Alex, das Elend und ich - Anke Bracht - E-Book
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Alex, das Elend und ich E-Book

Anke Bracht

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Beschreibung

Gib der Liebe eine zweite Chance... Carla versteht die Welt nicht mehr, denn die steht von einem Tag zum andern Kopf, seit Alex sie verlassen hat. Das Elend hat sie fest im Griff und ihr bester Freund Julius und ihre Schwester Annika sind ihre Ratgeber und seelischen Stützpfeiler in den schlimmsten Phasen ihres Liebeskummers. Doch gegen Alex ist kein Kraut gewachsen, er ist in Carlas Leben einfach all- und übermächtig. Alex war nicht die absolute Fehlbesetzung, nicht irgendein Freund oder Liebhaber, wie sie sich gleich nach der Trennung einzureden versucht hat, sondern der Mann ihres Lebens. Der Mann, den Carla immer gewollt, von dem sie geträumt und den sie geliebt hat, bevor sie ihn zum ersten Mal sah. Und so macht sie sich trotz aller Widrigkeiten auf den Weg, ihm und ihrer Liebe, mag sie auch noch so verrückt und unmöglich sein, eine zweite Chance zu geben. Ein humorvoller und berührender Roman über die Liebe! »Alex, das Elend und ich« ist ein eBook von feelings –emotional eBooks*. Mehr von uns ausgewählte romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite: www.facebook.de/feelings.ebooks Genieße jede Woche eine neue Liebesgeschichte - wir freuen uns auf Dich!

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Anke Bracht

Alex, das Elend und ich

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Gib der Liebe eine zweite Chance …

Carla versteht die Welt nicht mehr, denn die steht von einem Tag zum andern kopf, seit Alex sie verlassen hat. Das Elend hat sie fest im Griff, und ihr bester Freund Julius und ihre Schwester Annika sind ihre Ratgeber und seelischen Stützpfeiler in den schlimmsten Phasen ihres Liebeskummers. Doch gegen Alex ist kein Kraut gewachsen, er ist in Carlas Leben einfach all- und übermächtig. Alex war nicht die absolute Fehlbesetzung, nicht irgendein Freund oder Liebhaber, wie sie sich gleich nach der Trennung einzureden versucht hat, sondern der Mann ihres Lebens.

Der Mann, den Carla immer gewollt, von dem sie geträumt und den sie geliebt hat, bevor sie ihn zum ersten Mal sah. Und so macht sie sich trotz aller Widrigkeiten auf den Weg, ihm und ihrer Liebe, mag sie auch noch so verrückt und unmöglich sein, eine zweite Chance zu geben.

Ein humorvoller, aber auch berührender Roman über die Liebe!

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel
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1.

Das Elend kommt immer überraschend. Jedenfalls ist es bei mir so. Ekelhaft selbstbewusst steht der ungebetene Besuch dann vor der Tür, hübsch zurechtgemacht wie für den Sonntagsspaziergang. Wenn mein Elend eine Gestalt hätte, dann käme es als kleines Mädchen mit langen blonden rot beschleiften Zöpfen und einer Zahnspange daher. Immer genau dann, wenn ich es am wenigsten gebrauchen kann. Aber das ist nur meine Meinung, und die interessiert das Elend nicht. Die Kleine würde gehäkelte Strümpfe an dünnen Beinen tragen, die sich an den Knien fast berühren. Ihr Blick träfe mich mitten ins Herz; sie würde ihre schmalen Brauen über den viel zu großen leuchtenden Augen kummervoll zusammenziehen und mir dann in einer blitzschnellen Bewegung ihren Ranzen auf den Kopf hauen. Peng. All ihre Schulbücher würden wie dicke Wackersteine die Treppe vor meiner Tür hinunterpurzeln, und während ich langsam zu der Erkenntnis käme, dass das Elend wieder da ist, würde das unwirkliche Kind summend an mir vorbeischlüpfen, in mein Wohnzimmer hopsen und sich apfelkauend auf mein Sofa lümmeln. Und während ich gegen die Tränen ankämpfte, würde mir das Elend frech ins Gesicht grinsen und dabei mit Fistelstimme wispern:

»Da bin ich also. Und so schnell wirst du mich nicht wieder los.« Und dann würde dieses Monstrum dort sitzen bleiben, einen ganzen Monat lang oder noch länger, und würde mich dabei beobachten, wie ich mich entliebe.

 

Jeder Mensch hat sein persönliches Elend, und ich stelle mir gerade vor, wie es wäre, wenn all diese Coaches in Sachen Liebeskummerbewältigung auf einer Gartenparty Small Talk hielten, bei Gin Tonic und Erdnussflips. Mein brav gescheiteltes Elend würde lachend die Geschichte zum Besten geben, wie sie beim letzten Mal Woche um Woche auf meinem Sofa gesessen und mich gequält hat. Dann würde es kokett die Zöpfe zurückwerfen, die Schultern straffen, einen Schluck Gin Tonic nehmen und den Anwesenden mit einem der Zahnspange geschuldeten Lispeln über meine verzweifelten Versuche berichten, wie ich es loswerden wollte, wie ich ihm zu entkommen versuchte und wie ich gescheitert war. Wieder und wieder. Und die anderen Elendsgestalten würden sich biegen vor Lachen, sie würden ihre eigenen Erlebnisse pikanten Anekdoten gleich zum Besten geben und letztendlich und nach dem dritten Gin Tonic höchst amüsiert konstatieren, dass der Mensch nicht dazulernt. Obwohl, es gibt Ausnahmen. Wie ich gerade schon sagte, kommt das Elend ohne Vorwarnung. Ich saß an diesem bis dahin vollkommen unspektakulären Dienstag an meinem Schreibtisch und suchte in der riesigen Schublade dieses Erbstücks nach meinem Füller – manche Briefe schreibe ich nur mit Füllfederhalter –, als es an der Tür klingelte. Das hört sich trivial an, ist es bestimmt auch, aber was dann geschah, verdient es, erzählt zu werden. Also es war Dienstag, es klingelte, ich öffnete, Alex stand im Türrahmen, seine schwarzen Haare glänzten von Haargel. Er sah mich an, und für den Bruchteil einer Sekunde war ich irritiert. Das war nicht DER Blick. Nicht sein Blick. Das war neutral. Nulllinie. Hirntod. Schlimmer. Da war nichts. Absolut gar nichts. Dieser Blick war schlichtweg – kameradschaftlich. Mit einer eleganten Bewegung schob er sich in den langen Flur, er kam mir dabei nah genug, um mich seinen Duft wittern zu lassen. Meine Nase ist ganz hervorragend, und ich mache mir oft einen Spaß daraus, Parfüms zu erraten. Ich irre mich fast nie. Das hier war Creed Platinum, unverkennbar. Wie ein Faustschlag traf mich die Erinnerung. Parfümflasche in Hotelbadezimmer. 100 ml, big size. Elf Stockwerke unter uns die tobende Großstadt vor rot glühendem Nachthimmel. Ich am Abschminken. Sein Gelschopf im Türrahmen. Breites Grinsen, Lust. Suchende Hände. Großer Spiegel, helle Fliesen, noch helleres Licht. Er hinter mir. Küsse, harte Griffe, Blicke in den Spiegel. Tiefe Stöße, Hitze überall, sein Mund, seine halb geschlossenen Augen unter langen Wimpern, unser Stöhnen … Als ich kam, riss ich die Augen auf, so unglaublich war das Gefühl, und da sah ich diese Flasche … es war das letzte Mal gewesen, das wir uns geliebt hatten, und als ich jetzt in seine Augen schaute, konnte ich darin lesen, dass es kein weiteres Mal geben würde: It’s all over now, Baby Blue.

 

Seit sechs Wochen kein Sex. Ich wusste nicht, womit ich das verdient hatte. Ich ließ Alex mit seinen Tüten an mir vorbeimarschieren und schloss die Tür. Sein Weg führte schnurstracks in die Küche, in der er sich geräuschvoll zu schaffen machte. Das Gefühl des Unbehagens verstärkte sich mit jedem Schritt, den ich ihm folgte. Der Weg zu ihm, der weiterhin fröhlich pfeifend viel zu viele Geräusche beim Auspacken der Lebensmittel machte, erschien mir endlos. Ich spürte Schwäche in den Beinen. Ich wollte nicht in diesen Raum. Doch die Küchentür stand weit offen, wie immer. Alex hantierte geschickt am Herd herum. Er hatte inzwischen eine Flasche Wein geöffnet und hackte nun Kräuter. Es faszinierte mich immer wieder, wie dieser Mann von jetzt auf gleich von Job auf Privatleben umschalten konnte, und trotz des zunehmend flauen Gefühls in der Magengegend spürte ich wieder einmal tiefe Zärtlichkeit für ihn. Ich lehnte mich dicht neben ihn an den großen Kühlschrank, der wohlgemerkt der Hingucker in meiner Küche ist, registrierte das Grummeln des Generators in meinem Rücken und die leichten Schwingungen der Kühlschranktür. Alex schob mich ohne Beachtung zur Seite und holte ein paar weitere Zutaten heraus. Dann machte er weiter. »Und?« Ich sah auf seine arbeitenden Hände. Schöne Hände, sehr schöne sogar. »Was und?« Alex hackte konzentriert weiter. Das Aroma von Basilikum streichelte meine Nase. Und ob ich wollte oder nicht, ich bekam Hunger. »Wie war dein Tag?«

