Alabaster - Chris Aslan - E-Book

Alabaster E-Book

Chris Aslan

0,0

Beschreibung

Als Maryams Vater einem sterbendem Leprakranken beisteht, schenkt ihm dieser einen Alabasterkrug mit unbezahlbar kostbarem Duftöl. Ein Vermögen für die Familie, die am Rande der Dorfgesellschaft lebt. Doch der Krug bringt Unheil: Der Vater steckt sich mit Lepra an und muss das Dorf verlassen, Maryam und ihre Geschwister werden zu Aussätzigen. Doch dann erscheint Hoffnung: Gerüchte fliegen durchs Dorf über einen Wunderdoktor, der durchs Land zieht. Es kommt zu einer Begegnung, die Maryams Leben und das ihrer Geschwister für immer auf den Kopf stellt. Die ergreifende Geschichte einer starken Frau, die sich nicht mit ihrem Schicksal abfindet

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 323

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7377-3 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5796-4 (lieferbare Buchausgabe)

Daten-Konvertierung E-Book: Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

© der deutschen Ausgabe 2017 SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: Alabaster Copyright © Chris Aslan. Published by Lion Hudson IP Ltd, Oxford, England. This edition copyright © 2016 Lion Hudson IP Ltd.

Übersetzung: Susanne Naumann (SuNSiDe) Umschlaggestaltung: Sophia Wald Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Inhalt

Über den Autor

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Nachwort des Autors

Dank

Für meine leiblichen Schwestern, Helen und Sheona, und für Askana, Gulnora, Opa und meine anderen Schwestern in Zentralasien.

Ich höre noch die Stimme meiner Mutter, die mir erzählt, was alle Frauen in unserem Dorf ihren Töchtern erzählen: »Marjam, die Ehre einer Frau ist so zerbrechlich und schön wie die Flügel eines Schmetterlings. Was ist ein Schmetterling ohne Flügel? Nichts als ein Wurm. Vergiss das nie. Achte auf deinen Ruf, denn er ist kostbarer als ein Ehemann oder Söhne.« Wahrscheinlich ist es ein Segen, dass meine Mutter nicht mehr lebt und mich jetzt nicht sieht.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über den Autor

Chris Aslan ist mit der Kultur des Nahen Ostens vertraut: Er wurde in der Türkei geboren und wuchs während des Bürgerkriegs in Beirut auf. Nach dem Studium zog er nach Zentralasien, wo er viele Jahre lebte. Er ist zur Zeit als Dozent unterwegs, führt Touristen durch Zentralasien und studiert in Oxford, um anglikanischer Pfarrer zu werden.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Eins

Ich treibe auf einem Meer aus Sand, werde hin- und her geschleudert von Sandwogen. Jetzt bekomme ich Sand in den Mund. Ich ersticke. Ich kämpfe ums Überleben. Hustend wache ich auf. Von der Decke regnen Staub und Schutt auf mich herab.

Der Boden unter uns hebt sich, vibriert. Ich höre die Dachbalken über mir ächzen und knacken. In den Wänden und im Lehmfußboden tun sich Risse auf. Meine Schwiegermutter und meine Schwägerin schreien. Der Lehm und Schutt, die von der Decke herabfallen, begraben uns; einer der Schreie erstirbt, verwandelt sich in einen Erstickungskrampf. Irgendjemand muss den Staub oder Schutt in die Lunge bekommen haben.

Etwas Hartes, Scharfes streift meine Stirn; ich schreie ebenfalls auf. Wenn ich es nicht schon gewusst hätte – jetzt besteht kein Zweifel mehr, das ist kein Traum, das ist Wirklichkeit. Ich versuche, unter das Bett zu kriechen, um mich zu schützen. Mein Mann Ischmael springt aus dem Bett und ruft nach seiner Mutter. Ich höre, wie sie erleichtert aufschluchzt, und weiß, dass sie sich jetzt an ihn klammert und er sie mit seinem Körper vor dem herabfallenden Schutt schützt, eine Hand wahrscheinlich ausgestreckt nach seiner erstickenden Schwester. Ich liege allein am Boden. Blut, warm und klebrig, rinnt mir wie Wachs über die Stirn.

Dann hört der Boden auf zu beben. Bald sind nur noch Schluchzen und das Keuchen und die erstickte Panik des Viehs im Stall zu hören, der nur durch eine Wand von unserem Raum getrennt ist. Wir alle schreien auf, als die Erde erneut zu beben beginnt, als spiele sie mit uns und hätte uns nur in falscher Sicherheit wiegen wollen. Dann wieder Stille. Allmählich beruhigt sich unser Herzschlag, unser Atem wird regelmäßiger.

»Marjam, sitz nicht rum, zünde die Lampe an!«, faucht meine Schwiegermutter mich an. Ich taste an der Wand nach dem Alkoven und ziehe eine flache Öllampe heraus. Die Hand an die Mauer gestützt, taste ich mich weiter vorwärts, unterdrücke einen Aufschrei, als ich mit meinem nackten Fuß auf etwas Scharfkantiges trete. Ich arbeite mich zu der Tür vor, die nach draußen in unsere Küche führt. Ich rüttle an der Tür, die sich verklemmt hat. Als sie endlich nachgibt, hängt sie in einem komischen Winkel im Türblatt.

Draußen scheinen die Sterne, hell genug, dass ich etwas sehen kann. Der Mond ist bereits untergegangen, es muss also die letzte Nachtwache sein, kurz vor der Morgendämmerung. Die Glut vom gestrigen Abendfeuer ist erloschen; es dauert eine Weile, bis ich den Zündstein finde und eine Flamme entfachen kann. Ich lege etwas Holz auf, dann fülle ich die Lampe mit Olivenöl, drehe einen neuen Docht und lege ihn ein. Dann zünde ich ihn an.

»Marjam!« Ich höre den scharfen Ruf meiner Schwiegermutter und eile zurück ins Haus. Die Familie hat sich in einem Nest aus Decken zusammengekauert. Schoschanna wiegt ihre Tochter Riwka, als wäre sie noch ein Baby, dabei ist sie dreizehn, nur zwei Jahre jünger als ich.

