei dem Unfall von deinem Hals gelöst. Der Sanitäter gab sie mir. Es ist wirklich ein Prachtexemplar.“

„Der Kompass!“, freute ich mich. Es war bestimmt der Kompass, von dem meine Eltern in meinem Traum gesprochen hatten.

Die Frau legte ihn mir sogleich an, wobei ich ihre faltigen Hände näher betrachten konnte. Sie trugen Narben von all ihren Lebensjahren. Sie musste ein sehr alterierendes Leben geführt haben.

„Das Gold passt gut zu deinen Haaren“, stellte die Fremde fest, nachdem sie den Verschluss der Kette verband

.Das Schmuckstück schmiegte sich an meine Haut, als wäre es ein Teil meines Dekolletés. Der Kompass strahlte eine Energie aus, die ich nicht beschreiben konnte. Ich fühlte mich ganz. Geborgen. Sicher.

Ich fühlte mit meiner Hand über das Schmuckstück.

„Vielen Dank! Ihr Besuch bedeutet mir sehr viel.“

Ihre fahlen Augen zeugten von ihrer Traurigkeit.

„Ich muss wieder gehen. Bitte verzeihe uns. Ich wünsche Dir auf jeden Fall gute Besserung!“

In geduckter Haltung wandte sie sich von mir ab.

„Danke, dass Sie mir meine Sachen gebracht haben“, rief ich ihr hinterher, aber sie konnte es vermutlich nicht mehr hören. Der Berg an Fragen wuchs in mir höher und höher.

Was hatte ich mit dem Koffer vorgehabt? Wo hatte ich damit hingewollt?

Trotz meiner Schmerzen befreite ich mich von der Decke, wodurch die langen Schrammen an meinen Beinen zum Vorschein kamen. Ein breites Pflaster klebte längs über meinem Oberschenkel.

Vorsichtig streckte ich meine Füße aus, um den Linoleumboden zu ertasten. Er fühlte sich kalt an meiner Sohle an, worauf messerartig ein Schmerz durch meinen Körper fuhr.

Als ich mich nach meinem Koffer bückte, pulsierte alles in mir. Sachte öffnete ich den Reißverschluss. Mit jedem Millimeter offenbarte sich der Inhalt.

Ordentlich sortierte Kleidung und Waschutensilien versteckten sich unter einem Anatomiebuch und einem anderen Buch, das einen braunen Umschlag trug.

„Mein Tagebuch“, las ich laut. Das könnte der Schlüssel zu meiner Erinnerung sein. In mir stieg ein Glücksgefühl hoch, das für einen Moment meine Schmerzen vertrieb.

Der braune, ledrige Umschlag, das Lesezeichen. Ich erinnerte mich. Es war wirklich mein Tagebuch. An so vielen Abenden hatte ich mir Zeit genommen, um das Buch mit Leben zu füllen. Am Bettrand hatte ich es mir bequem gemacht.

Gespannt klappte ich es auf. Wie ein Film begann sich mein Leben mit jedem Bild und jedem Wort, das ich las, vor meinem geistigen Auge abzuspielen. Die Zeilen wurden zu Momenten, die mich gedanklich in meine Vergangenheit reisen ließen.

2021

Liebes Tagebuch,

im Blumenladen zu arbeiten, erfüllt mich nicht wirklich mit Glück. Und überhaupt habe ich keine Lust, ständig mit „toten Blumen“ arbeiten zu müssen!

Der kleine Blumenladen Gänseblümchen war zwar nicht der einzige in der Kleinstadt Burford, aber die Einwohner liebten dessen besondere Atmosphäre und kamen deshalb immer wieder gerne her.

Der süße Duft, der den Raum erfüllte, erweckte sogar im Winter Sommergefühle.

Wenn die Sonne am Himmel stand, schickte sie ihre Strahlen durch die großen Fensterscheiben, wodurch die Kunden schon von Weitem den Anblick der farbenfrohen Blumen genießen konnten.

Überall, wo man hinsah, fand man die unterschiedlichsten Pflanzen in Vasen und großen Töpfen. Die roten Rosen, welche meist von verliebten Männern gekauft wurden, standen neben den orangen Tulpen, die wiederum das Interesse von patenten Frauen erweckten.