Alex zuckte mit den Schultern. Er gehört zu den Männern, die durchaus zwei Dinge gleichzeitig tun können, ohne ernsthafte Schäden davonzutragen. Alex kann sogar drei Dinge auf einmal: Kräuter hacken, mit den Schultern zucken und lügen. Wieder schob er mich zur Seite und kramte ausdauernd nach Töpfen und Kellen. In Anbetracht der Tatsache, dass er genau weiß, wo sich diese Utensilien befinden, kramte er wirklich ziemlich lange. Dann gönnte er mir einen Moment lang seine Aufmerksamkeit. Mit einem wohlkalkulierten Augenaufschlag blickte er mich an, als er einen Topf mit Wasser füllte. Dieses Manöver verfehlte seine Wirkung nicht: Ich hätte ihn anspringen können. Aufgerollte Hemdsärmel, seidenfeine dunkle Härchen auf den gut geformten Unterarmen, die bereits erwähnten schönen Hände und dann diese blauschwarzen Haare – das Biest wusste genau, was dieser Anblick in mir auslöste. »Hunger?« Leicht belustigt schaute er mich an. Besser: Er konzentrierte sich darauf, belustigt zu wirken. Die Anstrengung war ihm nämlich anzumerken. Da war ein harter, neuer Zug um seinen Mund. Warum küsst du mich nicht mit diesem Mund, dachte ich traurig. Ich schluckte. Seine Augen ließen schnell meinen Blick los und verloren sich in einer imaginären Sphäre hinter mir an der Küchenwand. Dann entspannten sich seine Züge für einen kurzen Moment, und ich wusste, Alex war nicht bei mir. Nicht wirklich. Nicht wirklich …

Ein Geräusch lenkte mich ab und ließ mich aus dem Küchenfenster schauen. Unten im Hof spielte ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen, etwas altmodisch herausgeputzt in ihrem Sonntagskleid. Als hätte sie meine Reaktion erwartet, sah die Kleine zu mir hoch, wobei sie ihre Augen mit der Hand beschattete, um mich besser fixieren zu können, und sie winkte mir mit ernstem Gesicht zu, als sich unsere Blicke trafen. Alex schien mein Verhalten nicht weiter zu kümmern. Mit der Routine eines erfahrenen Kochs arbeitete er schnell und akkurat. Seine Pasta kann sich sehen lassen, und ich werde sie vermissen, das weiß ich. Aber ich will den Geschehnissen nicht vorgreifen. Alex kochte an diesem Dienstag, wir aßen und tranken und unterhielten uns fast so unbeschwert und harmonisch wie immer. Nach der ersten Flasche Wein war mein Unbehagen so sehr betäubt, dass ich lachend mit der Gabel auf ihn zeigte und neckend sagte:

»Na sag schon. Da ist doch was im Busch. Oder?« Wenn mein Elend jetzt hier sitzen würde, würde es sich die Schleifen seiner Zöpfe richten und mich mit einem knappen »Selbst schuld. Wie konntest du so blöd fragen!« bedenken. Ohne es zu wollen, hatte ich Alex damit eine gute Vorgabe geliefert. Und angetrunken verlieren sogar Lügner die Angst vor der Wahrheit und gestehen. Zumindest ein bisschen und in Andeutungen. Ich werde nie vergessen, wie der liebe Alex seine Serviette vom Schoß nahm und sie faltete. Ich hatte diese Serviette selbst genäht. Mit der Hand, in Ermangelung einer Nähmaschine. Und er faltete sie. Noch ein Knick und noch einer, bis das große Stück Stoff auf Geldscheingröße zusammengelegt war. Wieder ein langer Augenaufschlag. Seine Augen sind hell, sie funkeln wie Bernstein; in seinem Pass steht banal: braun. Mein Liebster saß plötzlich ganz gerade auf dem Küchenstuhl, und während ich voller Angst darauf hoffte, dass er endlich Worte finden würde, schienen die Wände um mich herum zu zerfließen. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt, und ich war unfähig, mich zu rühren oder meinen Blick von ihm abzuwenden. Ich sah ihn an und fühlte Entsetzen in mir aufsteigen, denn ich WUSSTE, was nun kommen würde. Meine Hände zitterten, ich wollte ihn bitten, nichts zu sagen, mir das zu ersparen, wir hatten uns doch so sehr geliebt, diese beiden verrückten Jahre lang so sehr geliebt, und nun das. Bitte nicht, Alex, dachte ich, bitte sag es nicht. Sag es einfach nicht, halt die Klappe und küss mich. Ich vermisse dich so sehr … Alex’ Gesicht war starr, er wollte nicht sehen, wie viel Furcht in meinem Blick lag, und während er vorsichtig die Serviette auf den Tisch legte, sagte er nur leise: »Es geht nicht mehr, Carla. Es ist so. Es tut mir leid.«

Während er langsam aufstand und hinaus in den Flur trat, hörte ich das schnelle Trippeln von Kinderschritten im Treppenhaus. In meinen Ohren hallte ein Echo – tut mir leid – tut mir leid – tut mir leid. Und als er die Tür öffnete und ohne ein weiteres Wort die Wohnung verließ und auf den Fahrstuhl zuging, bemerkte ich, wie sich eine zarte Kinderhand vom Treppengeländer löste. Die Kleine hüpfte fröhlich die letzten Stufen zu meiner Etage hinauf und griff nach ihrem Schulranzen. Wie betäubt blickte ich durch den Tränenschleier auf den Fahrstuhl, der sich hinter Alex geschlossen hatte. Ich wollte gerade einen Schritt zurücktreten, da sprang mich das Elend an. Es hatte offenbar all seine guten Manieren vergessen, denn es tobte und heulte wie eine Furie und schleuderte mit einem lauten, furchtbaren Schrei seinen Ranzen durch den langen Flur bis vor das Sofa.

Mit letzter Kraft schloss ich die Tür hinter meinem ungebetenen, aber unvermeidlichen Gast und ging zurück in die Küche, die auf einmal so unwirklich verwaist schien. Ich betrachtete Alex’ Weinglas, streichelte über die Fingerabdrücke, die er auf dem Kelch hinterlassen hatte, und warf das Glas, halb voll wie es war, in den Abfalleimer. Die klein gefaltete und mit Liebe handgenähte Serviette gleich hinterher. Und meine obendrauf. Mir war schlecht. Und ich wusste, das war erst der Anfang, denn im Wohnzimmer wütete bereits das Elend. Immer wenn das Elend kommt, versuche ich es so lange wie möglich zu ignorieren. Das gelingt natürlich nicht, denn es liegt in der Natur der Sache, dass ich mit ihm konfrontiert werde. Ich war von der kleinen Rotbeschleiften ja auch schon einiges gewohnt, aber einen solchen Auftritt, wie sie ihn an diesem späten Dienstagabend hinlegte, hatte ich noch nie erlebt. Irgendwann, ich weiß nicht mehr, wie spät es war, nahm ich mein Weinglas und schlich ins Wohnzimmer, wo sich das Elend in die Kissen gekuschelt hatte und anscheinend eingeschlafen war. Ich setzte mich demonstrativ direkt neben es und war einmal mehr erstaunt darüber, dass ich, so wirklich es auch schien, einfach durch es hindurchgreifen konnte, um eine Decke zu mir zu ziehen. Mir war schrecklich kalt. Mein Herzschlag schien sich zu verlangsamen, wie bei einem wechselwarmen Reptil. Ich verstand die Welt nicht mehr. Alex hatte mich verlassen.

Diejenigen, die mich kennen, werden sich vielleicht darüber wundern, dass ich so emotional sein kann, aber als ich das schlafende Elend so friedlich auf meinem Sofa liegen sah, musste ich vor lauter Traurigkeit und Selbstmitleid laut aufschluchzen – und schon war die Kleine wieder hellwach.