»Sind alle in Ordnung?«, fragt Ischmael. Sein besorgter Blick lässt mich aus. Ich versuche, mir das Haar aus der Stirn zu streichen, das mit dem Blut aus meiner Stirnwunde verklebt ist. Sie nicken, die Augen noch immer weit aufgerissen vor Schreck. Dann rappelt Schoschanna sich auf. »Wir müssen nach dem Vieh sehen. Marjam?« Ich will in den niedrigen Verschlag gehen, in dem wir die Tiere halten. »Nein! Zünde erst noch eine Lampe an. Lass uns hier nicht im Dunkeln sitzen!« Ich bringe ihr die Lampe. Das spärliche Licht lässt ihre plumpe Gestalt fast ausgemergelt wirken. »Und wasch dir das Gesicht«, fügt sie etwas freundlicher hinzu. »Du blutest.« Im Licht treten die neuen Risse in den Wänden gnadenlos hervor. Ischmael hat die Wände erst im letzten Sommer neu verputzt und getüncht; jetzt wird er alles noch einmal machen müssen.

Ich gehe wieder hinaus zum Küchenfeuer und lege abermals Holz nach, dann zünde ich eine weitere Lampe an und gehe in den Stall. Ich werde mit erwartungsvollem Blöken begrüßt, obwohl ich gar kein Futter bringe. Die Schafe und Ziegen scheinen unverletzt zu sein; falls auch hier Schutt von der Decke gefallen ist, ist er im Stroh verschwunden. Hier drinnen käme man nicht einmal auf die Idee, dass ein Erdbeben stattgefunden hat.

Nicht so draußen. Etwas entfernt, weiter unten auf der Straße, höre ich panische Stimmen und Schreie. Die Angst drückt mir das Herz zusammen.

Ich laufe wieder hinein. »Tante«, sage ich mit geneigtem Kopf und wähle die respektvolle Anrede: »Darf ich, mit Ihrer Erlaubnis, nach meiner Schwester sehen, ob sie verletzt ist?«

»Und uns in diesem Chaos sitzen lassen?«, schmollt Riwka.

»Im Tageslicht werde ich schneller aufräumen können«, antworte ich und verfluche Riwka im Stillen.

Schoschanna legt den Kopf schräg und lauscht auf das Geschrei draußen. Es wäre unter den gegebenen Umständen nicht unschicklich, wenn eine Frau bei Nacht draußen herumläuft. Sie nickt kurz. Wir wissen beide, dass ich vor Sonnenaufgang wieder da sein werde, da ich sonst dafür bezahlen muss.

»Bedecke dich«, fügte Schoschanna noch hinzu. Ein Erdbeben ist für sie kein Grund, gegen die Etikette zu verstoßen. Ich bedecke meinen Kopf, greife nach meinem Umhang, ziehe meine Sandalen an und schlüpfe aus unserem von einer Mauer umgebenen Hof. Das Dorf ist mit hingetupften Lichtern durchsetzt wie an einem Festtag. Meine Schwester lebt auf der anderen Seite unseres kleinen Dorfes. Während ich die Straße entlanglaufe und dabei einem angebundenen Esel ausweiche, der versucht, sich loszureißen, erstelle ich im Geist eine Verlustliste, ausgehend von den Lauten, die aus den anderen Höfen an mein Ohr dringen. Ich höre das Klagen aus dem Haus von Jakob und denke, dass dort wohl jemand durch eine herabstürzende Decke erschlagen wurde. Ich werde morgen hingehen und mit ihnen klagen, doch zuerst muss ich nachsehen, ob es Marta gut geht. Die meisten Familien zerren ihre Bettstellen hinaus in die ummauerten Höfe oder aufs Dach, falls es zu Nachbeben kommen sollte. Die Straße ist voller Menschen, überall hört man erleichterte Rufe, wenn sie feststellen, dass Verwandte oder Nachbarn noch am Leben sind.

Ich halte den Kopf gesenkt. Niemand grüßt mich – was allerdings völlig normal ist. Der Frühjahrsregen ist gekommen, die Wege sind schlammig. Ich versuche, mich dicht an den Mauern zu halten; hier ist es trockener. Dabei trete ich beinahe auf eine schlafende Henne und zucke erschrocken zusammen. Sie gackert. Ich eile am Brunnen vorbei, dem Mittelpunkt unseres Dorfes. Hier stehen, im Schatten von Dattelpalmen, die Läden. Als ich am Haus meiner früheren Freundin Imma vorbeilaufe, bin ich versucht, hineinzugehen und mich nach ihr zu erkundigen – obwohl sie mich hasst. Doch dann höre ich, wie ihr Vater Halfai mit seiner bebenden, unsicheren Stimme ein heiliges Danklied anstimmt, und weiß, dass ihre Familie verschont wurde.

Atemlos laufe ich die Anhöhe hinauf. Unser Haus steht am äußersten Rand des Dorfes. Ich rieche bereits die Blüten an unserem Aprikosenbaum. Ich erreiche den Anstieg zu den Olivenhainen und klettere über die Felsen, auf denen Eleasar damals ausrutschte und stürzte, als wir spielten. Er war ohnmächtig. Ich rannte nach Hause und rief, ich hätte einen Mord begangen. Noch ein kleines Stück und ich bin zu Hause. Über mir reckt der Aprikosenbaum, der unser kleines, von einer Mauer umgebenes Grundstück dominiert, seine Zweige in den Himmel. Doch es ist keine Zeit, den köstlichen, berauschenden Duft einzuatmen. Ich muss herausfinden, ob meine Schwester noch lebt.

