Afrika, mon amour - Christian Schnalke - E-Book
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Afrika, mon amour E-Book

Christian Schnalke

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Beschreibung

Eine Frau sucht in den Wirren des Ersten Weltkrieges in Deutsch-Ostafrika nach dem Mörder ihres Sohnes und findet die Liebe ihres Lebens. Mit großem Star-Aufgebot verfilmt: Iris Berben, Robert Atzorn, Alexander Held & Mathias Habich  »Eine Zebraherde stob auseinander, als der Zug näher kam, und einmal lief eine Giraffe in bedächtigem Galopp minutenlang neben ihnen her. Katharina konnte ihr ruhiges glänzendes Auge sehen, bis sie sich vom Zug entfernte und stehenblieb. Die Schönheit des Landes traf Katharina völlig unvorbereitet und mit ganzer Wucht.« Im Jahr 1914 flieht Katharina vor der Grausamkeit ihres betrügerischen Ehemannes aus Berlin nach Deutsch-Ostafrika. Nachdem sie in der Kolonie die größten Schwierigkeiten gemeistert hat, entdeckt sie die Schönheit des Landes und verliebt sich in einen britischen Offizier. Doch plötzlich taucht ihr Ehemann auf. Weil sie über seine illegalen Geschäfte Bescheid weiß, verfolgt er sie wieder. Als der Erste Weltkrieg ausbricht und die Kolonie von Briten abgeriegelt wird, sitzt Katharina in der Falle. Sie ist ihrem Ehemann ausgeliefert, und ihr Geliebter ist jetzt ein Feind. Als dann ihr Sohn erschossen wird, hält sie nur noch ein Gedanke am Leben: Seinen Mörder zu finden … »Ein tolles historisches Buch - klasse Protagonisten, eine gute Geschichte, wirklich empfehlenswert.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Das Werk erschien erstmals 2007 erstmals in der Ullstein Buchverlage GmbH unter dem Titel »Afrika, mon amour«

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

BUCH 1

1

2

3

Für Daniela

Eine Mutter erwartet die Wiederkehr ihres Kindes immer: ganz gleichgültig, ob es in ein fernes Land gewandert ist, in ein nahes oder in den Tod.

Joseph Roth, Kapuzinergruft

BUCH 1

1

»Schneller! Fahren Sie doch schneller!« Die Droschke raste klirrend durch die Dunkelheit der Berliner Straßen. Als der Kutscher die Zügel herumriss, um die Pferde in vollem Galopp förmlich auf die Moltkebrücke zu zerren, rutschte eines der Pferde auf dem gefrorenen Pflaster aus, fing sich im letzten Moment und galoppierte weiter.

Der Wind jagte von Osten her immer noch nadelfeines Eis und Frost vor sich her. Sogar der Schnee schien sich vor dem schneidenden Sturm in Sicherheit bringen zu wollen und duckte sich in dunkle Mauerwinkel und Kellereingänge, an die Backsteinmauern der Fabrikhöfe, unter die vereisten Kaimauern der Kanäle und unter die Salutkanonen auf den leeren Kasernenhöfen. Passanten, die sich tief in ihre Pelzmäntel verkrochen hatten, sprangen erschrocken beiseite.

»Schneller! Bitte!« Katharina von Strahlberg hielt sich mit beiden Händen an den frostigen Eisenstreben der Kutsche fest, sie trug weder Hut noch Handschuhe, ihr Pelzmantel wurde aufgeweht, doch es war ihr egal. Sie war auf ihrem Sitz so weit nach vorne gerutscht, dass sie beinahe stand. Ihr gesamter Körper drängte nach vorne, als ob sie dadurch die Fahrt noch mehr beschleunigen könnte.

Als der Kutscher vor einem noblen Stadthaus in der Tiergartenstraße die Zügel nach hinten riss, sprang Katharina aus der noch rollenden Kutsche und lief zum Haus. Schnee bröckelte von ihren Schuhen, als sie die Treppe hinauf rannte, so schnell es ihre üppigen Röcke zuließen. Ein verweintes Dienstmädchen ließ sie ein, und mit wenigen Schritten war sie an Marthas Zimmertür. Sie rüttelte an der Klinke. Verschlossen.

»Martha! Martha, mach auf, hörst du nicht? Ich bin es, Katharina! Bitte, mach die Tür auf!«

Keine Antwort. Katharina schlug mit der Faust gegen die Tür. »Martha, ich bitte dich! Rede mit mir!«

Stille.

»Martha, bitte…« Katharina war den Tränen nahe.

Endlich drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Katharina öffnete behutsam die Tür und ging hinein.

Der Anblick der Freundin ließ sie erstarren, als ob sie einem Gespenst gegenüber stünde: Martha wich zitternd, eine Armeepistole in der Hand, rückwärts von der Tür zurück. Sie war jünger als Katharina, trug ebenso wie ihre Freundin ein elegantes Kleid, aber ihr Gesicht glänzte verschwitzt und bleich. Ihre hektisch suchenden Augen hatten bereits einen Blick hinter den Vorhang geworfen, hinter dem der Tod wartete. Sie schaute Katharina flehend und in ihrer Verzweiflung zärtlich an.

»Martha…«

Als Antwort gelang Martha lediglich eine hilflose Geste mit der Pistole.

»Bitte! Leg die Pistole weg! Was ist nur los, Martha? Erzähl mir doch, was passiert ist!«

»Heinrich will mich verlassen.«

Das hatte Katharina nicht erwartet. Sie war überrascht.

»Was? Warum?«

»Ich weiß nicht mehr weiter…«

Katharina lachte beinahe erleichtert. Sie machte einen Schritt auf Martha zu, doch die wich zurück. »Aber Martha! Es wird immer weiter gehen! Du hast so viele Möglichkeiten!«

Martha lachte nur zynisch. »Ich bin schwanger.«

Katharina freute sich spontan. Sie hatte es nur einmal erleben dürfen, schwanger zu sein, vor achtzehn Jahren, doch es war das Glück ihres Lebens gewesen. »Das ist doch wundervoll! Ich werde dir helfen! Ich werde immer zu dir stehen!«

»Katharina…« Martha schüttelte verzweifelt den Kopf. »Das Kind…« Sie konnte kaum sprechen. »Das Kind ist von deinem Mann…«

Katharina versuchte zu begreifen, was sie gehört hatte. Ihr Mann und Martha… ihre Freundin… die Frau seines Bruders… ein Kind… Sie versuchte, eine Vorstellung davon zu bekommen, was das bedeutete, aber jeder klare Gedanke wurde erdrückt von einer beklemmenden Angst, dass die Folgen weit über alles hinaus gingen, was sie sich vorstellen konnte.

Martha brachte nur noch ein tonloses Flüstern heraus. »Es tut mir so leid…« Dann setzte sie sich die Pistole an den Kopf.

»Nein!«

In Katharinas entsetzten Schrei hinein fiel der Schuss.

Noch während Marthas Körper von der Kugel herumgeworfen wurde, sprang Katharina nach vorne.

Später erinnerte sie sich nicht mehr, was dann folgte. Sie sah nur noch Marthas vom Blut verklebte Haare, sah ihre eigenen Hände an Marthas Schultern, spürte das Gewicht ihres leblosen Körpers, sah Dienstboten durchs Zimmer rennen, das Dienstmädchen, das sich die Hand vor den Mund schlug, und sah sich selber – wie von außen – wie sie die Freundin an sich drückte, heulte und zum Himmel schrie.