Es kam sogar schon vor, dass der Blumenkauf zur Partnervermittlung wurde und die Rosen, welche die Männer für ihre Frauen kauften, der neuen Bekanntschaft galten.

Im anderen Eck des Ladens fand man blaue Vergissmeinnicht, gelb leuchtende Sonnenblumen und rosafarbene Primeln. Dort blieben oft ältere Frauen stehen, die Stunden damit verbrachten, sich mit einer Bekannten über ihre Enkel oder den mittlerweile mühselig gewordenen Haushalt zu unterhalten.

Manchmal verirrte sich sogar ein Schmetterling im Geschäft, der vermutlich meinte, auf einer wunderschönen Blumenwiese zu sein.

„Junge Dame, haben sie es bald?! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit“, schimpfte eine wartende Kundin. Ihr Hut hing ihr bis zu den Augen. Dass sie überhaupt etwas sehen konnte, grenzte an ein Wunder.

„Ähm ja natürlich, ich beeile mich“, teilte ich ihr mit. Meine Hände arbeiteten im Akkord an einem Blumenstrauß. Beim Anblick der prächtigen Gerbera vergaß ich vollkommen die Kundin. Ich schwelgte in Erinnerungen, welche die Blume in mir hochholte.

Es war viel Zeit vergangen, seitdem ich auf dieser Wiese neben meinem Elternhaus verweilt hatte. In meiner Kindheit hatte ich jeden Tag dort gespielt, Blumen gesammelt oder die vorbeiziehenden Wolkenbetrachtet.

Mit ihrem Gehstock klopfte die Frau auf den Boden, wodurch sie mich unsanft aus meinem Tagtraum holte. Sie schimpfte weiter vor sich hin.

„Ich warte seit zehn Minuten. Eine schlafende Schildkröte ist schneller als sie.“

Am liebsten hätte ich den Strauß genommen und der alten Frau, die nun wieder unablässig mit den Fingern auf dem Thekentisch tippte, ins Gesicht geworfen. Aber ich musste höflich bleiben.

Ich musste sowieso nur noch einen Handgriff machen. Nachdem ich die letzte Schnur fest verknotet hatte, reichte ich der Kundin das fertige Bukett.

„Wurde auch Zeit“, nörgelte diese, legte energisch das Geld auf den Tisch und verschwand, ohne sich zu verabschieden.

Ja, ich versuchte mich nicht darüber zu ärgern, das forderte aber meine ganze Selbstbeherrschung.

Stattdessen kehrte ich die heruntergefallenen Blätter und Stiele zusammen, um sie in den dafür vorgesehenen Eimer zu werfen. Ich sehnte mich nach der Ruhe in meiner Wohnung.

Dort war ich allein. Niemand, der mich stresste. Niemand, der auf mich sauer sein konnte. Nur den Vermieter traf ich regelmäßig im Vorgarten. Meist saß er auf seiner hölzernen Bank, die zwischen zwei Weidenbäumen stand. Von dort aus schenkte er mir täglich ein sanftes Lächeln, wenn ich an ihm vorbeiging.

Obwohl der Vermieter nicht bedeutend viel sprach, vertraute ich ihm irgendwie. Vielleicht sogar genau deshalb. Nur ihm hatte ich bisher von meiner beschwerlichen Vergangenheit erzählt, von meinen verstorbenen Eltern und meinem herzlosen Exfreund, der mich in den dunkelsten Stunden verließ.

„Stella! Träumst du schon wieder? Ständig bist du in deine Gedanken vertieft!“

Valerie, die Besitzerin des Blumenladens, stand mit den Armen in die Hüfte gestemmt hinter mir. Mit ihren kurzen roten Haaren machte sie mancher Blume Konkurrenz. An ihrer Nase hing ein unübersehbarer Nasenring, aber das passte zu ihr

.Am meisten bewunderte ich meine Chefin für ihre akribische Arbeit und ihren Ehrgeiz. Immerhin hatte sie diesen Laden selbstständig aufgebaut. Wir hatten uns bereits in der Schulzeit kennengelernt, doch damals hatten wir wenig miteinander zu tun. Als ich ihr Stellenangebot las, bewarb ich mich. Seither arbeitete ich bei ihr im Geschäft.

„Es gibt so viel zu tun. Die frischen Blumen sollst du anschneiden und die verblühten müssen ausgetauscht werden“, äußerte Valerie mit ernstem Tonfall.