Das Tor ist verriegelt; aus dem Innern des Hauses dringt kein Licht. In meiner Magengrube strudelt die Angst, ich habe den bitteren Geschmack von Galle im Mund. Ich halte mich nicht damit auf zu klopfen. Ich raffe meinen Umhang zusammen, nehme Anlauf, springe hoch und greife nach einem der überhängenden Äste, die im Dämmerlicht kaum sichtbar sind. Dann ziehe ich mich hoch. Die Prellungen von den letzten Schlägen, die ich erhalten habe, schmerzen, doch ich ignoriere sie, ziehe die Beine an und schwinge mich über die Mauer.

Etwas würdelos falle ich auf der anderen Seite hinunter und stolpere dann beinahe über die Kettfäden von Martas letztem Teppich, die im Schatten des Aprikosenbaumes aufgespannt sind. Ich habe keine Zeit zu überlegen, warum sie schon so früh im Jahr mit der Arbeit an einem Teppich angefangen hat; es ist doch noch viel zu feucht, den Tag über einen Webstuhl gekrümmt zu verbringen.

»Marta?«, rufe ich und spähe in den überdachten Küchenbereich vor dem Haus. Hätte ich doch nur eine Lampe mitgenommen! In der Herdstelle glimmen noch ein paar Funken, also muss Marta bis spätabends gearbeitet und noch später erst gegessen haben. Ich zünde eine Lampe an und eile ins Haus; vorher streife ich an der Schwelle noch rasch meine Sandalen ab. Marta liegt zusammengekrümmt an der Wand, in dem Alkoven aus zwei Regalen, neben der Mitgifttruhe unserer Mutter. Sie hat die Füße angezogen und drückt etwas Kostbares an ihre Brust. Ich atme erleichtert auf.

Marta blickt auf. Sie hat riesige dunkle Ringe unter den Augen. Ihr Blick fällt auf meine bloßen Füße. »Du hättest deine Sandalen nicht auszuziehen brauchen«, sagt sie leise. »Sieh dich doch um! Ich werde den ganzen Vormittag brauchen, um alles wieder einigermaßen sauber zu machen.«

»Marta!« Ich laufe zu ihr und stelle die Lampe in den Alkoven. Sie schweigt, ihr Atem geht schwer. Ich lehne mich an die Wand, maßlos erleichtert, dass sie unverletzt ist. Dann sinke ich neben ihr auf die Knie und küsse sie auf die Wange.

»Ihm ist nichts passiert«, sagt sie und hebt den Gegenstand hoch, den sie an ihre Brust gedrückt hält, als zeige sie mir ein Neugeborenes. Es ist der Deckel eines erlesenen Alabastergefäßes – unser kostbarster Besitz und zugleich ein Fluch für uns.

»Warum hast du es herausgenommen?«, frage ich. »Ist während des Erdbebens etwas auf die Mitgifttruhe unserer Mutter gefallen?«

»Es war gar nicht in der Truhe«, sagt sie ausdruckslos.

Sie gibt sich mit einer Hand eine Ohrfeige, die andere hält mit unendlicher Behutsamkeit das Gefäß.

»Marta!«, sage ich. Sie schlägt sich erneut, diesmal mit der Faust, und will sich ein drittes Mal schlagen, doch ich packe sie am Handgelenk. »Was ist denn in dich gefahren?«, frage ich. In meinem Leben gibt es ohnehin schon viel zu viele Schläge. Sie sagt nichts. Wir kauern schweigend nebeneinander.

»Ich habe es vor zwei Tagen herausgeholt«, erklärt sie mir schließlich. »Ich hielt es einfach ein bisschen in der Hand und habe es eingeölt, um den Alabaster zu polieren.« Ihre Stimme verklingt. Dann fährt sie fort: »Jeden Abend habe ich es auf das Regal gestellt, neben eine Lampe, und es betrachtet, bis ich einschlief. Wahrscheinlich klinge ich wie eine Götzendienerin, aber ich habe das gebraucht, um meine Hoffnung am Leben zu halten.«

»Natürlich«, sage ich, umarme sie und versuche zu klingen, als verstünde ich sie und dächte nicht etwa, dass sie verrückt geworden sei. »Aber was hast du dir dabei gedacht, es so offen zur Schau zu stellen? Was, wenn jemand es gesehen hätte?«

»Ich weiß«, entgegnet sie scharf. Und noch einmal, diesmal sanfter: »Ich weiß. Als das Erdbeben kam, bin ich aufgesprungen. Ich wusste genau, was passiert, und dachte, es sei vielleicht die Strafe Gottes dafür, dass ich mein Vertrauen auf das Gefäß gesetzt habe. Ich rannte zum Regal. Das Gefäß war auf die Seite gefallen, einen Augenblick später und es wäre heruntergerollt und zu meinen Füßen zerschellt. Kannst du dir das vorstellen?« Ihre Augen sind riesig und sie drückt meine Schulter so fest, dass es wehtut.

»Ist es beschädigt?«

Sie reicht mir vorsichtig das Gefäß. Ich nehme es ihr ab. Der Griff, das Gewicht, die Schönheit sind mir unendlich vertraut. Der Alabaster ist warm von ihrem Körper. Ich betrachte die gesprenkelte, durchscheinende Oberfläche. Wie oft habe ich es so in der Hand gehalten und mir vorgestellt, ich sähe den Sinn oder gar konkrete Ereignisse der Zukunft in den Maserungen des Steins, der glatter als Marmor ist. Aber natürlich haben sie keinerlei Bedeutung.

»Halte mir die Lampe«, sage ich und Marta, die weiß, was ich vorhabe, hält sie ein wenig höher, während ich mit den Fingern das zylindrisch geschwungene Gefäß abtaste und nach Rissen oder Sprüngen suche. Es fühlt sich glatt an, bis auf das Band eingeätzter Muster am oberen Rand, die aber ebenfalls unversehrt sind.

Der Alabaster ist durchscheinend, nur, wenn ich das Gefäß gegen das Licht halte, kann ich einen Sprung erkennen, der sich auf einer Seite nach unten zieht. Die Oberfläche ist dennoch völlig glatt. Mir wird klar, dass der Sprung sich im Innern befinden muss, dort, wo das Parfüm ist.