Es ging schon auf Mitternacht zu, als ihr Mann die Wohnung seines Bruders betrat. Noch während das Mädchen Richard von Strahlberg den Mantel abnahm, unter dem die makellose Offiziersuniform mit den Rangabzeichen eines Obersts zum Vorschein kam, nahm Richard förmlich Besitz von dem Raum. Er war ein perfekter Offizier. Sehr körperlich, sehr männlich, sehr selbstgefällig.

Er gab dem Diener seinen Säbel und ging in den Salon.

Katharina saß zusammengesunken auf einem Stuhl und starrte vor sich hin. Richard blieb stehen und musterte sie. Als sie schließlich aufsah, versuchte er, in ihrem Blick zu lesen. Sie ertrug es nicht, von ihrem Mann gelesen zu werden und wandte ihr Gesicht ab.

Also ging er weiter. Als er Marthas Zimmer mit dem großen, schweren, weichen Eichenbett betrat, fand er seinen Bruder alleine. Heinrich rauchte eine Zigarette. Er wirkte in sich zurückgezogener als Richard, eher von innen heraus lauernd.

Heinrich stand mit seinen glänzenden schwarzen Schuhen auf Marthas weichem Teppich und schaute auf den Blutfleck hinab. Er rührte sich nicht. Nicht die geringste Regung war ihm anzusehen. Er hatte es noch nie zugelassen, dass jemand in ihn hinein sah. Schon als Kind nicht.

»Ich bin fassungslos, Heinrich. Wie konnte das passieren?« Heinrich starrte nur weiter brütend vor sich hin.

»Mein Beileid. Das ist ein harter Schlag. Nicht nur für dich. Für uns alle.«

»Sie wollen sichergehen, dass sie es selbst getan hat… Sie werden sie obduzieren… Sehr modern, nicht wahr?«

Richard legte ihm die Hand auf die Schulter. Doch er sagte nichts weiter. Was in solche Situationen zu sagen ist, hatte er gesagt. Eine wortlose Geste hielt er deshalb für angemessen.

Schließlich fragte Heinrich: »Wie geht es deiner Frau?«

»Katharina ist stark…«

»Sag ihr, was hier passiert ist, bleibt unter uns. Wir werden nicht über Marthas Todesursache sprechen.«

»Selbstverständlich.«

»Ausgerechnet jetzt. Wo alles auf Messers Schneide steht. Ich brauche meine volle Konzentration!« Er riss sich vom Anblick des Blutes los und verließ das Zimmer. Richard blieb noch einen Moment alleine zurück, das schien ihm eine Art Schuldigkeit Martha gegenüber zu sein, dann folgte er seinem Bruder.

In dieser Nacht wurden noch viele Worte verschwiegen.

Während Katharina im Salon auf einer Stuhlkante saß und sich mit beiden Händen an einem Glas Wasser festhielt, wandte sie den Blick nicht von ihrem Rock, auf dem Marthas Blut verschmiert war. Richard saß zurückgelehnt auf einem Sofa, einen Arm besitzergreifend über der Lehne, in der anderen einen Cognac, an dem er von Zeit zu Zeit nippte, als ob er mit sich und der Welt im Reinen sei. Heinrich zeigte den beiden nur seinen Rücken, während er aus dem Fenster hinaus in das Schneetreiben schaute und sich eine Zigarette anzündete. Das Schweigen wurde Katharina immer unerträglicher. »Ich werde jetzt gehen.« Sie stand auf.

Heinrich drehte sich abrupt um. »Was hat Martha dir erzählt?«

Katharina sah ihn prüfend an.

»Du warst bei ihr, Katharina. Sie muss irgendetwas gesagt haben.«

Als Richard merkte, dass Heinrichs klare helle Augen auf ihn gerichtet waren, wich sein Blick aus. Er zog es vor, zu Katharina aufzusehen. Es war nur das schwere Ticken der Standuhr zu hören, deren Pendel unbeirrt ausschlug. Schließlich stellte Katharina das Wasserglas weg. »Ja, ich war bei ihr.« In der schweren Betonung des Wortes »ich« lag aller Vorwurf, den sie Heinrich zu geben hatte. »Und jetzt werde ich nach Hause gehen.«

Auf den Stufen des Treppenhauses legte sich plötzlich die Erschöpfung schwer auf Katharinas Schultern. Ihre Füße hielten noch ein paar Schritte stand und stiegen wie von selbst die Treppe hinab, dann verlor sie plötzlich die letzte Farbe aus dem Gesicht, hielt sich krampfhaft am Geländer fest und setzte sich auf eine Stufe.

Und weinte.

Vorne unter dem Kreuz stand Marthas Sarg. Sie lag aufgebahrt darin, den Kopf in den seidenen Kissen tief versteckt, in ihrem Gesicht – unter der Schminke – ein Friede, wie sie ihn zu Lebzeiten lange nicht gefunden hatte. Zu ihren Füßen stand ein auffallend großer Kranz mit einer auffallend großen Schleife. Darauf die Worte: Meiner geliebten Frau. Eine Sängerin ließ effektvoll das »Ave-Maria« erklingen, das Martha so sehr geliebt hatte.

Ebenso tot wie Marthas Gesicht erschienen Katharina die Mienen der Trauergäste: Neben Heinrich saßen Marthas Eltern, die ihre Tochter so wenig gekannt hatten. Die sie aus der Obhut des Kindermädchens in die Obhut einer Pensionsdame und schließlich in die Obhut eines Ehemannes gegeben hatten. Und in den hölzernen Reihen der Kapelle, in maßvoller Distanziertheit zueinander, schwarz gekleidete gute Bürger aus Heinrichs Kreisen, die Martha noch viel weniger gekannt hatten. Als die Sängerin schließlich schwieg, wurde der Sargdeckel geschlossen.

Draußen herrschte Schneegestöber. Die Zylinder der Sargträger bekamen bald ein weißes Plateau, als sie sich mit dem schweren Eichensarg in Bewegung setzten. Heinrich folgte mit Marthas Eltern, doch als Richard seine Hand unter Katharinas Arm schob, um sich in den Zug der Trauernden einzureihen, zuckte Katharina zurück. »Heute nicht«, sagte sie leise und bestimmt. »Heute keine Lügen. Geh nicht neben mir!«

Richard blickte sie an. Nur einen Moment lang konnte er seine Verunsicherung nicht verbergen, dann hatte er seine Entschlossenheit wiedergefunden: »Du willst nicht neben mir gehen? – Dann wirst du hinter mir gehen müssen.« Er ging los. Katharina zögerte. Doch sie wusste, dass sie keine Wahl hatte: Wenn sie nicht wollte, dass Martha im Kreis all dieser Fremden vollkommen alleine beerdigt wurde, dann musste sie Richard wohl oder übel folgen. Also folgte sie ihm.

Doch schon war jemand anderes an ihrer Seite: Georg. Ihr Sohn. Der keine Gelegenheit verstreichen ließ, um zu beweisen, dass er ein Kavalier war und somit ein Mann. Sie sah in seinem jungenhaften Gesicht, zu dem die Uniform, die er jetzt immer trug, so gar nicht passen wollte, dass er bemerkt hatte, was zwischen ihr und Richard vorging. Dass er es gesehen hatte, aber nicht verstand. Sie konnte es ihm nicht erklären, und doch war sie so dankbar, dass er jetzt da war. Dass er an ihrer Seite ging. Ihr großer Junge.

Er blieb die ganze Zeit über bei ihr. Erst als die Gesellschaft sich verlief, um in die warme Gastwirtschaft zu gehen, wo der Leichenschmaus stattfinden sollte, war er feinfühlig genug, sich zurückzuziehen und Katharina alleine Gelegenheit zu geben, von der Freundin Abschied zu nehmen. Er wartete in respektvollem Abstand.