„Ich … Ich … Ja. Ich habe über die Arbeit nachgedacht.“

„Sag mal, du willst gar nicht hier sein, oder?“

Zugegeben, der finstere Blick der Chefin verunsicherte mich. „Was meinst du?“

„Tu doch nicht so, Stella. Was willst du wirklich?“

Mein Atem wurde schneller. Ich hasste ihren vorwurfsvollen Unterton. „Genau das“, versicherte ich ihr.

„Verstehe mich nicht falsch. Ich mag dich. Du machst deine Arbeit gut.“

Ich wusste nicht, worauf Valerie hinauswollte. „Was ist dann das Problem?“

„Du willst hier nicht sein!“

„Ich liebe Blumen“, stritt ich sofort den Vorwurf ab.

„Das mag sein. Du hast trotzdem einen anderen Plan, das weiß ich. Und man sieht es einfach.“

„Pflanzen sind mein Leben. Ich liebe den Duft, die leuchtenden Farben, die Vollkommenheit jeder einzelnen Blüte.“

Ich nahm eine Sonnenblume aus dem Ständer und streichelte sanft über die gelben Blüten. Meine Vorgesetzte, die das weniger amüsant fand, riss mir die Blume aus der Hand und steckte sie zurück zu den anderen.

„Lass das Theater! Wenn Pflanzen dein Leben sind, warum erzählst du mir jeden Tag von den neusten Errungenschaften der Medizin und von den ach so tollen, historischen Ärzten, von denen du so viel liest. Ständig schwärmst du davon, wie schön es wäre, selbst Ärztin zu sein!“

Valerie fuchtelte wild mit den Händen und schnitt seltsame Grimassen.

Mir fiel es schwer, sie ernst zu nehmen. Sie wusste doch, dass die Realität anders aussah.

„Das Eine ist ein Traum. Träume sind Schäume. Ich habe mich eben für etwas Neues entschieden. Jetzt rette ich eben Blumen statt Menschen das Leben.“

Mein Vergleich brachte mich selbst zum Schmunzeln. Valerie hingegen schüttelte verständnislos den Kopf. „Du machst trotzdem keinen glücklichen Eindruck. Und das seit Wochen. Du vergraulst mir noch meine Kunden mit deiner genervten Miene.“

„Es ist kompliziert, okay? Die Pflanztöpfe warten. Wir sprechen ein anderes Mal.“

Eigentlich war es niemals meine Art, einfach vor unangenehmen Gesprächen zu flüchten, aber dieses ging mir enorm auf die Nerven. Valerie hielt mich am Arm fest.

„Warte! Gestern rief mich mein Bekannter an. Er erzählte, in seiner Wohngemeinschaft sei ein Platz frei geworden.“

„Na und?“, zuckte ich mit den Schultern. „Ich habe eine Wohnung.“

„In Berlin. Du wolltest doch dort studieren?!“

„Wollte“, sagte ich trotzig und drehte mich um. Ich musste meinen aufgetragenen Aufgaben nachkommen.

In der Pause saß ich im Schatten eines uralten Lindenbaumes, welcher in unmittelbarer Nähe des Blumenladens wuchs. Mit dem Rücken lehnte ich gegen den Stamm, dessen Rinde sich ungleichmäßig durch mein T-Shirt drückte.

Als ich nach meinem Handy kramte, fiel mir ein Zettel in die Hand. Valerie hatte mir unbemerkt die Telefonnummer ihres Freundes zugeschoben. Eine Wohngemeinschaft in Berlin.

Ja, ich fand ein Medizinstudium dort nach wie vor reizend. Aber die Arbeit als Floristin gefiel mir, sie erfüllte mich eben nur in keiner Weise.

Vielleicht sollte ich einfach die Nummer wählen. Ganz unverbindlich. Es sollte lediglich zur Information dienen.

Deshalb nahm ich all meinen Mut zusammen und tippte mit zittrigen Fingern die Zahlen in mein Handy. Die Zeit, in der sich die Leitung aufbaute, kam mir ewig vor.