»Im Tageslicht ist er nicht zu sehen«, sage ich und lache ein wenig vor Erleichterung. »Es ist immer noch wertvoll.« Sie antwortet nicht. Ich betrachte weiter die Oberfläche des Gefäßes, spucke kurz darauf und poliere es mit dem Saum meines Gewandes. Kein Mensch im Dorf hat je etwas so Schönes gesehen und es weiß auch niemand, dass wir so etwas besitzen. Es ist unser Geheimnis. Das Gefäß birgt fast einen halben Liter reiner Narde und ist ein Vermögen wert. Ich habe keine Ahnung, wie Narde duftet, doch das tut meiner Fantasie keinen Abbruch. Beinahe wäre das Symbol all unserer Hoffnungen und Träume zerbrochen. Ich drücke das Gefäß an meine Brust. Marta scheint meine Gedanken lesen zu können.

»Wie konnte ich nur so dumm, so unbedacht sein?«, sagt sie. Sie sieht mich an. Ihre Haut wirkt fahl, gelblich; ihre schönen Locken sind strähnig und ungepflegt. »Miri, ich glaube, ich kann das nicht mehr lange aushalten«, sagt sie. Ich halte die Luft an. So etwas hat sie noch nie gesagt. »Immer wieder frage ich mich, ob das alles ist, ob es irgendwann einmal besser wird.«

»Natürlich wird es besser werden«, sage ich und versuche, hoffnungsvoll zu klingen. »Du könntest dir ein paar Frauen nehmen, denen du das Weben beibringst. Wir könnten auch das Gefäß verkaufen. Dann könntest du einen eigenen Laden eröffnen!« Die Idee gefällt mir, doch Marta ist gekränkt.

»Glaubst du wirklich, ich würde mich von dem Gefäß trennen – für einen Laden?«, fragt sie. »Und die Hoffnung auf eine Ehe ein für alle Mal aufgeben?«

»Das habe ich nicht ge-…«

»Eine vertrocknete Traube werden, die jemand zu ernten vergaß – wer wollte sie noch haben? Hm? Ich sollte im ganzen Dorf herumerzählen, dass wir dieses Gefäß besitzen, dann würden die Freier hier Schlange stehen.«

Sie lacht verbittert auf. Ich auch. Ich sage: »Glaub mir, das willst du nicht wirklich.«

»Behandeln sie dich schlecht?«, fragt Marta, steht auf und streicht zart über meine Wange. Plötzlich ist sie wieder in ihre Rolle als ältere Schwester geschlüpft, die Trösterin, nicht die Getröstete.

»Mir geht es gut«, lüge ich. Sie soll sich keine Sorgen machen. Was könnte sie auch tun? »Ich bin froh, dass er nichts von dem Gefäß weiß«, sage ich. »Wenigstens das wird er nie in die Finger bekommen!«

»Ich stelle es wieder in die Truhe, dort kann ihm nichts passieren.« Sie öffnet die Truhe und hält das Gefäß noch einen Augenblick zärtlich in der Hand, dann legt sie es ganz unten hinein, unter die Gewänder, Kopftücher, Umhänge und anderen Erinnerungen an die Mitgift unserer Mutter.

»Hast du dir jemals Gedanken darüber gemacht, woher Vater es hat?«, fragt Marta.

»Nicht mehr«, lüge ich wieder. »Ist das denn wichtig?«

Es ist ein Geheimnis, das ich ganz allein trage, das sie nie erfahren wird. Ich denke unentwegt daran; manchmal bricht es mir beinahe das Herz, dann wieder würde ich das verfluchte Gefäß am liebsten an die Wand schmeißen und Gott mit den Scherben die Augen auskratzen.

Es war zwei Jahre nach Mutters Tod. Vater fing gerade wieder an, lächeln zu lernen. Ich selbst hatte nichts zu lachen: Marta hatte mich gebeten, ihr zu helfen, einen ganzen Sack trockener Linsen zu lesen. Eine Schüssel voll nach der anderen breiteten wir auf einem Stück weißem Tuch aus und suchten nach kleinen Steinchen, die wir herausklaubten. »Sie könnten dich einen Zahn kosten«, hatte sie mich gewarnt. Es war eine Aufgabe, die keine von uns mochte oder besonders gut beherrschte, doch Marta hatte beschlossen, dass ich ein wenig Unterricht in den weiblichen Fähigkeiten der Haushaltsführung bräuchte. Eleasar saß im Schatten des Aprikosenbaumes und versuchte, lesen zu lernen, doch auch ihm ging die Arbeit nicht leicht von der Hand. Glücklich, eine Entschuldigung zu haben und der ungeliebten Arbeit entfliehen zu können, ging ich zu ihm, um ihm zu helfen, doch schon bald konnte ich meine Ungeduld kaum mehr bezähmen. Schließlich lachte ich.

»Wie willst du mir schon helfen?«, spuckte er. Wenn er wütend war, erinnerte er mich immer an ein fauchendes Kätzchen. Wieder musste ich lachen. »Was weiß ein Mädchen schon vom Lesen? Genauso gut könnte ich einen Esel das Alphabet lehren.« Das war nicht mehr lustig. Ich wollte ihn packen, doch er entwand sich mir und war im nächsten Moment über die Mauer gesprungen.

»Vater, hast du das gehört?«, fragte ich. Mein Vater kam gerade von dem unreinen Ort in einer Ecke unseres Grundstückes.

Vater seufzte. »Kannst du mir Wasser eingießen?« Er hockte sich neben die duftenden Kräuter, die Marta neben dem unreinen Ort gepflanzt hatte, um den Geruch zu überdecken, und seifte sich die Hände ein. Dann goss ich aus einem Krug Wasser über seine Hände. Es war noch früh am Tag, doch die Hitze war bereits mit Händen zu greifen.