Ich setzte mich mit meinem Weinglas auf die Sofakante, zog mir die Decke bis an den Hals und fragte lahm:

»Was willst du hier?«

Das Elend blickte mich aus klugen Augen nachsichtig an, denn es weiß, dass ich es nicht leiden kann. Ein wenig Mitleid lag in der Fistelstimme, als ich die Antwort bekam, die ich jedes Mal bekomme und wahrscheinlich noch als alte Frau hören werde, wenn mein Herz wieder einmal gebrochen ist:

»Ich werde dich entlieben.«

Natürlich. Das habe ich vergessen zu erwähnen. Das Elend bleibt bei jedem Liebeskummer nämlich immer so lange, bis ich den Verursacher meiner Schmerzen innerlich zum Teufel jagen kann und bereit bin für ein neues Abenteuer, wie ich eine Liebesgeschichte gern bezeichne. Das meine ich gar nicht abwertend. Denn gibt es etwas Unkalkulierbareres, Aufregenderes, Spannenderes als eine Liebe? Dieses Mal aber war die Situation anders. Es ging nicht um irgendeinen Freund oder Liebhaber, Alex war der Mann, den ich immer gewollt hatte, von dem ich schon geträumt hatte, bevor wir uns überhaupt begegneten. Er war der Mann, den ich liebte, bevor ich ihn zum ersten Mal sah, er war der, von dem ich wusste, dass er irgendwo auf mich wartet. Alex … der mich vom ersten Moment an in seinen Bann gezogen hatte – wie schon unzählige Frauen vor mir übrigens, was mir nie etwas ausgemacht hat. Ich kann sie alle so gut verstehen. Und wenn es auf dieser Welt einen Mann gab, den ich an mich binden, den ich nie wieder loslassen wollte, dann war er es. Nicht dass Alex ein Traumprinz ist. Er ist alles andere als das. Er ist launisch, schwierig, unordentlich und selbstverliebt. Egozentrisch trifft es, glaube ich, ganz gut. Und er kann sehr unangenehm werden, wenn er seinen Willen nicht bekommt. Aber da er nur sehr selten seinen Willen nicht bekommt, wird er auch nur sehr selten wirklich unangenehm. Er ist auf eine unglaublich charmante Weise geradezu manipulativ, und das gilt für seinen Umgang mit Frauen und Männern. Er ist einmalig in jeder Hinsicht, und ich habe jede Sekunde an seiner Seite genossen. Ich kenne niemanden, der fürsorglicher, liebevoller und sensibler ist, und neben Kräuterhacken, Schulterzucken und Lügen beherrscht Alex etwas, was bei seiner Spezies nur sehr selten anzutreffen ist: Er versteht sich auf die Kunst des Erzählens. Alex ist nicht nur ein aufmerksamer Zuhörer und interessanter Gesprächspartner, er redet einfach gern über sein Leben und seine Arbeit und über sich und über Gott und die Welt. In den zwei gemeinsamen Jahren habe ich mich nie mit ihm gelangweilt. Und um die Beschreibung seines Wesens abzuschließen: Der Mann hat Humor. »Warum?« Ich stierte betrunken in mein Glas und heulte leise vor mich hin. Meine Nase war schon ganz zugeschwollen, und bei dem Gedanken daran, welch erbärmlichen Anblick ich bieten musste, wartete ich demütig darauf, dass das Elend in der anderen Sofaecke laut loslachte. Aber da kam nichts. Der Geist war ruhig. Die Kleine saß immer noch auf ihrem Platz, die Schühchen ordentlich nebeneinander auf dem lackierten Dielenboden aufgesetzt, und sah mich streng an.

»Frag dich lieber: warum erst jetzt? Du hast es schließlich zwei Jahre lang vermieden, dich mit dem Charakter dieses Mannes zu befassen. Du wolltest so lange wie möglich auf der warmen Welle des Verliebtseins surfen. Nun ist dein Surfbrett weg, und du bist am Ertrinken. Selbst schuld.«

»Selbst schuld, selbst schuld«, äffte ich das Elend nach. Ich betrachtete die Kleine voller Zorn. Dabei richtete sich die Wut im Grunde gegen mich selbst. Ich hatte mich vor zwei Jahren in diese Liebe hineinfallen lassen und die Augen geschlossen wie ein Kind, das denkt, so würde es nicht gesehen. Das Elend hatte recht, natürlich. Das Elend hatte immer recht.

Ich stand auf und ging in die Küche, um mir noch ein Glas Wein zu holen. Der Duft von Pasta und Basilikum, der mich dort empfing, ließ meinen Magen rebellieren, und Übelkeit stieg in mir hoch. Vor weniger als einer Stunde hatten wir dort gesessen, uns wunderbar unterhalten und ICH hatte alles kaputt gemacht. Hätte ich meinen Mund gehalten, würde ich nicht immer alles sagen müssen, was mich bedrückt, müsste ich nicht immer meiner Intuition folgen, säßen wir wohl immer noch dort. Vielleicht hätte ich ihn ja überzeugen können, in dieser Nacht bei mir zu bleiben, Alex ist so leicht zu verführen, wer wusste das besser als ich, und ich hätte die vergangenen sechs Wochen, in denen er sich mir so schmerzlich entzogen hatte, einfach in die letzte Schublade meines Hirnkastens verbannt. Vielleicht hätte ich so getan, als hätte ich nichts bemerkt, wäre elegant über diese berührungsfreie Zeit hinweggegangen, und vielleicht wäre dann alles wieder gut geworden.

»Hätte, hätte!!!«, schrie es laut aus meinem Wohnzimmer. Auch das noch. Der Geist wurde munter. Ich knallte wütend die Küchentür zu, um das Keifen nicht hören zu müssen, doch vergeblich. Die Stimme des Elends war unüberhörbar. Ich seufzte und öffnete die Tür zum Flur wieder, wirklich weglaufen vor dem Elend konnte ich sowieso nicht.

»Es hätte nichts genützt. Weil er so ist. Es hätte nur alles verzögert. Und ich sage dir: Er hätte nicht mit dir geschlafen, er wäre nicht bei dir geblieben, denn er hat keine Lust mehr auf dich, er hat ein neues Spielzeug. Also sei endlich traurig. Du hast es dir redlich verdient, traurig zu sein. Du hast so sehr geliebt. Auch wenn es dumm war. Liebe entschuldigt alles. Nimm dein Elend an. Ich bin für dich da. Ich werde so lange bleiben, bis es dir wieder besser geht, das weißt du. Betrink dich, heul dir die Augen aus dem Kopf, schmeiß alle seine Fotos weg und lösch seine E-Mails. Und morgen rufst du deine Freunde an und verabredest dich. Aber jetzt hör auf mit deinem hätte …, hätte …, hätte …« Ich glaube, das Elend zeterte weiter, aber ich hatte die Küchentür erneut zugemacht, mich auf den Stuhl gesetzt, auf dem Alex eben noch gesessen hatte, und starrte auf die Pastasoße. Mit zitternden Händen – war das die Bestürzung, die Schwäche oder der Alkohol – übergab ich dieses letzte Abendmahl – wie zynisch – dem Mülleimer, bevor ich den Tisch abräumte, gründlich abwischte und eine neue Flasche Wein aus dem Weinregal zog. Irgendeine. So versorgt, schlurfte ich langsam und vorsichtig ins Wohnzimmer zurück, wo inzwischen Ruhe eingekehrt war. Ich ließ mich wieder in meine Ecke des Sofas fallen, goss mir etwas Wein ein, fand, er schmeckte fahl und bitter. Aber wahrscheinlich hatte ich einfach nur genug. Noch nicht genug allerdings, um in einen traumlosen Schlaf zu gleiten, der mich alles vergessen lassen würde, zumindest bis um halb sieben am nächsten Morgen.

 

»Geh schlafen«, sagte das Elend sanft zu mir, und es war mir, als würde es mich leicht berühren. »Leg dich hin und denk an ihn und an euch und an die tollen Zeiten, die ihr hattet. Und guck genau hin. War es wirklich so gut? Ist er wirklich der, den du immer wolltest? Ist er die vielen Tränen wert?« Ihr Kindergesicht hatte einen mütterlichen Ausdruck bekommen; der Blick war völlig frei von Hohn und Schadenfreude. Das Elend war ganz anders dieses Mal, stellte ich irritiert fest, als ich mich leicht schwankend vom Sofa erhob und ins Schlafzimmer schlich. Oder soll ich besser sagen, kroch? Ich vermisste Alex so sehr. Der Entzug seiner Liebe lag wie ein Bleigewicht auf mir, und ich konnte kaum aufrecht gehen. Ich schminkte mich nicht ab und ich zog mich nicht aus. Was wäre, wenn er wirklich nicht zurückkommen würde? Der Gedanke, dass es mit uns unwiderruflich aus und vorbei war, machte mich irre. Mein Herz, eben noch kurz vor dem Stillstand, hämmerte nun im Stakkato gegen die Rippen. Wahrscheinlich hatte er nur einen schlechten Tag gehabt, und ich war ihm mit meiner Art auf den Wecker gegangen. Vielleicht wollte er ja auch nur austesten, ob ich für ihn kämpfen würde. Ich horchte in mich hinein. Das war alles Bullshit. Und ich wusste es genau. Tränen stiegen in mir hoch und würgten im Hals. Ich heulte. Und dann ließ ich mich aufs Bett plumpsen und zog mir die Decke über den Kopf. Und weinte weiter. Geradezu bitterlich. Aber irgendwann schlief ich ein, und als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich das Elend tatsächlich vergessen. Und fürchterliches Kopfweh.

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2.

Auch Julius wachte am Mittwochmorgen mit Kopfschmerzen auf. Ich sage das so selbstverständlich, weil er es mir irgendwann einmal erzählt hat. Er ist mein Freund aus Kindertagen, einer, der alles Schlechte über mich weiß, der meine tiefsten Abgründe kennt und mich trotzdem mag. Julius ist absolut loyal, kompromisslos, verlässlich und hochanständig, kurz: Er ist kein Mann für mich. Wir hatten nie eine Affäre, und so, wie die Dinge stehen, werden wir auch nie eine haben, aber er wird mein Trauzeuge sein, das weiß ich genau. Nur wann die Hochzeit ist, das weiß ich leider nicht, und über den Bräutigam kann ich mich derzeit auch nur spekulativ äußern. Aber lassen wir das. Ich wollte nur sagen, dass Julius der beste Freund ist, den eine Frau sich wünschen kann, von ihrem Friseur einmal abgesehen.

