Aliens Schicksal - J.F. Angel - E-Book

Aliens Schicksal E-Book

J.F. Angel

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Beschreibung

In einer Welt, in der Schönheit oft als Maßstab für Erfolg gilt, erzählt "Aliens Schicksal" die bewegende Geschichte eines Mannes, dessen Leben von Hürden geprägt ist. Alien, ein unfreiwilliger Außenseiter, wurde wegen seines Aussehens gehänselt und gemobbt. Doch seine Entschlossenheit führte ihn nach Deutschland, in die Hoffnung auf ein besseres Leben. Das Leben in einem fremden Land, geprägt von finanziellen Sorgen, stellt Alien vor unüberwindbare Herausforderungen. Sein Kleinwuchs und äußerliche Unterschiede machen ihn zur Zielscheibe von Vorurteilen und Diskriminierung. Inmitten dieser Dunkelheit findet Alien ein unerwartetes Licht der Hoffnung - Lisa, eine wunderschöne, hochgebildete Frau wohlhabender Eltern. Ihre Liebe überwindet gesellschaftliche Barrieren, doch das Schicksal hat andere Pläne. Ein erschütterndes Unglück stellt ihr Leben auf den Kopf. "Aliens Schicksal" ist ein ergreifender, auf wahren Begebenheiten basierender biografischer Roman über die Kraft des menschlichen Geistes, die Schönheit innerhalb und die unbezwingbare Liebe, die gegen alle Widrigkeiten besteht. Eine Geschichte, die zeigt, dass das wahre Glück oft jenseits äußerlicher Merkmale und sozialer Normen zu finden ist. Mit dem Unglück, das Alien am Ende widerfährt, nimmt die Geschichte eine andere Wendung ...

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INHALT

Anmerkung des Autors

Ich widme dieses Buch

1. Kapitel: Port-au-Prince, Donnerstag, den 11. Januar 2018

2. Kapitel: Beim Oheim

3. Kapitel: Der Weg nach Deutschland

4. Kapitel: Baden-Württemberg, 15. September 2018

5. Kapitel: Lisas Familie

6. Kapitel: Alien nach dem Anfall

7. Kapitel: Die ersten Hürden in Deutschland, 15. November 2018

8. Kapitel: Der Millionär

9. Kapitel: Obdachlos im Aurachtal. Der kosmische Besucher, 7. Dezember 2018

10. Kapitel: Obdachlos im Aurachtal. Aliens Lebensbericht, 7. Dezember 2018

11. Kapitel: Georgs Plan fürs Stalken, 23. Dezember 2018

12. Kapitel: Der Weg zur Besserung

13. Kapitel: Anfang einer Fernbeziehung

14. Kapitel: Lisa wird Opfer von Cyberkriminalität und Spionage

15. Kapitel: Alien mit Angela. Erneuter Traum, Freitag, 29. März 2019, in Herzogenaurach

16. Kapitel: Chen Lu

17. Kapitel – Lisa in München (1. Mai)

18. Kapitel: Alien erneut bei seinem Psychotherapeuten

19. Kapitel: Alien besucht Lisa und macht Versprechen

20. Kapitel: Lisas Stalker (Chen Lu)

21. Kapitel: Alien trifft Peter und verbringt Zeit mit Lisa

22. Kapitel: Alien und das Tagebuch

23. Kapitel: Ermittlungen gegen Lisas Stalker, 25. Juni 2019

24. Kapitel: Detektiv Steven Thompson (25. Juli 2019)

25. Kapitel: Melissa in Sorge; Alien und das Tagebuch

26. Kapitel: Das göttliche Wesen bei Alien

27. Kapitel: Trennung von Alien und Lisa

Epilog

ANMERKUNG DES AUTORS

Typische Aliens stellen wir uns als kleine grüne Männchen (mit großen kahlen Köpfen und riesigen Augen) fremder Planeten vor, die sich auf fremden Schiffen durch den Weltraum bewegen. Ich vermute, dass diese Vorstellung hauptsächlich darauf zurückzuführen ist, dass der Schriftsteller H. G. Wells die Aliens so in seinem Roman »Krieg der Welten« darstellt.

Aber die Fantasie hat mit der Realität wenig zu tun, denn ein kleines Handicap oder eine Andersartigkeit reichen schon aus, um jemanden daran zu hindern, seinen Platz und seine Mission auf diesem Planeten zu finden und aus ihm einen Alien zu machen. Dieser Roman handelt von Alien, einem jungen Haitianer, der anders auf die Welt gekommen ist und genau aufgrund seiner Andersartigkeit ständig von Kindheit an überall gehänselt und gemobbt wurde. Hinzu kommt die Tatsache, dass er rituellem Missbrauch zum Opfer gefallen war, was später dazu führte, dass er die Welt anders sah und sich anders verhielt als die ihn umgebende Gesellschaft. Und dieses Andersverhalten, sein Mangel an Sozialkompetenz und allerlei Ausgrenzung zwangen ihn dazu, seine Hoffnung auf Besserung und die Idee von Glück zu begraben, bis er nach Deutschland einreiste und Lisa plötzlich traf, die ihm für eine Weile erlaubte, wieder zum Leben zu erwachen. Leider verwandelte sich diese Liebesgeschichte am Ende in eine Tragödie.

Wenn die Kunst eine Enthüllung der Wirklichkeit ist, dann hat sie selbstverständlich auch ihre Regeln, Werte und Normen. Deshalb ist es wichtig, die Kunst zu beobachten und von ihr zu lernen. Dieser Roman versucht, die Probleme der moralischen Kompetenz des Menschen und unserer Gesellschaft offenzulegen, aber er bleibt trotz allem ein Roman. Was also falsch ist, muss identifiziert und, wenn möglich, in Zukunft korrigiert werden.

Millionen sind Aliens, die sich auf der Erde fremd fühlen oder sogar in ihrer Familie und im Freundeskreis das Gefühl haben, fehl am Platz zu sein. Sie werden gedemütigt, gemobbt und ausgegrenzt, sei es bewusst oder unbewusst. Folglich wünschen sie sich, aus dem Hier und Jetzt zu entfliehen und ihrer Qual ein Ende zu setzen. Das ist die Realität vieler Aliens, und deswegen muss sich unsere heutige Gesellschaft der Realität stellen und ihr Menschenbild überdenken, wenn sie jemals zu Toleranz, respektvollem Miteinander und sozialer Gerechtigkeit gelangen will.

Als ich mich entschloss, dieses Buchprojekt zu starten, setzte ich mir das primäre Ziel, meine eigenen Gefühle zu Papier zu bringen, mächtige Heilkräfte in Gang zu setzen und meinen Schmerz zu lindern, weil die Regenwolke nicht mehr weiterzog. Aber je mehr ich schrieb, desto klarer wurde mir, dass dieses Buch ein höheres Ziel haben könnte. Kein Eigeninteresse darf bestehen, wenn es ein höheres Ziel zu verfolgen gilt.

ICH WIDME DIESES BUCH …

… allen unerfahrenen jungen Menschen, auf die die Welt noch wartet, um von ihnen erkundet zu werden. Dieses Werk beansprucht nicht, höchsten stilistischen Ansprüchen zu genügen, und hält sich nicht an etwaige konventionelle »Regeln eines perfekten Romans«, sofern es solche denn gibt. Jedoch enthält der Roman eine tiefgründige geheime Botschaft, aus der der Leser eine Lehre ziehen kann, vorausgesetzt, dass er ihn bis zum Ende liest. Dieses Buch fokussiert sich auf Liebe, Trauer, Resilienz, Spiritualität und die Mängel der Moralkompetenz unserer Gesellschaft.

… allen Kindern, die als Andersartige in die Welt gekommen sind oder die das Gefühl haben, auf diesem Planeten fehl am Platz zu sein, und die konstant nach ihrer Identität suchen müssen. Dieses Buch kann ihnen ein Spiegel sein, in dem sie sich erkennen.

… den Hoffnungslosen, die sich im Leben verloren fühlen und verzweifelt nach Glück suchen. Sie, lieber Leser, müssen das Folgende wissen: Um glücklich zu werden, zählt nichts außer Ihrer Denkweise, nicht Ihre Hautfarbe, nicht Ihre ethnische Zugehörigkeit, nicht Ihre Bildung, nicht Ihr sozialer Status, nicht Ihre Größe, nicht Ihr Alter und Ihr Aussehen. Wenn Sie glücklich werden und Ihre Ziele erreichen wollen, müssen Sie zuerst Ihre Weltsicht ändern, denn alles um Sie herum ist nur eine Simulation. Dieser Liebesroman dreht sich nicht ausschließlich um das Thema Liebe. Wenn Ihr Herz also unruhig schlägt, mögen Sie Frieden und Trost dank Erfahrungen anderer finden. Mögen Sie das Unsichtbare sehen und Ihren Platz in der Welt finden, um Ihre Spuren zu hinterlassen!

»Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse

»Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.«

Friedrich Nietzsche

1. KAPITEL: PORT-AU- PRINCE, DONNERSTAG, DEN 11. JANUAR 2018

Es war ein trister Januarmorgen; die Strahlen der Sonne erklommen allmählich das Häuschen, als der muskulöse, schlanke junge Mann am Tisch saß und an seinem Kaffee nippte. Hinter ihm an der Wand hing ein Bild, das eine Sanduhr zeigte und das mit folgendem Spruch versehen war:

Nimm deinen Platz ein!

Hinterlass deine Spur!

Lebe dein Leben!

Und wisse: Die Zeit wird nicht

immer auf deiner Seite sein.

Alien rief seine Mailbox auf und stieß auf die sehr förmliche Rückmeldung der deutschen Auslandsvertretung. Während der 1,45 Meter große junge Mann anfing, die E-Mail zu lesen, auf die er bereits seit mehr als zwei Monaten gewartet hatte, berührte das obere Viertel der Sonnenscheibe gerade den Horizont. Es war ganz ruhig, nichts war zu hören, nicht einmal der Flügelschlag eines Vogels zerriss die Stille.

Das war vor mehr als zwei Jahren gewesen, und Alien war von seinem Ziel, nach Deutschland zu gehen, immer noch weit entfernt. Er hatte sich schon genug angestrengt und sein ganzes Erbe auf eine Karte gesetzt in der Hoffnung, ein Einreisevisum zu bekommen. Leider war das Ergebnis nichts anderes als eine enttäuschende Antwort. Schon der Anfang der E-Mail hatte ihn auf die Palme gebracht: »Sehr geehrter Herr Alien Jean-Jacques, die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland bedauert, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihrem Antrag auf Erteilung eines Visums zum Zweck des Studiums nach Bearbeitung Ihres Vorgangs auf Grundlage der geltenden ausländerrechtlichen Bestimmungen nicht entsprochen werden kann.« Die ersten Zeilen hatten ihn so gelähmt, dass er nicht mehr weiterlesen wollte. Es war ein Gefühl aus Wut, gemischt mit Frustration und Trauer. Man konnte ihn als Defätisten abstempeln. Plötzlich wurden Stresshormone bei ihm ausgeschüttet. Sein Herz raste, sein Atem ging schneller. An diesem Tag ergriffen Ärger und Enttäuschung von ihm Besitz. Eine Enttäuschung, die sein Leben stark prägen würde. So ein entsetzliches Desaster konnte selbst den Mutigsten der Mutigen der Welt dazu bringen, sich zu fragen, warum er überhaupt weiterleben sollte. Selbst die psychisch stärksten Menschen auf der Welt wären versucht, endlich das Handtuch zu werfen, nicht mehr zu kämpfen, nicht mehr zu hoffen und die Zukunft dem Schicksal zu überlassen.

Es war leider nicht die Antwort, die er sich gewünscht hatte. Nicht die Antwort, die ihm das Gefühl vermitteln würde, dass seine beiden Schweine nicht umsonst verkauft wurden. Nicht die Antwort zugunsten eines Studiums, aber es war trotzdem eine Antwort. Er lag nachdenklich auf dem Bett mit Blick an die Decke des Häuschens. Die Ziffern auf seinem Handydisplay kündeten 8.30 Uhr.

Er hatte es endlich satt. Es blieb ihm nichts übrig, als die Entscheidung zu treffen, sich nie wieder den Kopf wegen einer eventuellen Reise nach Deutschland zu zerbrechen, nie wieder darüber zu fantasieren, dass er eines Tages nach Deutschland fliegen würde. All seine Träume versanken in Hoffnungslosigkeit, nachdem sein Antrag auf das Schengenvisum bei der deutschen Botschaft in Santo Domingo erneut ein Schlag ins Wasser gewesen war.

Er stand auf. Schaute auf das Regalfach, wo das Tagebuch lag. Das Tagebuch, das ihm sein Vater vor zwei Jahren hinterlassen hatte. Staubig und dick. Er nahm es, fasste es, blies den Staub hinunter. Es war das Tagebuch seiner Herkunft. Darin war die Geschichte seiner Vorfahren während der französischen Kolonialzeit beschrieben. Das, was sie erlebt hatten, bis sie sich endlich von der Sklaverei befreit und dafür blutig bezahlt hatten. Er wusste, was es bedeutete, ein Sklave zu sein und nicht nur seine natürliche Freiheit, seine bürgerliche Freiheit zu verlieren, sondern auch das Recht auf Eigentum. So unterstützte er die Idee, dass die Freiheit nicht als Geschenk des Himmels erbeten, sondern nur auf Kosten von Opfern genommen werden könne.

Aus Desinteresse hatte Alien das Tagebuch nie gelesen, sondern nur durchgeblättert. Trotzdem fühlte er sich mit ihm äußerst verbunden. Sein Vater - obwohl er das Lesen nicht sehr gut beherrschte - hatte oft darin gelesen, besonders bevor er zu Bett gegangen war. Dies war auch nicht verwunderlich, denn er hatte danach gestrebt, die wahre Natur des Menschen zu erkennen, den Ursprung des Bösen besser nachzuvollziehen. Sein Vater hatte zu ihm einmal gesagt, nur das Tagebuch mehrmals gelesen zu haben, habe ihn tapfer und weiser gemacht. Es gebe wohl kaum etwas Schöneres, als wenn man seine Identität und Herkunft nicht verstecke. Laut seinem Vater war es sinnlos, wenn man versuchte, seinen Hintergrund, seine Größe, seine Vergangenheit, seine Vorfahren, seine angeborene Natur loszuwerden. All diese Dinge sollten akzeptiert werden. Sein Vater hatte sich während seiner Lebenszeit durch seine Handlungen bereit gezeigt, für seine eigene Überzeugung und Begeisterung, für seinen Glauben und seine Passion zu sterben.

In der kleinen Wohnung duftete es nach Zitronengras. Das lag daran, dass sein Vater ein paar solcher Pflanzen vor der Wohnung gepflanzt hatte. Das Zimmerchen, in dem sich Alien gerade befand, war erfüllt von einem Aroma, das einen in eine atemberaubende Welt versetzen konnte. Er legte das Tagebuch wieder in das Regalfach zurück. Von alldem, was ihm hinterlassen worden war, gefiel ihm dieses Dokument am besten. Es war für ihn Trost und Erinnerung zugleich, um seine Eltern niemals zu vergessen. Wer hätte vor zwei Jahren gedacht, dass Alien ab heute Vollwaise sein würde? Nach dieser Tragödie erkannte Alien, wie schwierig und kompliziert das Leben war und dass es sich jeder Kontrolle entzog.

Es war zwei Jahre her, dass die plötzliche Nachricht vom tragischen Tod seiner Eltern bei einem Lkw-Unfall Alien wie eine Querschnittslähmung traf. Seine Eltern friedlich im Sarg ihrer Auferweckung am Jüngsten Tage entgegenschlafen zu sehen, war ihm verwehrt geblieben, da der vom Unfall ausgelöste Brand nicht gezögert hatte, in wenigen Sekunden die Körper seiner Eltern einzuäschern. Nelson Jean-Jacques, Aliens Vater, hatte immer geglaubt, er würde wenigstens die Chance haben, seinen Sohn als richtigen Erwachsenen zu sehen. Einen Erwachsenen, der in der Lage wäre, seine eigenen Interessen zu vertreten. Einen Erwachsenen, der für sich selbst stehen könnte. Als Vater war er immer für Alien da gewesen, er war immer bereit gewesen, die Hand für ihn ins Feuer zu legen. Nelson war das perfekte Beispiel für einen Mann, der stets versuchte, Hindernisse wegzuräumen, die das Leben ihm auf den Weg warf, ein richtiger Mann mit Vernunft. Er hatte gegen alle Widrigkeiten gekämpft und war bis zum Ende seines Lebens tapfer geblieben.

Um diese durch die Nachricht seitens der Botschaft ausgelöste Enttäuschung zu verarbeiten, bereitete sich Alien einen Zitronengrastee – mehr, als er getrunken hätte. In seiner Kindheit hatte ihm Oheim Emano gesagt, der beste Weg, Enttäuschung zu verarbeiten, sei, viel Zitronengrastee zu trinken. Er löse ein Glücksgefühl aus, das schnell die Oberhand über den Schmerz gewinne. Diese Behauptung wurde nie bewiesen, aber aus Tradition pflegte diese Aussage vom Vater auf den Sohn weitergegeben zu werden. Tatsächlich empfanden die meisten Menschen so.