Doch noch jemand beobachtete Katharina: Heinrich von Strahlberg. Er hatte sie schon den ganzen Tag über beobachtet, denn er musste wissen, was sie wusste. Und er zergrübelte sich, wie er sie dazu bringen konnte, es ihr zu sagen…

2

In der Zeitung wurde in erhabenen und stolzen Worten darüber berichtet, dass man in Deutsch-Ostafrika, der Perle unter den Kolonien des Reiches – den »Schutzgebieten«, wie es offiziell hieß – den Bau der Tanganjika-Bahn fertiggestellt habe. Eine Meisterleistung deutscher Ingenieurskunst, die die Hauptstadt Daressalam quer durchs Land mit dem Tanganjikasee am äußersten Ende verband. Richard las den Artikel aufmerksam durch, und er las ihn mit Genugtuung. Es konnte ihnen nur nützen, wenn man in den Kolonien investierte. Denn damit wurden Tatsachen geschaffen – und der Zwang, weitere Investitionen zu tätigen, um die vorherigen zu rechtfertigen.

Als Richard also in der steifen Uniformhose und dem gestärkten Hemd, in dem er sich so wohl fühlte, den Frühstücksraum betrat, war er in äußerst aufgeräumter Stimmung. Erst nach dem Frühstück würde er sich vom Diener die Uniformjacke überziehen lassen, womit der Morgen perfekt und die morgendlichen Rituale abgeschlossen sein würden.

Als er eintrat, stand Katharina mit geschlossenen Augen am offenen Fenster, den Kopf leicht zurück geneigt, und genoss die wärmende Sonne, die seit Langem zum ersten Mal strahlte.

Katharina war keine junge Frau mehr, doch sie war schön. Das konnte er trotz allem nicht leugnen. Auch in den einfachen und zurückhaltenden Kleidern, die sie seit Marthas Beerdigung wählte. Sie brauchte ihre Reize nicht herauszuheben, die klaren Linien ihres Gesichtes und die Spannung ihres Körpers stachen in jeder Gesellschaft deutlich heraus.

»Guten Morgen.« Sein Gruß wurde von keinem Kuss begleitet.

Sie setzten sich an den üppig gedeckten Frühstückstisch. Seit Georg auf der Militärakademie war, aßen sie zu zweit. Auf Richards Platz lag ein großer, kräftiger Briefumschlag.

»Der ist für dich abgegeben worden.«

Richard legte den Umschlag wortlos zur Seite und faltete seine Serviette auseinander.

Katharina schenkte ihm Kaffee ein. Sie zog es vor, morgens alleine zu frühstücken, ohne das Dienstmädchen um sich herum zu haben. »Ist das ein Bündel Banknoten?«

»Du befühlst meine Briefe?«

»Warum schickt dir dein Bruder so viel Geld?«

Richard bestrich sein Brot penibel mit Butter. »Wirst du es schaffen, heute Abend alles fertig zu haben?«

Katharina verstand. Er wollte nicht über das Geld sprechen.

»Selbstverständlich.«

»Sorg vor allem dafür, dass die beiden Reichstagsabgeordneten beeindruckt sind. Aber mach nicht zu viel Brimborium, es sind nur Sozialisten.« Er lächelte selbstgefällig über seine geistreiche Bemerkung, während er aufgeschnittenes Fleisch von der Platte nahm.

Katharina schaute nachdenklich auf den Umschlag…

Am Abend dann hatte sie alles fertig. Die Wohnung war festlich beleuchtet, Salon und Speisezimmer herausgeputzt und die Tafel für elf Personen prächtig und feierlich gedeckt.

Katharina in Abendgarderobe und Richard in seiner Paradeuniform begrüßten die Gäste an der Tür. Zuerst war Heinrich da.

Überpünktlich. Und zwar mit Kalkül, wie Katharina annahm. Um sich wie selbstverständlich in die Reihe der Gastgeber zu stellen. Er begrüßte seinen Bruder mit einem festen Händedruck und Katharina mit einem angedeuteten Kuss auf die Wange. Als das Dienstmädchen die nächsten Gäste hereinließ, einen Herrn mit nobler Haltung und seine Frau, die sehr vornehm tat, stellte er sie mit gönnerhafter Geste vor: »Emilia Larson, Arne Larson.«

Katharina lächelte höflich: »Ich freue mich, dass Sie die weite Reise aus Afrika auf sich genommen haben.« Sie nahm Emilias Fingerspitzen, die sie ihr mit einer müden Geste reichte, als ob die unkomfortable Reise sie doch zu sehr angestrengt habe. »Ach herrje, man nutzt ja jede Gelegenheit, um mal wieder unter zivilisierte Menschen zu kommen…«

Mit ihnen waren noch zwei Herren gekommen, die sich eben vom Mädchen ihre Mäntel und Zylinder abnehmen ließen und Katharina mit angedeuteten Handküssen grüßten: Kurt Höller, ein kriecherischer Mann, der zu Verbeugungen neigte, und Leo Heidelberger, ein jovialer, gemütlicher Bankier, der gewiss eine gute Zigarre zu schätzen wusste.

»Darf ich Ihnen meinen Bruder Oberst Richard von Strahlberg vorstellen? Er ist derjenige, der es in unserer Familie zu etwas gebracht hat.« Und dann mit kalkulierter Bescheidenheit:

»Ich bin ja nur Zivilist.«

Alle protestierten freundlich.

Richard lächelte jovial: »Immerhin bist du Major der Reserve! Frau Larson, meine Herren, es ist mir eine Ehre.«

Heinrich berührte Katharina am Arm: »Und meine Schwägerin Katharina von Strahlberg. Wenn wir die Reichstagsabgeordneten heute Abend für uns gewinnen, haben wir es ihrer berühmten Gastfreundschaft zu danken!«

Der noble Herr Larson beugte sich vor: »Die beiden Herren sind noch nicht eingetroffen?«

»Nein, wir sind noch unter uns.«

Katharina wies mit einer einladenden Geste zum Salon: »Herr und Frau Larson, Herr Höller, Herr Heidelberger, darf ich bitten?«

Wenig später wurden auch die beiden Abgeordneten Wagner und Zenk nebst Gattinnen vom Dienstmädchen gemeldet, und man konnte zu Tisch gehen. Großen Anklang fand die Dekoration des Esszimmers: Katharina hatte unter eigener Regie afrikanisch dekorieren lassen: Um die Anrichte war die »Fassade« einer Strohhütte angebracht, daneben zwei Kriegsschilde auf Ständern aus Wurfspeeren, ein Wandbehang aus Sisal und auf dem Tisch, zwischen Silber und Kristall, ein paar kleine Schnitzereien.

Als alle saßen, stellte sich Richard in seiner besten Haltung an seinen Platz am Kopfende des Tisches und klingelte charmant lächelnd mit einem Messer an seinem Champagnerglas. Rechts und links von ihm erwiderten die Abgeordneten im Bewusstsein ihrer Wichtigkeit und mit der gebotenen Zurückhaltung sein Lächeln.

»Bitte haben Sie keine Angst!« begann Richard seine Begrüßungsrede. Er wusste natürlich, wie man mit einem ungewöhnlichen ersten Satz die Aufmerksamkeit auf sich zieht, und ließ eine entsprechende Kunstpause. »So afrikanisch wir uns auch heute fühlen wollen: Wir bieten Ihnen natürlich beste deutsche Küche an. Wie mir unsere Freunde aus den Kolonien – Herr Larson, Herr Höller, Herr Heidelberger – wie mir unsere Freunde aus dem schönen Deutsch-Ostafrika berichten, gibt es ja selbst dort inzwischen überall eine gepflegte deutsche Küche und – viel wichtiger – ein gutes deutsches Bier.«

Die Herren lachten, die Damen lächelten. Katharina hatte nichts anderes von ihrem Mann erwartet: Richard war charmant und unterhaltsam. Ein Charismatiker, der es bei jedem Wort und jeder Geste genoss, im Mittelpunkt zu stehen. Bei aller Männlichkeit hatte er ein gewinnendes und kultiviertes Wesen. Er wirkte in einer Theaterloge oder auf einer Rednertribüne ebenso natürlich wie vor seinen Kompanien.