Julius wusste, noch bevor er die Augen geöffnet hatte, dass sie nicht mehr da war. Marie war weg. Sein Kopf drohte zu zerplatzen, das Hämmern unter der Schädeldecke machte ihn irre, und ganz nebenbei fühlte er sich einfach nur ausgetrickst, gelinkt, verarscht. Sie hatte ihn benutzt, wieder einmal. Und er war darauf reingefallen. Er hatte ihr geglaubt, als sie von Fehlern und Verzeihung und einer letzten Chance gesprochen hatte. Er war dahingeschmolzen wie jedes Mal, wenn sie ihn berührt, oder besser nicht berührt hatte. Julius war so verliebt in Marie, dass es einem Wahn gleichkam. Einer Hörigkeit. Sie wusste das, natürlich. Frauen wissen immer, was sie dem Mann an ihrer Seite bedeuten, sie geben sich zwar gerne schwach und hilflos, aber eigentlich sind sie es, die die Fäden ziehen. Zum Mitschreiben: Die Frau hat die Macht. Und Julius war speiübel.

 

Die Klingelmelodie seines Handys ließ ihn aufschrecken, und er schaffte es kaum, den langen Weg vom Sofa, auf dem er in der vergangenen Nacht nach einem allerletzten Telefonat mit Marie eingeschlafen war, bis zum Bad zurückzulegen. Er sah gerade noch meine Nummer aufblitzen, bevor der Rufton verstummte. Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er tief enttäuscht war. Nicht Marie hatte angerufen, sondern nur ich. Jetzt, da er vor dem Waschbecken stand, war ein Blick in den Spiegel unvermeidlich. Julius musterte sich mit dem akribischen Interesse eines Insektenforschers und spürte, wie sich sein Magen gegen die aufrechte Haltung und das hell erleuchtete Bad wehrte. Das Becken schien ihn geradezu einzuladen, aber er wollte es nicht mit seinem Mageninhalt verunzieren, hatte es seine Putzfrau doch erst gestern richtig gründlich sauber gemacht. Deshalb ging er ganz vorsichtig, als könne er damit verhindern, dass die schwappende Gehirnmasse in seinem Schädel noch mehr in Bewegung geriet, in die Waschmaschinenkammer, zog den großen blauen Plastikeimer unter seiner Sporttasche hervor und wandte sich mit seiner Trophäe fest im Arm wieder dem Schlafzimmer zu. An Arbeiten war an diesem Tag ohnehin nicht zu denken. Nicht nach dem Nachttelefonat, nicht bei dem Kater. Er stellte den Eimer mit einer entschlossenen Bewegung neben das Bett in Kopfkissenhöhe ab und starrte dumpf an die Decke. Wenn ihm nicht so schlecht gewesen wäre, hätte er den Schmerz des Alleinseins gespürt, aber so fühlte er nur Übelkeit und ein ewiges Kreisen, das sich sofort einstellte, sobald er die Augen schloss.

 

Marie war weg; sie war während des heftigen Streits abrupt vom Sofa aufgestanden und einfach gegangen, und er war trotzig sitzen geblieben und hatte einen Drink nach dem anderen runtergekippt, den Blick stur auf sein Handy gerichtet und in der Hoffnung, sie würde anrufen. Natürlich hatte sie sich nicht gemeldet. Irgendwann spät in der Nacht hatte er sie dann doch angerufen, und es hatte eine letzte Aussprache gegeben. Leider waren sie in ein Funkloch geraten, und Marie hatte in den Hörer gebrüllt, sie würde sofort zurückrufen. Natürlich hatte sie das nicht getan, und er war eingeschlafen – hilflos, wartend, total betrunken und vollkommen verstört. Und irgendwann war er ohne Erinnerung an die vergangenen Stunden wach geworden, einfach nur leicht verwundert, genau wie ich.

 

Julius zwang sich, die Augen offen zu halten, und vermied jede Bewegung, um nicht nach dem blauen Eimer greifen zu müssen. Langsam realisierte er: Marie war weg. Seine Schläfen pochten, in seinem Magen tobte es, und er wusste, dass er an diesem Tag keine einzige Aufnahme würde machen können. Er dachte kurz und mit Schrecken daran, wie wohl sein Redaktionsleiter reagieren würde. Julius hatte lange gebraucht, um Lars davon zu überzeugen, ihn als festen Freien in das Team aufzunehmen. Und nun das. Heute sollte das Urteil verkündet werden; Lars hatte wochenlang an dem Prozess gegen den Kindermörder teilgenommen und ausführlich direkt aus dem Gerichtssaal berichtet. Julius war ab und an dabei gewesen und hatte Fotos gemacht. Nichts Wildes, nur das Übliche. Der Angeklagte kommt. Der Angeklagte geht. Klick. Der Anwalt blickt fotogen und ernst, die Nachbarin verrät Intimes an die Yellow Press und macht ein dummes Gesicht dabei. Klick. Aber heute ging es um mehr. Die Pressekonferenz war für elf Uhr angesetzt. Und er, der Fotoreporter Julius Lehmann, hatte einen üblen Kater und konnte jenseits seines Bettes nicht überleben.

 

Während er frierend dalag und versuchte, gleichmäßig zu atmen und wenig zu denken, jagten die scheinbar vergessenen Szenen der vergangenen Nacht wie kurze Blitzlichtgewitter durch seine Gedanken. Marie war eine seiner typischen Deichbekanntschaften. So nannte er die Frauen, die er bei Spaziergängen am Deich hinter seinem Haus anflirtete. Meistens waren es Hundebesitzerinnen, mit denen er auf lockere Art schnell ins Gespräch kam. Menschen mit Hunden sind es gewohnt, sich mit den Bewunderern ihrer Vierbeiner auszutauschen, und so wusste Julius, dass Schritt eins, wie er diese Stufe des Datings nannte, immer von Erfolg gekrönt war. Mit der Zeit machte er sich einen Sport daraus, mindestens Stufe vier zu erreichen. Auf Stufe zwei – Verabredung zum Kaffee – gelangte er grundsätzlich mühelos, Stufe drei – Kochen bei ihm – schaffte er in der Regel auch, ohne sich allzu viel Mühe geben zu müssen, und Stufe vier – in meiner Gegenwart von Julius als »Nachtisch« bezeichnet – erforderte schon ein bisschen Fingerspitzengefühl. Seine Marie war eine Frau, bei der es nur sehr langsam vorangegangen war. Stufen und Phasen konnte er bei ihr vergessen. Sie war ein Krebstier. Immer ein paar Schritte vor und dann mindestens genauso viele zurück. Und wieder vor … Sie hatte keinen Hund dabeigehabt an diesem windigen Tag vor vier Jahren, und er war mit schlafwandlerischer Sicherheit auf sie zugegangen und hatte ihr ein Gespräch aufgedrängt. Heute hätte er nicht mehr sagen können, woher er damals den Mut genommen hatte. Vielleicht war es das untrügliche Gefühl gewesen, dass es nur diese eine Chance geben würde, und er wollte – er durfte – diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Julius hatte sie dort stehen sehen, ganz dicht am Deich, die Hände tief in die Taschen des Trenchcoats geschoben und das Kinn trotzig in den Wind gereckt. Ihre vom Wind zerzausten roten Locken ließen sie wie eine Meduse aussehen, und zum ersten Mal in seinem Leben war Julius Lehmann von einer Frau vollkommen fasziniert.

 

Julius sprach Marie an, und die sagte erst einmal nichts. Sie betrachtete ihn lange und schweigend, und während er einen Satz nach dem anderen hervorhaspelte und dabei immer schneller redete, hellte sich ihr sommersprossiges Gesicht auf. Als er atemlos geendet hatte, sah er in spitzbübisch lachende Augen unter elegant geschwungenen Brauen. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und nahm mit der einen Hand ihre wehenden Haare zusammen, bevor sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ganz dicht an seinem Ohr sagte:

»Ich hab kein Wort verstanden, der Wind pfeift zu laut. Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?«

Julius musste lächeln, wenn er an diese erste Begegnung dachte. Sie war bezeichnend für ihre Beziehung. Marie hatte von der ersten Sekunde an die Führung übernommen, und Julius konnte sich gut daran erinnern, wie er dümmlich grinsend und mit einem eigenartigen Gefühl im Magen hinter ihr hergetrottet war bis zu dem kleinen Kiosk, an dem er sich morgens nach dem Joggen oft einen Becher Kaffee gönnte. Während er mit kalten, steifen Fingern zahlte und mit dem Kioskbetreiber die üblichen Späßchen machte, versuchte er, Marie nicht aus den Augen zu lassen. Er hatte Angst, sie könnte weg sein, wenn er sich mit den dampfenden Pappbechern in Händen zurück an den Stehtisch gesellen würde. Wenn er heute über dieses erste Zusammentreffen mit Marie nachdachte, musste er sich eingestehen, dass ihn die Angst vor einem plötzlichen Verlust seitdem nicht mehr verlassen hatte.