Er sagte: »Wir müssen euch beide trennen. Du begleitest mich und gießt mit mir die jungen Bäume, Eleasar kann hier bei Marta bleiben.«

»Wir sollen arbeiten, während Eleasar den ganzen Tag schwimmen gehen darf?«

Vater sagte nichts, seufzte nur wieder, lächelte etwas kläglich und sah mich mit seinen großen braunen Augen an. Und schon war ich besänftigt. Ich wusste, dass Vater sich Sorgen machte, dass die Sommerhitze das Fieber hervorrufen könnte, das meine Mutter getötet hatte und auch meinen Bruder hin und wieder heimsuchte. Marta blickte kurz auf, schüttelte in geistesabwesender Verzweiflung den Kopf über mich und verlor sich wieder in ihren Linsen.

Später, als wir den Hang zum Olivenhain zu unserer Baumgruppe hinaufstiegen, war mir die Sache noch immer nicht aus dem Kopf gegangen. »Es ist ungerecht. Ich habe, als ich in seinem Alter war, die Buchstaben sehr viel schneller gelernt als er. Auch wenn ich die heilige Sprache nicht besonders gut beherrsche – warum darf er zu Füßen des heiligen Halfai sitzen und ich nicht?«

Vater lächelte. Der Esel, der schwer mit zwei großen, tropfenden Wasserhäuten beladen zwischen uns trottete, atmete schwer. Vater richtete einen der Lederriemen. »Du sollst Halfai doch nicht so nennen«, sagte er. »Das ist nicht respektvoll.«

»Aber warum darf ich nicht lernen?«

»Ich habe die Regel nicht gemacht«, antwortete mein Vater.

»Ja, aber …«

Vater fuhr sich mit der Hand über die Stirn und das Gesicht und verteilte den Schweiß bis hinunter in seinen Bart. Dann wischte er sich die Hand an seinem leichten Gewand ab, das ihm unter den Armen bereits am Körper klebte. Ich mochte seinen Geruch, einfach weil es seiner war, auch wenn er heute besonders streng roch. Mein Vater war ein Meister des Sprechens ohne Worte. Seine simple Geste bedeutete: »Es ist heiß, wir haben noch einen langen Weg vor uns und ich kann nichts an dieser Situation ändern. Was nützen uns also weitere Streitgespräche?«

Wir gingen schweigend weiter, schon bald ebenso schwer atmend wie das Eselchen, dessen Atem sich zu einem rasselnden Keuchen gesteigert hatte. Myriaden von Zikaden lieferten ein lautes Hintergrundgeräusch. Mein Haar unter dem Kopftuch war feucht, ich spürte, wir mir unter der Tunika der Schweiß über den Rücken hinunterrann. Unser Haus lag zwar ganz oben im Dorf, am nächsten an dem Olivenhain, doch unsere Baumgruppe stand dafür am weitesten entfernt. Es war bereits Mittag, als wir endlich dort waren.

Es gab keine sichtbare Grenze, doch wir wussten beide genau, wo unser Land begann. Ich finde, Olivenbäume sind wie Frauenschwärme an einem Brunnen. Ein Fremder, der unser Dorf nicht kennt, sieht nur Frauen in schäbigen Gewändern, mit Kopftüchern, die Wassergefäße auf dem Kopf oder auf einer Schulter balancieren. Und ich? Ich kenne jede einzelne von ihnen. Ich weiß, wessen Gewand gut oder schlecht geflickt ist, ich kann sie am Gang, an ihrer Haltung und an ihrer Gestalt erkennen, auch wenn diese unter dem Gewand verborgen ist – und das, noch bevor sie sich umdrehen und ich ihr Gesicht sehe. Genauso ist es mit unseren Bäumen. Ich vergesse vielleicht manchmal, wie alt der älteste Baum ist, aber ich weiß, welche Propheten lebten, als sie noch Setzlinge waren. Jeder ist anders, von dem schlanken, anmutigen Setzling bis zum gedrungenen, dunklen alten Baum. Ich kenne jede Ausbuchtung, jeden Ast, jedes Loch, in dem Eulen nisten, jede Biegung und Verästelung, ich weiß, welche die besten Oliven tragen. Jeder Einzelne ist wie eine Frau aus dem Dorf. Sie können ohne Weiteres einen trockenen Sommer überstehen, mit Ausnahme der Reihen von Setzlingen, die Vater letztes Jahr auf dem felsigen Grund vor der Schlucht gepflanzt hat. Dorthin waren wir unterwegs.

Als wir an dem größten Olivenbaum vorüberkamen, erspähte ich darunter etwas, das aussah wie ein großer Haufen abgelegter Lumpen.

»Da hat jemand seine Kleider vergessen«, sagte ich.

Vater runzelte die Stirn.

»Warte hier mit dem Esel.« Er gab mir den Führstrick und ging näher an den Baum heran. Der Lumpenhaufen regte sich leicht und stöhnte.

Der Esel legte sich erschöpft hin. Ich wusste, dass es schwer werden würde, ihn wieder zum Aufstehen zu bewegen. Ich ließ den Strick los und folgte Vater.

»Seid Ihr verletzt?«, fragte Vater und beugte sich über die Lumpen. Ich hörte ein weiteres Stöhnen und lugte hinter Vaters Schulter hervor. Aus dem schlampig gebundenen Turban schlossen wir, dass es ein Mann war, doch sein Gesicht war halb von den Turbanenden bedeckt, sodass wir fast nichts von ihm sahen. Vater hob die Stoffenden an. Entsetzt fuhren wir zurück.

Er sah aus, als sei er aus dem ältesten Olivenbaum geschnitzt. Statt mit Haut war sein Gesicht mit brauner, zerklüfteter Rinde überzogen und an den am wenigsten zu erwartenden Stellen mit Schwellungen bedeckt. Die größte befand sich über dem linken Auge, das darunter gänzlich zugeschwollen war. Die ganze linke Gesichtshälfte wirkte, als bestünde sie aus schmelzendem Wachs. Wo einst seine Nase gewesen war, sah man eine Art Stumpf, aus dem so etwas wie Saft hervortropfte.

Ich würgte, doch es gelang mir, mich nicht zu übergeben.