Richard verbeugte sich höflich vor den Gattinnen: »Und für die Damen natürlich einen guten Wein. Das war wohl in den Zeiten, als mein Bruder dort an der Erschließung des Landes mitgearbeitet hat, noch etwas abenteuerlicher. Ich selbst bin noch nicht in Afrika gewesen, aber ich habe mir von meinem Bruder soufflieren lassen. Ich begrüße also unsere beiden Reichstagsabgeordneten nebst Gattinnen mit einem herzlichen: Jambo Bwana Wagner, und Jambo Bwana Zenk.«

Wohlwollendes Lachen, Applaus, die angesprochenen Herren nickten. Herr Höller rief mit einer diensteifrigen Verbeugung:

»Ausgezeichnet! Ausgezeichnet! Ihre Aussprache lässt nicht zu wünschen übrig!«

Richard setzte sich und gab dem Diener einen Wink, worauf er und das Mädchen auftrugen.

Arne Larson, der Katharinas Tischherr war, wandte sich ihr zu: »Wirklich hervorragend, Ihre afrikanischen Impressionen. Als ob Sie in Afrika zu Hause wären.«

»Leider war ich nie dort. Aber ich würde es gerne einmal kennenlernen.« Katharina erwiderte sein Lächeln zurückhaltend. Ihr Tischherr konnte es für vornehmen Stil halten, doch in Wirklichkeit kostete es sie nach den Schlägen der letzten Wochen große Anstrengung, charmant zu plaudern.

»Besuchen Sie uns! Ein Erlebnis, das Sie nie vergessen werden!«

»Sie treiben Geschäfte in der Kolonie?«

»Ja. Früher war ich Rechtsanwalt wie Ihr Schwager.« Er wies auf Heinrich. »Aber als Kaufmann kommt man doch weiter herum. Also habe ich umgesattelt.«

»Ein mutiger Schritt!«

»Ach, wissen Sie, das ist eine lange Geschichte…«

»Ich wäre neugierig, sie zu hören.« Das meinte Katharina sogar ehrlich. Sie konnte Larson einen gewissen Stil nicht absprechen, und unter seinem Geplauder meinte sie eine Aufrichtigkeit zu spüren, die sie ansprach. Es interessierte sie, seine Geschichte zu hören.

Vom anderen Ende des Tisches her schaute Emilia Larson verstohlen zu ihnen herüber, während Heinrich ihr irgendetwas erzählte. Die von Sympathie getragene Unterhaltung zwischen ihrem Mann und Katharina schien sie im Blick behalten zu wollen.

»Also schön. Ich habe vor Jahren an der Neufassung des Bürgerlichen Gesetzbuches mitgearbeitet. Aber was da am Ende herauskam, das war nicht Recht, das war Politik. Und vor allem ein enttäuschender Rückschritt. Nehmen Sie unser liberales Familienrecht hier in Preußen: Da waren wir vor hundert Jahren schon viel weiter! Die katholischen Länder haben sich viel zu sehr durchgesetzt! Aus meiner Sicht sehr enttäuschend. Also habe ich mich von der Juristerei abgewandt… Aber sehen Sie: Der Jurist steckt doch in mir drin. Ich langweile Sie!«

Als Katharina spontan lachte, wurde Emilia wieder aufmerksam…

Später zogen sich die Herren hinter die verschlossenen Türen von Richards Zimmer zurück, und Katharina unterhielt die Damen. Sie saßen ein wenig steif in den Blumensesseln und warteten, bis das Mädchen den Kaffee eingeschenkt hatte.

»Danke.« Katharina lächelte ihr zu. Die anderen Damen beachteten das Mädchen nicht.

»Man hat jetzt in den Schulen der Kolonie Prüfungen eingeführt«, dozierte Emilia Larson. Auch wenn sie keinen Hehl daraus machte, wie lästig im Grunde das Leben in der Kolonie war, gefiel sie sich doch in der Rolle der Fachfrau. Niemand wusste so gut Bescheid wie sie, kannte sie doch jede einzelne Beschwernis des Tropenlebens aus eigener Anschauung. »Zur vollsten Zufriedenheit der Verwaltung. Sie wussten den Geburtstag des Kaisers, die Daten der Sedan Schlacht, wohin der Rhein und wohin die Donau fließen, und sogar die Hauptstädte der deutschen Länder! Die Negerkinder sind so gelehrig! Wenn es auch sehr mühsam ist und viel Härte braucht, bis sie ihre angeborene Faulheit überwinden.«

Die Gattin des Abgeordneten Zenk fügte eifrig hinzu: »Ich finde ja auch alles, was mit Afrika zu tun hat, so spannend! Mein Mann ist ein großer Förderer des Kolonialismus!« Katharina sah, wie der Diener auf einem Tablett noch eine

Flasche Cognac ins Herrenzimmer trug. Als er die Tür öffnete, sah sie Heinrich vor einer Aufstellwand mit Fotos und Landkarten und Plänen stehen. Sie konnte eine Mine erkennen, Straßen durch den Busch, eine Eisenbahn. Heinrich sprach zu den beiden Abgeordneten, die vor ihm in Ledersesseln saßen und dem Diener ihre Gläser zum Einschenken hinhielten: »Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt! Nach den Jahren der Enttäuschung und Ernüchterung in der Kolonialpolitik kommt jetzt wieder Schwung in die Sache. Jetzt fängt der wirkliche Aufbau an! Nehmen Sie nur die neue Bahnlinie!« Während Heinrich gestikulierte, stiegen kräuselnde Rauchfäden von seiner Zigarette auf.

»Auf so ein Abenteuer wird sich der Reichstag nie einlassen. Das Deutsche Reich soll Millionen ausgeben, nur um Diamanten zu fördern…«

»Selbstverständlich! Der Kolonialausschuss muss endlich beweisen, dass die Kolonien auch Gewinn abwerfen können!«

»Ich weiß nicht… Warum sollte ich als Abgeordneter ein solches Risiko eingehen?«

»Weil es sich lohnt.«

Niemand antwortete. Offenbar hatte sich Heinrich mit dieser direkten Antwort zu weit vorgewagt. Die Abgeordneten wirkten verunsichert. Doch in diesem Moment stand Larson auf: »Sie gehen kein Risiko ein. Sie stimmen für die Investitionen. Wenn etwas schief geht, kann Ihnen niemand einen Vorwurf machen. Sie gehören selber zu den Betrogenen…«

Der Diener kam wieder heraus und schloss die Tür. Katharina hing noch einen Moment ihren Gedanken nach. Was sie gehört hatte, sagte ihr nichts, sie verstand von diesen Dingen nicht das Geringste. Sie lächelte die Damen an: »Noch etwas Kaffee?«

»Gern. Mein Mann importiert diese Sorte. Ausgezeichnet, nicht?«

Katharina bemerkte, dass die Kanne leer war. Um der steifen Anwesenheit der Damen für einen Moment zu entfliehen, ging sie selber zur Küche, um frischen Kaffee zu holen.