Alien genoss still seinen Tee. Er hatte auch fest an beinahe alle Traditionen seines Landes geglaubt. Er glaubte auch seinem Onkel Emano, der seinem Vater wie ein Doppelgänger ähnelte. Die Brüder ähnelten sich frappant. Allerdings sah Alien nicht wie sein Vater aus. Er hatte den Eindruck, kein Produkt von Nelson und Amelia zu sein, vielmehr dasjenige zweier Außerirdischer wegen seines Erscheinungsbildes, das die Ursache für etliche Hänseleien war.

Es gab nichts, was ihm hätte beweisen können, dass er tatsächlich kein Adoptivkind war. Zwar ähnelte er weder seinem Vater noch seiner Mutter. Aber es gab seine Geburtsurkunde, und darauf standen »Nelson und Amelia« als leibliche Eltern. Nein, die Geburtsurkunde war ausreichend, aber nicht genug. Adoption in diesem Land war nur eine miese Masche, die auf Betrug aufgebaut war. Dennoch: Das Wichtigste in einer Eltern-Kind-Beziehung waren Liebe und Geborgenheit, nicht nur in diesem Land. Und beides hatte Alien bei seiner Mutter gefunden. Die Liebe Amelias zu ihrem Sohn war der echte Beweis einer Mutterliebe, die wirklich blind war. Obschon Alien anders geboren wurde, verfiel Amelia selbst in keine postpartale Depression, sondern baute kurz nach der Geburt eine starke Bindung zu ihrem Kind auf. Sie war immer für Alien mit seinen winzigen Ohren und einem o-förmigen Mund da gewesen, hatte ihn vergöttert, bis sie Alien als Vollwaise hinterließ, die alles mühsam allein wieder zusammensetzen musste. Eine Vollwaise, die völlig am Boden zerstört war nach diesem Unglück, das Alien wie einen Messerstich mitten ins Herz empfunden hatte. Eine Vollwaise, die rasch zu einem Boot ohne Steuerruder wurde und auf Messers Schneide stand. Eine Vollwaise, deren einzige Obsession seit dem Unglück war, das Land um jeden Preis zu verlassen, selbst auf illegalem Wege, besonders mit »Boat People«. Alien ertrug alles insgeheim; niemand wusste, wie es sich anfühlte, sein ureigenes Leid aushalten zu müssen. Eine Ewigkeit blieb er unter dem Radar, wurde übersehen und gedemütigt. Er hatte keine Ahnung, wie weit sich dieser dunkle Tunnel erstreckte, und jedes Licht, das er wahrnahm, war eher eine Halluzination als eine Realität.

Er mochte die radikale Seite seiner Eltern sehr. So manches Mal versuchte Alien, wie sein Vater zu sein, aber er versagte dabei.

»Die Erzählung des eigenen Lebens hängt davon ab, wie sie endet«, sagte sein Vater einmal. Leider war sein Ende traurig und ungerecht gewesen. Sein Lebensweg hatte demjenigen eines Soldaten, aber sein Ende dem eines einfachen feigen Zivilisten geglichen, denn Nelson hatte leider keine Zeit gehabt, moribund zu werden, seine letzten mutigen Worte, Lebensweisheiten vor dem Tod auszusprechen, dem Tod mutig und würdevoll entgegenzutreten. Der Tod hatte Nelson vielmehr erwischt, wo er ihn am wenigsten erwartet hatte, in nur einer Sekunde. Alles, was bei diesem Unfall geblieben war, waren die vom Feuer in Asche verwandelten Knochen eines Kriegers gewesen. Ein Vater, der trotz Armut in einem Häuschen mit seiner kleinen Familie lebte, die Liebe und Harmonie zusammengeschweißt hatten. Ein Vater, der seiner Frau, Aliens Mutter (Jean-Jacques Amelia), gesagt hatte, er liebe sie.

An diesem Januarmorgen dachte Alien viel an seine verstorbenen Eltern, nachdem er die enttäuschende Rückmeldung von der deutschen Botschaft bekommen hatte. Er hatte Pech gehabt. Er dachte darüber nach, was zum Teufel er mit seinem Leben anstellen sollte. Ja, er verspürte einen großen Drang, das Land zu verlassen. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte er schon Himmel und Erde in Bewegung gesetzt. Aber leider lief alles nicht nach Plan. Diese große Enttäuschung stand ihm im Gesicht. Intensives Grübeln und Nachdenken bestimmten sein Inneres.

Das Licht dieser Welt zu erblicken, ist schon der Anfang eines Kampfes. Ein Kampf, von dem wir nur wissen, wann er begonnen hat, aber nicht, wann er enden wird, sofern man sich seinem Leben nicht ein Ende setzt. Ja, Leben ist ein Kampf, dessen Ausgang unsicher ist. Selbst die Gewinner auf dem Schlachtfeld des Lebens können nie ihres eigenen Sieges sicher sein, geschweige denn die Verlierer. Niederlage und Enttäuschung sind mir zu oft auf meinem Lebensweg begegnet trotz meiner Anstrengungen. Oh Niederlagen! Gemeinsam werden wir eines Tages alldem den Rücken kehren, was wir nie haben und nie erreichen konnten. Durch Niederlagen weiß ich, dass ich nichts anderes bin als ein nackter Mensch, dessen Tage abgezählt sind. Ein nackter Mensch, der am Ende nichts mit sich nehmen kann. Ein nackter Mensch, barfuß wie alle anderen.

Läge es in meiner Macht, die Zeit zurückzudrehen, würde ich dafür sorgen, dass mich meine Eltern nicht allein auf dieser Welt zurücklassen. Manchmal frage ich mich, warum einem stets das, wovor man am meisten Angst hat, widerfährt. Auf jeden Fall muss ich akzeptieren, dass sie nicht mehr da sind. Ja, ich muss hinnehmen, dass Traurigkeit auch Teil der Reise ist. Meine Mutter hatte mir immer gesagt, dass das Leben eine Reise sei und wir Menschen die Reisenden. Erst seit meine Eltern zu Gott heimgegangen sind, ist mir klar geworden, in welchem Maße sie recht hatte. Ich kann heute sagen: Ich bin froh, solche Eltern gehabt zu haben. Mein Vater selbst hatte mich auch verteidigt und beschützt, auch wenn er manchmal zu streng mit mir gewesen war. Warum hatte er mir denn einen meiner Zähne ausgeschlagen? Bettnässen kam früher bei mir häufiger vor, als ich mir heute vorstellen kann – damals keine Seltenheit bei Kindern, durchaus auch bei manchen Erwachsenen auftretend. Er hatte wirklich den Kopf verloren. Ich erinnere mich immer noch daran, dass er entsetzliche Angst hatte, zuzusehen, wie der Zahn auf den Boden fiel und Blut aus meinem Mund floss. Ich weiß, er hatte es nicht absichtlich getan, aber trotzdem war ich fassungslos, und nichts konnte mich in dieser Zeit beruhigen. An meine suizidalen Gedanken kann ich mich immer noch erinnern, besonders nach jeder körperlichen Züchtigung. Und das Opium waren immer ein paar tröstliche Worte, was mich mehr ärgerte. Auch diese schwarze Pädagogik existiert heute immer noch. Die Lehrer, die nicht mit mir verwandt waren, hatten viel Freude daran, mich körperlich zu bestrafen. »Schlagen, bis es blutet«, war die Regel. Den Lehrern zufolge musste diese körperliche Züchtigung für immer an der Tagesordnung sein, sonst würden die Kinder ausarten. Und all das gefiel auch meinem Vater. Deswegen sorgte er gezielt dafür, dass ich eine Schule besuchte, wo fünfzig Schläge mit dem Ochsenziemer für nicht gelernte Lektionen die Regel waren. Ich denke, er liebte mich trotzdem. Er hatte sich immer angestrengt, mir alles zur Verfügung zu stellen, was ich brauchte. Trotz allem war er ein guter Vater, aber ich werde ihm niemals meinen ausgeschlagenen Zahn verzeihen. Ist es recht, mir einen meiner Zähne zu entwurzeln, weil ich das Bett nass gemacht hatte?

Ich denke immer noch an die Zeit, als sie beide noch an meiner Seite waren. Das Leben schien mir damals sinnvoller zu sein als heute, wo ich in Einsamkeit grüble. Ich weiß, es ist verrückt, über die schlechten Zeiten zu grübeln, aber trotzdem tue ich es. Die Welt ist andauernd zu schmerzhaft in meinen Augen, als dass ich Verantwortung übernehmen wollte. Zu schmerzhaft bis hin zu dem Punkt, dass ich meine eigene Fantasiewelt erfinde, damit ich aus der Realität flüchten kann. Wer wäre ich eigentlich ohne meine eigene innere Welt, die mich in schwierigen Zeiten tröstet?