 

Marie war eine eigenwillige Frau, wie Julius schnell begriff. Sie sprach wenig und bedachte ihn meist nur mit einem Blick aus der für sie typischen Mischung aus Amüsiertheit und Langeweile. Sie war Berufstochter, wie sie sich zwischen zwei kleinen Schlucken aus dem Pappbecher bezeichnete, hatte die üblichen Internate und Auslandsaufenthalte hinter sich gebracht und lebte in einem Haus ihrer Eltern. Meistens allein, setze sie in süffisantem Unterton nach. Einen Beruf übte sie nicht aus, wozu auch, und ein Talent für etwas Bestimmtes hatte sie auch noch nicht an sich entdecken können, versicherte sie ihm, während sie in ihren Kaffee pustete. Julius hatte staunend genickt. Sie machte überhaupt keinen Hehl daraus, gern Geld auszugeben, ohne selbst etwas zu verdienen und sie schien auch keinen Ehrgeiz zu besitzen, diese Situation zu ändern. Marie erzählte, dass ihre Tage auch ohne Arbeit ausgefüllt seien, dass sie sich niemandem beweisen müsse und dass sie gern so lebe, wie sie es tue. Ohne Verantwortung für irgendwas oder irgendwen und in den Tag hinein.

»Du bist ein echter Snob,« hatte Julius in einem Anflug von Mut über den Pappbecherrand hinweg bemerkt und eine widerspenstige Stirnsträhne hinter das Ohr verbannt. Wenn er aufgeregt ist oder unsicher, streicht er sich immer die Haare hinter die Ohren, wo sie auf Grund von Länge der Strähne und Beschaffenheit der Ohren jedoch nie lange bleiben. Ich finde das total süß, Marie anscheinend nicht. Sie nahm diese Geste sichtlich unbeeindruckt zur Kenntnis, zog eine Augenbraue hoch und entgegnete mit einem leicht verächtlichen Unterton:

»Ein Snob? Im Rolls Royce heult es sich besser als im Bus, hat das nicht Churchill gesagt? Kann ich nur bestätigen.«

Julius hatte stumm genickt und interessiert die Schlaufe an seinem Kaffeebecher betrachtet. Diese Frau war ein Kaliber für sich.

Mit dieser Einschätzung sollte mein Freund recht behalten.

 

Marie war eine harte Nuss. Sie traf sich mit Julius, aber nicht mehr. Sie redete nicht viel und fragte auch nichts. Sie war nur da und sie ließ sich nicht beeindrucken. Weder von seinen aufregenden Jobgeschichten, die er gern mit ein paar intellektuell angehauchten Ansichten würzte, noch von seinen Kochkünsten. Sie blieb standhaft, viele Kochabende und Deichspaziergänge lang, und wollte sich partout nicht als Nachtisch zur Verfügung stellen. Kurz: Julius musste hart arbeiten für den finalen Erfolg, wie er die erste Nacht mit Marie bezeichnete; er heuerte sogar eine Putzfrau an, um Marie jederzeit mit nach Hause nehmen zu können, ohne sich irgendwelche Gedanken über Wäscheberge und ungepflegte Badezimmer machen zu müssen. Wehmütig dachte Julius an den ersten zarten Kuss, an Maries weiche Lippen, an dieses leise Seufzen, mit der sie jede seiner Berührungen quittierte. Willig tauchte er in diese heile Welt der Erinnerung ein und gab sich ganz seinem Gefühl hin. Er wusste, er hatte sich in Marie verloren. Er hatte sich vollkommen verliebt. Mit Betonung auf vollkommen, denn das war diese Frau für ihn. Er hatte sich in alles an ihr verliebt. In ihre Augen, in ihr Lächeln, in die Art, wie sie sich die Bluse aufknöpfte, wenn sie auf seinem Schoß saß und mehr wollte als nur einen Gutenachtkuss. Gewollt hatte. Schlagartig wurde ihm seine Situation bewusst. Julius spürte Säure in der Kehle aufsteigen und das hatte nichts mit alkoholbedingter Übelkeit zu tun. Er hatte Kummer, er fühlte sich elend, so elendig elend. Piep. Pieeep. Eine SMS. Marie! Julius manövrierte sich zur Bettkante und tastete ungeduldig den Fußboden nach dem Handy ab. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und schaute auf das Display, um das Gerät im nächsten Augenblick mit einer Verwünschung zurück auf den Dielenboden fallen zu lassen. Die SMS war nämlich von mir. Bei allen Affären, Liebesspielen und Tändeleien ist er stets der Erste, den ich über Veränderungen in Kenntnis setze oder den ich mit abgehackten Fragen im Stil von zu Tode gekürzten Kleinanzeigen um Rat und Hilfe bitte. Nun war ich mal wieder soweit. Ich hatte Julius und seinen Trost bitter nötig. Konnte ich wissen, dass es ihm genauso mies ging wie mir? Wohl kaum. Außerdem war ich nervlich am Ende. Ich sah die Bezopfte nicht, aber ich hörte sie geräuschvoll kauen und stellte mit vor, wie ein wirklicher Apfel in einem unwirklichen Mädchenmund verschwindet, denn das möchte ich ganz klar stellen: Ich bin mir vollkommen darüber bewusst, dass die Kleine nur in meiner Fantasie existiert, auch wenn sie noch so real erscheint. Meine Ängste, meine Träume und Hoffnungen lassen sie immer wieder lebendig werden. Um mit Michael Crichton zu sprechen: Ich manifestiere sie. Doch das sei nur am Rande erwähnt. Ich lag also mit dröhnendem Schädel im Bett und versuchte Julius zu erreichen. Als große Taktikerin schicke ich immer erst eine SMS, um zu prüfen, in welcher Stimmung sich mein potentieller Gesprächspartner befindet. Manche Kandidaten rufen sofort zurück, das ist mir am liebsten, dann kann ich ohne langes Vorgeplänkel meine Sorgen loswerden und mich mitteilen. Erhalte ich eine Rück-SMS, weiß ich, ich muss sensibler agieren und vielleicht einen Telefontermin vereinbaren. An diesem denkwürdigen Mittwochmorgen kam nichts. Weder SMS noch Anruf. Meine Schläfen pochten, die Apfelkaugeräusche ließen die Ohren inwendig vibrieren. Diese Kombination machte mich zunehmend aggressiv, zumal von Julius keine Reaktion kam. Nicht mit mir, mein Lieber. Langsam wurde ich wütend. Wozu hat man Freunde, wenn sie nicht antworten? Um diese Tageszeit war Julius mit Sicherheit zu hause – es sei denn, über der Süderelbe wäre ein UFO abgestürzt und Julius hätte die exklusiven Fotorechte ergattert. Soweit ich jedoch informiert war, gab es da lediglich diesen Gerichtstermin heute, an dem er teilnehmen wollte. Doch bis dahin – Uhrencheck – waren es noch mehr als drei Stunden.

 

Also melde Dich endlich, Julius, Bruder, das Elend ist da und es geht nicht mehr weg. Und bitte, keine Kommentare zu Alex. Ihr beiden wart nie die besten Kumpels und das Letzte, was ich jetzt brauche, ist der Spruch »Das habe ich ja immer gewusst«. Bitte, Julius, ruf an. Na mach schon. Sonst rufe ich jetzt an. Auch auf die Gefahr hin, dass sich Marie unter der Bettdecke verschluckt. Julius, nimm gefälligst ab.

»Carla?«

»Allerdings.«

»Hör zu Carla, Carlchen, mir geht’s dreckig. Es ist ein einziges Elend, um genau zu sein. Und ich bin immer noch so besoffen, dass sich die Welt um mich dreht und um elf ist der Pressetermin im Gericht – dieser Kindermörder - und jetzt bitte, bitte: Lass mich noch ein bisschen ausruhen. Ich rufe dich an, sobald alles durch ist, ja? Carla, ist das okay so? Sag doch was, Mensch Carla!«

»Julius.«

»Jaaa…«

»Das Elend ist wieder da, Julius. Und Alex ist weg.«

»Arschloch.«

»Ja, aber trotzdem ist er weg. Verstehst du? Zwischen Pasta und Espresso. Hat einfach die Serviette kleingefaltet, tiny tiny… und dann - tschüss.«

»Ich sag doch, Arschloch. Aber das können wir auch nachher besprechen, ja?«

»Julius.«

»Ja, was denn, mir ist so übel.«

»Ich überleb das nicht. Dieses Mal nicht, verstehst du?«

»Red keinen Stuss, Carla. Du hast sie alle überlebt, wenn ich mich richtig erinnere. Alle.«

»Aber dieses Mal wird es schlecht ausgehen, ich weiß das. Sie sitzt bei mir auf dem Sofa und futtert Äpfel und guckt ganz anders dieses Mal. Ich hab Angst, Julius.«

»Sauf nicht so viel, Carla. Du scheinst ja schon zu halluzinieren. Und wenn ich Alex treffe, erschieße ich ihn eigenhändig. Versprochen.«

»Nein, Julius, nein. Du verstehst nicht. Ich liebe Alex. Und ich werde ihn wohl immer lieben…«

»Und warum erzählst du mir das?«

»Weil du mein Freund bist. Darum.«

»Dein Freund hat einen ekeligen Kater, dein Freund hat keine Frau mehr und wenn unser Telefonat noch länger dauert, hat er auch keinen Job mehr. Lass uns später telefonieren, jetzt muss ich erst mal auf die Beine kommen. Capisci?« Mit einem verächtlichen Schnaufen klappte ich das Handy zu.

»Wer war das?« Das Mädchen stand unvermittelt in meinem Schlafzimmer. Lässig an die Wand gelehnt deutete sie mit ihrem abgekauten Apfel in der Hand auf mein Handy. Ich hatte sie nicht hereinkommen hören.