Das Mädchen nahm die Kanne mit einem Knicks an. Doch als Katharina die Küche wieder verlassen wollte, ging die Tür auf und Heinrich stand vor ihr. Er kam herein und hielt dem Dienstmädchen die Tür auf. »Lassen Sie uns alleine.«

Das Mädchen ging hinaus. Heinrich sah Katharina schweigend an. Ein Kunstgriff, den er wahrscheinlich als Anwalt vor Gericht sehr wirkungsvoll einsetzte. Doch Katharina reagierte nicht und erwiderte seinen Blick nur erwartungsvoll.

»Wer hat meine Frau geschwängert?«

»Heinrich, ich habe jetzt keine Zeit, meine Gäste warten.«

»Der Arzt, dieser Pathologe, hat mich informiert, dass sie schwanger war.«

Katharina antwortete nichts.

»Du warst ihre beste, ihre einzige Freundin. Du weißt, mit wem sie ein Verhältnis hatte.«

Doch Katharina hatte nicht vor, auf seine Fragen zu antworten.

»Jedenfalls bist du nicht überrascht, von ihrer Schwangerschaft zu hören. Sag es mir!«

Katharina wollte an ihm vorbei zur Tür gehen, doch die Schärfe seiner Stimme hielt sie zurück. Plötzlich wirkte er sehr gefährlich. »Du wirst es mir sagen! Früher oder später. Glaub mir…« Er sah sie bedrohlich an. Seine hellen Augen waren ihr immer schon unheimlich gewesen, und er verstand es, mit ihrem kalten Blick deutlich zu machen, dass er Mittel und Wege finden würde, jegliche Drohung wahr zu machen…

Spät in der Nacht war alles still. Die Gäste waren fort, Richard war mit den Männern verschwunden. Irgendwohin. Die Wohnung lag leer und verlassen in der Dunkelheit. Eine weiße Gestalt schien den dunkel getäfelten Gang entlangzuschweben. Katharina hatte sich einen Morgenmantel über ihr Nachthemd gelegt. Sie fand keinen Schlaf und geisterte ruhelos und ziellos durch die Wohnung. Sie blieb hier und dort stehen und betrachtete die Dinge, die ihr so lange schon vertraut waren, als ob es schon ein Abschied wäre.

Sie sah die Tür zu Richards Zimmer offen stehen.

Hinten an der Wand, in der Tiefe des Raumes, die Fotos und Zeichnungen.

Katharina fühlte sich von den schimmernden Papieren mit den fremden Bildern angezogen.

Sie zögerte.

Dann gab sie nach und betrat Richards Zimmer. Nur durchs Fenster fiel Licht ein: An der Decke ein schwacher Schimmer der Straßenlaternen, auf dem Boden das weiße Strahlen des Mondlichts. Auf einem Beistelltisch lag ein offenes Schächtelchen, aus dessen dunkelsamtenem Inneren es verlockend glitzerte: Diamantsplitter. Katharina ging langsam an den Bildern vorbei. Den Plänen, den Fotografien, den Zeichnungen…

Sie wurde von den dunklen Formen auf dem leuchtend weißen Papier förmlich angezogen und verlor sich mehr und mehr in der Betrachtung von exotischen Hafenstädten, Safaris am Kilimandscharo, schwarzen Trägern, staubigen Straßen, die sich irgendwo in der Savanne verloren…

Sie fuhr mit dem Finger über eine Landkarte, auf der mit rotem Strich eine neue Straße eingezeichnet war, die vom Meer, vom Küstenstädtchen Tanga, immer tiefer ins Landesinnere bis hin zu einem Punkt führte, der mit »Diamantenmine« bezeichnet war.

Vor allem ein Foto ließ sie nicht los: Das Bild eines Wasserfalls. Ein traumhafter Ort im Halbschatten der Blätter, die Wasserläufe zu unwirklichen weißfädigen Schleiern verwoben, als ob die Zeit selbst stehengeblieben wäre. Am Fuße des Wasserfalls standen auf mächtigen Felsblöcken mehrere weiße Männer in Tropenanzügen, unter ihnen erkannte Katharina Larson, Heidelberger und Höller. Hinter ihnen standen schwarze Arbeiter, die sich bemühten, einen würdevollen Blick aufzusetzen.

Doch es waren nicht die Männer, die Katharina interessierten. Sie hatte nur Augen für den Wasserfall unter den mächtigen Bäumen. Ein geheimnisvoller, lockender Ort, der ihr bei aller Exotik so vertraut und so nah zu sein schien…

3

»Herrrrreinspaziert!« Der Ausrufer zwirbelte seinen Schnurrbart, während er angeberisch das »r« rollte.

»Herrrreinspaziert! Nur hier die original Neger von den Quellen des Kongo! – Verschwindet, ihr Rotznasen!«

Er verscheuchte mit seinem Stock zwei Jungen, die an der Seite des Zeltes durch ein Loch zu schauen versuchten. Es war doch zu verlockend, einen Blick auf eine der barbusigen Negerinnen zu erhaschen, die im Innern des Zeltes mitsamt ein paar wilden Kriegern ausgestellt wurden. »Nur hier die original Negerschau!«

Katharina achtete nicht darauf. Sie hatte nicht gewusst, dass man hier dieses Zelt aufgeschlagen hatte, als sie sich mit Georg verabredete. Doch es war weit genug weg, um es ignorieren zu können. Es interessierte sie nicht. Sie genoss wie all die anderen spazierenden und flanierenden Menschen die Sonnenstrahlen, die das Verschwinden des Winters ankündigten, und sie genoss es, mit Georg zusammen zu sein. Ihrem Sohn.

Eine Kellnerin brachte zwei Berliner Weiße an ihren Tisch.

Georg – wieder ganz Kavalier – stand auf, kramte in seiner Hosentasche und bezahlte. Als er sich wieder setzte, saß er betont gerade und korrekt. Sie hoben ihre Gläser, stießen lächelnd an und tranken. Auch wenn sie lächelte, sah Katharina doch mitgenommen aus und wirkte immer wieder abwesend.

Als Georg sich nach dem Ausrufer umdrehte, betrachtete Katharina ihn. Mit unverkennbarer Zärtlichkeit. Er gab sich soldatisch wie ein Mann, aber er konnte das Kind in sich noch nicht völlig verdrängen. Sie legte ihre Hand auf seine. Sein Reflex war, seine Hand wegzuziehen, aber dann ließ er sie doch liegen. Zumindest schaute er sich um, ob ihn jemand beobachtete.

»Ist es dir unangenehm? Vor den Leuten?«

»Aber nein…« Zur Bekräftigung legte er seine andere Hand auf ihre.

Zwei ältere Offiziere schlenderten vorbei. Einer von ihnen blieb wie angewurzelt stehen und schaute mit unverhohlener Missbilligung auf die Hände. Georg sprang auf und grüßte militärisch.

»Sie wagen es! In aller Öffentlichkeit! Sie sind Kadett! Wissen Sie nicht, was Sie dem Ruf Ihrer Kadettenanstalt schulden?«

Georg war der Zwischenfall furchtbar unangenehm, während Katharina lächeln musste.

»Und Sie brauchen gar nicht so zu grinsen, Madame!«

»Herr Major, darf ich Ihnen meine Mutter vorstellen… Frau von Strahlberg…«

Der Offizier bemühte sich, das Gesicht zu wahren. »Von Strahlberg… So… Bitte um Entschuldigung… Meine Empfehlung an den Herrn Oberst.« Seine Entschuldigung galt natürlich nur der Dame. Georg würdigte er keines weiteren Blickes, als er sich zurückzog. Georg ließ sich auf seinen Stuhl sinken, die Sache war ihm sehr peinlich. Als Katharina anfing zu lachen, schaute er sie vorwurfsvoll an. Doch schließlich lachte er mit.