Vielleicht sind wir Menschen aus irgendeinem Grund auf dieser Welt, aber wozu bin ich überhaupt hier? Nur um zu leiden. Ist das die Antwort? In meinen Augen hat das Leben keinen besonderen Wert, und den Sinn meines Lebens sehe ich leider nicht. Ich weiß, dass ich nicht der Einzige im Boot bin, dass es im selben noch zahlreiche Leidensgenossen gibt, die das Leben und alles andere sinnlos finden. Aber ich denke trotzdem, dass es einen Unterschied zwischen uns gibt. Dieser Unterscheid liegt an der Illusion der Hoffnung, des Glaubens und der Fantasien. Auch wenn meine Hoffnungen und Fantasien pure Illusionen sind, werde ich niemals die Hoffnung verlieren. Es sei denn, ich wäre bereit, all diesem Leid ein Ende zu setzen. Ja, Hoffnung ist das Einzige, was mich heute noch am Leben hält. Hoffnung ist die einzige Möglichkeit, meinem Leben einen gewissen Wert oder Sinn zu verleihen, auch wenn Hoffnung sich oft am Ende als unsinnig erweist, wenn Dinge anders verlaufen, als man erhofft hatte. Auch der Glaube an eine höhere Macht gibt mir Kraft. Sich selbst zu überzeugen, dass all das Leid auf der Welt eines Tages zu Ende kommen wird, ist tröstlich. Vielleicht ist der Sinn des Lebens einfach, zu glauben und zu hoffen, da man dadurch mehr Kraft zum Weiterleben findet. Mehr Kraft zum Weiterleben, damit man seiner Gesellschaft und anderen nützlich sein kann.

Ich habe immer gedacht, es sei extrem schwierig, nicht depressiv zu sein, wenn man in armen Verhältnissen lebt. Wo liegt denn eigentlich der Sinn des Lebens, wenn man nur mit viel Mühe seine Zunge einmal pro Tag bewegen kann? Als meine Eltern noch lebten, konnte ich mir nicht einmal vorstellen, nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Diese Frage nach dem Sinn des Lebens stellen sich meistens nur diejenigen, die sich in einem kritischen Zustand befinden. Heute habe ich Tausende Gründe, nach dem Sinn dieses bitteren, ungerechten Lebens zu fragen.

Wenn ich an die Ablehnungen denke, an die Ungerechtigkeiten und Misshandlungen, die ich erlebt habe auf dieser kaputten Welt, frage ich mich: Was wäre eigentlich besser – sein Leben friedlich als ein anständiger Mann zu führen oder als ein nichtswürdiger Halunke? Warum und wozu all diese Werteverschiebungen? Warum diese Aufteilung in Gewinner und Verlierer? Gerade heute kann man leicht feststellen, dass immer mehr Menschen in diesem Land (Haiti) weniger Wert auf Empathie legen. Es geht heute eher um Leistung, die Höhe seines Kontostands oder um den eigenen Status, den man symbolisieren zu müssen glaubt. Es geht um »Fressen und Gefressenwerden«, es gilt das Gesetz des Stärkeren. Und was wäre, wenn jemand wie ich wegen meiner Deformation null Chance hätte, es bis ganz nach oben zu schaffen? Sollte ich dieses Land für immer verlassen?

Erfolg ist bestimmt etwas Schönes und Wunderbares, solange man gesund ist. Ohne Zweifel trägt Erfolg zu einer besseren Lebensqualität bei. Wie wäre die Welt ohne die großen Wissenschaftler, Unternehmer, Entdecker, Künstler und Schriftsteller etc.? Ohne diesen Wettbewerbsgeist hätten wir diese große Ära nicht gestalten können, die man Anthropozän nennt.

Jedoch sollte man auch nie das Leben selbst aus den Augen verlieren, weil unser Odem wie ein Windhauch vergeht. Angesichts dieses ständigen Rennens, um es an die Spitze zu schaffen, ließe sich angemessen von einer narzisstischen Gesellschaft sprechen. Auch ich möchte es eines Tages schaffen, aber ohne mich über all die anderen Menschen zu stellen. Ich möchte einfach selbstständig werden, damit ich einen Bruchteil meines Lebens genießen kann. Kein Mensch geht in seiner Funktion als Berufstätiger auf. Was ist mit den immer wiederkehrenden psychischen Belastungen, emotionalen Verletzungen durch Lügen, denen man am Arbeitsplatz ausgesetzt ist? Wie viele Male verdrehten Mitarbeiter meine Worte? Was ist auch mit der Untergrabung der eigenen Wahrnehmung, der man oft unterliegen kann? Vielleicht wäre es besser, ein rücksichtsloser Egoist zu sein, denn oft werden diese zwar nicht geliebt, aber gefürchtet. Was ist besser: geliebt oder gefürchtet zu werden? Ich weiß nicht ganz recht, wie ich mich in so einer diversen Gesellschaft verhalten sollte. Manchmal denke ich mir, auch um Egoist oder ein »anständiger Mensch« zu sein, braucht man ein bestimmtes Gesicht oder eine bestimmte Ausstrahlung. Und was ist, wenn man das passende Gesicht dafür nicht hat?

Sowohl hier in Haiti als auch in Santo Domingo können sich Menschen schlicht mit ihrem Auftreten einen großen Vorteil verschaffen. Menschen werden jeden Tag diskriminiert. Es kann auch sein, dass der Grund dieser Ablehnung nur in meiner Andersartigkeit liegt. Wann werden Behinderte wegen ihres Andersseins nicht mehr ausgegrenzt und diskriminiert werden?

Mit so einer Rückmeldung seitens der Botschaft hatte ich nie gerechnet. Wenn es etwas gibt, was ich am meisten hasse, dann das, wenn ein Plan nicht so funktioniert, wie er sollte. Ich habe das Gefühl, die Zeit vergehe seit einigen Jahren blitzartig.

Je mehr Stunden, Tage, Wochen und Monate vergehen, desto mehr Druck verspüre ich, das Land zu verlassen, um in einer anderen Ecke der Welt eine andere Luft zu atmen. Hier werde ich als Pest angesehen, mit der sich niemand befassen möchte. Allein kämpfe ich heute ums Überleben. Zudem habe ich wenig Freude. Es gibt Tage, an denen ich der Realität oft nicht ins Gesicht sehen möchte, weil sie zu hart, zu gruselig und zu brutal zu sein scheint. Deswegen habe ich mich dazu entschlossen, hoffnungsvoll durchs Leben zu gehen. Wenn dieses Leben, das ich sehe, einen Zweck hat, dann ist dieser Zweck mehr, als wir jemals sehen oder begreifen können. Meine innere Stimme sagt mir manchmal, dass das, was wir sehen, nur ein Schatten dessen sei, was im Verborgenen ist. Wenn es mir gelingen sollte, selbstständig zu werden, werde ich daher den Rest meiner Lebenszeit der Vervollkommnung meiner Seele widmen.

Wir Menschen sind fehlbare Wesen, wir sind nicht vollkommen und werden keinesfalls vollkommen sein, aber wir sollten paradoxerweise die Vollkommenheit zu unserem endgültigen Ziel machen. Wir Menschen sollten ein edles Ziel außerhalb unseres Selbst anstreben, statt nur für den Leib zu leben und dem Essen, Schlafen und diversen Ausschweifungen zu frönen. Wenn wir uns eines Tages dessen bewusst werden, dass nichts im Leben wichtiger ist als der Fortschritt der Seele, als die Entwicklung unserer inneren magischen Kraft, dann können wir vielleicht endlich frei sein und werden in der Lage sein, an der Entwicklung unserer Seele konzentriert zu arbeiten.

Die kleine Erbschaft habe ich aufs Spiel gesetzt in der Hoffnung auf das Einreisevisum, um der völligen Verarmung zu entkommen. Aber wo stehe ich heute? Am Abgrund. Es ist keineswegs sicher, dass ich diesen Traum verwirklichen werde. Selbst dieses Streben nach einem besseren Leben als das meiner Landsleute ist nur Eitelkeit, da wir alle Reisende auf diesem Planeten sind. Obwohl ich mir dessen bewusst bin, möchte ich unbedingt nach Deutschland. Das ist der Beweis dafür, dass wir - als Menschen, die ihre leiblichen Wünsche zu befriedigen suchen - an unseren Körper gefesselt sind. Es sind all diese Kleinigkeiten, all das Streben nach Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse, die aus dem Leben eine Knechtschaft, eine Sklaverei machen.