Ich war kurz davor, aufzulegen, als sich am anderen Ende ein junger Mann mit rauer Stimme meldete. „Kugler, Tim, am Apparat?!“

Mir verschlug es die Sprache: „Ja, ähm, hier ist Stella. Ich … Ähm … Sie … Ja, ich wollte fragen …“

„Ah, du bist es, die Kollegin von Valerie. Sie hat mir viel von dir berichtet. Anfang August kannst du einziehen.“

Die direkte Antwort überrollte mich. „Danke, ich wollte mich erst einmal informieren.“

Bevor ich einlenken konnte, erzählte mir mein Gesprächspartner von den anderen Mitbewohnern. Er quasselte ungehalten vor sich hin.

„Aja, Marie und Paul sind ein Paar. Aber keine Sorge, er ist sowieso derzeit im Auslandsemester.“

Ich hörte mir zwar alles an, aber merken könnte ich mir das sicher nicht.

„Sehr interessant! Weißt du was, ich melde mich!“

„Ewig halte ich das Zimmer nicht frei. Wohnungen sind begehrt in Berlin!“

„Morgen?“

„Okay, wenn ich nichts von dir höre, weiß ich Bescheid“, wies Tim hin. Überfordert von all den Informationen und seiner forschen Art legte ich rasch auf.

Kurz fixierte ich den Bildschirm, worauf ich mein Mobiltelefon zurück in die Hosentasche schob. Darin steckte auch noch der Kugelschreiber, den ich vermutlich nach der Inventur vergessen hatte.

Ich holte ihn heraus und wirbelte ihn eine Weile zwischen den Fingern hin und her.

So viele Fragen. So viele Gedanken. Ich musste den Wirrwarr in meinem Kopf loswerden.

Auf die Rückseite des Zettels mit der Telefonnummer kritzelte ich ein Plus und ein Minus. Mein Knie diente mir zur Unterlage. Die Sitzhaltung war zwar nicht äußerst bequem, aber ich wollte meine Gedanken gleich auf das Papier bringen. Unter das Plus schrieb ich sogleich ‚Lebenstraum!‘ und unter das Minus ‚Das Grab meiner Eltern‘.

Ich dachte angestrengt darüber nach. Genau genommen konnte ich an nichts anderes denken. Für einen Umzug sprach die Möglichkeit, in Tims Wohngemeinschaft zu ziehen.

Und wer weiß, möglicherweise könnte in Tim ein potentieller Freund stecken? Sich zu verlieben, würde vielleicht meinem geschundenen Herzen guttun. Oder ein anderer Mann würde mich verzaubern. So könnte ich meine verflossene Jugendliebe endlich vergessen und meinen Job als Floristin an den Nagel hängen. Das Vertraute aufzugeben, missfiel mir aber, denn ich liebte Burford, die Gassen, meine Wohnung und den eigenbrötlerischen Vermieter.

„Alles Quatsch“, sagte ich schließlich zu mir selbst, zerknüllte meine Notizen und warf diese vor mich ins Gras. Dabei verfehlte ich geradeso eine Biene, die auf Pollensuche war. Diese flog vor Schreck in spiralförmigen Linien davon. Ich folgte dem kleinen Tierchen mit meinen Augen. Wie schön musste es sein, fliegen zu können?

Nachmittags konnte ich mich kaum auf meine Arbeit konzentrieren. Deutschland oder England? Blumen oder Medizin? Egal welchen Gedankengang ich verfolgte, es brachte mich zur Verzweiflung.

Angespannt kürzte ich die Stiele der frisch angelieferten Rosen. Ich legte die Zange an der richtigen Stelle an, aber meine Hand zitterte so stark, dass ich mehrere Stiele verschnitt und sämtliche Blumen somit unbrauchbar wurden. Sie wichen von der Vorgabe, in eine Vase zu passen, ab. Sie waren sogar für ein Glas zu kurz. Einige versuchte ich zu vertuschen, ein paar wenige landeten im Müll. Doch zu spät.

Valerie unterbrach mich entsetzt. „O Mann Stella, meinst du, irgendjemand möchte verschnittene Rosen kaufen? Der ganze finanzielle Schaden! Ist dir bewusst, was du mit deiner Unkonzentriertheit anstellst?“

Ich konnte ja verstehen, dass meine Chefin sich daran störte, aber andererseits hatte sie die Gedankenspirale angeregt.