»Das war Julius.« Sie nickte wissend, als ob sie über die Beziehung zwischen ihm und mir Bescheid wüsste. Ich bewegte mich Richtung Bettkante, setzte mich auf und betrachtete meine unrasierten Beine. Etwas mehr Pflege würde mir gut tun. »Noch mal zum Mitschreiben. Was willst du?« Die Kleine setzte sich mit einer unnachahmlichen Geziertheit neben mich und kam mir mit ihrem schmalen Gesicht ganz nahe. Sie flüsterte fast, als sie sagte:

»Das weißt du ganz genau. Du weißt, warum ich hier bin. Ich entliebe dich. Keine Liebe ist so stark, dass sie mir widerstehen könnte. Ich werde deine Liebe brechen, wenn du bereit bist. Und dann wirst du frei sein. Und bis dahin – wohne ich hier.«

Mit Schwung sprang sie auf und tanzte fröhlich um mein Bett herum. Wobei die Fröhlichkeit aufgesetzt war, denn das Elend hat keine lustigen Seiten. Dann beugte sie sich von hinten über meine Schulter und flüsterte weiter:

»Sei traurig, Carla. Leide. Und lass ihn gehen. Glaube, Liebe, Hoffnung – lass sie sterben, alle drei. Sonst stirbst du. Oder meinst du, dein Herz kann bei so viel Kummer weiterschlagen? Es war angebrochen, verletzt, so oft. Es hat sich immer wieder erholt, irgendwie. Du hast es ausgehalten, und dein Herz hat deinen Schmerz aufgefangen und hat dich vor Bitterkeit und Einsamkeit bewahrt. Aber jetzt ist es genug, Carla. Du bist sechsunddreißig Jahre alt und dein Herz kann nicht mehr. Es muss ausruhen, gesunden, es braucht Heilung und Schutz. Es wird aufhören zu schlagen, wenn du dich nicht entliebst. Also lass ihn gehen, Carla. Lass Alex gehen. Sonst gehst du. Und auf diesem Weg kann dir niemand folgen. Entscheide dich, Carla. Für das Leben. Bitte. Das Leben ist so wunderschön.«

»Das musst du gerade sagen.«

»Wo kein Licht, da kein Schatten, meine Carla. Jeder Mond hat eine dunkle Seite, jeder.«

 

Ich stöhnte auf. Ich wusste, das Elend hatte recht. Wieder einmal. Wir hatten schon so viele Entziehungs- oder besser Entliebungskuren gemeinsam durchgestanden, aber das hier, ich wusste es, würde unser Meisterstück werden. Oder ich scheiterte. Und mein Herz würde endgültig in zwei Hälften zerbrechen und nie wieder ganz werden.

 

Marie stand am Flughafen und schaute auf die Uhr. Manchmal war es geradezu langweilig, wie leicht sich Julius provozieren ließ. So vorhersehbar. Ungeduldig trat sie von einem Bein auf das andere. Wo dieser Typ nur blieb? Es war nicht nötig, am nächsten Tag wieder in der Klatschkolumne aufzutauchen. Natürlich tat ihr Julius leid, ja. Aber das Leben mit ihm war wie ein heiß geliebtes T-Shirt – oft gewaschen und völlig ausgeblichen. Natürlich liebte man so ein Kleidungsstück und wollte sich nicht davon trennen, aber ab und zu brauchte man auch etwas Neues für den Kleiderschrank – und für das Leben. Denn das war mit Julius alles andere als bunt. Sie ignorierte den leichten Schwindel, der sie überkam, und stellte sich mit ihrem Koffer unter die Treppe, die zum Flughafenrestaurant führte. Natürlich hätte sie Julius von ihrer Kurzreise erzählen können. Sie hätte auch sagen können, sie flöge mit einer Freundin – er hätte ihr geglaubt, weil er ihr hätte glauben wollen. Er setzte ihr keine Grenzen, er war immer nur ihr verliebter, duldender Julius. Marie betrachtete sich in der spiegelnden Scheibe der Buchhandlung, die sich genau gegenüber befand, und sie mochte, was sie sah: eine gut proportionierte junge Frau in einem schwarzen Kostüm mit streng zurückgebundenen, schulterlangen, roten Locken. Dieses Businessoutfit war nicht gerade die klassische Bekleidung, um in einen Kurzurlaub zu starten, aber ihr Geliebter – besser ihr baldiger Geliebter – sollte eine nette Überraschung erleben, wenn sie im Hotel eincheckten. Sie trug keine Unterwäsche, und das würde er schnell herausfinden … Ihr wurde ganz heiß vor Lust auf ihre neueste Errungenschaft. Marie wusste, sie hatte ein paar sehr bunte, ja grell bunte Tage vor sich. In Gedanken daran, was ihr Lover und sie die nächsten Stunden alles miteinander anstellen würden, nahm sie ihr Handy und checkte die SMS-Eingänge. Nichts. Keine Nachricht von Julius. Sie gab ihm maximal zwei Stunden, dann würde er ihr das Band volltexten.

»Hallo schöne Frau. So ganz allein auf dem großen Flughafen?« Lächelnd klappte Marie das Handy zu und drehte sich um.

»Jetzt bin ich ja nicht mehr allein«, gurrte sie und presste sich an ihren Begleiter. Sie nahm seinen Duft wahr und spürte, wie ein Schauer sie durchlief. Warum konnte Julius nicht einmal, nur ein einziges Mal, auch ein Eau de Toilette benutzen? Dutzende Flakons hatte sie ihm geschenkt, und alle standen sie unberührt auf seiner Kommode.

»Bekomme ich keinen Kuss?« Maries Begleiter schob sie ein Stück von sich weg und betrachtete sie eingehend. Es war ihm anzusehen, dass er hingerissen war. Marie blickte ihn nur an und sagte mal wieder nichts. Es war nicht nötig, etwas zu sagen, bei keinem Mann. Die Dinge entwickelten sich immer irgendwie, und je schlechter und uninteressierter sie einen Mann behandelte, desto mehr Mühe gab er sich im Bett, um endlich ihre Anerkennung zu bekommen. Sie lächelte wie eine Sphinx, nahm ihre Handtasche, und anstatt ihn zu küssen, deutete sie mit dem Kopf zum Abflugschalter.

»Wollen wir? Es ist Zeit, glaube ich.« Mit einem leichten Gefühl der Genugtuung sah sie, wie ein Schatten der Enttäuschung über sein Gesicht huschte, und hakte sich bei ihm ein.

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3.

Annika ist meine Freundin. Biologisch gesehen ist sie meine Schwester, aber was heißt das schon. Wir sind so unterschiedlich, wie Frauen nur sein können, aber uns verbindet eine Nabelschnur aus tiefem Respekt und dem Wunsch, dass es der anderen immer gut gehen möge. Annika und Alex haben sich nie verstanden. Das hat mich wiederum nie beunruhigt; schließlich findet sich dieses Phänomen, dass sich beste Freundin und Lover nicht ausstehen können, ziemlich häufig. Scheint eine Form von pathologischer Eifersucht zu sein. Ich fand es immer amüsant und habe dem nie Bedeutung beigemessen. An diesem Mittwochmorgen betrachtete ich die Dinge auf einmal in einem anderen Licht. Vielleicht hatte Annika ihn immer so gesehen, wie er wirklich ist. Wobei – was bedeutet wirklich? War Alex wirklich so oberflächlich, so sehr charming guy, war er wirklich immer auf seinen Vorteil bedacht, und benutzte er wirklich alle Frauen nur zu seinem Zweck? War er der »D.I.D«, wie Annika immer sagte, wenn sie von ihm sprach, war Alex wirklich der »Devil in Disguise«? Ach, Annika, wenn ich gewusst hätte, was im Laufe der Woche noch alles geschehen würde … Doch zurück zum Mittwochmorgen.

 

Ich saß also auf der Bettkante, das Elend dicht an meiner Seite, und dachte nach. Es war bereits nach halb acht, ich musste schnellstens ins Büro, wenn ich meinen Neun-Uhr-Termin nicht verpassen wollte. Ich muss erklären, dass ich Perlentaucherin bin. Den ganzen Tag lese ich mich durch Manuskripte, die besser nie das Licht der Welt erblickt hätten; ich arbeite mich stoisch durch einen Berg von leeren Muschelgehäusen, immer auf der Suche nach einer Perle. Und manchmal stoße ich auf eine und bin glücklich. Für neun Uhr war ein Termin mit einem höchst talentierten Nachwuchsschreiber angesetzt; zum Glück wusste der Junge noch gar nicht, wie gut er ist. Zum Glück deshalb, weil Autoren beim ersten Erfolg schnell denken, sie schaffen alles allein und haben die Unterstützung ihres Agenten nicht mehr nötig. Dabei hätte so manches Buch nie das Licht der Welt erblickt, wenn sich nicht ein überzeugter Perlentaucher dafür bei den Verlagen starkgemacht hatte. Ich weiß, was man jetzt denken könnte. Und damit liegt man auch ziemlich richtig. Hier geht es nicht um den Schöngeist, sondern, wie in jedem anderen Wirtschaftsbereich, um das liebe Geld. Der Autor mag sich als Künstler fühlen, und bis zu einem gewissen Grad lassen wir ihn in diesem Glauben, aber diejenigen, mit denen wir wirklich kommerziell erfolgreich zusammenarbeiten, haben es verstanden, ihre Fantasie mit den Gesetzen des Literaturbetriebs in Einklang zu bringen.