Das ist eine Sklaverei, von der wir Menschen uns befreien sollten. Wir glauben, wir würden leben, aber was wäre denn, wenn das Gegenteil zuträfe? Vielleicht liegt das wahre Leben im Tod. Denn solange wir an unseren Körper gefesselt sind, befinden wir uns in Sklaverei. Also warum hatte mich der Tod meiner Eltern so depressiv gemacht? Wahrscheinlich wegen der Schmerzen, die sie vor ihrem Tod im Brand erlitten hatten.

Um Haiti gen Deutschland zu verlassen, war Alien dazu bereit, Himmel und Erde in Bewegung zu setzen, ungeachtet des Risikos, mit einem negativen Ausgang seiner Bemühungen ringen zu müssen. Als Erbschaft hatte er nur vier Schweine und ein Häuschen von seinen Eltern bekommen. Im Zuge dieses Visumverfahrens hatte er bereits zwei Schweine zu einem herabgesetzten Preis verkauft, damit er die erste Reise nach Santo Domingo bezahlen konnte. Und die letzten beiden Schweine wurden dann verkauft für die zweite Etappe. Trotz all dieser Bemühungen war sein Physikstudium in seinem Eldorado noch nicht garantiert. Verdammt, Amelia war nicht mehr da, um ihn zu trösten und sein Handeln in die richtigen Bahnen zu lenken. Ohne Mut wirst du niemals etwas auf dieser Welt bewirken. Es ist eine der größten Qualitäten jedes denkenden Menschen, hatte Mutti zu ihm oft gesagt, besonders in schwierigen Momenten, mit einer ernsten Miene. Diese ernste Miene ließ ihren Sohn noch energischer wirken. Es gibt kein Kanaan ohne Wüste. Leid ist auch Teil des Lebens, mein Herz, so ist das normalerweise.

Diese Visumablehnung war sein zweiter Misserfolg. Die erste war ihm aufgrund fehlender Unterlagen und die zweite wegen fehlender Bonität erteilt worden, aber trotz allem zeigte sich die Botschaft jetzt ein bisschen barmherziger: Um nach Deutschland kommen zu können, war ein Praktikum bei einem Bauern die einzige Chance, das heißt, Alien hatte sechs Monate als Stallarbeiter zu arbeiten. Die nötigen Unterlagen und Dokumente, auch Kontaktadressen einiger Firmen, bekam er auf der anderen Seite des Briefes präsentiert, den er von der Botschaft erhielt. Das war für ihn ein Trumpf, ein Hoffnungsschimmer, obwohl er damit nicht zufrieden war.

Worum geht es hier eigentlich? Geht es hier um eine echte Ablehnung?, fragte er sich selbst. Auch wenn die erste Briefseite nur einen Albtraum für ihn bedeutete, brachte ihm die zweite Erleichterung und Hoffnung. Was hat aber eine deutsche Botschaft mit Bewerbungen zu tun?, fragte er sich. Egal, wie kompliziert die Umstände zu sein schienen, das zweite Blatt ermutigte ihn. »Und deswegen lohnt es sich immer, es noch mal zu versuchen, denn ich habe nichts zu verlieren außer die Gegenwart«, erinnerte er sich plötzlich an die Worte seines verstorbenen Vaters.

Selbstverständlich ging es um das Gegenteil einer Zusage bei der deutschen Botschaft. Deswegen fühlte er sich extrem enttäuscht. Wegen seiner Wahnvorstellung dachte er, die Absage hätte mit seinem Aussehen zu tun. Jetzt waren seine Eltern nicht mehr dabei, um ihn zu unterstützen, auch richtige Freunde hatte Alien keine. Nur Oheim Emano hatte er noch als Angehörigen, aber Emano hatte seinen eigenen Kampf zu führen, auf den er sich konzentrieren sollte.

2. KAPITEL: BEIM OHEIM

Die Sonne war bereits untergegangen, als sich Alien auf den Weg zu seinem Oheim begab. Regenschwere Wolken ließen ihre nasse Last auf die Fußgänger tropfen, die die Nationalstraße hinabschlenderten. Bauern mit Hüten, auf ihren Eseln reitend, beeilten sich, ins Trockene zu kommen, und auf der anderen Straßenseite sah man unzählige verlassene Slums und immer noch die Trümmer des Erdbebens vom 12. Januar 2010: schmutzige Läden mit Fenstern und Türen, verbarrikadiert mit Brettern. Auf der Straße standen »Restavec-Kinder«, die ihrer Arbeit nachgingen und sich ins Trockene drängten, bevor es stärker regnen würde. Während Alien an einer Galerie eines Gebäudes vorbeiging, auf der ein paar Leute Musik spielten, hörte er einen sagen: »Schau mal, ein Zombie! Woher kommt der denn?« Dann brach die Menge in Gelächter aus. Für ihn war dies keine Riesenüberraschung, denn Alien war schon daran gewöhnt, ausgelacht zu werden. Mit seinem geschmacklosen grünen T-Shirt und einer schwarzen Hose lief er weiter - gleichgültig, als hätte er nichts gehört und verstanden –, mit einem Stück Karton, den er als Regenschirm nutzte, um nicht nass zu werden. Nach ein paar Minuten war er schon am Ziel.

Alien klopfte und rief: »Bist du da, Oheim? Oheim, ich bin’s, Alien, und ich möchte dich kurz sprechen.« Er wartete zwei Minuten lang, aber niemand war zu hören. Er klopfte stärker an die hölzerne Tür.

»Wer ist da, bitte?«, fragte Emano mit müder Stimme.

»Hey, Oheim, ich bin es, Alien. Könntest du bitte die Tür öffnen?«, äußerte der Besucher, ein bisschen ungeduldig diesmal, und fragte sich, warum sein Onkel so lange brauchte, bevor er sich meldete. Hat er wahrscheinlich eine gefunden. Vielleicht habe ich ihn irgendwie gestört, spekulierte er. Aliens größte Sorge bestand darin, anderen nur ja keine Verlegenheit zu bereiten. Schon in seinem zehnten Lebensjahr hatte er gelernt, wie andere tickten, und wusste ganz genau, was andere stören konnte und was nicht. Deshalb versuchte er, kein Kreuz für andere zu sein. Aber seine Vermutung war diesmal komplett falsch, denn sein Onkel war drinnen allein. Er hatte außerdem keine Freundin und auch keine Lust darauf.

»Mein Neffe, ich komme gleich«, antwortete er.

Emano war im gleichen Dorf wie Nelson aufgewachsen, hatte aber das Elternhaus früher verlassen und war im April 1988 nach Port-au-Prince gekommen, um bei einer Ziegelei im Norden der Hauptstadt sechs Tage in der Woche zu malochen. Damals als Fünfzehnjähriger hatte er so sehr geschuftet, dass er keine Zeit für eine Trink- oder Hitzepause gehabt hatte. Es war so, als hätte Emano das Dorf verlassen, um den Weg für Nelson zu ebnen. Denn sechs Monate später war Nelson ebenfalls in die Hauptstadt gekommen und hatte bei demselben Ziegelfabrikanten geschuftet. Leider würde Emano zwei Jahre nach seiner Ankunft wissen, was für ein bitteres Schicksal die Zukunft für ihn bereithielt. Aber so musste alles geschehen, denn sein Los war schon vor seiner Geburt besiegelt gewesen.

Während er draußen noch wartete, schlug Alien die Zeit tot, indem er seine Finger gegen die Wand der Chaumière drückte. Diese Handlung war ein Spiel, ein Ablenkungsmanöver, um seine Ungeduld zu lindern.

Die Tür knarrte und quietschte. Als er sie öffnete, war Emano überrascht: Dahinter stand Alien, durchnässt und niedergeschlagen. Der Regen wurde stärker und hatte ihn schon getroffen. Deswegen also hatte er ungeduldig hinter der Tür gestanden und mehrmals geklopft. Emano ließ ihn herein. Aliens Füße hatten seit mehr als sechs Monaten diese Wohnung nicht betreten.

»Na ja, es ist eine Ewigkeit her«, sagte Emano mit entspannter Stirn und angehobenen Wangen, während er versuchte, Alien auf die Schulter zu klopfen, was wegen seiner Beschränktheit im Rollstuhl misslang. Er war wirklich froh, seinen Neffen zu sehen. Seine beiden Mundwinkel gingen nach oben.