„Ich habe …“, versuchte ich mich herauszureden. „Ich dachte über das Studium nach.“

Das schien Valerie wenig zu interessieren. Sie musterte stattdessen die Blumen. Nach einem tiefen Schluchzer schenkte sie mir erneut ihre Aufmerksamkeit.

„Du machst besser Feierabend. Deine Konzentration und vor allem deine Motivation hast du für heute scheinbar verbraucht.“

Mein Kopf senkte sich wie bei einem reumütigen Hund, der die nagelneue Haustüre zerkratzt hatte und deshalb Ärger von seinem Frauchen bekam. Ich schämte mich für meine schlechte Arbeitsleistung. Das passte nicht zu mir. Ich schnappte meine Sachen und verließ gerade den Laden, als mir die Chefin hinterherrief.

„Wenn der Grund für deine Nachlässigkeit wirklich unser Gespräch heute Vormittag ist, bin ich sogar ein stückweit stolz auf dich.“

Ich blieb stehen, dachte kurz nach und meinte dann: „Warum freut dich das? Ich bin deine einzige Mitarbeiterin. Ohne mich stehst du allein da.“

Weil ich das Gespräch nicht über die Distanz führen wollte, näherte ich mich Valerie. Diese schenkte mir ein Lächeln, ein gar unbeschreibliches Lächeln. Freude gemischt mit Enttäuschung und zugleich einem Hauch Optimismus. So würde ich es deuten.

„Um mich geht es nicht. Und ganz ehrlich. Was habe ich von einer Kollegin, die im Geiste lieber woanders wäre. Seit Wochen arbeitest du schlampig und bist patzig zu den Kunden.“

Schlampig. Patzig. Das wurde mir zu viel. Obwohl ich es vorerst für mich behalten wollte, platzte die Wahrheit aus mir heraus: „Ich habe Tim angerufen. Zufrieden?“

Sie klopfte mir ermunternd auf die Schultern. „Du kannst dich später bei mir bedanken.“

„Darf ich meinen Dienst fertigmachen?“, flehte ich, weil ich Valerie beweisen wollte, dass ich meinen Job gerne und gewissenhaft machte. Denn, wenn das mit der Wohngemeinschaft nicht funktionierte, brauchte ich diesen Job.

Diese willigte ein, aber da ich in ihren Augen an der Blumentheke genügend Unheil angerichtet hatte, musste ich den Rest des Arbeitstages im Büro die anfallenden Unterlagen in den dafür vorgesehenen Ordnern sortieren.

Ich gab mir viel Mühe, diese Aufgabe gut zu machen. Penibel stapelte ich die anfallenden Papiere und heftete sie ein. Fehler konnte ich mir heute keine mehr erlauben.

Nach Feierabend zog es mich zum Grab meiner Eltern. Ich liebte die Ruhe, und dort konnte ich am besten über meine Probleme nachdenken. An diesem Ort konnte ich stets mit meinen Eltern über all meine Sorgen sprechen.

Um zum Friedhof zu gelangen, musste ich durch die engen, mittelalterlichen Gassen schlendern, welche auf den ersten Blick unbelebt wirkten. Das unebene Pflaster ließ erahnen, dass sich darunter Schotter und Erde befand, über deren Unebenheiten die Menschen im Mittelalter ihre Karren zogen, wenn sie ihren Geschäften nachgingen.

Zu jener Zeit war es hier bestimmt weniger malerisch, eher düster und beängstigend. Bestimmt lag überall Müll und es stank nach Gülle.

Mittlerweile hatte sich das verändert. Es duftete nach Weichspüler und frisch gekochtem Essen. Manchmal sogar nach frischen Pfannkuchen.

Der süße Duft von Erdbeermarmelade und frischem Teig, der sich in der Pfanne in ein zartes Braun färbte, durchzog die Gassen und sorgte für Magenknurren bei jedem Passanten.

Trotz der kühlen, grauen Mauern war es keinesfalls farblos in Burford. Die bunten Blumen in den Blumenkästen und die Wäsche, die aus den Fenstern hing, sorgten für Farbkleckse und somit für Leben in allen Ecken.

Man hörte die Menschen in ihren Wohnungen, wie sie fröhlich zur Musik sangen oder miteinander sprachen. Manche stritten oder diskutierten, aber das gehörte wohl zum Zusammenleben dazu.