Plötzlich verstummte Katharina und versteckte ihr Gesicht.

»Maman?« Er sprach das Wort wie immer französisch aus.

Katharina wischte sich mit einem feinen Taschentuch Tränen aus den Augen.

»Maman, was ist los mit dir? Ich kann das nicht länger mit ansehen. Entschuldige die Respektlosigkeit, aber du siehst Woche für Woche schlechter aus.«

Katharina lächelte ihn scheu an. »Wir haben so wenig Zeit zusammen… Lass uns den Nachmittag genießen.«

Doch Georg wollte es endlich wissen. Er zögerte, aber es musste jetzt endlich einmal heraus: »Was ist mit Tante Martha passiert? Irgendetwas verschweigt ihr doch!«

Katharina kämpfte mit sich. Was sollte sie ihm sagen?

»Georg… nicht jetzt…«

Drei Kadetten schoben sich aufgeregt durch die Tische. Sie waren auf Abenteuer aus. Einer bemerkte Georg und stieß die anderen an. Sie kamen herüber.

»Von Strahlberg, hier steckst du! Hast du dir auch die Wilden angesehen? Famos, was? Wir haben extra heute noch hergemacht, zwei Stück sollen ja gestern schon verendet sein!«

Katharina hatte sich wieder gefasst. Georg sah sie an, als er aufstand. »Siebert, Weber, Bartsch – darf ich euch meine Mutter vorstellen?«

»Es ist uns eine Ehre!« Die drei brachten eine formvollendete Verbeugung zustande. Dann wandten sie sich wieder voll jugendlicher Begeisterung Georg zu. »Nachher geschlossenes Antreten beim Labude. Kneifen ist nicht! Da geht’s heute hoch her. Du kommst doch auch?«

»Nein, ich… heute nicht.«

»Geh ruhig mit den anderen, Georg. Ich komme schon alleine nach Hause.«

»Auf keinen Fall. Ich habe dich eingeladen, und ich bringe dich auch zurück!«

»Also, vielleicht später!« Die Kadetten verbeugten sich noch einmal vor Katharina, dann rannten sie ausgelassen davon. Katharina musste lächeln: Kinder in Uniform…

Georg setzte sich wieder.

»Ich kann wirklich alleine nach Hause fahren. Ich werde dem Kutscher sagen, er soll auf mich aufpassen.«

Doch Georg bestand darauf: »Die anderen sehe ich ja die ganze Woche. Dich sehe ich so selten…«

Sie sah ihn wehmütig an. »Du bist so groß geworden…«

Er lachte: »Wenn du jetzt sentimental wirst, gehe ich doch!« Beide waren sich bewusst, dass sie die Gelegenheit für ein Gespräch verpasst hatten. Doch keiner von ihnen fand den Mut, neu anzuknüpfen. Was konnte sie ihm sagen…

Später half Georg seiner Mutter galant aus der Mietkutsche.

Er nahm ihren Schlüssel und schloss für sie auf.

»Sehen wir uns nächsten Sonntag?« Er zögerte.

»Vielleicht kannst du ja wenigstens zum Mittagessen herkommen…«

Er nickte. Beide dachten daran, dass er im Café eine Frage gestellt hatte. Dass sie nicht geantwortet hatte. »Es war ein schöner Nachmittag, Maman.« Er küsste sie rechts und links.

Dann hielt er ihr die Tür auf. Ein letzter Blick, und die Tür fiel ins Schloss.

Katharina sah im durch die vergitterte Scheibe nach. Sobald er sich unbeobachtet glaubte, fiel alles Soldatische von ihm ab, und er rannte davon wie ein Schuljunge. Auf der Mitte der Straße verlor er sogar seine Mütze, rannte zurück, hob sie auf, und dann war er verschwunden.

Über der Wohnung hing wieder die bleierne Schwere des Unausgesprochenen. Katharina und Richard saßen am vornehm gedeckten Mittagstisch und schwiegen. Das Dienstmädchen schöpfte Suppe auf ihre Teller, stellte die Terrine auf die Anrichte und verließ lautlos das Zimmer. Während Richard die Suppe löffelte, saß Katharina reglos vor ihrem Teller.

»Isst du nicht?«

Sie konnte nicht länger ausschweigen, was beide wussten. Sie musste endlich darüber reden. »Wann sprichst du mit mir?«

Richard zögerte. Er aß noch einen Löffel Suppe, um Zeit zu gewinnen, zu überlegen, ob er leugnen sollte. Ob er so tun wollte, als wisse er nicht, wovon sie sprach. Schließlich ließ er so viel wie möglich offen: »Wozu die alten Geschichten noch einmal aufwärmen…«

»Alte Geschichten? Martha ist gerade einmal zwei Monate tot! Du hast nicht ein Wort darüber gesagt. Ich halte das nicht mehr aus!«

»Es ist vorbei.«

Für ihn schien die Sache damit beendet. Seine abweisende Haltung zeigte, dass er nicht weiter darüber sprechen wollte. Also setzte sie einen Hebel an: »Heinrich will, dass ich ihm sage, wer mit Martha ein Verhältnis hatte.«

»Und? Was wirst du ihm sagen?«

»Was wirst du mir sagen?«

»Was willst du hören?«

»Ich möchte ein einziges Mal von dir die Wahrheit hören!« Darauf reagierte er abweisend und hart. Baute seinen Offizierspanzer um sich herum auf. »Ich möchte nicht, dass du so mit mir redest.«

»Also schön, du sagst auch diesmal nichts. Was gedenkst du also zu tun?«

»Es gibt nichts zu tun. Niemand wird etwas tun. Marthas Geschichte ist mit ihr begraben.«

»Nein. Martha ist begraben. Aber ihre Geschichte lebt!«

»Da irrst du dich. Eine Geschichte lebt, wenn sie erzählt wird!« Er blickte sie bedrohlich an.

Das Dienstmädchen kam herein, Richard aß in aller Ruhe seine Suppe zu Ende. Das Mädchen sah, dass Katharina nichts gegessen hatte. »Ist die Suppe nicht in Ordnung, gnädige Frau?«

Katharina war so tief in Gedanken, dass sie nicht antwortete. Sie lehnte sich nur zurück. Also nahm das Mädchen ihre Suppe und Richards leeren Teller und ging eilig wieder hinaus.

Katharina versuchte einen anderen Angang: »Warum, Richard? Warum musste das sein? Erträgst du es nicht, mit einer Frau zusammen zu sein, die dich durchschaut? Brauchst du eine, die dich durch und durch bewundert? So wie ich früher?«

»Welche Geschichte erzählen wir jetzt? Deine?«

»Die Geschichte eines Mannes, den alle lieben. Den alle bewundern. Der mit einem Lächeln eine ganze Gesellschaft verzaubert, der sich mit einem harten Wort Respekt verschaffen kann, der sich durch seine Bildung die Achtung aller erworben hat. Die Geschichte eines Mannes, so gebildet, belesen, kultiviert und stark, dass eine Frau sich ihm bedingungslos hingeben möchte.«

»Eine gute Geschichte. Wir sollten sie nicht beenden.«

»Sie ist bereits zu Ende. Es hat beinahe zwanzig Jahre gedauert, nicht mehr darauf hereinzufallen. Zwanzig Jahre der Enttäuschungen. Immer wieder Lügen. Und bei jeder einzelnen Lüge dachte ich, es wäre nur ein Detail. Eine Fehlfarbe. Denn der Mann ist ja perfekt! Aber dann ist mir klar geworden: Das Gebildete, Starke und Respektable, all das sind die Fehlfarben, Du selbst bist durch und durch ein Lügner. Du nimmst Menschen für dich ein. Mit aller Kraft, mit aller Kunst. Mit bewundernswerter Perfektion.«

»Und ich habe all die Jahre nicht bemerkt, dass ich mit einer Anhängerin der Psychoanalyse lebe!«

Sie schaute ihn nur hasserfüllt an. Dann stand sie auf.