»Wie läuft es denn bei dir?«

»Du weißt schon, worum es in diesem Land geht: Wer nicht mehr mithalten kann in diesem Kampf, wird zum Opfer. Wer kein Geld hat, kann sich nichts leisten. In einem Land, in dem es keine Arbeit gibt, sogar selbst wenn es sie gibt, ist ein behinderter Mann wie ich in der Arbeitswelt megaout.«

Emano schaute ihm überlegend in die Augen und sagte: »Eine Ewigkeit her, dass ich dich zuletzt gesehen habe. Du siehst gar nicht gut aus. Was treibt dich um?«

»Du hast es gerade gesagt. Hier bei uns geht es nur ums Kämpfen. In diesem Land wendet sich alles, was ein Mann tut, um zu überleben, gegen ihn. Manchmal würde ich lieber nur schlafen und nie wieder aufwachen. Denn es spielt keine Rolle, ob das Leben für einen eine Achterbahnfahrt ist oder nicht; das Wichtigste ist ein gutes Leben. Wenn ich kein gutes Leben führen kann, warum überhaupt leben?«

»Wieder eine hohe Inflation, hohe Benzin- und Lebensmittelpreise. Es versteht sich von selbst: Unser Land steckt nicht nur in einer Wirtschaftskrise, sondern auch in einer Würdekrise. Wie kann man also von Würde sprechen, wenn so viele Menschen keine richtige Arbeit haben?«

»Du sprichst so, als würdest du gerne arbeiten gehen wollen, Onkel«, erwiderte Alien.

»Nee, es geht nicht um mich. Ich mache mich nur Sorgen um dich, weil du noch so jung bist. Meine Zeit ist schon vorbei, aber du hast deine Zukunft noch vor dir und bist schon arbeitsfähig.«

»Das stimmt. Aber schau mich genau an: Würde mich ein Chef als potenziellen Arbeitnehmer einstellen? Darüber hinaus geht es hier bei uns nicht um Kompetenz und Qualifikation, sondern um Servilität und die Bereitschaft, sich – ohne das geringste Hinterfragen – schamlos ausbeuten zu lassen. Nach all dem, was ich in meinem Leben zu erdulden hatte, glaube ich nicht, dass ich bereit wäre, noch mehr Erniedrigung, Demütigung und Sklaverei hinzunehmen, ohne potenzielles Mobbing von Arbeitskollegen miteinzubeziehen.«

»Niemand zwingt dich zu etwas. Auch nicht der Schöpfer. Du hast deine eigene Zukunft in der Hand. Wenn du denkst, du kannst deinen Lebensunterhalt bestreiten ohne eine richtige Arbeit, dann irrst du dich.«

»Was willst du eigentlich damit sagen?«

»Dass du ein Anfänger sein wirst, egal welchen Weg du im Leben gehst. Akzeptiere, dass du auf jeden Fall ein Anfänger sein wirst. Akzeptiere, dass ein Chef dich verletzen mag, aber wenn du deine Arbeit gut genug machst, kannst du vielleicht eine Chance haben, auf dem Arbeitsmarkt zu überleben.« Emano ließ ein paar Sekunden vergehen, bevor er hinzufügte: »Du hast mir noch nicht gesagt, warum du hierherkommst.«

»Ich fühle mich dieser Tage an der Grenze meiner Belastbarkeit«, murmelte Alien mit seinem o-förmigen Mund.

»Bist du die Manipulationsmanöver schon so gewöhnt, dass du vergessen hast, dass du mich nicht verarschen kannst?«

»Erzähl keinen Blödsinn«, wehrte Alien ab.

»Es geht nicht um Blödsinn. Es geht eher darum, dass du auf meine Fragen bewusst nicht eingehst.«

»Na und?«

»Na und, na und: Was ist das denn für eine Antwort! Ich glaub dir kein Wort.«

»Gut, dass du misstrauisch bist. Das freut mich.«

»Du hast mir noch nicht gesagt, was für ein guter Wind dich hierhergeweht hat«, sagte Emano mit einem strahlenden Lächeln. Ohne dieses Lächeln hätte Alien sich schlecht fühlen können. »Ich verlange nicht von dir, dass du mich in dein Leben komplett involvieren musst. Ich möchte nicht in deine Pläne eingeweiht sein, aber es würde einfach mal reichen, wenn du mich ab und zu besuchen würdest. So kann ich zumindest wissen, dass es dir gut geht. Dein Vater war mein kleiner Bruder. Ich denke, du hast mich enttäuscht. Ich habe seit vier Monaten nichts von dir gehört, während du in der Nähe wohnst. Ich weiß, ich bin ein Nichts, aber …«

Alien kicherte und setzte sich auf den kleinen Hocker vor seinem Onkel. »Warum denkst du denn so negativ über dich? Wir sitzen alle im selben Boot. Warum sollte ich dir keine Visite abstatten? Etwa weil du mittellos bist?« Er sah nicht, worauf Emano anspielte.

Emano meinte seine körperliche Einschränkung. Im Jahre 1990 war er die Zielscheibe eines Vorfalls in der Ziegelei geworden, bei dem ein Dutzend Blöcke auf seine unteren Gliedmaßen gefallen waren und ihn dann zum Paraplegiker gemacht hatten. Kurz danach war seine Freundin fremdgegangen, weil die Lähmung zu Impotenz geführt hatte. Und seitdem dachte er, ein Unberührbarer zu sein, mit dem man nichts zu tun haben wollte. Vom Gefühl, für nichts gut genug zu sein, konnte er sich vor allem seit der Lähmung nicht befreien, sodass er dachte, dass selbst sein Neffe ihn aufgrund seiner Paraplegie mied.

»Negativ denke ich nicht wirklich über mich. Ich sehe eher der Wahrheit ins Auge … Wenn ich nur nicht so arm wäre, wäre es vielleicht nicht so schlimm«, sagte er.

»Was meinst du?«, fragte Alien, ohne Zeit zu verlieren.

»Armut ist keine Schande, logisch … Das Problem scheint nur ernst zu sein, wenn man in einer Gesellschaft voller Diskriminierung, Vorurteile und Stigmata behindert wird. Plötzlich wird einem klar, dass man auf dieser Welt fehl am Platz ist. Wenn man aufmerksam beobachtet, wie die Leute ticken, wird einem klar, dass nur Heuchelei unter den Menschen vorherrscht, weil die Ausprägungen von Diskriminierung unter ihnen vielfältig sind.«

Für einen Moment wirkte Emano traurig. Er bedachte seinen Neffen mit einem Standbildblick, und dann fügte er seufzend hinzu: »Eisen wird scharf durch Eisen, Alien. Dies muss dir klar sein. Auch wenn ich behindert bin und nicht arbeiten kann, um meinen Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können, bleibe ich noch ein Mensch. Und als Mensch brauche ich sozialen Kontakt.« Emano hatte völlig recht.

Der Mensch als soziales Wesen braucht den Austausch mit anderen, Kommunikation, Inklusion für das emotionale Wohlbefinden. Fehlende soziale Kontakte können depressive Verstimmungen auslösen, was sich wiederum negativ auf das körperliche Wohlbefinden auswirkt, dachte er. Dieser Gedanke zerfraß ihn innerlich jedes Mal, wenn er weinend und nachdenklich am Fenster stand, sein Alleinsein ertrug und so ein tägliches Drama erlebte. Eines wusste Emano doch nicht: dass sein Neffe unter Schock stand und einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Ein Junge, der stets von anderen ausgeschlossen worden war, keine Teilhabe an der Gesellschaft hatte und deswegen von Selbstmordgedanken überwältigt wurde, hatte zu viele Probleme, mit denen er sich auseinandersetzen musste, als dass er seinen Onkel hätte besuchen können.

Aliens Oheim hatte keine Ahnung davon, wie ein normaler Tag im Leben des Dreiundzwanzigjährigen aussah. Ein depressiver Junge, der seit dem Tod seiner Eltern sowohl der Realität als auch dem Alltagstrott durch Fantasien entging und deswegen nicht auf dem Teppich bleiben konnte, brauchte dringend Hilfe. Aber es war nicht der Fall, dass ihm geholfen worden wäre. Denn er versuchte eher, alles insgeheim zu ertragen, was ihm widerfuhr.

»Hm …« Alien stieß einen langen Seufzer aus.

»Und darf ich bitte fragen, warum du so komisch seufzt?«, fragte Emano nach längerem Schweigen mit einer Stimme, in der sein Wille zu spüren war. Sein Wille, unnötige Diskussionen zu vermeiden.

»Ehrlich gesagt, ich bin verwirrt, denn du hast bisher nur abstrahiert. Ich hoffe, etwas aus deiner Abstraktion bleibt bei mir hängen«, erwiderte Alien starr und ergänzte ernst: »Ich bin aber nicht hierhergekommen, um mit dir zu streiten. Außerdem weißt du schon, dass ich ein Fabelwesen in den Augen aller bin.« Er stand auf und näherte sich dem Fenster der Einzimmerwohnung.