»Es tut mir leid«, flüsterte der Hölzerne. Es kostete ihn sichtlich Anstrengung zu sprechen; er klang, als hätte sich auch seine Kehle in Rinde verwandelt. Er richtete das Auge, das ihm verblieben war – milchblau verfärbt vom grauen Star –, auf Vater. »Ist das Euer Land?«

Vater schluckte. Als er sprach, klang seine Stimme gepresst. »Ja. Ihr dürft euch gern hier ausruhen.«

Aus der Kehle des Mannes drang ein rauer Laut; vielleicht sollte es sogar ein Lachen sein. Was auch immer es war, es mündete in einen rasselnden Husten. Der Mann rang keuchend nach Luft.

»Marjam, was stehst du hier herum? Hol unserem Gast ein wenig Wasser«, sagte Vater. Ich lief zurück zum Esel, löste den kleinen Lederschlauch, der mit Brunnenwasser statt mit Wasser aus dem Bach gefüllt war, und brachte ihn Vater. Er nahm den Kopf des Mannes in die Hand und hob ihn an, damit er ihm ein wenig Wasser in den Mund rinnen lassen konnte. Ich prallte förmlich zurück vor dem fauligen Gestank, der aus seinem Mund drang, doch Vater schien es nicht zu bemerken.

»Marjam, tritt zurück. Unser Gast braucht Platz«, sagte Vater, obwohl ich mich schon ein Stück weit entfernt hatte. Es dauerte eine Weile, bis der Mann genug getrunken hatte, da er nur kleine Schlucke nehmen konnte. Schließlich winkte er mit einer schwachen Handbewegung ab.

»Danke«, keuchte er. »Es tut mir leid, dass ich Euch Unannehmlichkeiten bereite.«

»Seid Ihr krank?«, fragte ich und merkte im selben Moment, wie dumm die Frage war. »Vater, ich kann ins Dorf laufen und Tante Schifra holen. Sie hat vielleicht einen Balsam oder so etwas.«

»Nein. Das ist nicht nötig. Dafür ist es viel zu spät.«

Ich spürte, wie meine Augen sich weiteten, und formte mit den Lippen tonlos die Frage: »Hat er Lepra?« Vater nickte fast unmerklich und wandte sich wieder dem Leprakranken zu, dessen Kopf er noch immer in den Händen hielt.

»Wie heißt Ihr?«

»Heißen?« Der Leprakranke schien verwirrt. »Ich habe viel verloren, aber mein Name gehörte zu den ersten Dingen, die ich verlor. Namen sind für Menschen.«

»Möchtet Ihr etwas essen? Entschuldigt, wir scheinen völlig unsere Manieren vergessen zu haben«, sagte Vater. Ich drehte mich um, um etwas Brot und Käse aus den Satteltaschen zu holen.

Der Leprakranke röchelte und schüttelte den Kopf. »Auch dafür ist es zu spät«, sagte er. »Ich kann nicht mehr essen.«

»Kann ich irgendetwas für Euch tun?«, fragte Vater voll tiefen Mitgefühls.

»Könnt Ihr singen?«, fragte der Leprakranke. »Ich esse Asche statt Nahrung und fülle meinen Becher mit Tränen.«

Vater erkannte das heilige Lied und stimmte es an. Seine Stimme klang tief und kummervoll.

Ich rückte näher an Vater heran, doch der schüttelte den Kopf und winkte in Richtung des Esels. Ich ging zurück und lauschte Vaters Gesang. Als er fertig war, begann er ein anderes Lied und wiegte dabei sanft den Kopf des Mannes. Einmal wurde er kurz unterbrochen, als der Kranke einen Hustenanfall hatte, und dann noch einmal, als der Esel schrie, weil ich ihn zwang aufzustehen.

Ich zerrte den Esel auf den Kamm, nicht zu nah an die Schlucht, und suchte ihm ein bisschen Gestrüpp zusammen, an dem er knabbern konnte. Dann öffnete ich eine der Wasserhäute, die aus einer ganzen Ziege gefertigt waren, goss etwas Wasser in ein kleines Tongefäß, band die Haut wieder zu und goss den nächstgelegenen Setzling.

So arbeitete ich weiter bis zum Nachmittag. Meine Tunika, schwer von Wasser und Schweiß, klebte schon bald an mir. Die ganze Zeit über hörte ich Vaters Stimme. Es war zu heiß zum Denken, deshalb begann ich erst über unsere Zwangslage nachzudenken, als ich den letzten Wassertropfen über dem letzten Setzling ausgegossen und den Esel in den Schatten des nächsten Baumes gezogen hatte. Ich wusste nicht viel über das Gesetz, doch mir war klar, dass es verboten war, einen Leprakranken ins Dorf mitzunehmen, dass wir jetzt unrein waren und uns erst vollständig waschen mussten, bevor wir nach Hause gehen konnten. Ich wusste auch, dass Leprakranke gefährlich waren und ihre Krankheit ansteckend war. Ich überlegte, wie lange Vater wohl neben dem Kranken gesessen und ob er sich vielleicht angesteckt hatte.

Ich bekam Angst. Rasch eilte ich zurück zu dem großen Baum, von dem Vaters Stimme zu mir drang. Er hatte seinen leinenen Schal abgenommen und an die überhängenden Äste gebunden, um so ein bisschen Schatten zu schaffen. Der Leprakranke schien zu schlafen. Vater blickte auf. Seine Stimme zitterte nicht, doch ich sah, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Er sang das heilige Lied zu Ende, dann sagte er ruhig: »Er ist tot, Marjam. Ich glaube, er tat seinen letzten Atemzug während des letzten Liedes.«

»Oh nein, Vater«, schrie ich und lief zu ihm.

»Nein«, sagte er scharf, »bleib weg von mir!«

Ich blieb, wo ich war. Vater legte den Kopf des Toten sanft auf die Erde und erhob sich. »Was tun wir jetzt?«, fragte ich.

»Wir haben miteinander gesprochen«, sagte er. »Zwischen den Liedern hat er mir vieles erzählt.«

»Was denn?«, fragte ich.