Das Dienstmädchen kam mit den Tellern der Hauptspeise herein, doch Katharina ging an ihr vorbei hinaus. Das Mädchen blieb verunsichert stehen.

»Was ist?« fuhr Richard sie an. »Bekomme ich jetzt mein Essen?«

Katharina kam erst am späten Abend zurück. Sie war den ganzen Nachmittag aus gewesen. Eigentlich hatte sie sich mit irgendwem treffen wollen, mit ihrer Freundin Charlotte vielleicht, irgendwie die Zeit verfliegen lassen, wie sie es früher so gut gekonnt hatten, sie hatte sogar schon vor Charlottes Haus gestanden, vor der modernen Villa draußen im Grunewald, doch dann hatte sie es nicht über sich gebracht, zu Charlotte hineinzugehen. Oder zu irgendwem. Sie war nur umher gelaufen. In Straßen, die sie nicht kannte, nur um niemanden zu treffen, den sie kannte.

Als sie die Wohnung betrat, sah sie Licht im Speisezimmer. Sie blieb an der Tür stehen und schaute hinein. Richard saß mit dem Rücken zu ihr. Auf dem großen Tisch lagen seine Säbel ausgebreitet. Seine Militärsäbel, die er schon immer sammelte und die vielleicht die einzige wirkliche Liebe seines Lebens waren. Er hielt einen der Säbel in der Hand und ließ mit langsamen Bewegungen ein weiches Tuch daran entlang gleiten.

Dann schaute er die Klinge entlang. Die lange, perfekt gerade Schneide.

Katharina ging weiter.

»Katharina…« Sie hatte seine Stimme lange nicht mehr so sanft und ruhig gehört.

»Komm herein.«

Sie war im Flur stehen geblieben, aber ging nicht zurück.

Er stand in der Tür. »Bitte.«

Sie zögerte noch einen Moment, dann ging sie zu ihm hinein.

Er hielt ihr einen Stuhl hin, doch sie blieb stehen. Noch sah sie keinen Grund, sich zu ihm zu setzen. Also setzte er sich alleine hin. An den Tisch, auf dem er zu seiner Sicherheit all die Säbel aufgereiht hatte. »Katharina, ich möchte mit dir reden.«

»So? Ich dachte, wir hätten schon geredet…«

»Sei jetzt nicht sarkastisch. Ich… Du weißt, ich bin niemand, der…«

Er schaute nach rechts und nach links, suchte förmlich nach Worten. Die Stille wurde nahezu unerträglich.

Schließlich nahm er einen der Säbel. »Mein wertvollster… Er hat Napoleon gehört. Hat ihn 1806 beim Einmarsch in Berlin bekommen… Ein vollkommener preußischer Militärsäbel. Leicht in der Hand, flexibel, unglaublich hart. Perfekt ausbalanciert. So fein damasziert wie kein Zweiter, den ich kenne. Er hat nur einen Makel: Er ist nie benutzt worden!« Er legte ihn liebevoll zurück und nahm einen anderen. »Anders dieser hier. Handwerklich kein Vergleich. Aber er war bei der Schlacht von Sedan dabei. Mit diesem sind Soldaten getötet worden… Welcher ist wohl wertvoller?«

»Ich weiß nicht, wovon du redest.«

Und dann, kaum hörbar: »Hilf mir, Katharina!«

Er wandte sich ab. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er weinte. Erstaunt schaute sie auf seinen Rücken hinab. Er hatte noch nie geweint. Niemals! Sie war versucht, seine Schulter zu berühren, ihre Hand schwebte schon über ihm, doch dann zog sie sie wieder weg. Sie trat sogar einen Schritt zurück. Eine Lüge! Er hatte natürlich begriffen, wie ernst es war. Dass er sie verlor, wenn er ihr keine Offenheit schenkte. Also gab er ihr etwas, das so aussah. Einen Köder, den sie schlucken konnte: einen weinenden preußischen Offizier. Das hier konnte doch nichts anderes sein als ein kalkuliertes Spiel! Aber würde er so weit gehen?

Er wandte ihr sein verheultes Gesicht zu.

»Es tut mir so leid. Um Martha.«

»Um Martha oder um dich?«

»Katharina, bitte! Das habe ich nicht gewollt! Martha war so… so ein guter Mensch, und ich habe es noch nicht einmal bemerkt…« Seine Augen sahen sie hilfesuchend an. »Ich weiß nicht, wie ich weiter machen soll, Katharina. Ich weiß nicht, wie es weiter geht. Marthas Tod und… Katharina, ich habe Schulden.«

Das hatte Katharina nicht erwartet. Er schien wirklich verzweifelt zu sein!

»Ich will dir nichts mehr verheimlichen. Das Geld von Heinrich… Ich stehe vor einem Abgrund. Halt jetzt zu mir! Lass uns zusammenhalten!«

Er stand auf und näherte sich ihr. Immer noch hatte er eine Wirkung auf sie. Aber sie wusste, dass er sie wieder enttäuschen würde. Sie wollte etwas sagen, sich erklären, vor allem so viel fragen – verzweifelt suchte sie nach Worten. Und dann rannte sie einfach hinaus.

Katharina packte in ihrem Zimmer ein paar Sachen ein.

Kleider, Wäsche, das wichtigste für die Toilette, sie musste weg hier. Als sie Flakons und Döschen von ihrem Toilettentisch nahm, fiel ihr Blick in den Spiegel. Sie sank auf den Stuhl: Müde und ausdruckslos starrte sie ihr Spiegelbild an. Sie war fast überrascht, im Spiegel überhaupt jemanden zu sehen. Sie hatte in den letzten Jahren, und vor allem in den letzten Wochen, das Gefühl für sich selber verloren.

Richard kam herein. Er schloss die Türe leise hinter sich, kam zu ihr und blieb hinter ihr stehen. Er beugte sich nah zu ihr herunter. »Komm zurück zu mir…«

Er küsste sie zärtlich aufs Ohr. Angeekelt fuhr sie zur Seite. Und dann ging alles ganz schnell: Er packte ihren Arm, zerrte sie hoch, drückte Küsse auf ihren Hals, und als sie sich wehrte, riss er sie herum und presste sie auf ihren Toilettentisch. Fläschchen und Tiegel klirrten durcheinander.

»Du bist immer noch meine Frau!«

Er zerrte an ihren Röcken, presste seinen Leib gegen ihren.

Doch plötzlich kam sie irgendwie frei, fuhr herum, holte aus und schlug ihn heftig ins Gesicht.

Stille.

Katharina starrte ihn voller Hass an. »Ich will eine Scheidung.«

Sie wollte ihre Tasche nehmen, doch er legte seine Hand darauf. »Du gehst nicht.«

Und dann ging sie.

4

Als erstes ging sie zu Georg. Gleich am nächsten Morgen.

Sie wartete in dem kargen Saal mit den Tischen und Stühlen, auf denen vereinzelt junge Männer in den Uniformen der Militärakademie im Gespräch mit Eltern oder älteren Militärs saßen. Als Georg hereinkam, lächelte er. Doch als sie aufstand, um ihn zu umarmen, vermied er die Zärtlichkeit mit einem scheuen Blick auf die anderen Jungen. Stattdessen küsste er seine Mutter nur knapp auf die Wange.