Statt ihn danach zu fragen, wozu er zu ihm gekommen sei, fragte Emano, ohne einen Augenblick zu warten: »Warum stehst du denn auf? Sag mir nicht, dass ich dir irgendwie auf den Keks gehe, sodass du schon aufbrechen willst. Gehst du schon gleich nach Hause?«, fragte er mit kurioser Miene.

Der Junge stand einfach nur, um sich ein bisschen wohler fühlen zu können, was der Onkel missinterpretierte.

»Ich bin gerade zu erledigt und habe keine Kraft, meinen Atem für belanglose Diskussionen zu vergeuden, die nichts bringen außer Schuldgefühle«, murmelte er nachdenklich.

Alien fing Emanos Blick mit einem Seufzen auf und setzte fort: »Wieso muss ich denn gehen? Bisher haben wir nur diskutiert. Noch nie im Leben hast du mich verletzt. Und auch wenn mich jemand kränken würde, wüsste ich, wie ich mich verhalten würde, um die Fassung nicht zu verlieren.«

Sosehr Emano auch verstehen wollte, was sein Neffe sagte, so sehr konnte er nicht anders, als sich erstickend und sogar störend zu fühlen. »Du hast mich heute besucht, bestimmt aus einem Grund. Sicherlich wegen eines solchen, der dich fertigmacht, das kann ich schon in deinen Augen sehen. Aber als einziger übrig gebliebener Angehöriger möchte ich dich nur dazu veranlassen, uns öfter zu sehen und miteinander zu reden. Noch mal: Das ist alles, was ich von dir verlange.«

Alien öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte heraus. Seine Not schnürte ihm die Kehle zu. Zwar trug er das Herz nicht auf der Zunge, aber manchmal wog er seine Worte vorm Sprechen, damit er nicht Dinge sagte, die er später bereuen könnte. »Es wäre besser, mich so zu nehmen, wie ich bin, und nicht, wie ich sein sollte. Wie du schon weißt, hat jeder heutzutage seine Dämonen, mit denen er sich auseinandersetzen muss. Bitte triff keine Annahme und unterstell mir nicht Sachen, deren du dir nicht ganz sicher bist. Denn jeder hat seine eigene Realität«, sagte er.

Sie diskutierten in einer Atmosphäre, gemischt aus Ernst und Ironie. Emano dachte nach, er wurde still. Dann durchbohrte er Alien mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete.

»Ich bin mir nicht sicher, ob du hören willst, was ich denke«, sagte er überlegt und ergänzte: »Deine Aussage stimmt, aber in der heutigen Gesellschaft ist es nicht so, wie es scheint; die Dinge sind nicht so, wie sie sein sollten. Du bist ein perfektes Beispiel dafür, dass die Menschen andere nicht nehmen, wie sie sind: Ein intelligenter, mutiger Junge wie du sollte nicht ständig diskriminiert, vorschnell verurteilt und gemobbt werden, einfach weil du anders bist. Du bist ein klares Beispiel dafür, dass Menschen immer einen Hang dazu haben, andere nicht zu akzeptieren, wie sie sind. Vereinfacht formuliert: Das Abnormale macht immer Angst.«

»Du hast bestimmt recht.« Alien zuckte die Schultern. »Deswegen frage ich mich öfter: Wozu überhaupt leben? Wo liegt der Sinn darin, in so einer Gesellschaft ohne Akzeptanz und voller Hass weiterzuleben?«

Emano nickte, während er nach einem auf dem Tisch liegenden Brotstück griff, um einen schnellen Bissen davon zu nehmen. »Man lebt für sich selbst, Neffe. Es ergibt einen Sinn, weiterzuleben, wenn man keinen Wert mehr auf die Meinung anderer legt.« Bevor er fortfuhr, nahm er noch einen kleinen Bissen. »Die Leute sind wie Schmerzen. Sie können dich entweder stärker machen und dir helfen, als Person zu wachsen, oder sie können dein Wachstum bremsen und dich verwelken und sterben lassen.«

Alien legte den Kopf schräg, während er eine Weile nachdachte. Obwohl bei ihm nie Trisomie 21 diagnostiziert worden war, zeigte er trotzdem charakteristische Down-Syndrom-Symptome wie zum Beispiel Brachycephalie, großer Augenabstand, verkürzte Nasenknochen, breite Hände mit kurzen Fingern. Sein Kopf war kurz, aber trotzdem konnte er ihn schräg halten, um Interesse und Überlegtheit zu zeigen. Emano sprach ihm aus der Seele beim Sagen eines solchen Satz. Er erinnerte sich daran, wie sein Vater stets Lebensweisheiten ausgesprochen hatte. Er erinnerte sich daran, was für einen verantwortungsbewussten Vater er verloren hatte.

»Ich habe einen Bärenhunger. Den ganzen Tag habe ich nur geschlafen.« Der Oheim wusste auch, dass Alien wahrscheinlich wie ein Scheunendrescher essen würde, wenn er ihn weiterhin seine Energie verschwenden ließ. Seit 2010 bekam Emano jeden Monat Essen von der Kirche, in der er Mitglied und tätig gewesen war. Unter dem Tisch in der Ecke lag eine Kiste, wo er seine Vorräte hineinlegte. »Ich habe grad drei Nudeln übrig, möchte gerne zwei davon sehr weich für uns beide kochen. Was sagst du dazu?«

»Freilich, heute habe ich nur gefastet. Grad würde ich eine Kuh zusammen mit Hörnern essen«, stimmte Alien schmunzelnd zu.

Es war, wie schon erwähnt, nur eine Einzimmerwohnung ohne eigene Küche. Emano kochte üblicherweise innen. Das Fester öffnete er dabei, damit sich der Rauch nach außen verzog. Während er kochte, sprachen sie weiter miteinander.

»Sag mal, immer noch keine Freundin?«, fragte Emano.

»Nein, keine«, antwortete Alien.

»Lernst du nie jemanden kennen?«, wunderte sich sein Oheim.

»Warum sollte ich? ich möchte keine Frauen belästigen oder als verrückt eingestuft werden.«

»Wieso denn belästigen?«

»Es ist eine absolute Wahrheit, dass wir nicht in einer egalitären Gesellschaft leben. Sollte ein behinderter mittelloser Mann wie ich versuchen, eine Frau anzusprechen, würde ein solches Verhalten als Belästigung rüberkommen. Jeder Annäherungsversuch von mir würde als sexuelle Belästigung gelten, einfach weil ich den Eigenschaften eines Alphamannes nicht entspreche. Und am Ende würde ich nur Hass und Verleumdung ernten, falls ich meinem Schwarm meine Liebe gestehen würde.«

»Sieh das Glas nicht als halb leer, sondern immer als halb voll an. Jeder hat das Recht, zu lieben und geliebt zu werden. Hoffnung auf ein Happy End kann Wunder bewirken. Niemand weiß, woher das Wasser fließt, um in die Kokosnuss zu gelangen. Also das Wunder, das Unsichtbare existiert, und es ist immer da auf dem Weg derjenigen, die an Schicksal glauben.«

»Ich bin weder pessimistisch noch optimistisch, sondern realistisch. Ich denke, man sollte möglichst ohne Erwartung leben. Hoffnung ist ein Wort, mit dem man sich selbst nur täuschen kann, wenn Dinge anders laufen. Hoffnung ist der Beginn von Unzufriedenheit, sie ist eine Weigerung, der Wahrheit nicht ins Gesicht zu schauen, sondern der Versuch, sie damit zu verschleiern. Mein Vater sagte einst: ›Die Sonne, die Sterne und die Wahrheit können niemals verborgen werden.‹ Ich nehme die Umstände, wie sie sind; ich versuche nur, hinter die Schatten und die Täuschung unserer heutigen Gesellschaft zu blicken: Das Leben ist nicht einfach.«

»Ich verstehe die Sache mit sexueller Belästigung noch nicht ganz. Woher kommt denn diese absurde Behauptung?«, interessierte sich Emano brennend und beugte sich vor.