 

Ich stand langsam auf, um zu duschen. Das Elend begleitete mich geräuschlos bis zur Badezimmertür und blickte mich aus großen Augen vollkommen teilnahmslos an. Ich nahm mein Duschgel, stieg in die Wanne, zog den Vorhang zu und stellte die Wassertemperatur auf heiß. Während ich meine Haare wusch und dabei den Kokosduft genoss, der mich wie eine Wolke umhüllte, sah ich interessiert zu, wie das schaumkronige Wasser in kleinen, sich stetig verjüngenden Kreisen im Ausguss verschwand. Ich empfand nichts. Für einen kurzen Moment glaubte ich zu hören, wie Alex sich die Zähne putzte, aber als ich durch den Spalt des Vorhangs lugte und einen Blick zum Waschbecken warf, war dort natürlich niemand.

 

Irgendwann stellte ich das Wasser ab und stieg aus der Wanne. Das Bad lag wie in heißen Nebel getaucht. Die Luftfeuchtigkeit hatte die Fliesen benetzt und rann in lang gezogenen Tropfenfäden dem Boden entgegen. Der Spiegel war vollkommen beschlagen, was ich mit einem dankbaren Lächeln quittierte. Ich öffnete die Badezimmertür, um etwas Luft in den Raum zu lassen, da sah ich sie dort stehen. Regungslos. Sie schien sich nicht bewegt zu haben und sah mich genauso unbeteiligt an wie vorhin, als ich die Badezimmertür hinter mir zumachte. Ohne auf die Uhr zu sehen, wusste ich, dass ich mich beeilen musste. Der Termin um neun war verdammt noch mal wichtig. Piep. Pieeep. Leise hörte ich den SMS-Ton meines Handys. Es lag wohl noch neben dem Bett. Aufgeregt schoss ich am Elend vorbei und stürmte ins Schlafzimmer. Ein Blick auf das Display – mit einem enttäuschten Lächeln legte ich das Gerät behutsam auf die große, meinem Bett gegenüberstehende Wurzelholzkommode: eine Nachricht von Annika. Meine Schwester hat eine sehr spezielle Art, einem ihre Stimmung per SMS mitzuteilen, und an jedem anderen Tag hätte ich wohl geschmunzelt und sie angerufen – heute war mir nicht danach. Später, irgendwann, vielleicht. Nicht böse sein, Schwesterherz.

 

»Du gehst weg?« Die Stimme des Mädchens klang dünn und weinerlich. Es beobachtete, wie ich mein Make-up im Spiegel begutachtete, und machte einen Schritt auf mich zu. Noch einmal erhob es seine klagende Stimme.

»Du gehst weg?«

»Das siehst du doch.«

Ungeduldig schob ich mich an ihr vorbei, griff nach meinem Mantel und einem Schal und zog den Schlüssel aus der Wohnungstür. Ich spürte das Elend wie einen kalten Hauch im Rücken, der Geist wollte mich nicht gehen lassen.

»Du solltest hier bleiben.«

»Wüsste nicht, warum.«

Das Mädchen seufzte tief, biss herzhaft in seinen Apfel und nuschelte mit vollem Mund:

»Du musst dir Zeit nehmen. Zeit für dich und deine Trauer. Du hast gestern deine Liebe verloren, und dein Herz ist entzwei, hast du das schon vergessen?« Ich hörte sie schmatzen. Es war ekelhaft.

»Ich habe jetzt keine Zeit, um traurig zu sein. Ich muss jetzt meine Brötchen verdienen. Trauer ist Luxus, sieh es einfach mal so. Heute Abend kann ich schwach sein. Jetzt nicht.«

Das Elend machte einen Satz und war auf einmal neben mir an der Tür. Den Stiel des Apfels drehte es zwischen seinen kleinen weißen Spinnenfingern hin und her, alles andere schien es schon vertilgt zu haben.

»Du nimmst dir nie Zeit für Gefühle. Und du bist nie wirklich schwach. Du hältst alles aus. Du bist widerlich.« Die letzten Worte spuckte mir die Kleine förmlich entgegen.

»Geh doch zum Teufel, du Wechselbalg.«

Ich ließ ihr keine Gelegenheit, etwas zu erwidern, und knallte die Tür zu.

 

Der Weg ins Büro erschien mir endlos an diesem Morgen. Das lag nicht nur daran, dass ich viel zu spät dran war und mich jede zusätzliche rote Ampel kostbare Minuten kostete – ich wollte nicht weiter nachdenken. Ich wollte mich in meine Arbeit stürzen, nach Perlen tauchen und Alex vergessen. Zumindest bis zum Abend. Es sollte mir nicht gelingen. Mein Weg in das kleine Büro in der Altstadt führte am Jungfernstieg vorbei, und ob ich es wollte oder nicht, ich sah sein Auto schon von Weitem auf dem kleinen Parkplatz vor seinem Büro stehen. Kurz überlegte ich, ob ich anhalten und ihm einen Zettel unter den Scheibenwischer klemmen sollte. In schwachen Momenten neige ich zu solchem Unsinn und mache dadurch Probleme oft noch größer, als sie ohnehin schon sind. Ich wusste, dass Alex es nicht leiden konnte, wenn ich ihm Zettel hinter die Wischerblätter steckte, aber das war mir egal. Ich parkte im absoluten Halteverbot, drückte auf den Knopf der Warnblinkanlage und kramte in meiner Tasche nach Schreibzeug. Das Hupkonzert hinter und neben mir ignorierend, malte ich einen Smiley auf den kleinen, gelben, selbstklebenden Zettel und schrieb mit zitternder Hand darunter: Wie geht es dir? Denk an dich … Kuss Carla

Dann stieg ich aus und versuchte, die wenigen Schritte bis zu seinem Wagen möglichst souverän hinter mich zu bringen. Als ich ein vertrautes Geräusch hörte, hielt ich inne. War das nicht Alex, der da lachte? Mit zwei Sätzen war ich zurück in meinem Auto. Und wirklich. Er kam aus der Drehtür und lachte aus vollem Herzen. Neben ihm ging eine junge Frau, die sich ebenfalls kaum vor Lachen halten konnte. Gemeinsam stolperten sie zu seinem Fahrzeug und stiegen wild gestikulierend ein. Habe ich schon erzählt, dass Alex einen alten Alfa Spider fährt? Aus der Generation mit Gummilippe. In Ozeangrün metallic. Während Alex den Rückwärtsgang einlegte und nach einem quietschenden Wendemanöver auf die Schranke zufuhr, klappte seine Beifahrerin mit geübter Hand das Verdeck von innen ein. Sie musste es schon öfter gemacht haben, denn wer die Eigenheiten dieses Autos nicht kennt, bricht sich beim Versuch, das Verdeck zu öffnen, die Nägel ab. Ich sah den beiden nach, die immer noch um die Wette gackerten, und zerknüllte den kleinen gelben Zettel in der Hand.

 

Gesa machte mir schwungvoll die Tür auf; ich hatte meine Büroschlüssel zu Hause liegen lassen und Sturm geläutet. Falls sie einen Kommentar auf den Lippen gehabt hatte, so schluckte sie die Bemerkung in dem Moment hinunter, als sie in meine Augen sah. Gesa hatte sofort begriffen. Ich hatte nicht einfach nur verschlafen oder getrödelt. Ich hatte Kummer. Wortlos ließ sie mich an sich vorbeihasten und schloss die schwere Tür behutsam hinter uns. Dann holte sie mich mit schnellen Schritten ein, legte mir von hinten den Arm um die Hüften und zog mich in die Küche. Während sie uns einen Kaffee eingoss, blickte sie mich unverwandt und ruhig an. Da war keine Neugier in ihrem Blick, nur Verständnis. Sie reichte mir den Kaffeebecher und sagte leise:

»Alex ist weg, hab ich recht?«

Ich nickte und hielt mich krampfhaft an meiner Tasse fest, während ich mit den Tränen kämpfte. Ich sah Gesa an. Sie ist nicht meine Freundin, eigentlich kenne ich sie privat so gut wie gar nicht, aber sie ist eine verlässliche Partnerin, mit der ich, was die Perlentaucherei betrifft, absolut auf einer Wellenlänge schwimme.

»Ist der Termin schon da?«

Bewusst wollte ich einer Betrachtung meiner Gefühlslage ausweichen und auf das Thema Job umschwenken. Gesa lächelte.

»Der sitzt im Konfi und ist aufgeregt. Aber jetzt sag mal. Was ist denn los?« Ich stierte in meinen Kaffee und holte tief Luft.

»Wir haben gestern Abend gekocht, und er hatte diesen Nulllinie-Blick. Du weißt schon. Er hat mich angeguckt, als wäre ich eine Topfpflanze. Natürlich war er nett, ja sogar lieb … aber er war nicht bei mir. Nicht wirklich. Und dann«, jetzt fing ich doch an zu heulen, »dann hab ich ihn im betrunkenen Zustand gefragt, was los ist. Und ihm sein Stichwort gegeben. Er hat gesagt, dass es aus ist, dass es ihm leidtut, und dann ist er weg. Einfach so.«

Dass ich ihn gerade mit einer anderen Frau gesehen hatte, verschwieg ich. Gesa sollte nicht denken, dass ich Alex nachspionierte. Meine Partnerin schien nachdenklich.