»Das meiste hat er mir im Vertrauen gesagt. Er wusste, dass wir seinen Leichnam nicht auf unserem Land liegen lassen können. Die Krankheit ist noch in ihm.«

Ich blickte zu der Reihe Setzlinge hinüber. »Wir könnten ihn auf den Kamm ziehen und in die Schlucht rollen lassen.«

»Nein, es muss eine bessere Möglichkeit geben.«

»Und welche? Wir dürfen ihn nicht ins Dorf bringen und in ein Grab legen und außerdem wäre es sowieso viel zu weit und der Esel ist völlig erschöpft.«

Vater überlegte einen Moment. »Ich möchte nicht, dass du dem Leichnam nahe kommst oder ihn berührst«, sagte er. »Binde die Wasserhäute los; ich werde sehen, ob ich den Leichnam mithilfe des Esels auf den Kamm hinaufziehen kann.«

Wie sich herausstellte, war der Leprakranke unter den Lumpen, in die er gekleidet war, so verschrumpelt und ausgetrocknet, dass der Esel keine Mühe hatte, ihn zu ziehen. Vater ging hinter dem Leichnam und hob ihn so weit wie möglich an, als machte er sich Sorgen, dass es unbequem für ihn sein könnte. Auf dem Kamm blieben wir stehen. Vater sang ein paar Gebete, dann rollte er ihn in die Schlucht hinunter. Wir sahen zu, wie das Lumpenbündel hinabstürzte und sich dabei mehrmals überschlug, bis es schließlich vor einem großen Stein liegen blieb.

»Es fühlt sich nicht richtig an«, sagte Vater ruhig.

»Du hast in seiner letzten Stunde für ihn gesungen«, erwiderte ich.

»Zumindest hat sein Leiden ein Ende«, murmelte Vater. Er griff nach dem Seil und führte den Esel zurück zu dem großen Olivenbaum, wo wir die leeren Wasserhäute holten.

»Was machen wir mit seinem Stock, seiner Glocke und seinem Bündel?«, fragte ich. Sie lagen noch immer unter dem Olivenbaum.

»Fass nichts an«, befahl Vater und griff nach oben in die Äste, um seinen Leinenschal abzubinden. »Es ist alles unrein.«

Er nahm die Glocke und den Stab und die Tasche, lief noch einmal zum Kamm hinauf und warf die Sachen, wie ich sehen konnte, in die Schlucht. Das gab mir Zeit für den Gedanken, den ich bereits seit geraumer Zeit wie einen lästigen Moskito zu verscheuchen versuchte: Vater, wenn er unrein ist, warum berührst du ihn dann? Was ist, wenn du dich ansteckst? Mir wurde übel. Ich rieb meine Hände an meiner schweißgetränkten Tunika, als könnte ich sie auf diese Weise reinigen.

Als Vater zurückkam, hielt er etwas in der Hand. Obwohl er mir bedeutete, mich von ihm fernzuhalten, konnte ich sehen, dass es ein Gefäß war, ein Gefäß aus einem feineren, zarteren Material als alle Tongefäße, die ich je in unserem Haus oder auch im Gebetshaus gesehen hatte.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht genau«, antwortete Vater. »Er sagte, es sei ein Geschenk für mich, ein Zeichen seiner Dankbarkeit.«

»Darf ich es anfassen?« Ich war fasziniert von dem wirbelnden Muster des Alabasters, der so stark glänzte, dass er aussah, als sei er aus Gold statt aus Stein.

»Nein. Es muss zuerst gereinigt werden.« Vater schob das Gefäß in die Satteltasche und wir wandten uns zum Dorf. Wir hatten kein Mittagsmahl gegessen, doch Vater sagte, wir müssten das Brot und den Käse für die Vögel liegen lassen, da sie durch die Krankheit verdorben sein könnten.

»Danke für deine Hilfe bei den Setzlingen«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Du hast heute die Arbeit eines erwachsenen Mannes getan.«

Ich strahlte. Ein Lob meines Vaters war mir mindestens so kostbar wie das, was unsere ausgebeulte Satteltasche enthielt.

»Vater«, sagte ich, als wir uns dem Dorf näherten, »können wir uns bei dem leprakranken Mann angesteckt haben?«

Vater lächelte angespannt. »Wenn Gott es will, aber ich glaube es eigentlich nicht. Du hast ihn ja nicht einmal berührt.«

»Ich weiß«, sagte ich ruhig. »Aber du. Warum hast du ihn nicht liegen gelassen? Es war das Risiko nicht wert und außerdem haben wir gegen das Gesetz verstoßen. Du hättest ihn nicht berühren dürfen.«

Vater blieb abrupt stehen und riss dabei den Esel heftig am Führseil. »Marjam, sieh mich an. Wenn Gott zugelassen hat, dass dieser Mann – er war nicht einfach ein Leprakranker, sondern ein Mann – auf unserem Land ausruhen musste und unsere Gastfreundschaft brauchte, dann haben wir ganz sicher kein Gesetz gebrochen, indem wir ihm unsere Gastfreundschaft gewährten und gütig waren. Verstehst du? So habe ich dich erzogen.«

Ich konnte nicht anders, ich fing an zu weinen. »Aber Vater, was ist, wenn ich dich verliere?«, stieß ich hervor.

Vater wollte mich umarmen, doch ihm fiel ein, dass er sich von mir fernhalten musste. »Komm, Marjam, Schluss jetzt damit. Wenn wir im Dorf sind, kannst du nach Hause gehen und frische Kleidung und Seife holen. Ich gehe gleich hinunter zum Fluss und warte dort auf dich. Wir werden beide bald wieder rein sein.«

Ich schniefte und wischte mir die Nase am Ärmel ab.

»Wir wollen Marta und Eleasar nichts davon erzählen«, sagte Vater. »Sie würden sich nur Sorgen machen.«

»Aber wie erklären wir ihnen das Gefäß?«

»Bis jetzt wissen wir noch gar nichts über das Gefäß. Wir können ihnen später davon erzählen.«

Als ich in unser Haus kam, sah Marta heiß und angespannt aus und merkte gar nicht, dass ich ihr nicht in die Augen sehen konnte. »Das reicht nicht«, sagte ich, als sie sorgfältig ein kleines Stückchen von unserem Block Olivenseife abschnitt.