»Es sind scharfe und sehr reflektierte Überlegungen, die ich in den vergangenen Jahren gemacht habe. Es sind Beobachtungen, die mich weiser werden lassen. Mit meiner Behinderung tue ich mich tausendmal schwerer, meine bessere Hälfte zu finden, als Nichtbehinderte. Meinem Schwarm kann ich einmal mein Interesse zeigen, denn für diese Frauen wäre ich der größte Komiker, der je gelebt hat, wenn ich ihnen meine Gefühle ausdrücken würde. Behinderte werden zu oft diskriminiert, aber weißt du, die größten Behinderungen, unter denen Menschen leiden können, sind ihre eigenen Meinungen, Vorurteile und ihre mangelnde Wahrnehmung. All diese Leute, die mich gemobbt haben, wissen nicht einmal, wie behindert sie sind, obwohl sie eine hohe Meinung von sich selbst haben.«

»Also, wenn ich dich genauer verstehe, meinst du, wenn du dein Grundbedürfnis nach Liebe ausleben wolltest und versuchen würdest, ein Mädchen zu bekommen, dann würdest du ausgelacht werden?«

»Ganz genau. Viele Menschen ohne Behinderung haben zu viele Vorurteile im Kopf. Wenn ich es wagen würde, eine Schönheit ohne Behinderung anzusprechen, würde sie es als eine Frechheit meinerseits empfinden. Das ist die bittere Wahrheit. Deswegen möchte ich niemanden belästigen. Das ist der einzige Weg, meine Würde zu wahren und mein Gesicht zu behalten. Denn zu viele Ablehnungen und unerwiderte Liebe wirken sich extrem negativ auf das eigene Selbstbewusstsein aus.«

»Ich kann dich richtig gut verstehen«, sagte Emano und lehnte sich wieder zurück.

»Viele möchten nichts mit Behinderten zu tun haben, weil sie Angst vor der Verurteilung seitens der Gesellschaft haben. In ihrem Kopf findet man die bittere Wahrheit: Behinderte sollen lieber unter sich bleiben«, erklärte Alien.

»Das klingt ziemlich hart.«

»Leider ist es die Realität.«

Nachdem sie beide bis zur Sättigung gegessen hatten, war es schon spät. Es wurde langsam dunkler, und der Himmel war sternlos. Da es fast Mitternacht war, beschloss Alien, bei Emano zu übernachten.

»Gute Idee. Da haben wir noch die ganze Nacht zum Quatschen! «, rief Emano.

»Ja, selbstverständlich.«

Emano hatte den Topf bereits abgeleckt.

»Oheim, dann kannst du dir das Spülmittel sparen, deine Zunge hat schon gute Arbeit geleistet«, kommentierte Alien halb ironisch, halb ernst.

»Ich mache das immer so, damit einerseits nichts verloren geht und sich andererseits die Essensreste im Topf oder Teller nicht verhärten«, verteidigte sich Emano und fragte ihn: »Bist du irgendwie reich geworden, Neffe?«

»Und wieso?«, fragte Alien neugierig und mit einer munteren Stimme.

»Weil dein Teller noch ölig ist. Willst du deiner Zunge Arbeit sparen?«, wollte Emano wissen.

»Ehrlich gesagt, ich hatte großen Hunger. Jetzt bin ich satt, sonst hätte meine Zunge meinen Teller gleich gewaschen«, erklärte Alien mit seiner Tenorstimmlage, während er sich erhob, seinen Teller ausspülte, ihn abtrocknete und auf die Tischecke stellte. »Jetzt legen wir eine andere Platte auf«, ergänzte er.

»Ja, freilich, wie es dir lieber ist.« Emano lehnte den Kopf an die Wand.

»Ein Mensch ohne Ziele ist wie ein Auto ohne Räder. So ein Mensch möchte ich nicht mehr sein. Deswegen habe ich mir vor mehr als einem Jahr zum Ziel gesetzt, das Land zu verlassen und anderswohin zu gehen. Ich möchte eine andere Luft atmen, ein anderes Land mit meinen Füßen ablaufen, ein anderes Wirtschaftssystem erfahren, wo ich mir zumindest eine Zukunft vorstellen kann. Aber es sieht so aus, als würden die Schwierigkeiten nach und nach größer werden«, sagte er resignierend.

»Längst wusste ich, dass du nach Deutschland möchtest.«

Alien hatte häufig einen bitteren Geschmack im Mund, und zwar jedes Mal, wenn er von seinen eigenen Misserfolgen sprach. Er griff nach einer Schale, goss Wasser aus einer Gallone hinein und begann zu trinken.

»Mein Physikstudium an der staatlichen Universität hatte ich längst abbrechen müssen, um mich auf das Visumverfahren zu konzentrieren, in der Hoffnung, ich würde das Visum erhalten, was anders gelaufen ist.«

»Was ist also anders gelaufen?« Emano guckte neugierig.

»Nach dem ersten Antrag habe ich eine Absage wegen fehlender Unterlagen bekommen. Dann habe ich lange warten müssen, bevor ich einen neuen Antrag stellen durfte. Auf den zweiten Antrag habe ich heute eine komische E-Mail bekommen.«

»Noch eine Absage?«, murmelte Emano.

»Nicht ganz. Einerseits eine Absage, denn für ein Physikstudium konnte ich leider kein Visum bekommen nach den zwei Versuchen, andererseits keine Absage, sondern ein Angebot.«

»Und was für eins?«

»Als Erntehelfer oder Stallarbeiter bei Bauern für sechs Monate zu arbeiten«, antwortete Alien enttäuscht. »Das ist eine Möglichkeit, um meinen Lebensunterhalt in der BRD zu bestreiten, so die Botschaft. Falls das klappen würde, möchte ich nach sechs Monaten nicht zurück. Ich würde lieber bleiben und dort ein Studium anfangen.« Nachdenklich beendete Alien seinen Satz.

Er hat Angst, das gleiche Los wie sein Vater teilen zu müssen, dachte sich Emano. Der Onkel wusste umgehend, wovor Alien sich fürchtete: 2011 war das Leben für die Familie so schwer gewesen, dass Jean-Jacques Nelson das Land verlassen hatte und in Richtung Providenciales geflüchtet war. Sie waren insgesamt 90 Personen gewesen, die ihr Leben auf einem engen Boot riskiert hatten, nur in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Lieber ein schreckliches Ende als ein schreckliches Leben ohne Ende, hatte es damals für Nelson geheißen. Für ihn war es seinerzeit unmöglich gewesen, legal nach Providenciales einzureisen. Denn die Zugangswege waren für arme Überlebenskünstler wie ihn juristisch hermetisch abgeriegelt. Die Odyssee auf dem Meer der Turks- und Caicosinseln war extrem gefährlich. Wer illegal als Boat People erwischt wurde, konnte froh sein, wenn er nur für ein paar Tage ohne Essen weggesperrt und dann abgeschoben wurde. Denn schon auf dem Meer verloren viele ihr Leben. Dennoch hatte Nelson damals das Feuer anfassen wollen, um zu spüren, wie es brannte. Nach nur einem Tag auf dem Meer war Nelson ins Stadium von Dehydratation geraten, und nach vier Tagen hatten alle Boat People im Sterben gelegen. Kein Wasser, kein Essen, einige von ihnen waren blind geworden. Und nach sechs Tagen war die Hälfte von ihnen gestorben. Dieser Tag war der letzte gewesen, bevor das Ziel erreicht worden war. Alle hatten nach der Ankunft in einem Versteck leben müssen und waren dann, wie geplant, für einige Zeit von den Schleppern ernährt worden. Einige Wochen später hatte Nelson Arbeit gefunden, genug verdient und hatte der zurückgelassenen Familie in der Heimat Geld überweisen können. Nach neun Monaten war er glücklich geworden, bis er eines Tages unerwartet von der Polizei kontrolliert, illegal erwischt und dann mit leeren Händen nach Haiti abgeschoben worden war. Ein Weltuntergang, ein Zusammenbruch, an den Alien gerade dachte.

»Römer 8, 28: ›Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind.‹ Psalm 34, 8: ›Der Engel des Herrn lagert sich um die her, die ihn fürchten, und hilft ihnen heraus‹«, sagte Emano zu ihm, als wären alle Hürden schon überwunden, und er fuhr fort: »Du musst auf irgendetwas vertrauen: Gott oder Schicksal, was auch immer. Denn in dunklen Phasen des Lebens, wo du schwierige Entscheidungen treffen musst, wirst du Mut finden, um deinem Herzen zu folgen. Das ist alles, was ich dir sagen kann, Neffe.«

Etwas in Emanos Stimme sorgte dafür, dass Alien sich nicht wie zuvor hilflos fühlte. Alles, was er brauchte, war eine Energiequelle, woher er Kraft beziehen konnte.

»Aber ich folge immer meiner Intuition«, sagte Alien.

»Wirklich?«

»Ja«, erwiderte Alien abrupt.

»Wenn es stimmt, warum machst du dir denn Gedanken über Dinge, die nicht in deiner Macht stehen? Seiner Intuition zu folgen heißt, seine Angst zu überwinden. Denn Angst ist die schlimmste Sünde, die es gibt. Daraus entstehen all die Gräueltaten auf der Welt. Sie ist die Wurzel alles Bösen. An deiner Stelle würde ich versuchen,