»Und du hast nichts bemerkt?« Gesa rührte in ihrer Tasse.

»Nein … abgesehen von sechs sexfreien Wochen hab ich nichts bemerkt. Hätte ich?« Gesa schluckte und kniff kurz die Augen zusammen, bei ihr ein Anzeichen dafür, dass sie etwas genervt ist. Sie sah mich an.

»Dafür kenne ich Alex zu wenig«, sagte sie vorsichtig und deutete mit dem Kopf auf die Tür des Besprechungszimmers. »Was meinst du – hältst du den Termin durch? Können wir uns heute Mittag weiter unterhalten? Dann sollten wir uns jetzt um unseren kommenden Shootingstar kümmern.«

Sie lächelte mich lieb an. Das machte mir Mut. Ich nickte. Wir stellten fast synchron unsere Becher ab, knöpften unsere Jacketts zu und marschierten zur Tür.

»Showtime!« Gesa blickte mich aufmunternd an, dann griff sie nach der Klinke und lachte im nächsten Moment fröhlich unserem Besucher entgegen, der fast erschrocken von seinem Sitz hochgeschnellt war. The show must go on, dachte ich dumpf und reichte dem Schreiberling mit meinem strahlendsten Lächeln die Hand.

 

Julius starrte auf seinen Monitor. Das aufgeregte Gewusel der anderen Redakteure um ihn herum nahm er nicht wahr. Vor dem Gerichtstermin wollte er sich noch schnell mit seiner Volontärin abstimmen. Er war spät dran, aber von Suse war nichts zu sehen. Sein Schädel dröhnte immer noch; es war nicht so sehr der hartnäckige Kater, sondern vielmehr die Stille, diese unendliche Stille, die sich paradoxerweise wie ein monotones Rauschen in seinem Kopf breitgemacht hatte. Marie war weg … war weg … war weg. Sie hatte ihn wieder einmal verlassen, und jetzt, da sie nicht mehr da war, war sie umso mehr in seinen Gedanken. Sie hatte ihm sein Herz gestohlen, ganz und gar. Früher hatte er gelacht, wenn er diese Artikel im typischen Yellow-Press-Stil gelesen hatte mit Überschriften wie »Mann stirbt an Liebeskummer«, und nun hatte ihn dieses Lachen eingeholt. Sie war weg … ihre roten Locken hatten neckisch gewippt, als sie entschlossen den Kopf in den Nacken geworfen, ihm – zum wievielten Mal eigentlich? – Ignoranz und Selbstherrlichkeit vorgeworfen hatte und ihm erklärte, dass sie nun endlich eine Entscheidung treffen müsse. Und das war – zum wievielten Mal eigentlich? – eine Entscheidung gegen ihn gewesen.

»Julius.« Die Stimme der Volontärin riss ihn aus seinen Gedanken.

»Hm?« Langsam nahm er den Bildschirmschoner auf seinem Monitor wahr.

»Julius.«

»Ja was denn!« Diese Frau war eine Nervensäge. Er würde ihr höchstpersönlich ihre Siebensachen zum Auto tragen, wenn ihre Zeit hier in der Abteilung zu Ende war. Zu Ende … schrecklich. Er war sofort wieder bei Marie, seiner schönen, kapriziösen, nimmersatten, anstrengenden Marie. Seine Freundinnen davor waren alle vom Kaliber »alltagstauglich« gewesen. Und nun das. Ein Feuer, das jederzeit auflodern konnte, ein Waldbrand, der nicht zu löschen war. Julius fiel es schwer, sich unter Kontrolle zu halten. Er bewegte die Maus, damit dieser elende Bildschirmschoner endlich verschwand, flammende, beflügelte Herzen, die sich pulsierend aufblähten und dann zu einem »I love you« morphten.

»Julius!« Diese Frau legte wirklich eine unerträgliche Hartnäckigkeit an den Tag. Sie würde es weit bringen. Sehr weit sogar. Wahrscheinlich würde sie in ein paar Jahren seine Chefin sein … Er lächelte in Richtung Bildschirm und wünschte das Mädchen zum Teufel. Dann beschloss er gönnerhaft, ihr seine Aufmerksamkeit zu schenken.

»Ja doch!« Julius drehte sich ruckartig um und strich sich mit einer einstudierten Geste die langen braunen Haare aus der Stirn und verbannte die Strähne hinter sein linkes Ohr, wo sie sich für ein paar Minuten brav halten sollte, bevor sie mit der nächsten Kopfbewegung wieder ihre alte Position einnehmen würde. Die Reaktion entsprach seiner Erwartung. Suse starrte ihn wie magnetisiert an. Er grinste innerlich. Es war so einfach …

»Ja was denn nun?« Julius setzte eine strenge Miene auf und genoss die Situation. Die Gesichtsfarbe seiner Volontärin wechselte von Weiß zu Rot zu Weiß. Rotfleckiges Weiß. Sie hatte wohl gerade den Mann in ihm entdeckt. Für einen kurzen Moment ging es ihm wieder besser.

»Kann ich heute früher gehen? So um drei?«, kam es piepsig aus ihrem Mund. Wäre ihm nicht so elend zumute gewesen, hätte er laut losgebrüllt.

»Wieso das denn?« Er bemühte sich, seiner Stimme einen irritierten Unterton zu verleihen.

»Meine Schwester ist in der Stadt. Sie hat nur heute Abend Zeit, und da wollte ich …«

Julius machte eine abwinkende Handbewegung und drehte sich genüsslich auf seinem Stuhl hin und her. So viel Zeit musste sein.

»Schwester?« Er zog ironisch die Brauen hoch und verbannte die besagte Haarsträhne erneut hinter das linke Ohr. Treuherzig sah er das Mädchen an.

»Wenn das die Schwester mit dem Dreitagebart ist, mit der ich dich seit ein paar Tagen immer hier nebenan im Coffeeshop sehe, dann viel Spaß.« Suses Gesicht glühte auf. Ihre Augen bekamen einen ganz eigenartigen Glanz und schienen viel dunkler als im Moment davor. Julius schämte sich.

»Ist schon okay, Susilein.« Er berührte sie leicht am Arm. »Ich hab’s nicht so gemeint. Genieß den Tag – und sei nett zu deiner SCHWESTER …« Er betonte jede Silbe und machte eine gönnerhafte Geste Richtung Fahrstuhl. Die Abstimmung mit ihr konnte er sich sparen. Die Kleine war total verknallt und unkonzentriert. Arbeitsuntauglich. Genau wie er. Nur dass er zu allem Überfluss noch einen Kater der übelsten Sorte zu verkraften hatte. Er seufzte und wiederholte die Handbewegung.

»Na geh schon.«

Das Mädchen war entzückt. Sie presste die Hände vor sich auf die Brust, wiegte sich hin und her und dann, nach einem Moment des Innehaltens, sprang sie Julius an und küsste ihn mitten auf den Mund.

»Danke, Mann.« Ihre Augen schwammen in Tränen. Das Rendezvous schien wichtig zu sein. »Du … du bist der tollste Chef der Welt. Du weißt, was Frauen fühlen. Danke!« Und weg war sie. Julius wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. Er wusste, was Frauen fühlen, ja. Er war ein Frauenversteher wie aus dem Bilderbuch. Und er wusste, was sie anmachte, was sie erwarteten, worauf sie abfuhren, wie man sie erregte, wie man sie müde redete, rumkriegte, befriedigte. Aber eins wusste er nicht und würde es wohl nie erfahren: wie Frauen wirklich tickten. Warum sie so agierten und nicht anders. Warum sie so logisch und doch unlogisch handelten. Unkontrollierbar. Scheinbar ohne Plan. Und doch so erfolgreich. Er starrte auf das sich aufblähende Flammenherz, und eine Woge des Selbstmitleids überkam ihn. Er liebte Marie. Wusste sie das eigentlich? Und überhaupt. Was wusste er von Marie? Sie war eine gelangweilte Zicke, immer auf der Suche nach einem neuen Kick. »Ich bin ein Gefühlsjunkie«, hatte sie oft erklärt, als könnte sie damit ihre Auftritte und Abgänge und die ganze Extrovertiertheit in den Situationen dazwischen erklären.

»Julius!«

Nicht schon wieder, dachte er, lasst mich doch alle in Ruhe heute. Er sah, wie die Herzen morphten.

»Julius!«

Er registrierte, dass es eine männliche Stimme war. Konnten sie ihn heute nicht verschonen? Einfach mal links liegen lassen, nur so? Der Mann hinter ihm räusperte sich. Die Absätze seiner Schuhe machten ein ungeduldiges Klack-Klack, Klack-Klack, mit Betonung auf dem zweiten Klack. Das war Roger, der Chef vom Dienst »i vau«, in Vertretung.

»Julius!«

Wie oft musste er seinen Namen heute noch hören. Das war ja nicht auszuhalten. Er spürte, wie der Mann dicht neben ihn trat. Unwillkürlich rollte Julius mit seinem Stuhl ein Stück zur Seite.

»Roger!«