»Georg! Wie gut du aussiehst!«

»Maman! Das ist eine Überraschung. Ich habe nicht viel Zeit.«

»Ich weiß.« Sie lächelte ihn zärtlich an. »Du hast nie viel Zeit…«

Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte, dann erst setzte er sich auch. Wie immer betont gerade und korrekt. Er bemerkte natürlich, wie übernächtigt sie aussah, wie verletzt sie war.

»Was ist los?«

Katharina wusste nicht, wie sie anfangen sollte.

»Eigentlich wollte ich mit dir rausfahren. Spazieren gehen. Aber…«

»Mutter, das geht heute nicht.«

»Ich weiß…«

Katharina schaute sich um. Dieser Saal war ihr immer schon vorgekommen wie der Besuchsraum eines Gefängnisses. Ihr Sohn war ein Gefangener…

»Ich habe mir immer vorgestellt, dass du nach dem Abitur studierst. Vielleicht Medizin. Oder Literatur. Vielleicht hättest du Ingenieur werden können. Ein junger Mann, der kühne Brücken konstruiert… Ich habe nie gewollt, dass du hierher kommst. Dass du Soldat wirst. Offizier.«

Sie lächelte schmerzlich. »Offizier. Natürlich. Du nimmst alles so ernst…«

»Selbstverständlich.«

»Georg, ich habe es dich nie merken lassen, aber dein Vater und ich… Ich habe hart gekämpft, dass du etwas anderes wirst. Ich habe so hart gekämpft, und ich habe den Kampf verloren. So wie jeden in den letzten zwanzig Jahren…«

Georg fühlte sich sichtlich unwohl über die Offenheit seiner Mutter. Er rückte seine Uniform zurecht. »Mutter, können wir nicht ein andermal…«

»Nein, es muss heute sein.« Sie atmete tief durch. Es muss jetzt sein. »Georg, dein Vater und ich, wir werden uns scheiden lassen.«

Er war nicht in der Lage zu reagieren. Auf einen solchen Satz war in seiner Welt keine Reaktion vorgesehen.

»Ich möchte dir in Ruhe alles erklären. Ich möchte, dass du verstehst, warum.«

»Du willst uns verlassen!«

»Nein, Georg, ich will nicht euch verlassen.«

»So eine bist du?«

Katharina wich entsetzt zurück. Dass es so schlimm werden würde… »Bitte, lass mich erklären!«

Er schaute sich im Saal um, er suchte förmlich nach einer Fluchtmöglichkeit. Plötzlich sprang er auf. »Ich muss zum Dienst.« Er drehte sich abrupt um und eilte zur Tür.

»Georg! Warte! Bitte!« Ihre Rufe klangen fast flehentlich. Alle schauten herüber.

Doch Georg war durch die Tür verschwunden.

Die Tür stand offen. Er hatte bei seiner Flucht vergessen, sie zu schließen. Katharina schaute auf die offene Tür: Was für ein Irrsinn! Eine offene Tür, sie wünschte nichts sehnlicher als hindurchzugehen – und es war unmöglich.

Bei ihren Eltern fand Katharina keine Hilfe. Ihre Mutter weinte nur. Ihr Vater weigerte sich, überhaupt in Ruhe zuzuhören »Ich will von diesen Dingen nichts wissen!« Er schaute nur auf seine Taschenuhr. Wie um ihr zu zeigen, dass seine Zeit wichtiger war als ihre Albernheiten. »Damals als du heimlich – und gegen unseren Willen! – dieses Studium geführt hast, dachte ich noch, es wäre eine Jugendsünde. Eine naive Dummheit. Aber es steckt in dir drin.«

»Was? Was steckt in mir drin?«

»Du bist eine reife Frau und führst dich auf…«

»Wovon redest du?«

»Du wirst den Ruf der Familie nicht zerstören! Du wirst zu ihm zurückgehen. Du wirst dich bei ihm entschuldigen!«

»Vater!«

Die Mutter versuchte unter Tränen einen hilflosen Vermittlungsversuch: »Du musst doch Verständnis für Richard haben. Er ist schließlich ein Mann…«

Der Vater schaute noch einmal ungeduldig auf die Uhr. »Wenn du dich von ihm scheiden lässt, bist du für uns gestorben.« Dann ging er, und die Mutter weinte. Das war alles.

Als sie in der Villa Bartholdi vorsprach, sagte man ihr, Charlotte sei auf der Rennbahn. Also ging Katharina dorthin. Sie schob sich durch die Menge der großen Damenhüte und der kleinen Strohhüte. Als einzige trug sie keinen Hut, aber kaum jemand nahm Notiz davon. In Berlin hatte man schon andere Sachen gesehen. Sie fand Charlotte in ihrer Loge. Die Freundin war ebenso mondän und elegant wie Katharina, und augenscheinlich sogar noch souveräner: sie rauchte, nahm nichts ernst und trug immer das gewagtere Kleid.

Nachdem Katharina ihr erzählt hatte, was geschehen war, wandte sich Charlotte erst einmal wieder dem Rennen zu. Die Pferde donnerten an der Tribüne vorbei ins Ziel. Charlotte seufzte. »Verloren…« Sie lächelte Katharina an. »Habe ich wohl auch aufs falsche Pferd gesetzt…«

Man wusste bei ihr nie, ob sie Dinge nicht ernst nahm, oder ob sie mit ihrem eleganten Zynismus kokettierte. Doch Katharina wusste, dass auf sie immer Verlass gewesen war. Charlotte sah Katharina an.

»Du setzt heute gar nichts?«

»Charlotte, bitte!«

»Du willst dir doch von Richard nicht den Saisonstart verderben lassen!«

»Ich brauche deine Hilfe.«

»Ich glaube, du brauchst nicht meine Hilfe.«

»Was meinst du?«

»Du brauchst einen Liebhaber.«

»Bitte verschone mich heute mit deinem Esprit!«

»Ich meine es ernst! Er nimmt sich ein Flittchen, du nimmst dir ein Flittchen – und eure Ehe ist gerettet! Was soll das Gerede von Scheidung?«

»Ich kann nicht länger mit ihm leben!«

»Wer kann das schon? – Wer ist sie?«

»Was?«

»Richards Verhältnis. Ist sie eine von uns? Kenne ich sie? Oder hält er sich eine Billige?«

»Das spielt doch wohl keine Rolle!«

»Nun sag schon! Was ist los mit dir? Du verdirbst ja den ganzen Spaß!«

»Mir ist nicht nach Spaß. Mir geht es dreckig.«

Charlotte wandte sich wieder der Rennbahn zu, wo die Pferde für den nächsten Start vorgeführt wurden.

»Deine Entscheidung.«

»Wie bitte?« fragte Katharina fassungslos. Doch Charlotte nahm ihr Fernglas herunter und sah sie ruhig und guten Gewissens an. »Geh zu ihm zurück! Man sägt nicht den Ast ab, auf dem man sitzt. Mach mir die Männer nicht verrückt! Wir haben doch alle Freiheiten! Was willst du noch?«

»Ich will selbstständig sein!«

»Du willst selbstständig sein? Wozu brauchst du dann meine Hilfe?«

»Ich will meinen Mann verlassen, nicht die menschliche Gesellschaft!«

»Ist das nicht dasselbe?«

Offenbar meinte sie es ernst. Katharina nickte. Sie wandte sich zum Gehen.

»Warte.«

Katharina blieb stehen.

»Du kannst nicht bei mir wohnen. Erich würde es verbieten. Ich kann dir nur ein Zimmer anbieten. Aber es ist…«

Ende der Leseprobe