»Das ist mehr als genug, Miri. Du hast die Seife schließlich nicht gemacht.«

Ich erklärte ihr, dass wir unrein waren. »Wir müssen auch unsere Kleider waschen. Da war ein Kadaver und wir mussten ihn fortschaffen und in die Schlucht werfen.«

Marta verzog das Gesicht. »Was war es? Ein Schakal?«

»Irgendetwas in der Art«, sagte ich und wandte mich ab, bevor sie weiterfragen konnte. Als ich schließlich mit frischer Kleidung für mich und meinen Vater zum Fluss am Dorfende hinausging, stand die Sonne bereits tief am Himmel und leuchtete golden. Auf dem Weg überholte ich einen der Hirtenjungen, den meine beste Freundin Imma zum bestaussehenden Jungen in unserem Dorf erklärt hatte.

»He, Ischmael, gehst du zum Fluss?«, fragte ich. Er nickte. »Kann ich dir das für meinen Vater mitgeben?«

Ich reichte ihm die Seife und die Kleider, und als wir zum Fluss kamen, ging ich zu dem hohen Schilf, wo die Frauen sich, von den anderen getrennt, waschen konnten. Ischmael sah unseren Esel, der neben dem Fluss im Bereich der Männer graste, und ging in diese Richtung.

Ich blieb stehen und blickte ihm nach. Er wirkte sehr selbstsicher, während er sich auszog. Bevor er sein leinenes Hüfttuch ablegte, schaute er in meine Richtung, als wüsste er, dass ihm jemand zusah. Ich wurde tiefrot und duckte mich rasch. Dann hörte ich das Aufspritzen des Wassers, als er in den Fluss sprang.

Ich entledigte mich meiner schweißgetränkten Kleidung, hockte mich zwischen die hohen Schilfgräser und suchte meinen Körper nach den verräterischen weißen Malen ab, den ersten Anzeichen für Lepra, obwohl ich wusste, dass es eine gewisse Zeit dauert, ehe die Krankheit auf diese Weise sichtbar wird. Ich hörte, wie Ischmael und Vater miteinander sprachen. Um die Gedanken an den Hirtenjungen aus meinem Kopf zu vertreiben, dachte ich an das Gefäß, das Vater, sobald Ischmael fort war, vorsichtig aus der Satteltasche nehmen und reinigen würde. Schon damals wusste ich, dass es unser Leben für immer verändern würde, doch wenn ich gewusst hätte, was die Zukunft für uns bereithielt, hätte ich es genommen und auf die Steine geschleudert und zugesehen, wie es in tausend Stücke zerbricht.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Zwei

Wir gehen die Straße entlang, drei Frauen in Trauerkleidern. Unser Haar und unsere Kopftücher sind grau, überzogen mit Ruß und Asche, unsere Kehlen rau vom Klagen, unsere Augen geschwollen vom Weinen und unsere Wangen noch rot an den Stellen, an denen wir uns geschlagen haben.

»Wartet«, keucht eine Stimme hinter uns. Unsere rundliche Nachbarin, Ide, läuft hinter uns her. Sie holt uns ein. Sie hinkt, weil sie einen Klumpfuß hat, und bekommt schlecht Luft. »Habt ihr die verrückte Marjam gesehen?« Es gibt mehrere Marjams in unserem Dorf, aber nur eine, die verrückt geboren wurde. »Sie ist weggelaufen, als Cyria auf der Beerdigung war. Cyria und ihre Nachbarinnen haben überall gesucht, aber keiner hat sie gesehen.«

»Wie oft ist das schon passiert?« Riwka seufzt angewidert. »Wann lernt diese Frau endlich, dass sie ihre Tochter einschließen muss, wenn sie das Haus verlässt? Wisst ihr noch, wie sie sie nackt am Brunnen fanden? Sie wollte gerade hineinspringen.«

»Riwka!«, sagt Schoschanna und Riwka verdreht die Augen, sagt aber nichts mehr. »Nein, wir haben sie nicht gesehen. Arme Cyria.«

»Möge Gott ihr helfen«, sagt Ide und schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Ich begleite euch zurück.« In Wirklichkeit möchte sie über das Begräbnis reden und ein bisschen mit meiner Schwiegermutter tratschen. Ich glaube nicht, dass die verrückte Marjam und ihre Mutter überhaupt noch erwähnt werden, denn alle nur vorstellbaren Sünden, die Cyria begangen haben könnte, weil sie mit einer verrückten Tochter geschlagen ist, wurden bereits so oft durchgehechelt, dass sie sogar diesen Frauen langweilig geworden sind. Ich frage mich manchmal, ob Ide wohl jemals auf die Idee gekommen ist, dass ihre tratschenden Freundinnen sich auch des Langen und Breiten über die Sünden ihrer, Ides, Mutter ausgelassen haben, da sie ja schließlich einen Krüppel geboren hat.

»Arme Marta.« Schoschanna schüttelt traurig den Kopf. Sie meint nicht meine Marta, sondern die alte Marta, Jakobs Frau, die bei dem Erdbeben in der vergangenen Nacht von einem herabstürzenden Balken erschlagen wurde.

»Erinnert ihr euch, wie schön sie als junges Mädchen war?«, sagt Ide und beide lächeln. »Sie konnte mit dem Wasserkrug auf der Schulter zum Brunnen gehen, gekleidet in das älteste Gewand, doch wenn sie ihre Hüften wiegte, baten die Hälfte der Männer im Dorf ihre Mütter, sie mit ihr zu verheiraten. Hah!«

»Es ist schwer für den alten Jakob. Marta dachte immer, dass er wohl als Erster wird gehen müssen«, sagt Schoschanna. »Gott sei Dank war das der einzige Todesfall gestern Nacht.«